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Wanderer zwischen den Welten

Er setzte sich ganz zwanglos zu ihnen an den Tisch, ohne dazu von einem der Beiden aufgefordert worden zu sein. In der Rechten hielt er ein leeres Schnapsglas, das er auf dem ersten Brett des alten Eichentisches abstellte, in der Linken die alte, abgenutzte Pfeife.

Mit der nun von dem Glas befreiten Hand deutete er auf dieses ehemals schöne Meisterwerk der Schnitzkunst, dessen Mundstück durch jahrelangen Gebrauch faserig zerbissen aussah.

“Selbst geschnitzt. Ich kann mich einfach nicht davon trennen.” Sein zahnlos scheinender Mund grinste breit während seiner Erklärung, ohne die geringste Scheu zeigte er so offen die wenigen schwarzen Zahnstummel, die ihm verblieben waren.

'Wie konnte er mit diesen Zähnen das Mundstück der Pfeife nur so zerkauen?' schoss es der jungen Frau durch den Kopf.

Den Zeitpunkt seiner Kontaktaufnahme, seines 'Zugriffs', hatte er sehr gut abgepasst.

Während der knorrig wirkende Gastwirt dieser uralten Hafenkneipe gerade die hinter der Theke in den Boden eingelassene Kellerluke anhob und in dem entstandenen Loch verschwand, erschien der Alte wie ein Geist aus einer dunklen Ecke des verwinkelten Raumes.

Es schien so, als nutzte er die Abwesenheit des Wirtes und eine lähmende Gesprächspause des jungen Paares, dem er nun seine Aufwartung machte.

Interessiert hob die hübsche Frau ihren Blick von der Tischplatte, auf der sie bisher mit dem rechten Zeigefinger stumm imaginäre Kreise zeichnete. Sie lächelte den Alten an, was diesen dazu ermunterte, sein leeres Glas zu heben und ein bezeichnendes Augenzwinkern darauf zu werfen.

“Deern, wenn Du mir einen Köhm spendierst, erzähle ich Dir von meiner beinahe letzten Fahrt auf einem Seelenverkäufer, die mich um ein Haar ins nasse Grab gebracht hat.” Trotz der fehlenden Zähne war seine Sprache akzentuiert und deutlich, obwohl ein leichtes Zischen bei bestimmten Konsonanten den angenehmen Gesamteindruck leicht reduzierte.

Ihr Einverständnis heischender Blick traf das Gesicht ihres Begleiters. Da dieser aber stumm blieb und keinerlei Regung zeigte, nickte sie nur und goss aus der auf dem Tisch stehenden Flasche das Glas randvoll.

“Ah, danke. Den brauch’ ich, um meine Stimme zu ölen.”

“Was ist das für eine Geschichte, die Sie uns erzählen wollen? Sie waren einmal Seefahrer?”

“Jaa, ich war einmal Seemann. Bin es eigentlich immer noch - und werde es Zeit meines Lebens auch bleiben. Also, denn man tau! Es liegt schon fast fünfzig Jahre zurück, da musste ich auf der ‘Norfisk’ anheuern, einer Viermastbark, die, seitdem ich sie erst kurz vorher aus bestimmten Gründen verlassen musste, als Kurierfahrer an der Westküste Amerikas ihren Dienst verrichtete. Ich sage ‘ich musste anheuern’, weil es mir aus besonderen Gründen nicht möglich war, über den für mich üblichen Weg wieder auf das Schiff zurück zu gelangen.

Ich dachte mir anfangs, ein Kurierschiff würde wie eine Fähre stets nur eine Route fahren. Dies war aber beileibe nicht so. Hätte ich damals bereits gewusst, was mir auf einer dieser Fahrten bevorstand, hätte ich so schnell es nur ginge das Weite gesucht. Doch Du kannst Deinem Schicksal nicht entgehen. Auch wenn Du noch so schnell rennen kannst.

