DER THEMSEMÖRDER
Die derzeitigen Wetterbedingungen sind für den erfolgreichen Start seines seit mehreren Jahren vorbereiteten Planes ideal. Anders als während der vergangenen Zeit als Rentner gewünscht spielt ihm das kalte und regnerisch-windige Wetter heute geradezu perfekt in die Karten.
Die Londoner bleiben bei diesen Temperaturen eher in ihren trockenen und beheizten Häusern. Ein Umstand, der die Straßen verwaisen und sein Vorhaben somit risikoloser werden lässt.
Die in wenigen Minuten in die praktische Ausführung startende Serie des Alten soll an diesem Freitagnachmittag, dem 13. März 1964, der Beginn eines ganz persönlichen Rachefeldzuges werden. Eines Ein-Mann-Krieges, der die Insel erschüttern wird.
Nicht, dass er abergläubisch ist – war er nie. Doch diesem Einen, der heute sein erstes Opfer werden soll, wird 'Freitag der Dreizehnte' auf den Grabstein gemeißelt werden. Wenn alles programmmäßig abläuft und er am Ende seiner Mission alle Namen auf seiner Liste abhaken konnte, sollten von diversen Steinmetzen in den folgenden Tagen ähnliche Arbeiten ausgeführt werden müssen.
Natürlich nicht mit dem heutigen Datum. Denn für die Abarbeitung seiner gesamten Liste hat er etwas mehr als zwei, maximal drei Wochen auf der Insel eingeplant. Innerhalb dieser Zeit muss er seine Ziele eliminiert haben.
Ein leichter Nebel wird vom Wind von der Hochwasser führenden Themse herüber geweht. Der rüstige Sechsundsechzigjährige mit den abwärts gerichteten Mundwinkeln, den empathielos blickenden Augen und einem somit kaltblütig wirkenden Gesichtsausdruck ist äußerlich ruhig und völlig unaufgeregt. Seit einer Stunde wartet er in seinem Fahrzeug am rechten Randstreifen der Fahrbahn, lauert auf sein erstes Opfer.
Lange kann es nicht mehr dauern, dann wird der Truck mit dem Mittvierziger am Steuer im Sichtbereich des linken Rückspiegels auftauchen.
Nach seinen Berechnungen wird er sich ihm in wenigen Minuten auf der am Flussufer entlangführenden Straße von hinten nähern.
Auch im Moment lässt sich niemand auf der Straße sehen. Gut so!
Wenn sein heutiges Vorhaben gelingen sollte, hat er die erste Schlacht erfolgreich geschlagen.
Die erste Etappe. Es werden noch weitere ähnliche Aktionen folgen, für die er die nächsten für ihn sehr risikoreichen Wochen verplant hat. Bis er sein Versprechen eingelöst hat.
Im Rückspiegelglas seines Lieferwagens, einem erst wenige Monate alten Ford Taunus Transit 1500, erkennt er die Scheinwerfer zweier Fahrzeuge, die sich ihm auf der linken Fahrbahn nähern. Es sind eng beieinanderstehende Lichter. Der Lastwagen ist also noch nicht dabei.
‚Hoffentlich hat er dieses Mal keine andere Strecke gewählt‘, denkt der Mann, nun doch etwas nervös werdend. Dann jedoch sieht er mit einigem Abstand zu den gerade an ihm vorbeirollenden Fahrzeugen die Lichter und hohen Aufbauten des blauen Sattelschleppers.
Sein in den letzten Sekunden angespannter Körper entkrampft sich wieder.
Aufatmend lehnt er sich zurück und massiert mit der rechten Hand seinen leicht schmerzenden Nacken. Ein nächster Blick in den Rückspiegel seines Fahrzeugs zeigt ihm, dass es Zeit wird.
Er startet den Ford, tritt die Kupplung und legt mit der rechten Hand den ersten Gang ein, bleibt jedoch in Warteposition. Erst noch muss der Lkw die Entfernung zu ihm weiter verringern.
