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Am Ende der Freiheit



Immer wieder blickte Sarah auf die Uhr, die groß an der Bahnhofsvorhalle prangte. Wenn sein Zug pünktlich war, dann müsste er jeden Moment kommen. ‚Da!’ In der Menschenmenge, die aus der Halle strömte, erblickte sie ihn.

‚Gut sieht er aus. Groß, schlank und gesund.’

So oft hatte sie ihn schon gesehen, so oft hatte sie gehofft, er würde sie erkennen und ansprechen. Vor ein paar Jahren waren sie schließlich ein Paar gewesen.

Der Gedanke daran machte sie wahnsinnig. Er war die Liebe ihres Lebens gewesen. Wie hatten sich ihre Wege bloß getrennt? Und die Antwort darauf brachte Sarah fast um. Sie waren so jung gewesen, so neugierig.

Sie hatten sich auf einer der vielen Feten kennengelernt. Saucool hatte er in der Ecke gestanden und lässig an seinem Joint gezogen. Damals war er ein Freak gewesen, genau wie sie.

„Auch mal ziehen?“

Er hatte das verdammt beste Shit gehabt. Ein Zug und die Welt löste sich auf. Alles wirkte viel intensiver. Die Musik, die Farben, die Gerüche und der Geschmack.

Armin hatte sie an die Hand genommen und in die Küche gebracht. Dann hatte er mit einem Messer einen Apfel geschält wie ihre Oma. Nur einmal hatte er die Klinge angesetzt und dann war die Schale in einem langen Streifen zu Boden gefallen. Fünf grüne Äpfel hatten sie vertilgt, dann war ihr schlecht geworden.

Wie selbstverständlich war Armin bei ihr geblieben, als sie ins Klo kotzte, hatte ihren Kopf gehalten und anschließend die Schweinerei sauber gemacht. Er gab ihr etwas, was sie noch nicht kannte: Geborgenheit.

Dann waren sie weg. Zu ihm nach Hause. „Du musst schlafen, Kleines. Dann wird das wieder.“ Armin hatte nicht versucht, die Situation auszunutzen, aber sie hatte gesehen, wie er sie angeschaut hatte, als sie sich bis auf T-Shirt und Unterhose auszog.

Am anderen Morgen war sie wach geworden, hatte gesehen, dass er in einer Decke eingerollt auf dem Boden neben seinem Bett schlief. „Wie kann er mir sein Bett überlassen?“, hatte sie sich gefragt und dann hatte sie in sein Gesicht gesehen, das so friedlich unter den verstrubbelten Haaren herausschaute.

Es war einfach passiert. Sie hatte gar nicht anders gekonnt. Ohne ein Wort war Sarah aufgestanden, hatte sich ganz ausgezogen und war unter seine Decke geschlüpft.

Der erste Kuss, als Armin die Augen aufschlug und sie erstaunt angelächelt hatte, veränderte alles. Noch nie hatte sie so empfunden, wollte ihn nur noch spüren. So zärtlich hatte er sie erkundet und als er in sie eindrang, explodierte die Sonne.

Sie wurden das Powerpaar, lebten intensiv. Die Tage bunt, die Nächte breit.

Dann war ein Typ aufgetaucht. Eigentlich mochte Sarah ihn nicht. Er hatte etwas Linkisches, aber er hatte eben auch diese irren Pillen gehabt. Dagegen war Haschisch Kindergeburtstag. Ein paar Mal bot sie Armin an, sie auf ihrem Trip zu begleiten, aber er lehnte ab.

„Süße, das Zeug ist pures Gift, chemische Scheiße. Lass den Mist“, hatte er immer wieder gesagt.

Doch sie konnte nicht davon lassen und dann war der Tag gekommen, an dem Armin ihr tief in die Augen blickte. „Mädchen, du hast die Wahl. Das Zeug oder ich.“ Sarah wählte die Freiheit.

