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Der Abschied



Ich schaute in den Spiegel und sah ein Mädchen mit blasser Haut, hell-braunen Haaren und außergewöhnlich blauen Augen, unter denen tiefe, dunkle Ränder lagen. Wieder hatte ich eine schlaflose, lange Nacht hinter mir. Ich schaute auf die große, schwarze Uhr, die ich durch die geöffnete Badezimmertür im Flur hängen sah. Es war noch früh. Zu früh, denn es waren noch zwei lange Stunden, bis endlich der Schultag kam, vor dem ich seit Monaten Angst hatte, vor dem Tag, an dem ich mich von den Personen verabschieden musste, die ich so sehr liebte. Mir lief eine Träne über die Wange und mir wurde klar, dass ich die Tränen auch in zwei Stunden nicht zurückhalten konnte. Ich überlegte also, was ich in den Stunden noch zur Ablenkung tun konnte. Als erstes stand duschen, anziehen und frühstücken auf dem Plan. Danach beschloss ich, nochmals einen Blick auf meine alte Heimat zu werfen. Als ich aus dem Fenster sah, wusste ich, dass ich solch einen Ausblick nie wieder haben würde. Die großen, hohen Tannen mit dem dahinter liegenden See, die vielen kleinen weißen Häuschen und dem Vogelgezwitscher. Ich merkte, wie kurz ich der Abreise wirklich bevor stand und wieder fiel es mir schwer nicht zu weinen. Endlich war es so weit. Die alte Kapelle im Dorf schlug 8 Uhr. Zeit für mich, das letzte mal über die Kieselsteine vor meinem Haus zu laufen, um zu meinem alten roten Golf zu gelangen, es war das letzte mal, wo ich den alten Motor drei mal starten musste, bis er endlich angesprungen war. Außerdem war es auch das letzte mal, dass ich die kleinen drei Dörfer, in denen es keine Geheimnisse gab, durchfahren hatte, um zur Schule zu gelangen. Dass es schwer war, ein Geheimnis zu bewahren, habe ich selber erfahren müssen. Seitdem ich wusste, in einigen Wochen das Dorf zu verlassen, hatte ich keine freie Minute mehr, da es jeder für nötig hielt, bei mir vorbeizuschauen oder anzurufen und sich schon mal zu verabschieden. Einige wollte dabei auch sicher gehen, ob das Gerücht, ich würde wegen beruflichen Gründen meines Dad‘s wegziehen, nun wahr oder falsch war. Ob sich insgeheim doch manche darüber freuten, dass ich in wenigen Stunden weg war? Meine Freunde hatte mir zumindest bestätigt, dass sich eine Person vor Freude gar nicht mehr halten konnte. Kate, sie mochte mich noch nie besonders, ich sie aber auch nicht und von daher war es mir egal, was sie über mich dachte. Ich atmete einmal tief ein, als ich in die breiteste Parklücke die ich nur finden konnte, einbog. Ich war nicht sehr geschickt und wollte nicht an diesem Tag, an dem eh schon zu viel Trubel um mich herum war, noch mehr Aufsehen durch ein zerkratztes Auto erregen. Langsam stieg ich aus dem Fahrzeug aus und trottete den kurzen weg in die Schule. Ich wusste nicht was mich erwartete, aber mein Gefühl sagte mir, dass hinter dieser Tür schon eine Menge Leute auf mich warteten. Ich griff an den eisigen Türgriff, atmete tief ein und wieder aus. Die Augen dabei geschlossen. Es war das letzte mal, dass ich Probleme damit hatte, den Griff herunter zu drücken und die schwere Tür zu öffnen. Das war typisch für mich. Ich war noch nie die Stärkste und Geschickteste. Allerdings wurde es immer schlimmer, mit der Geschicklichkeit, was mir Sorge bereitete. „Sue, Sue...warte, ich helfe dir.“