Er darf dem Fahrer nicht die geringste Möglichkeit geben, unbeschadet ausweichen zu können, wenn er in wenigen Sekunden mit seinem Transit dessen Weg kreuzen wird.
Ein schneller Rundblick zeigt ihm gerade jetzt zwei Personengruppen von insgesamt fünf Passanten in einer Entfernung von etwa zweihundert Yards aus einer Nebenstraße auf den Gehsteig einbiegen. Doch alle wegen des plötzlich aufgefrischten steifen Windes, der die kalten Nebelschwaden wirbelnd in Bewegung versetzt, mit tief gesenkten Köpfen, aber schnell gesetzten und weit ausgreifenden Schritten. Ehe diese begriffen haben, was passiert ist, wird er bereits nicht mehr zu sehen sein.
Er konzentriert sich nun ganz auf den Lastwagen, darf sich jetzt keinen Fehler erlauben. Zu lange hat er recherchieren müssen, zu viel Zeit, Geld und Arbeit hat er bisher investiert, um schon bei diesem ersten Einsatz sein Vorhaben scheitern zu lassen.
*****
Endlich Feierabend! Glenn Robson schaltet die Innenbeleuchtung seines Lkw ein, denn es ist dunkel, da die Sonne bereits hinter den Häusern in Londons Südwesten verschwunden ist. Mit der linken Hand blättert er in seinen Papieren, die auf der Ablage zwischen den Sitzen liegen und blickt auf die Uhr in der Armaturentafel des Fahrzeugs. Sieben Uhr an einem Freitag, dem Dreizehnten! Er lächelt kurz, als ihm die Konstellation auffällt. Hoffentlich kein Unglückstag.
Er muss nur noch wenige Meilen an der Themse entlang und am Ziel den Sattelzug rückwärts an die Rampe der Lagerhalle seiner Spedition setzen. Dort wartet seine Frau und liest ihn vom Firmengrundstück auf. Und dann kann von Unglück keine Rede mehr sein.
Er ist seit den frühen Morgenstunden des Wochenbeginns unterwegs, hatte wie stets die Nord-Tour, die ihn quer über die Insel bis nach Schottland führte.
Er ist früh zurück, denn im Normalfall wird der Samstag für die Rückfahrt eingeplant. Doch seine Be- und Entladestellen kosteten während dieser Arbeitswoche nicht so viel Zeit wie üblich. Mit nur einer kleinen Ausnahme verliefen alle anderen Anfahrten ohne Zeitverlust.
Da er seine letzte Anlaufstelle für die im Norden gesammelten Rückladungen im Londoner Osten auch zwei Stunden vor Toresschluss erreichte, wurde sein Fahrzeug noch entladen und er konnte sich auf den Heimweg machen.
Auf dem Chelsea Embankment schaltet er vor einer Kurve das Getriebe seines Lkw in einen kleineren Gang.
Seltsamerweise ist nicht viel Betrieb. Genau genommen ist er im Augenblick im einzigen Fahrzeug hier unterwegs. Auch nur wenige Passanten lassen sich blicken. Klar, wer traut sich auch bei diesem trüben, ungemütlich nasskalten Vorfrühlingswetter noch auf die Straßen.
Auf der linken Seite sieht er die Hochwasser führende Themse, die ihre Wellen bis auf wenige Yards an die Seite der Straße drängt. Nicht ungewöhnlich für die Jahreszeit. Vermutlich das Ergebnis eines wieder einmal ausgiebigen und kräftigen Regengusses und der damit ausgelösten Schneeschmelze am Oberlauf des Stroms.
Er hält sich nicht allzu lange mit diesem Gedanken auf und konzentriert sich auf die Heimfahrt, während er von zwei Personenwagen überholt wird, die langsam den Abstand zu ihm vergrößern.