Dieser Segler, der bereits fünfunddreißig Jahre auf dem Buckel hatte, war absolut kein normales Schiff, denn diejenigen, die schon länger auf ihm ihren Dienst verrichteten, waren überzeugt von der Anwesenheit eines listigen, Schabernack treibenden Klabautermannes. Der Koch, ein dickbäuchiger Alter, behauptete steif und fest, ihn vor vielen Jahren einmal sogar gesehen zu haben. Und tags darauf habe er sich sein rechtes Bein gebrochen. Den Beinbruch konnten zwar einige der dienstälteren Matrosen bestätigen, aber es wurde grinsend hinter vorgehaltener Hand gemunkelt, dass der Klabautermann eher ein Flaschengeist war, der den Koch zum Straucheln brachte.

Während des nach seinem Unfall nächsten Landgangs, es war der Tag, an dem ich von Bord ging, ließ er sich von seinem Hilfssmutje ein lebendes Huhn mitbringen, das er seitdem ständig mit sich führte, wenn er einmal seine Kombüse verlassen und das Deck betreten musste.

Aber trotz aller Witze, die über den Beinbruch und sein nach kurzer Zeit zahmes Schiffshuhn gerissen wurden, behauptete niemand von ihm, er wäre abergläubisch. Auch nicht insgeheim, denn jeder auf See weiß, dass es übersinnliche Dinge gibt, die allein mit dem Verstand nicht zu erklären sind.

Und wirklich brachte die Anwesenheit des Huhns scheinbaren Erfolg, denn seitdem ließ der alte Gesell sich nicht mehr blicken.

Ich, der ich mich noch ziemlich unerfahren in der christlichen Seefahrt gab, lachte sie alle aus. ‘Klabautermann, wer hat sich denn solche Geschichten ausgedacht?’ war meine allzu laut vorgetragene Meinung. "Nee, Mann, sei bloß ruhig. Wir alle kennen viele Erzählungen, die vom Klabautermann berichten. Die können nicht alle aus den Fingern gesogen sein", klärte mich der Steuermann auf, während die um uns herum Sitzenden bedächtig mit den Köpfen nickten. Ich war's so zufrieden.

Der Schiffseigner hatte nach meinen ersten drei Fahrten auf der ‘Norfisk’ eine Fracht übernommen, die uns nach Südchile segeln ließ. Aus war’s mit der ruhigen Hin- und Herpendelei, wie ich es mir bis dahin noch in meinen naiven Vorstellungen ausgemalt hatte.

Unser Käpt'n war ein alter Kap Hoornier, kannte die gefährliche Strecke um die Südspitze Amerikas gut. Wir hatten Januar, also war Sommer in der südlichen Welt. Die Zeit der dortigen ‘lauen Winde’, wie er sagte. Was diese Aussage wert war, bekamen wir, noch bevor wir die Magellanstraße erreichten, die der Käpt'n dieses Mal der Umsegelung Kap Hoorns vorzog, alle an eigenem Leibe zu spüren. Und ich besonders. Schon der erste Sturm holte mich fast aus dem Krähennest, in dem ich gerade Dienst tat."

Er unterbrach seine Erzählung und blickte sein Gegenüber fast verschwörerisch an.

"Bis zum heutigen Tage habe ich noch keinem Menschen von dieser Fahrt berichtet. Glaub es mir, Deern, es war selbst für mich gespenstisch, was ich danach zu sehen bekam.”

Er machte eine weitere kleine Pause und schob gezielt unruhig sein leeres Glas von einer Hand in die andere.

Die Frau verstand und goss es wieder randvoll. Ein zufriedenes Lächeln huschte über das Gesicht des alten Mannes, als er den Schnaps mit einem Zug trank.

Seltsam, dachte sie, trotz seines offensichtlich hohen Alters sind seine Haare noch leuchtendrot. Vermutlich sind sie gefärbt. Eitel mit seinen Haaren, aber seine Zähne sind ihm egal.

“Jaa, erzählen macht durstig. Danke Dir, mijn Deern.” Nachdem er sich mit dem Handrücken den feuchten Mund abwischte, fuhr er mit geheimnisvoll-nachdenklichem Gesichtsausdruck fort.

