Gloria in excelsis Deo
Es war eine frostige Nacht gewesen. Sein Atem dampfte im Schlafzimmer, in der sein Wecker wie an jedem Morgen schon um fünf Uhr schellte. Kurt drückte ihn rasch aus, um seine Frau nicht aus dem Schlaf zu reißen. Er brauchte einige Augenblicke, um zu realisieren, dass er sich unnötig nach den ersten Tönen beeilt hatte. Sie lag nicht an seiner rechten Seite und würde es wohl auch nie wieder tun.
Seufzend schlug er die Bettdecke zurück und schlüpfte in seine Pantoffeln aus grauem Filz. Im Badezimmer war der Platz immer noch leer, wo ihr Zahnbecher gestanden hatte. Selbst auf dem kleinen Regal unterhalb des Spiegelschranks hatte Kurt den Platz freigehalten, wo im Sommer noch ihre Schminktöpfchen und Cremes gestanden hatten.
Schon bald lief der Kaffee durch die Maschine und Kurt schmierte sich Brote. Er warf einen Blick durch die Vorhänge. Eisblumen überzogen die Fenster. Man konnte im Schein der Straßenlaternen sehen, dass sich einige Zentimeter weißer Flocken überall breitgemacht hatten. Er war froh um den schneereichen Winter. Wenigstens eine Aufgabe. Eine halbe Stunde Arbeit, für die er zwar nur die Dankbarkeit der alten Dame aus dem Erdgeschoss bekam, aber immerhin verkürzte sie seinen Tag.
Ja, auch das hatte ihn ereilt. Vor zwei Monaten hatte sein Betrieb dichtgemacht. Vierzig Jahre lang, von der Lehre an, hatte er als Installateur Wasser- und Gasleitungen verlegt. Als der Meister im September vor der Belegschaft das Ende verkündete, hatte Kurt seine Augen resigniert geschlossen und nur einmal tief durchgeatmet.
Er schnürte sich seine schweren Schuhe und zog die warme, alte Jacke an. Dann stieg er die drei Etagen herunter, nahm die Schneeschaufel und sorgte für einen freien Gehweg. Zu so früher Stunde waren immer die gleichen Gesichter unterwegs: der Zeitungsbote mit seinem alten Mofa, der die Briefkästen bestückte, eine junge Frau, die jeden Morgen zum Bus rannte, weil sie zu spät dran war. Kurts kräftige Hände packten entschlossen den Stiel.
Nachdem seine Aufgabe erfüllt, der Schnee auf einen Haufen geschoben und der Gehsteig gestreut war, streifte er seine Schuhe gründlich an der Fußmatte ab und stellte die Schaufel zurück in den Keller. Schon bald saß Kurt wieder in der Küche, trank zum Aufwärmen eine zweite große Tasse Kaffee und studierte den Stellenteil der Anzeigenblätter.
„Wieder nichts dabei.“ Frustriert legte er die Zeitungen wieder zusammen. Eigentlich hätte er wieder zurück ins Bett können oder sich eines der Morgenmagazine im Fernsehen anschauen können, aber das alles brachte ihn nicht weiter. Seine ehemaligen Kollegen taten genau das und verödeten immer mehr. Sein bester Freund auf der Arbeit hatte mit dem Trinken angefangen und es war nur eine Frage der Zeit, wann auch er von seiner Frau verlassen werden würde.
Bei Kurt war es die Gleichgültigkeit und Routine gewesen, die seiner Ehe den Garaus gemacht hatte. Er wollte sich nicht an den Abend erinnern, als sie ins Wohnzimmer gekommen war, aber die Bilder waren einfach stärker als er. Wie kühl sie gewesen war.
„Der Kühlschrank ist voll, ein paar Lebensmittel sind in der Kammer. Ich habe deine Wäsche gewaschen und gebügelt. Ich geh jetzt.“
„Wohin?“, hatte er sie gefragt und erfahren, dass sie einen neuen Job, eine neue Wohnung und einen neuen Mann habe. Dann war sie einfach gegangen, hatte sich nicht einmal verabschiedet und die Tür hinter sich ins Schloss gezogen. Nach über zwanzig Jahren.
Draußen wurde es langsam hell, und wenn er nicht stumpf vor sich hinbrüten wollte, musste Kurt raus. Es war zu seiner Gewohnheit geworden, lange Spaziergänge zu machen. Wenn er an einem Betrieb vorbeikam, nutzte er immer die Gelegenheit, um sich gleich vorzustellen. Bisher ohne Erfolg. Zu alt sei er, hatte man ihm gesagt. Mit Mitte fünfzig gehörte er wohl zum alten Eisen und wurde nicht mehr gebraucht.