Nun stand Sarah in der Kälte und verfolgte, wie Armin in seinem Anzug auf sie zukam. Er war ihre letzte Chance. Sie brauchte ihn, sie brauchte sein Geld. Der Turkey kam mit seiner grässlichen Fratze um die Ecke. Kalter Schweiß brach aus allen Poren. Sie zitterte.

„Armin!“

Verwirrt blieb der Krawattenträger einen Moment lang vor ihr stehen, forschte in ihrem Gesicht.

Ohne ein Wort drückte er ihr ein Zweieurostück in die Hand. Etwas zerbrach in ihr am Ende der Freiheit.

Bis jetzt ...



Doris arbeitete gerne in der Firma, und besonders, seit sie einen neuen Chef bekommen hatte. Irgendwie fand sie es schade, dass er so extrem höflich war. Mehr wie einmal ertappte sie sich bei dem Gedanken daran, gerne etwas näher zu kommen. Er war so richtig ihr Typ, wenngleich sie nicht auf Kerle in Anzug und Krawatte stand. Doch Herr Dietrich flüchtete immer, wenn sie einen kleinen Flirtversuch startete oder sich mal kecker kleidete.

Er hatte ihr den Brückentag nach Fronleichnam freigegeben und Doris war mit ihrer Freundin Helga jeden Abend bis in die Puppen unterwegs gewesen. Tanzen bis zum Abwinken als Ausgleichssport für ihren Bürojob und Balsam gegen ihren Singlefrust.

Für den Samstag hatten sie sich eine Ü-30-Party ausgesucht. Schon nachmittags begann sich Doris mit der obligatorischen Klamottenfrage zu beschäftigen und entschied sich, im Gegensatz zu ihrer biederen Bürokleidung für ein knappes Röckchen und einem aufreizenden Top. Komplettiert wurde ihr Outfit von ihrer neuesten Schuherrungenschaft mit unverschämt hohen Absätzen. ‚Wenn ich so im Büro auftauchen würde, dann würde mich der Boss wohl heimschicken’, grinste sie ihrem Spiegelbild zu.

Kurz vor Mitternacht kam sie in die Halle und standen erst einmal Cocktail schlürfend an der Theke im Eingangsbereich, wobei das männliche Geschlecht auf Brauchbarkeit taxiert wurde. „Nix Tageslichttaugliches dabei“, war Helgas Kommentar. „Lass uns mal die anderen Räumlichkeiten checken.“

Das Ergebnis war ernüchternd: Die Salsa-Ecke wies einige seltsame Erscheinungen auf, die Disco-Fox-Räumlichkeiten waren allein schon wegen der Deutschen Schlagermusik tabu. Blieb noch der kleine Saal, in dem Rock und Pop der letzten drei Jahrzehnte dargeboten wurden. Gleiches Ergebnis, aber die Musik animierte doch zum Tanzen.

Die beiden hübschen Damen erregten auf der Tanzfläche gleich die Aufmerksamkeit mehrerer Herren, die aber eindeutig unter ihrem Niveau rangierten. Die gute Laune ließen sie sich dadurch aber nicht verderben.

Es ging schon auf halb drei an, die ersten machten sich auf dem Heimweg, da kamen doch noch zwei stattliche männliche Exemplare herein. Jeanstypen mit Dreitagebart und einem Bier in der Hand. Der eine war hochgewachsen und sportlich, der andere etwas kleiner, aber auch nicht zu verachten. Beide trugen Sonnenbrillen, was den DJ dazu veranlasste „I wear my Sunglasses at Night“ aufzulegen. Lässig schlenderten sie an einen Stehtisch.

„Wow! Das ist ja mal eine Augenweide“, entfuhr es Doris und Helga nickte eifrig. „Welchen nimmst du?“

„Egal, passen beide ins Beuteschema! Aber lieber den Kleineren.“

Der größere von ihnen peilte die Lage und als er Doris erblickte, blieb sein Blick für einen Augenblick an ihr hängen, bevor er seinen Kumpel mit einem Kopfnicken in ihre Richtung etwas zuflüsterte.