“Der Koch war der Erste, den es erwischte. Das heißt, nicht eigentlich ihn selbst, sondern eher sein Huhn. Und ich war froh drum - und sicher daran auch nicht ganz unschuldig. Aber warum, das brauch' ich Dir nicht zu erklären, Du wirst es später selbst erkennen.

Es war kurz nach meinem Erlebnis im Krähennest und direkt vor der Einfahrt in die Passage zwischen dem Festland und den Feuerlandinseln, als eine weitere heftige Windböe es ihm während eines seiner seltenen Deckbesuche aus den Händen riss. Das Schiffshuhn wurde einfach vom Sturm davongetragen. Obwohl es wild mit den Flügeln schlug und nicht über Bord zu gehen versuchte, fehlte ihm die Kraft, erfolgreich gegen die Böe anzugehen. Und somit fiel es in die raue See, die es sogleich auf Nimmerwiedersehen verschlang.”

Hier legte er wieder eine bedeutungsvolle Pause ein, die, wie beabsichtigt, die Aufmerksamkeit der Frau noch weiter steigerte - und sein Glas abermals füllte.

“Der Smut machte den Verlust dieses Tieres für all das verantwortlich, was danach geschah. Und das war eine ganze Menge, das kannst Du mir ruhig glauben. Also das Schiffshuhn war das Erste, das über Bord ging.”

Der Alte machte wiederum eine kurze Pause, während der er sein Glas erneut leerte. Mit einem Zug.

“Obwohl ich aufgrund der auf dem Schiff für mich geänderten Bedingungen in Punta Arenas, einer Hafenstadt am nördlichen Ufer der Magellanstraße, offiziell abgemustert hatte, befand ich mich doch inmitten der Matrosen, als das Unglück geschah. Niemand sah mich, niemand wusste von meiner erneuten Anwesenheit auf der Norfisk. Wir hatten zwei Tage, bis zum Erreichen des Hafens, ständig starken Gegenwind. Völlig unüblich zu dieser Jahreszeit, wie der Käpt'n verlauten ließ. Da wir somit gegen den Wind segeln, also ständig kreuzen mussten, verloren wir sehr viel Zeit. Während der ersten Nacht, die wir aufgrund klaren Himmels, den Sternen folgend, ohne Pause durchsegelten, erfuhren wir, warum die Inseln im Süden die ‚Feuerlandinseln’ genannt wurden. Überall an den Küsten flammten helle Feuer auf, die, davon waren alle überzeugt, keines natürlichen Ursprungs waren. Es mussten Geister sein, die das Schiff in die Irre führen wollten."

Er sprach nur zu ihr, beachtete ihren Begleiter mit keinem Blick. Ob das nun allein daran lag, dass sie es war, die ihm auch jetzt wieder das Glas bis zum Rand füllte?

“Bist ne gute Deern.“ Wieder kippte er den Inhalt des Glases in einem Zug. Nachdem er sich abermals den Mund mit einer Bewegung abwischte, der man die jahrelange Routine anmerkte, setzte er mit seiner Erzählung fort.

„Dann fuhren wir - es kam wie aus heiterem Himmel - in eine undurchsichtige, dicke, milchiggraue Nebelwand. Die Feuerlandinsellichter verschwanden ebenso wie die Sterne über uns. Wir sahen die Hand nicht mehr vor Augen. Es war einfach nur gespenstisch. Bei gleichzeitig einsetzender Windflaute dümpelten wir trotz vollständig gesetzter Segel fast auf der Stelle.

Erst nach Mitternacht tat sich dann endlich wieder ein schwacher Wind aus Nordost auf. Da unser Kurs Westsüdwest war, kam er von achtern, wir nahmen also wieder leichte Fahrt auf. Die Nebelwand zerfaserte etwas, ließ uns aber immer noch nicht ungehindert weiter als höchstens hundert Fuß blicken.