Die Luft war nicht mehr ganz so kalt wie vorhin, und nachdem er den Enten im Park seine Aufwartung gemacht hatte, war es noch zu früh, um daheim das Mittagessen einzunehmen. Seine Schritte lenkten ihn in die Stadt, wo gerade der Weihnachtsmarkt eröffnete. Früher war er oft mit seiner Frau darüber gebummelt, hatte sich die Auslagen angeschaut und zum Abschluss einen Punsch getrunken. Es war gar nicht das duftende Getränk gewesen, warum er ihn getrunken hatte. Es waren die Momente, in denen er mit seiner Frau gescherzt hatte und manchmal hatte sie ihm zur Belohnung einen Kuss auf die Wange gehaucht.
„So ein verdammter Mist! Wo steckt bloß dieser faule Student?“, dröhnte eine dunkle Stimme hinter Kurt. „Jetzt muss ich den ganzen Kram allein machen. Immer noch besser, als sich auf jemanden verlassen zu müssen, der einen doch immer versetzt.“
Kurt horchte auf. Ihm schien es, als habe der Himmel ein Zeichen geschickt. Wenn er ...? Er streckte sein Kreuz durch und drehte sich um.
„Brauchen Sie Hilfe?“
„Worauf Sie einen lassen können.“ Die Augen unter den buschigen Brauen des kräftigen Mannes unbestimmbaren Alters funkelten wütend.
„Ich hätte Zeit. Wenn Sie möchten, greife ich Ihnen gerne ein bisschen unter die Arme.“
Einen Moment lang musterte ihn der Standbesitzer, so als wolle er Kurts Ernsthaftigkeit prüfen.
„Acht Euro die Stunde. Trinkgelder können Sie behalten.“
Nicht gerade ein lukrativer Verdienst, aber besser als zu Hause untätig auf bessere Zeiten zu warten.
„Ich bin übrigens der Gabriel“, donnerte der große Mann und streckte seine Hand aus. Kurt ergriff sie und spürte seinen kräftigen Händedruck.
„Angenehm. Kurt“, stellte sich Kurt vor und fügte rasch hinzu, dass er wisse, wie man arbeite.
„Dann los. Der Wagen ist zu entladen und der Stand muss aufgemacht werden. Wir sind spät dran.“
Alles lief wie am Schnürchen. Gabriel war ein geduldiger Chef, der Kurt alles Wissenswerte erklärte. Er schimpfte nicht, wenn sich Kurt zum wiederholten Male bei ihm erkundigte, wie etwas zu tun sei. Stattdessen sagte er nur: „Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen!“
Am Abend war Kurt rechtschaffen müde, aber stolz, seinen Mann gestanden zu haben. Zusammen räumten sie die Bude auf und dann rechnete Gabriel gerecht ab. „Achtzig Euro Lohn und die Trinkgelder. Wie abgemacht.“
Kurt staunte nicht schlecht; denn es war fast das Doppelte in dem Umschlag. „Vielen Dank, Gabriel.“
„Nicht dafür!“, wehrte dieser ab. „Sehe ich dich morgen wieder?“
„Natürlich!“ Ihm schossen die Tränen in die Augen.
„Was ist los?“
Wie sollte Kurt erklären, wie froh er war, endlich wieder gebraucht zu werden, eine Aufgabe zu haben und der Einsamkeit für einige Stunden entronnen zu sein?
„Es ist nichts. Wann soll ich da sein?“
Der große Mann schaute ihn intensiv an und nickte. „Der Markt öffnet um halb elf. Sei eine halbe Stunde vorher da.“
In der Nacht schlief Kurt so fest wie lange schon nicht mehr. Als er anderen Tags aufwachte, konnte er sich nur daran erinnern, dass er von einem hellen Licht geträumt hatte, das sich in seine Richtung ausbreitete. Er hatte keine Angst gespürt. Ganz im Gegenteil: Das Licht hatte ihn wohlig eingehüllt und er hatte gewusst, dass sich alles zum Guten wenden würde.
Die Tage rauschten nun für Kurt dahin. Morgens war er oft schon da, bevor Gabriel kam. Er wollte sich und ihm beweisen, dass er nicht aufs Altenteil gehörte. Ohne dass er es merkte, taute Kurt langsam auf, scherzte mit den Gästen und manchmal, wenn die Arbeit so richtig brummte, sang er laut die Weihnachtslieder mit. Nicht schön, aber inbrünstig. Dann lächelte Gabriel und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.
