Yelena musterte noch einmal den Mann, der am Ende der Straße im dürftigen Schein einer Gaslaterne stand. War er wirklich der richtige? War das Sasha?
Noch immer zweifelnd ging sie auf ihn zu. „Guten Abend“ sagte sie und sah dann zum Himmel. „Ich fürchte, es wird Regen geben. Ein Unwetter.“ Über ihr leuchteten die Sterne am wolkenlosen Himmel. Der dunkelhaarige Mann nickte bedächtig. „Der Sturm wird sich bis zum Winter gedulden müssen“ entgegnete er. Die vereinbarten Kennworte: Sie hatte von Regen und Unwetter gesprochen, er von Sturm und Winter – und das an einem warmen Juliabend. Also kein Irrtum. Das war Sasha!
„Gehen wir?“ fragte Sasha die schwarzhaarige Frau. Yelena nickte. Sie folgte ihm durch die nächtlichen Straßen Moskaus und fragte sich, was sie wohl erwarten würde.
Vor einem großen, hell erleuchteten Haus blieb Sasha stehen. „Hier ist es.“ Er schloss die Türe auf und sie ging hinter ihm her in den ersten Stock. „Ihr entschuldigt mich, ich habe noch jemanden abzuholen.“ Damit ging er wieder und ließ sie mit den anderen allein.
Yelena setzte sich in eine freien Sessel und schlug die Beine übereinander. Der Reihe nach musterte sie die anderen, sechs an der Zahl, und war sich dabei der erstaunten Blicke der Anwesenden bewusst. „Verzeiht“ sprach sie schließlich ein blonder Mann an. „Seid ihr wirklich…?“ Er brach ab. Yelena lächelte ihn freundlich an. „Ich bin Yelena“ sagte sie schlicht. Der andere ließ sich nicht draus bringen. „Ihr seid die letzte Tochter Yevdokiyas. Das ist doch so…“ Yelena nickte einfach. Sie war solche Reaktionen längst gewohnt.
Aber die anderen im Raum sahen sie beinahe ehrfurchtsvoll an und eine schlanke, braunhaarige Frau flüsterte leise:
Schwarz wie die Nacht wird der Tag sein,
Und die Nächte die folgen voller Blut,
Die Lösung schimmert unsichtbar und geheim,
Auf Jahre zwischen den Schatten der alten Glut.
Ihn aufzuhalten gelingt Ihnen nicht,
Denn Macht und Stärke wird er erwerben,
Durch das Herz in der dritten Nacht nach dem schwarzen Licht,
Die letzte Tochter seines Blutes, wird ihn Verderben.
„Ihr seid gemeint“ sagte sie. „Ihr seid die Lösung, die letzte Vampirin seiner Blutlinie unter uns, die wir im Vergleich nur Schatten und alte Glut sind vor dir, der hell leuchtenden Flamme. Die Sonnenfinsternis war vor gestern, also wird übermorgen die Nacht sein, da Ihr uns vielleicht alle retten könnt.“ Yelena kannte dieses Gedicht. Es war das erste, was sie als junge Vampirin gelernt hatte und sie wusste nur zu gut, wovon die andere sprach.
Bogdan, ein uralter Vampir von weit über tausend Jahren, war ihrer aller Verderben. Er hatte begonnen, seine Deckung, sein verstecktes Dasein aufzugeben und den Sterblichen ihre Existenz offenbart.
„Aber wie ist der Teil mit dem Herz gemeint?“ wollte die Braunhaarige wissen. „Das ist bislang ungeklärt. Wird Bogdan in der dritten Nacht nach der Sonnenfinsternis durch das Herz Macht und Stärke erwerben oder werdet Ihr ihn in dieser dritten Nacht mit dem Herz verderben. Was ist das Herz?“ fragte sie.
„Wie ist Euer Name?“ fragte Yelena. „Alyona.“ Yelena lehnte sich im Sessel zurück. „Das Herz, Alyona, existiert bislang noch gar nicht“ sagte sie. Ein erschrecktes Gemurmel ging durch den Raum. „Und ich bin es auch nicht, die ihn verderben wird“ fügte sie hinzu. Jetzt war kein Laut mehr zu hören und sie hingen an ihren Lippen.
Langsam und vorsichtig zog sie eine Phiole auf ihrer Tasche und hielt sie hoch. „Das ist Blut“ sagte sie. „Es ist weit über tausend Jahre alt. Es gelangte über die erste Gefährtin Bogdans in unseren Besitz und wurde von den Nachkommen Bogdans gehütet wie ein Schatz, denn es ist der Schlüssel zum Herzen. Dieses Blut ist älter als Bogdan selbst, denn es stammt von seinem Schöpfer. Ich bin die letzte Tochter seiner Linie, aber ich werde nicht die letzte seiner Linie sein. Mit diesem Blut werde ich in der dritten Nacht nach der Sonnenfinsternis einen Vampir erschaffen, einen Mann verwandeln mit diesem Blut und meinem eigenen. Dieser wird es sein, der Bogdan vernichten wird, und so die Prophezeiung erfüllen.“
Tag der Veröffentlichung: 12.04.2010
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