Plötzlich hörte die Besatzung einen durchdringenden, vor Entsetzen schrillen Schrei, der aus der Kombüse zu kommen schien. Jeder, der im Moment keine besondere Aufgabe zu erledigen hatte, rannte zu uns unter Deck. Kreidebleich lehnte der Smut an der hinteren Wand seines Arbeitsraumes, deutete mit ausgestreckten Armen in eine Ecke der Kombüse, die mit den für das Frühstück bereitgelegten Nahrungsmitteln vollgestellt war.

‘Da, da war er wieder! Ich habe ihn deutlich gesehen. Ich ahnte es, als mir das Huhn aus der Hand gerissen wurde. Der Klabautermann! Deutlich sah ich sein hämisches Grinsen, die grünen Zähne und leuchtenden Haare.’ Alle redeten beruhigend auf ihn ein, setzten den unkontrolliert zitternden dicken Mann auf seinen Stuhl und gaben ihm einen gehörigen Schluck Rum zu trinken, an dem er sich kräftig verschluckte, der aber vorerst auch seinen hektischen Redeschwall unterbrach.

Erschöpft lehnte er sich zurück, als die Luft wieder ungehindert in seine Lungen strömen konnte. ’Ich habe ihn genau gesehen', wiederholte er mit matter Stimme. 'Es war wie das erste Mal. Es wird etwas Schreckliches geschehen. Ich weiß es genau.’

‘Ach komm, Smut, der Nebel macht Dich nervös. Und dann hast Du noch nicht verkraftet, dass Dir Dein Suppenhuhn davon geflogen ist’, versuchte der Erste Maat ihn zu beruhigen.

‘Es ist mir nicht davon geflogen. Es wurde mir aus der Hand gerissen. Das war keine normale Windböe, die mir Klara genommen hat. Nun sind wir schutzlos dem Klabautermann und seinen unheiligen Späßen ausgeliefert. Ich sag’ euch noch einmal, es wird etwas Schreckliches geschehen.’

Und der Koch sollte Recht behalten.”

Das leere Glas rutschte wieder, wie zur Unterstreichung dieser Worte und der abermals einsetzenden Pause, einige Male von der rechten in die linke Hand - und zurück.

Hastig, um den Redefluss des Alten nicht zu unterbrechen, füllte es die junge Frau erneut, wieder bis zum Rand, was der Rote mit einem milden Lächeln quittierte.

“Ja, er sollte Recht behalten, denn kurz nach ein Glasen teilte sich der Nebel vor uns und aus dem Dunst tauchte eine Brigg auf. Sie war eines der Schiffe, dessen zwei obere Segel noch nicht geteilt waren. Also war sie mindestens fünfzig Jahre alt.

Obwohl sie leichten Gegenwind hatte und ihr voll gesetztes Tuch nicht gebläht war, machte sie größere Fahrt als wir. Schnell kam sie uns näher und schrammte backbord fast an uns vorbei. Heute hätte ich gesagt, sie war motorgetrieben, aber zu der Zeit gab es noch keine Segler mit Hilfsmotoren. Und Ruder waren auch nicht zu erkennen. Wie auch! Wie also kam sie auf diese Geschwindigkeit?

‘Die Esmeralda‘ stammelte in diesem Moment der Erste Steuermann, der das Ruder dem Maat übergab, um an der Reling stehend das Schauspiel der Begegnung beobachten zu können.

‘Die Esmeralda’ wiederholte er, immer noch fassungslos. ‘Die ist doch seit über vierzig Jahren verschollen. Ist nie wieder gesehen worden.’

‘Habt ihr das mitgekriegt? Kein Mann war an Bord,’ stellte der Smut kreidebleich fest. ’Ich hab’ es euch gesagt, es wird etwas Schreckliches geschehen!’