Doris Körper entschied sich für eine Ausschüttung an Hormonen und beschleunigte ihren Herzschlag. „Er hat uns gesehen.“

Helga verbesserte: „Sie haben uns gesehen und kommen auf uns zu. Kacke! Was machen wir jetzt?“

Mehr als ein dümmliches Grinsen kam ihnen nicht in den Sinn, da standen auch schon die beiden Männer an ihrem Tisch. Der kleinere übernahm das Reden. „Hallo, ihr beiden. Dürfen wir uns dazugesellen?“

Helga übernahm den weiblichen Sprechpart. „Klar, ich bin die Helga und das ist meine Freundin Doris.“

„Dann will ich uns auch mal vorstellen“, kam wieder von dem „Kleinen“. „Ich bin der Achim und das hier ist mein bester Kumpel Uwe.“

Doris erschien es, als habe Kumpel Uwe irgendwie einen Frosch verschluckt, doch gleichzeitig merkte sie auch, dass er sich sehr für sie interessierte. Er flüsterte irgendetwas, was sie nicht verstand. Doris bedeutete Uwe, dass er sich neben sie setzen sollte. „So, und jetzt noch mal. Was hast du gesagt?“

„ … bis jetzt war ich dein Chef“, und damit nahm er seine Sonnenbrille ab.

Frühstück mit Vera



Tüten mit Brötchen, Käse und Aufschnitt lagen achtlos auf dem Frühstückstisch herum. Vera lackierte sich die Fingernägel und telefonierte mit einer Freundin. Zwischendurch nippte sie an ihrem Milchkaffee. Ben hatte sich hinter seiner Zeitung verschanzt und studierte die Sportergebnisse.

Eigentlich sahen ihre gemeinsamen Mahlzeiten daheim immer so aus. Routine und Schweigen. Wie ihr ganzes Eheleben.

Er wusste nicht mehr, wann es angefangen hatte. Wahrscheinlich hatte sich die Eiszeit zwischen ihnen schon seit Jahren langsam ausgebreitet.

Plötzlich musste Ben grinsen. Die Parallelität zu den großen politischen Klimadiskussionen lag auf der Hand. Dabei waren beide Ereignisse gar nicht mehr wegzudiskutieren, nur dass sich die Erde immer weiter aufheizte, während sich ihre Beziehung immer mehr abkühlte.

Für Ben stand fest, dass er so nicht weiterleben wollte. Mit oder ohne Vera? Das war hier die Frage. Es war so einfach, alles hinzuwerfen und dann zu hoffen, dass mit der nächsten Liebe alles besser werden würde.

Er ließ den Sportteil seufzend sinken, faltete die Zeitung zusammen und schaute seine Frau an. Vera konnte eine attraktive Frau sein, wenn sie sich zurechtmachte. Die neue Frisur stand ihr gut, obwohl er ihre langen Haare geliebt hatte. Trotzdem: Etwas Schminke, vielleicht ein neues Kleid, dann war sie echt ein Hingucker.

Was hatten sie früher zusammen gelacht, was waren sie für ihre Ehe bewundert worden? Es hatte Zeiten gegeben, da hatte er Vera an den Lippen gehangen und kaum ein Tag war vergangen, an dem sie nicht Zärtlichkeiten ausgetauscht hatten. Wohin waren ihre Gefühle geflossen?

Im tiefsten Innern wusste er, dass sie beide versagt hatten. Schuldzuweisungen brachten sie nicht wieder zusammen. Im Gegenteil: Sie waren das schleichende Gift, das jede Form des Zusammenlebens zersetzte.

Dabei liebte er sie immer noch. Wenn er noch eine Chance mit Vera haben wollte, musste Ben anfangen etwas zu ändern. Nicht nächste Woche, nicht morgen oder später. Jetzt! Nur was?

Er legte die Zeitung beiseite und nahm die Tüten mit in die Küche. Irgendwo stand ein Brotkorb, ein Teller für den Aufschnitt war auch rasch gefunden. Im Kühlschrank entdeckte er ein Salatgürkchen. Mit seinen beiden linken Händen versuchte Ben alles hübsch anzurichten. Zufrieden war er nicht, aber hier zählte die Geste.