Als er sich der zweiten Einmündung der Embankment Gardens nähert, sieht er kurz davor einen rechts und somit gegen die Fahrtrichtung geparkten Ford Transit stehen. Einen dieser neuen Kastenwagen, die in Deutschland gefertigt werden und auf der Insel noch relativ selten sind. Und richtig, der Wagen trägt ein deutsches Kennzeichen.
Als er noch etwa einhundert Yards von ihm entfernt ist, sieht er aus dem Auspuffrohr eine schwache Abgaswolke strömen. Der Ford wurde gestartet.
‚Jetzt fehlt nur noch, dass er losfährt und mir vor den Kühler zieht‘, denkt er, aufmerksam geworden.
Doch dann scheint der Fahrer abwarten zu wollen, denn noch bleibt er am Straßenrand stehen.
‚Warum parkt der Kerl auf der falschen Straßenseite? Diese verrückten Deutschen mit ihrem noch verrückteren Rechtsverkehr! Unberechenbar, diese Festlandstypen.‘
Gerade in seinen Gedankengang hinein und etwa zwanzig Yards vor ihm fährt der Ford mit Vollgas an, schießt diagonal über die Straße und schneidet ihm den Weg ab.
„Ist der Kerl verrückt?“ schreit Glenn noch laut, bevor er den Lkw nach links hinüberzieht. Den Zusammenstoß mit dem Ford kann er noch knapp verhindern, jedoch kommt er von der Straße ab und gerät auf die linke Bankette. Dem noch jungen Baum, der direkt vor seiner Front auftaucht, kann er nicht mehr ausweichen. Sein Lkw mäht ihn um, wobei ein armdicker Ast die Windschutzscheibe zertrümmert, ins Fahrerhaus peitscht und seinen Kopf trifft.
Glenn Robson ist bereits tot, als der Lastwagen die Grenzmauer durchbricht und mit den Vorderrädern der Zugmaschine erst im Wasser der Themse zum Stehen kommt.
Der Fahrer des weißen Ford Transit reduziert die Geschwindigkeit seines Fahrzeugs kurz. Als er das Ergebnis seiner Attacke erkennt, tritt er wieder auf das Gaspedal und biegt mit durchdrehenden Reifen in Embankment Gardens ab. Wenige Yards weiter nimmt er die Rechtskurve mit bereits hoher Geschwindigkeit.
Niemand der Zeugen hatte die Möglichkeit, das Kennzeichen zu erkennen. Ein älteres Ehepaar stand im falschen Winkel zum Fahrzeug und war zu sehr schockiert, um bewusst Einzelheiten wahrnehmen zu können. Drei weitere Passanten wandten dem Unfall den Rücken zu. Als sie sich zum Ort des Geschehens umgedreht hatten, war der Verursacher schon so weit entfernt, dass sein Fahrzeug nicht mehr zu identifizieren war. Niemand von ihnen bekam genau mit, was vor wenigen Sekunden in unmittelbarer Nähe dort auf der Straße geschah.
Der Mann am Steuer des Ford Transit ist zufrieden. Ein zynisches Grinsen umspielt seinen zu einem schmalen Strich zusammengepressten Mund. Die erste Etappe seines Plans hat er erfolgreich hinter sich gebracht. Die oberste Position auf seiner Liste kann er abhaken. Auf ihr steht in sauberen, pedantisch gesetzten Druckbuchstaben eine lange Reihe englischer Namen. Es sind ausschließlich Männer, die er im Laufe der vergangenen neunzehn Jahre hat ermitteln können.
Es hat ihn viel Zeit und Geld, Überredungskunst, Täuschung und sogar Umgehung gesetzlicher Vorschriften und Weisungen bis zur Komplettierung dieser Liste gekostet. Die für ihn wichtigen britischen Dienststellen haben ihn meist als Historiker kennengelernt, der er sicherlich nicht ist. Dazu hat er sich der Namen real existierender Männer dieser Fachrichtungen bedient. So hat er den Großteil der Identitäten seiner Zielpersonen und sogar später deren Aufenthaltsort ausfindig machen können. Jedenfalls die, die wichtig für ihn sind.