Als der letzte Markttag jedoch kam, war Kurt still. Er verrichtete seine Arbeit, blieb höflich zu den Gästen, doch er lächelte kaum. Hin und wieder spürte er Gabriels warmen Blick auf sich ruhen. Dann hellte sich für einen Moment die Dunkelheit in seinem Herzen auf.
Schließlich jedoch kam das unabwendbare Ende näher. Die Bude war sauber gemacht, die Gläser gespült und in Kartons verstaut in Gabriels Wagen untergebracht.
Die Kälte der Einsamkeit kroch aus ihrem Versteck und machte Kurt klar, dass die kommenden Weihnachtstage kein frohes Fest für ihn bereithielten. Daheim wartete niemand auf ihn, kein Festessen, keine Geschenke, keine heimeligen Stunden in Zweisamkeit.
Dennoch wollte Kurt nicht, dass ihn Gabriel in seiner trüben Stimmung sah. Deshalb wollte er sich rasch verabschieden.
„Vielen Dank für alles. Machs gut. Wenn du mal wieder einen Stand auf einem Markt hast, würde ich mich freuen, wenn du an mich denkst. Frohe Weihnachten.“
„Deine Wünsche nehme ich zwar gerne an, aber so können wir nicht auseinandergehen. Komm.“
Gabriel verfrachtete Kurt in sein Auto und fuhr nur ein paar Straßen weiter.
„Hier lang.“
Kurt folgte dem großen Mann, der kräftig ausschritt und ihn geradewegs in eine kleine Gastwirtschaft namens ‚Erde‘ führte. „Jetzt wird erst einmal was gegessen und getrunken. Das bin ich dir schuldig.“
Der Ton in Gabriels Stimme duldete keinen Widerspruch, obwohl Kurt sich bereits durch die vergangenen Wochen beschenkt fühlte.
Sie suchten sich einen Platz in dem Lokal, und als die Wirtin an ihren Tisch trat, um die Bestellung aufzunehmen, stockte Kurt der Atem. „Na, Gabriel, mal wieder auf Erden eingeflogen? Besonderer Auftrag von Chef?“
„Oh ja, Michaela“, lächelte der Angesprochene. „Noch nicht ganz abgeschlossen, aber ich bin sehr zuversichtlich.“ Dabei zwinkerte er ihr verschwörerisch zu. „Darf ich dir meinen Freund Kurt vorstellen? Ohne ihn wäre ich grandios gescheitert.“ Gabriel schien sich über einen Scherz zu amüsieren, den nur er verstand. „Kurt, das ist Michaela. Ein wirklicher Engel.“
Kurt brachte kein Wort heraus, erhob sich aber, machte einen Diener und schlug die Augen zu Boden.
Gabriel bestellte grinsend zwei große Biere und eine ordentliche Portion Essen. Die Wirtin notierte alles und entschwand, ohne dass Kurt zu sagen imstande gewesen wäre, wie.
„Erzähl mir von dir“, forderte Gabriel Kurt auf.
„Da gibt es nicht viel zu erzählen. Dass ich Arbeit suche, weißt du ja. Mein Betrieb hat im Herbst zugemacht.“
„Welch ein Glück. Eine bessere Unterstützung hätte ich mir nicht wünschen können. Du bist fleißig. Aber sag mir: Wie wirst du den Geburtstag Jesu feiern?“
Traurig blickte Kurt auf. „Gar nicht. Meine Frau hat mich verlassen. Sie hat sich sonst um alles gekümmert. Ich habe noch nicht einmal einen Christbaum. Wofür auch?“
Fast schien es Kurt, als habe Gabriel genau das hören wollen, wenn er ihn auch dafür tadelte. „Es ist eines der größten Geheimnisse der Welt und du willst dich in deine Höhle verziehen?“
Dann kam auch schon das Bier und Gabriel prostete gut gelaunt Kurt zu. „Auf den Herrn und deine Zukunft.“
„Welche Zukunft? Niemand braucht mich.“
„Hm, hm, das glaube ich nicht. Du bist aus dem richtigen Holz geschnitzt. Ein bisschen zurückhaltend, aber du kannst mir glauben, dass deine Zukunft begonnen hat, als wir uns getroffen haben.“
Verwirrt über die gehörten Worte, traute sich Kurt nicht nachzufragen. Stattdessen nahm er einen winzigen Schluck des goldenen Gerstensafts zu sich. Sofort schien sich der Raum zu verwandeln. Er nahm wahr, dass eine wunderschöne Fichte geschmückt in einer Ecke stand, von der ein goldenes Licht ausging, obwohl nicht eine Kerze daran brannte. Besonders hell erstrahlte die noch leere Krippe, die darunter stand.