Fast ein wenig schüchtern brachte er beides zurück an den Frühstückstisch. Vera blickte auf und war erstaunt. Er zwinkerte ihr zu, nahm ihr die leere Tasse ab und füllte frischen Kaffee nach.

„Du, ich muss Schluss machen“, hörte Ben Vera sagen.

Als er die Tasse an ihren Platz stellte, berührte seine Hand Veras Arm.

„Danke. Womit habe ich das verdient? Hast du was ausgefressen?“ Ben überhörte den schnippischen Unterton.

„Vielleicht, vielleicht aber auch nicht“, entgegnete Ben mit dem Ausdruck eines Orakels.

Er nahm ein Brötchen, schnitt es auf und hielt ihr beide Hälften hin. „Oben oder unten?“

Irgendetwas war passiert und amüsierte Vera prächtig. „Brötchen immer oben, beim Sex lieber unten.“

Da ging noch was. Ben war sich ganz sicher. „Dann sollten wir das schleunigst ändern.“

„Beim Sex? Du magst es doch so, wie wir es immer machen.“

„Schon, aber jetzt möchte ich einmal die obere Brötchenhälfte“, schmunzelte Ben und legte ihr das Unterteil auf den Teller. „Und im Bett könnte etwas Abwechslung auch nicht schaden, oder?“

Nun beäugte ihn Vera misstrauisch. „Du kannst ja richtig charmant und witzig sein. So kenn ich dich gar nicht mehr. Was haben sie dir eigentlich heute Morgen in den Kaffee getan?“

Einen Moment lang musste Ben überlegen. „Einen guten Schluck Frostschutzmittel.“

Ungläubig schaute ihn Vera an. „Frostschutzmittel? Wofür soll das denn gut sein?“

Zärtlich beugte er sich zu ihr rüber und gab er ihr einen Kuss auf die Wange. „Damit unsere Liebe nicht erfriert.“

Kapitän Ahab auf Reisen



Noch einmal in diesem Jahr die Sonne und das Meer sehen war mein Ziel, und ich buchte im Internet alles, was ich so brauchte.

Der Koffer war morgens schnell fertig gepackt, und nach meinem kleinen Frühstück, küsste ich noch einmal meine Frau und fuhr sehr früh los. Warum sollte ich meinen Urlaub hektisch beginnen?

Am Flughafen gab ich meinen unhandlichen Koffer rasch auf. Drei Stunden Zeit bis zum Abflug. Also raus eine Pfeife rauchen. Auf dem Gang durch die Halle fiel es mir dann auf. Linker Fuß in Camel-Schuhen mit Gummisohlen, rechts ein Klackern, das nicht so recht dazu passen wollte. Schwarz waren beide und damit endete dann auch schon die Gemeinsamkeit der beiden Schuhe.

Bis zum Passieren der Sicherheitsschleuse befand ich mich eingekeilt zwischen saufenden Stammtischbrüdern und ebenso saufenden Kegelschwestern.

Die Warterei im Abflugbereich dauerte ewig. Dann kam der zarte Hinweis, dass sich meine Maschine verspäten würde. Klasse! Ich musste auf Malle umsteigen und hatte theoretisch eine Stunde Zeit. Bis ich in Palma landete, waren daraus 15 Minuten geworden.

Raus aus dem Flieger, rein in den Bus, raus aus dem Bus, Treppe hoch. Oben stand ein Mann, der bereitwillig Auskunft gab, dass mein Anschlussflug am anderen Ende des Gates bereits beim letzten Aufruf war. Hechelnd und inzwischen stark transpirierend erreichte ich ihn noch gerade.

In Alicante brauchte mein Koffer eine weitere Stunde um anzukommen. Weitere anderthalb Stunden später war ich dann schon in Besitz meines Mietwagens. Schnell noch das Navi aus der Heimat installiert und es hätte losgehen können. Hätte es, wenn das verdammte Teil eine spanische Karte gehabt hätte. Kein Grund zur Panik. Alles wieder abgebaut und aufs Geratewohl nach Murcia.