Vor einer Woche hat er vom Festland auf die Insel übergesetzt und ist seitdem dabei, die genauen Tagesabläufe dieser Männer auszuspähen. Den Anfang machte er mit seinen Londoner Adressen. Bei seinem ersten Anschlag auf Glenn Robson hatte er soeben Erfolg, wie der zertrümmerte Lastwagen am Ufer der Themse beweist.
Gewissensbisse? Kennt er nicht. Hat er nie gekannt. Selbst bei seinen diversen Sondereinsätzen während des zweiten Weltkrieges nicht. Er, der damalige SS-Obersturmbannführer, war in den letzten zwei Kriegsjahren zuständig für die ‚Verwendung der täglich in Viehwaggons der Deutschen Reichsbahn eintreffenden Hotelgäste‘, wie er die neuen kurzzeitigen Insassen des ihm unterstehenden Konzentrationslagers während seiner Dienstzeit nannte.
*****
Es war einer dieser Allerweltunfälle, über die in den Zeitungen ständig berichtet wird. Je spektakulärer sie stattfanden, umso reißerischer die Aufmachung der Medien.
Ein Lastzug wurde durch einen unvorschriftsmäßig vom rechten Fahrbahnrand des Chelsea Embankment parkenden, plötzlich startenden und die Vorfahrt nicht beachtenden weißen Lieferwagen abgedrängt, fällte einen der zwischen Straße und Flussufer stehenden Bäume und durchbrach die Begrenzungsmauer, die die Straße von der Themse trennt. Danach kam die Zugmaschine erst in dem Hochwasser führenden Strom zum Stehen. Der Unfallverursacher suchte unerkannt das Weite und ließ einen toten Lkw-Fahrer zurück.
Charles Irwin Rowley, Lord of Southhill and Glenmore, sitzt am Schreibtisch seines Arbeitszimmers in Southhill Castle. Die Seiten zwei und drei der Times liegen geöffnet vor ihm. Nur kurz überflog er den Artikel. Ein aktuelles Foto daneben zeigt den Unfallort und ein etwas Älteres das Opfer, einen 45-jährigen Londoner.
Er will schon zum nächsten Artikel wechseln, doch da meldet sich sein Unterbewusstsein. Er ist nach einem zweiten Blick auf das Bild sicher, diesem Mann schon einmal begegnet zu sein. Glenn Robson, liest er bei näherer Betrachtung des Artikels. Auch der Name ist ihm irgendwie geläufig. Nur weiß er im Augenblick nicht, wo er beides hinstecken soll.
War er einer seiner Angestellten? Oder der Mitarbeiter einer Zulieferfirma seiner Betriebe? Doch die Spedition, die ebenfalls genannt wird, ist ihm zwar bekannt, doch steht sie nicht mit ihm in geschäftlicher Verbindung.
Er könnte auch während seiner aktiven Zeit als Sportler mit dem Mann kontaktiert worden sein. Das Alter des Toten würde stimmen. Dazu passt auch seine nebelhafte Erinnerung an Robson. Er sieht ihn als wesentlich jüngeren Mann vor seinem geistigen Auge. Wenn es so ist, dann betrifft es einen Lebensbereich, mit dem er abgeschlossen hat.
Lord Charles legt die Zeitung zusammen und wendet sich seiner Morgenpost zu. Im gleichen Augenblick hat er den Bericht vergessen.
*****
Als er mit 65 Jahren aus dem Arbeitsleben ausschied, machte er sich daran, seinem seit Jahren vorbereiteten Plan Tatsachen folgen zu lassen.
Nach seiner ersten Visite in Brighton im vergangenen Jahr und einer zweiten Fahrt vor acht Tagen stieg er vor einer Woche an seinem Wohnort in den Ford und lenkte ihn nach Calais. Auch jetzt nahm er die Fähre und landete so im britischen Dover.