Schließlich brachte Michaela das köstlich duftende Essen und verteilte die großen Schüsseln auf dem Tisch. „Wohl bekomm’s.“
„Warte, Michaela. Hast du mir nicht erzählt, dass du kaum die Arbeit bewältigt bekommst?“
„Ja. Keiner will heute noch richtig arbeiten. Ich suche schon so lange nach jemandem, der ehrliche Arbeit zu schätzen weiß und ordentlich zupacken kann.“
„Heute ist dein Glückstag. Kurt hat mir in den letzten Wochen auf dem Weihnachtsmarkt geholfen. Er braucht eine neue Aufgabe und mir scheint, er ist genau der Richtige für dich.“
Kurt verfolgte das Gespräch zwischen den beiden und mit jedem Wort stieg seine Zuversicht. Gleichzeitig jedoch begann er sich zu fürchten. Wie sollte er mit Michaela zusammenarbeiten? Sie war eine gestandene Frau und bereits der erste Blick, den sie getauscht hatten, hatte eine verschüttete Glut in ihm entfacht, die ihm das Denken unmöglich machte.
Und wie er vor sich hingrübelte, bemerkte er nicht, dass auf einmal zwei Augenpaare auf ihm ruhten.
„Und?“, fragte ihn Michaela, „Wollen wir es versuchen?“
„Was versuchen?“
„Ob die Arbeit in der Erde etwas für dich ist. Iss nur rasch auf und dann kannst du gleich anfangen.“
Kurt war sprachlos. Wieder schien der Himmel ein Zeichen zu senden.
„Nun sag schon ja“, forderte Gabriel freundlich.
Doch Kurt konnte nur stumm nicken.
„Dann wäre es also abgemacht.“ Engelsgleich entschwand Michaela zurück zu den anderen Gästen.
Es wurde von Gabriel und Kurt anständig zugelangt und mit jedem Bissen kehrte Kurts Optimismus ein bisschen mehr zurück. Als nun „Vom hoch, da komm ich her“ erklang, sangen sie beide fröhlich mit. Gabriel sogar noch etwas lauter und schiefer als Kurt.
Dann verloren sich die beiden zwischen Essen und Geplauder, bis Kurt kaum noch Piep sagen konnte. Plötzlich jedoch sprang Kurt auf. „Verzeih mein Freund, dass ich dich zurücklasse. Ich habe mein Wort gegeben, Michaela zu helfen.“
„Schon gut. Sein Wort muss man halten.“
Mit leicht zittrigen Knien ging Kurt Richtung Theke und wurde freudig begrüßt. Zwar dauerte es ein bisschen, bis er mit der Zapfanlage umgehen konnte, doch wie schon zuvor Gabriel nahm sich Michaela die Zeit, um ihn vernünftig einzuweisen. Doch Kurt fiel es schwer, ihre Worte aufzunehmen. Immer, wenn sie in seiner Nähe war oder sie sich zufällig hinter der engen Theke berührten, war ihm, als hüpfe seine Seele vor Freude. Dann spielte sein Verstand verrückt und verweigerte seine Arbeit. Dennoch schlug sich Kurt nicht schlecht und die Gäste waren freundlich.
Schließlich zahlte einer nach dem anderen seine Zeche und ging heim. Ganz zum Schluss blieben nur noch Gabriel, Michaela und Kurt über.
„Und? Habe ich dir zu viel versprochen?“
„Nein. Eher untertrieben.“
„Dann wirst du ihn behalten?“
„Ich lasse Kurt nicht mehr ziehen“, sagte Michaela und warf ihm einen liebevollen Blick zu.
„Dann ist es ja gut und ich kann dem Chef ausrichten, dass ich meine Mission erfüllt habe.“
Gabriel trat auf Kurt zu und umarmte ihn. „Du bist nach ihrem Geschmack“, flüsterte er ihm ins Ohr. „Du musst dich ihr nur öffnen.“
„Das werde ich tun“, flüsterte Kurt zurück.
„Frohe Weihnachten!“
Im gleichen Augenblick war Gabriel vom Erdboden verschluckt.
„Der alte Kindskopf“, lachte Michaela. „Er muss immer seinen besonderen Auftritt haben.“
Dann nahm sie den erschrockenen Kurt zaghaft in ihre Arme und drückte ihm ein kleines Küsschen auf die Wange. „Bleib bei mir.“
Es war das schönste Weihnachtsgeschenk, das er je bekommen hatte und Kurt hätte schwören können, dass er ganz leise die Stimme von Gabriel gehört habe. „Gloria in excelsis Deo!“
Tag der Veröffentlichung: 23.12.2012
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