Prima ausgeschildert und nach einer Stunde auf der kostenfreien Autobahn auch erreicht. Ohne Karte war es egal, wo ich abfuhr. Also nahm ich einfach die nächste Abfahrt. Bis zum Zentrum kam ich ohne Probleme. Die Probleme begannen, als ich die Lichter der City im Rückspiegel sah.

Nach zwei Versuchen hatte ich in der leer gefegten Vorstadt jemanden gefunden, der mir weiterhalf. Er lotste mich auf die Hauptstraße, der ich bis hinter dem Fluss folgen sollte. Dort sollte ich noch mal fragen.

Warum wurde mir schnell klar: In der Altstadt gibt es fast nur Einbahnstraßen, gerne zweispurig. Ich ließ mich treiben und landete bei einer Tankstelle. Hier wurde ich mit Karten und Informationen versorgt, wenn auch erst, nachdem der Inhaber aufgetrieben worden war.

Ich war dem Objekt meiner Begierde namens Hotel bis auf wenige hundert Meter näher gekommen. Glaubte ich, dass mein Tag ein positives Ende nehmen würde, sah ich mich wieder getäuscht. Durch intuitiv richtiges Abbiegen hatte ich tatsächlich den Eingang meines Hotels erreicht, doch nun stellte sich die Parkplatzfrage.

Die Dame an der Rezeption lächelte. „Bringen Sie erst einmal den Koffer aufs Zimmer, dann wird ein Kollege sie zu unserer Tiefgarage begleiten.“ Hört sich das nicht klasse an?

Der Erleichterung folgte Ernüchterung. Es ging um Ecken, die vielleicht für Eselskarren breit genug waren, aber nicht für einen durchschnittlichen Mittelklassewagen.

Dann waren wir da und fuhren durch ein Parkhaus, das heiß und stickig drei Decks in den Boden ging. Hatte ich eben noch über die engen Straßen gemault, war hier die Hölle eines minderbegabten Autofahrers: Parklücken, in die man nur mit eingeklappten Außenspiegeln einparken konnte, und selbst das ging nicht in einem Zug, weil der Weg dorthin kaum breiter war. Zwanzig Züge später war ich drin.

Vollkommen fertig stieg ich aus, ging ein paar Schritte und erntete verwunderte Blicke. Meine Schuhe waren noch dieselben wie am Flughafen in Deutschland und gaben ein Klack, nichts und wieder ein Klack von sich. Kapitän Ahab auf großer Reise eben.

Tausend mal berührt



Mann, was habe ich gut geschlafen! Das liegt sicher an dem absurden Traum, den ich gehabt hatte. Total durchgeknallt! Steffi hatte darin eine Hauptrolle gespielt und am Ende mir ihre Liebe gestanden. Vollkommen absurd!

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie Paul mit ihr bei einer unseren improvisierten Feten aufgeschlagen war: Arm in Arm mit dieser Traumfrau, dem Inbegriff eines Covergirls. Nichts gegen Paul. Ein netter Kerl, nicht hübsch, nicht hässlich. Ein Durchschnittstyp. Obwohl wir Jungs alle in festen Händen waren, ich übrigens mit meiner langjährigen Flamme Elke, fielen uns trotzdem die Augen aus dem Kopf. Wie Paul an dieses Mädchen kommen konnte, blieb mir immer ein Rätsel.

Bald schon hatten wir uns an sie gewöhnt, Steffi war einfach nett und für jeden Blödsinn zu haben.

Dann kam ein Abend, den ich wohl nie vergessen werde: Strandparty unten am Fluss. Zwei Kisten Bier, Lagerfeuer, Würstchen auf einem Rost über ein paar Steine gegrillt, und ab dafür. Elke hatte Migräne. Nichts Schlimmes, aber eben nicht partytauglich. Helfen konnte ich ihr nicht, also ging ich alleine. Ich suchte Paul, meinen besten Kumpel, und bei ihm hatte die Sommergrippe zugeschlagen. Die anderen saßen händchenhaltend und knutschend um uns herum, und wir redeten und redeten bis in den frühen Morgen hinein. Es war einfach toll. Mit niemand konnte ich so gut quatschen wie mit Steffi.