Ich fuhr herum, auch wenn mir die Stimme bekannter vorkam, als von jedem anderen Menschen dieser Welt. Ich zwang mir ein Lächeln auf meine Lippen, auch wenn es mein letzter Schultag hier sein würde, wollte ich keine miese Laune verbreiten. Doch Sam war eben Sam. Mein bester Freund, der mich in und auswendig kannte und der natürlich sofort merkte, dass dieses Lächeln nicht das war was er gewohnt war. „Komm her Süße!“, er breitete seine Arme aus. Noch nie hatte ich ihn so erlebt. Er strahlte sonst immer übers ganze Gesicht überhaupt war er eigentlich der lustigste Mensch dieser Welt. Ich ließ die Klinke los und begab mich in seine Arme. Ich drückte mein Gesicht gegen seine Brust und kam mir mal wieder wie ein Zwerg gegen ihn vor. Er war zu einem jungen Mann herangewachsen und auch seine Stimme hatte sich im Gegensatz zu früher verändert. Ich war einmal mit ihm zusammen gewesen, aber nur ein paar Wochen. Es war der typische Fall von Beziehung, in der beide solch eine tiefe und innige Freundschaft für den anderen empfanden, dass sie dachten, es sei Liebe. Ich liebte Sam auch, aber ich liebte ihn, als Freund, als besten Freund, aber nicht als meinen Freund. Zum Glück empfand er damals genauso. Schließlich löste sich die Umarmung und die erste Träne meinerseits war geflossen. Traurig senkte er den Blick und nahm meiner Hand. Seine war war im Vergleich zu meiner, seine braunen Augen starrten mich an. Ich sah nicht das Funkeln darin, dass ich so liebte. Seine braunen Haare fielen ihm ständig darüber, was ihn aber nicht zu stören schien. „Weißt du...“, begann ich, „manchmal ist es gar nicht so schlimm Abschied zu nehmen. Du weißt ja damals, als ich wusste, mein Opa würde bald sterben,...“, mir blieben die Worte im Hals stecken, als ich an den Tod meines Opas dachte. Sam strich mir sanft übers Haar. „Sue, dieser Abschied ist doch nicht für immer, Wales ist nicht auf dem Mond,...“ Ich unterbrach ihn mit einem leichten Seufzen. „Wollen wir es lieber kurz machen Sam, sonst schaffe ich das nicht.“, ich löste langsam den Blick von seinen Augen, als ich sah, dass sich Wasser darin sammelte. Ich wusste, dass er sich vorgenommen hatte nicht zu weinen bei dem Abschied, dass hatte er seinem Freund Mike erzählt. „Ich..ich komme aber später nach der Schule nochmal vorbei, ich begleite dich zum Flughafen!“, er klang fest überzeugt. In mir brach Chaos aus, einerseits war es mein größter Wunsch jede freie Sekunde die mir noch blieb, mit meinem besten Freund zu verbringen, anderseits wusste ich, dass der Abschiedsschmerz von Sekunde zu Sekunde wuchs. Doch der Gedanke, sich jetzt schon verabschieden zu müssen, machte mich so traurig, dass ich nickte. „Das ist lieb von dir, danke Sam.“ „Was ich nicht alles für dich machen würde, Sue!“, er lächelte sein warmes Lächeln, was ich über alles liebte. Dann holte er einen Umschlag heraus, auf dem in seiner schön geschwungenen Schrift mein Name stand. Er lächelte verlegen. „Sam, du weißt, dass mich deine Briefe immer zum weinen bringen. Musst du mir das jetzt antun?“, ich steckte ihn in meine Schultasche. „Jetzt komm schon, was kann ich denn dafür, wenn du immer los heulen musst?“, er lachte und streichelte mir über die Wange. „War nicht böse gemeint, entschuldige!“, er lächelte ein wenig. „Ich weiß Sam, ich weiß.“, ich schaute auf meine Armbanduhr, ein altes Erbstück meiner Urgroßmutter. „Wir müssen rein“, ich griff an die Türklinke. „Warte, ich mach das schon, Sue.“ Mit einem Ruck hatte er die Tür geöffnet. „Den Brief..ließ ihn bitte erst, wenn du im Flugzeug bist ja?“ Ich willigte ein und ließ in Richtung Aula. Sam ging Richtung Sportplatz, wo er sich mit seinen Freunden traf. Ich atmete tief ein und wieder aus, bevor ich um die Ecke bog. Meine Freundinnen schienen mich schon erwartet zu haben, so viel Trubel nur wegen mir. Ich war ein wenig gerührt.

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Tag der Veröffentlichung: 30.10.2011

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