‘Ach, hör’ doch auf zu unken", wies ihn der Erste, ein alter, erfahrener Seemann, wieder etwas gefasster zurecht. ‚Das wird schon seine Logik haben, dass sie hier wieder auftaucht. Als sie verschwand, wurde über eine geheimnisvolle Ladung an Bord gerätselt. Vielleicht hat sie ihren Auftrag damals ordnungsgemäß erfüllt und treibt sich seitdem im Pazifik oder dem Chinesischen Meer herum, sodass sie auf dem Atlantik als verschollen gilt.’

‘Sicher, die Logik des Teufels! Ist es nicht seltsam, dass sie mehr Fahrt machte als wir, obwohl wir Wind von achtern haben?’

‘Dem Fliegenden Holländer sagt man nach, dass er bei jedem Wind segeln kann, sogar rückwärts’, mischte sich ein Dritter in das bisherige Zwiegespräch, das von den Umstehenden atemlos verfolgt wurde.

‘Achwas, ein Geisterschiff war das sicher nicht. Ich hörte Stimmen von drüben herüberschallen,’ der Steuermann sprach’s, drehte sich daraufhin um und verschwand unter Deck.

‘Stimmen haben auch die Überlebenden der verunglückten Schiffe vernommen, als ihnen der Fliegende Holländer kurz vorher begegnete’, ließ sich der Smut immer noch nicht überzeugen.

‘Seht, der Nebel lichtet sich, ich kann die Sterne wieder erkennen’, schrie plötzlich der Maat vom Steuerruder herüber.

‘Ja, genau so, wie die Matrosen es schilderten, die bisher die Begegnung mit dem Geisterschiff überlebten’, wiederholte der dicke Koch. Blass und mit tief gesenktem Kopf verließ auch er nun das Deck wieder und folgte dem Steuermann in die unteren Mannschaftsräume.”

Eine kurz angedeutete Pause machte der aufmerksamen Zuhörerin klar, dass es an der Zeit wäre, das Glas erneut zu füllen. Wiederum natürlich bis zum Rand.

“Es dauerte drei Tage, bis wir das Ende der Passage und den Pazifik erreichten - und das Schicksal uns überrollte. Im wahrsten Sinne des Wortes. Wir verließen gerade die Magellanstraße und hielten Kurs Nordnordwest, immer entlang der Küste, als aus weiter Ferne kommend eine riesige Welle auf uns zurollte und der Mannschaft keine Zeit ließ, alle Luken zu schließen, die Segel zu reffen und, Bug voraus, die weit über fünfzig Fuß hohe Wasserwand zu erwarten. Die langsameren Matrosen wurden, noch auf den Rahen sitzend, von ihr in das Meer gespült, und die, die das Deck noch im letzten Moment erreichen konnten, fegte sie wie welkes Laub von Bord.

Nachdem sich die Norfisk wieder an die Oberfläche gekämpft hatte, sahen die auf dem Schiff Verbliebenen die Bescherung. Fock- und Großmast waren verschwunden, der Mittelmast geknickt und von dem Rest war auch nicht mehr viel zu gebrauchen. Ein großes Loch klaffte im Rumpf, durch das das Wasser einbrach. Die Bark war nicht mehr zu retten.

Die von Bord gespülten Matrosen waren weit und breit nicht zu sehen, da sie von der Monsterwelle sicher bis tief ins Landesinnere getragen wurden. Wenn sie Glück hatten, konnten sie sich dort an irgendetwas festklammern, bevor das ablandige Wasser sie wieder ins Meer zog und zu ihren Ahnen schickte.

Es war nur diese einzige Welle, die die stolze Viermastbark zerstörte. Danach war die See wieder spiegelglatt. So, als wäre nicht etwas geschehen, was ein großes Schiff und fast die gesamte Besatzung ins Verderben riss.

Da die achtern festgemachte Gig nicht allzu sehr in Mitleidenschaft gezogen wurde und noch seetüchtig war, ließ der Käptn sie zu Wasser bringen und sich von dem Rest seiner Mannschaft, unter dem sich auch der Smut befand, zum nahen Ufer rudern.

Ich verließ als Letzter das sinkende Schiff, so wie es seit jeher meine Aufgabe ist.”