Wir wurden richtig gute Freunde. Das änderte sich auch nicht, als Steffi mit Paul Schluss machte. Sie schüttete mir ihr Herz aus, ich nahm sie tröstend in den Arm und versuchte sie aufzumuntern. Ich half ihr drüber weg und schon bald hatte sie einen neuen Freund. Alles andere wäre vollkommen widernatürlich gewesen. Ihr neuer Macker hieß Jens, war Beau, Architekturstudenten und in meinen Augen das größte und arroganteste Arschloch unter der Sonne. Aber er war ihr Freund und ich versuchte nett zu ihm zu sein.

Dann ließ mich Elke sitzen. Weltuntergang! Es gab nur einen Menschen, der mich aus diesem Loch befreien konnte: Steffi. Ein Anruf bei ihr, und sie ließ alles stehen und liegen. Keine zehn Minuten später tauchte sie mit zwei Flaschen Prosecco auf, die wir uns abwechselnd an den Hals setzten. An diesem Abend genoss ich ihre Nähe. Steffi kuschelte sich an mich. Plötzlich setzte sie sich auf. „Ich weiß, was du jetzt brauchst.“ Und sie wusste es wirklich. Wir landeten in der Kiste und tobten eine Nacht lang durch die Kissen.

Wie sie wieder ging, stellte Steffi klar, dass das ein Freundschaftsdienst gewesen sei, keinen außer uns etwas anginge und sie schließlich gebunden sei. Wir haben nie wieder darüber gesprochen. Meinem Ego hatte es dennoch geholfen und kaum zwei Wochen später habe ich mich in Anja verknallt, die ich dann auch heiratete.

Unsere Freundschaft hielt das aus wie in dieser bescheuerten Reklame die Frisur.

Steffi hatte sich nie lange an einen Typen gebunden, während ich mit Anja erst glücklich und dann unglücklich wurde. Vor vierzehn Tagen kam dann die Aussprache, am nächsten Tag der gemeinsame Gang zum Scheidungsanwalt und gestern Abend traf ich mich mit Steffi, die ihren Lebensabschnittsgefährten ebenfalls in die Wüste geschickt hatte.

Wir saßen auf der Terrasse, tranken Rotwein und konnten das Schweigen des Anderen ertragen. Irgendwann nahm sie meine Hand und blickte mir tief in die Augen. „Hast du eigentlich eine Ahnung, warum wir uns so gut verstehen? Ich meine: auf allen Ebenen. Essen, Trinken, Musik, Kunst, … Sex?“

„Hm, nie drüber nachgedacht. Vielleicht weil wir gute Freunde sind?“ versuchte ich eine Antwort.

Sie lächelte. „Könnte es Liebe sein?“

Ein absurder Traum, nur dass er sich verdammt realistisch anfühlte!

„Guten Morgen, mein Schatz!“ haucht Steffi zärtlich in mein Ohr.

Bahnhofskino


Meine Frau ahnt nichts. Wie immer fährt sie mich zum Bahnhof, wobei mir ihr Fahrstil jeden Morgen die Haare zu Berge stehen lässt. Bei Tempo 30 schaltet sie in den vierten Gang und bekommt nicht mit, dass der Motor in den Kurven wegen Untertourigkeit jammert. Jede Ampel zeigt rot. Hoffentlich komme ich nicht zu spät.

Frech drängelt sich meine Frau ans Ende der Taxischlange. Ich küsse sie flüchtig und springe aus dem Wagen.

Ich stoße die Tür zum Bahnhof auf. Rechts der Backshop mit seinem Geruchsterror von aufgebackenem Brot. Hastig eilen Menschen auf dem Weg zur Arbeit hinein und nehmen einen Kaffee to go. Ekelhafte Plörre in Pappbechern zu einem Euro. Untergang der Kaffeekultur. Links hinter den Treppen ein Zeitschriftenladen. Auch dort verkaufen sie Automatenkaffee.

Ich beeile mich die Stufen zur Unterführung zu erreichen. Ein Kehrmännchen fegt den Dreck zusammen. Theoretisch gehört er in den Restmüll, landet aber bei den Verpackungen. Die Truppe, die den Bahnhof sauber halten soll, kippt einfach den gesamten Unrat zusammen. Schon oft habe ich mich geärgert. Im Moment aber, steht mir der Warnwestenträger nur im Weg.

Bin ich noch rechtzeitig?

Ich versuche krampfhaft den Eindruck eines Gentlemans zu vermitteln - gehen statt laufen – und nehme die Treppe rechts hoch zum Bahnsteig. Zwanzig Schritte bis zu meinem Platz. Banges Warten beginnt. Auf dem Gleis gegenüber donnert ein Güterzug durch, sodass die Menschen ihre Zeitungen mit den großen Buchstaben festhalten müssen. Mein Blick wandert zur Uhr. Wird sie kommen?

Auf einmal ändert sich die Ladung der Atmosphäre. Sie ist da! Oh Gott, sie trägt ihre braunen Haare in einem Pferdeschwanz gebunden. Ich bekomme feuchte Hände. Nicht hinstarren! Ob mich ihre dunklen Augen schon gesehen haben? Ich zähle die Sekunden, bis sie an mir vorbeikommt, mein Herzschlag beschleunigt sich. Es geht nicht. Ich muss sie anschauen. Zwei Meter noch. Aus den Augenwinkeln heraus werfe ich einen Blick in ihre Richtung. Verdammt! Ihre unschuldigen Brüste heizen meine Fantasie an.

Jetzt ist sie an mir vorbei und hinterlässt die Duftmarke eines Mädchenduftes, den ich begierig einsauge. Sie bleibt stehen. Kaum eine Armlänge von mir entfernt. Vorsichtig tasten meine Augen sie ab. Die Morgensonne setzt einen Spot auf ihren Hals. Faltenfrei und makellos. Der Wunsch sie dort zu küssen muss im Zaum gehalten werden.

Sie trägt ihre Tasche über der rechten Schulter. Ich kenne sie und würde sie unter tausenden Exemplaren herausfinden. Vielleicht 20 Euro hat sie gekostet. Ein quietschbuntes Teil. Wie oft habe ich mir vorgestellt, ihr eine wunderschöne Tasche zu schenken, eine, die es wert ist, von diesem Sphärenwesen getragen zu werden?

Automatisch wandert mein Blick weiter über ihre schmalen Hüften zu ihrem Hintern in der Form eines knackigen Apfels. Sie trägt wieder diese dünne weiße Sommerhose, unter der ich ihren Slip erahnen kann. Mein Mund wird trocken. Ich muss schlucken. Ihre Füße stecken in den Schuhen mit den Fünfzentimeterabsätzen. Ich kenne jedes Paar: Ihre Ballerinas für den Sommer, ihre Waden umschmeichelnden Stiefel für die Übergangszeit, die fellgefütterten Teile für den Winter.

Der Zug fährt ein und hält exakt vor meiner Nase. Beim Einstieg lasse ich ihr den Vortritt. Dann sucht sie einen Platz und plötzlich sieht sie mir genau in die Augen. Ihr Blick ist jugendlich überheblich. Sie hat mich ertappt, ich fühle, wie meine Ohrläppchen rot werden.

Jetzt könnte ich ihr sagen, wie sehr ich sie verehre, aber ich habe Angst. Ich werde sie nie ansprechen, ich, der bestimmt doppelt so alt ist, wie sie. Ich bleibe ein heimlicher Verehrer und kehre reumütig zu meiner gleichaltrigen Frau zurück. Aber morgen werde ich wieder hoffen, dass sie mir ein Lächeln schenkt. Träumen wird man ja wohl man dürfen!

Impressum

Texte: BeKoma
Tag der Veröffentlichung: 17.03.2012

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