„Wie haben Sie sich denn retten können?“ fragte die Frau, indem sie den Rest aus der Flasche in des Alten Glas fließen ließ.

“Das war nicht schwer. Ich wartete einfach das nächstfolgende Schiff ab, schlich mich an Bord und blieb dort, bis auch dieses vor wenigen Stunden hier vor dieser Küste im Meer versank. Nun bin ich hier und warte auf meine nächste Aufgabe.”

Mit diesen Worten stand er auf, bedankte sich für das Interesse, das die junge Frau für seine Geschichte zeigte und verschwand genauso geheimnisvoll, wie er kam. Eben jetzt, als die Tür sich hinter ihm schloss, erschien der Wirt aus dem Keller, auf der Schulter ein kleines Bierfass.

In diesem Moment war es so, als erwache der Begleiter der jungen Frau aus einem tiefen Wachtraum. Er sah den Wirt, rief ihn zu sich, zahlte mit einem erstaunten Blick auf die leere Flasche und gemeinsam verließ das Paar das Wirtshaus.

“Eine komische Geschichte, findest Du nicht?” sinnierte die Frau gerade so laut, dass ihr Begleiter sie verstehen konnte.

“Was für eine Geschichte meinst Du?”

“Na die, die uns der alte Mann gerade erzählte.”

“Ach", entgegnete der Mann unwillig, fast zornig, "der war doch die gesamte Zeit im Keller. Ich weiß von keiner Geschichte, die uns irgendjemand erzählt hat. Du fantasierst wieder einmal.”

“Nicht den Wirt meine ich, sondern den alten Mann, der sich zu uns an den Tisch setzte, während der Wirt im Keller war. Aber da vorne steht er ja noch. Er hat doch einige Zeit bei uns gesessen. Hast Du ihn nicht bemerkt? Gib es zu, Du hast mit offenen Augen geschlafen.”

“Da saß niemand, und ich sehe auch dort, wohin Du zeigst, keinen Mann stehen”, kommt mit verkniffenem Gesichtsausdruck mürrisch seine barsche Entgegnung.

In diesem Augenblick dreht sich der Alte um. Deutlich sind seine roten Haare zu erkennen, ebenso deutlich wie der Hammer an seinem Gürtel und die jetzt plötzlich vorhandenen und grünlich leuchtenden Zähne.

Und so wie der Alte nun im leichten Dunst des kühlen Abends verschwindet, löst sich auch das Wirtshaus ‘Zum Klabautermann’ hinter ihnen auf und verweht im ständig dichter werdenden Nebel, als hätte es nie existiert.

 

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Die junge Frau verstand die Warnung und löste noch am selben Tag die Verlobung mit dem Mann auf, der den Alten nicht wahrnehmen konnte.

Wie recht sie damit tat, brachten einige Monate später die Zeitungen auf den ersten Seiten, die über einen Beziehungsmord und von ihrem ehemals Verlobten als dem möglichen Täter berichteten.

Hatte je vorher schon einmal jemand davon erzählt, dass und warum ein rothaariger Mann mit grün leuchtenden Zähnen an Land aktiv geworden ist?

Der Rote wird dafür sicher seine Gründe gehabt haben.

 

 

 

 

Der Klabautermann:

 

Der Klabautermann ist im seemännischen Aberglauben ein Schiffsgeist oder Kobold, der – meist unsichtbar – den Kapitän bei Gefahren warnt. Die Figur des Klabautermannes ist verbunden mit der Segelschifffahrt. Sein Aussehen gleicht dem eines Matrosen – mit Hammer und Pfeife, manchmal auch mit Seemannskiste, mit roten Haaren und grünen Zähnen. Zeigt er sich, so ist dies ein schlechtes Zeichen. Er verlässt das Schiff erst, wenn es untergeht.

Nach einem alten Seemannsbrauch gehört auf jedes Schiff ein lebendes Huhn zur Abschreckung des Klabautermanns.

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Tag der Veröffentlichung: 02.11.2019

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