Die ersten drei Tage weitab von London benutzte er dazu, diverse Utensilien für sein Vorhaben zu beschaffen, die er in Köln nicht auftreiben konnte.
Die benötigten großflächigen Aufkleber ließ er sich bereits vor einigen Monaten in der Umgebung seiner Heimatstadt von verschiedenen Geschäften anfertigen. Die insgesamt acht unterschiedlichen britischen Kfz-Kennzeichen besorgte er sich dagegen aus weit auseinander gelegenen hiesigen Dörfern in zwei Nacht- und Nebelaktionen.
Sie liegen nun versteckt in seinem Ford Transit, dessen Innenraum er vor einem halben Jahr in Eigenarbeit in einen für die kompakten Abmessungen doch recht komfortablen Campingwagen umbaute.
Als mobiler Ausgangspunkt und Schlafmöglichkeit während seines England-Aufenthalts gedacht, hat er für die Änderungen des Fahrzeugs viel Arbeit und noch mehr Sorgfalt aufbringen müssen. Doch es hat sich gelohnt. So hat er auch die Verstecke geschaffen für weitere diverse Hilfsmittel, die nicht unbedingt jeder sehen muss, der durch die zeitweise nicht verhängten Fenster in das Innere blicken könnte.
Seine erste Idee, einen von der ostwestfälischen Firma Westfalia angebotenen Campingwagen zu kaufen, legte er schnell wieder ad acta. Aufgrund der Kleinserie würde Scotland Yard die Identifizierung dieses Fahrzeugs trotz einer herausgefeilten Seriennummer sehr leicht gemacht werden.
Mit dem Ford hat er nun die Möglichkeit, die folgenden Nächte hotelunabhängig selbst in London schlafen zu können. Seine bisher Letzte liegt hinter ihm, abseits der überfüllten Straßen der Großstadt in der Nähe der Kew Gardens verbracht.
Noch hockt er über seine Liste gebeugt auf dem wieder zu einer Sitzbank zurückgebauten Bett seines Fords.
Der zweite Name lautet Paul Jones-Meredith. Seine Adresse ist ein Reihenhaus in der Lichfield Road. Die Straße, vor deren Einmündung in das Victoria Gate er nun seit gestern Nacht innerhalb einer Reihe anderer Fahrzeuge steht. Auf sie wird er in fünfzehn Minuten verstärkt seine Aufmerksamkeit richten müssen.
Er hat sechs Stunden geschlafen und fühlt sich ausgeruht und fit für die anstehenden Aufgaben.
Gleich nach dem zweiten Haken auf seiner Liste muss er an einem versteckt gelegenen Ort die gestern Abend noch seitlich angebrachten Aufkleber und das erste durch das zweite gestohlene Kennzeichenpaar ersetzen. Immerhin ist nicht auszuschließen, dass er bei dieser nächsten Aktion beobachtet wird.
Es wird Zeit. Noch ein letztes Mal blickt der Alte auf seine Liste. Ganz oben stehen die Londoner. Danach die Namen und Adressen der über die Insel verstreut Lebenden.
Jeden Einzelnen hat er bereits zu Beginn seiner Reise ausgespäht und sich so über die örtlichen Gegebenheiten informiert. Das Risiko, bei einer möglichen Verfolgung durch unbekanntes Gebiet zu irren und aufgrunddessen von Scotland Yard gefasst zu werden, will er nicht eingehen.
Seine Wegstrecke der folgenden Wochen hat er so gewählt, dass sie eine große Ellipse durch England bildet. Mit den zwei unteren Namen als Endziele seiner ‚Reise‘. Sie hat er von den Anderen etwas abgesetzt und jeweils doppelt unterstrichen.
Wenn er sie alle bis auf diese Zwei eliminiert hat, wendet er sich den beiden Männern etwas eingehender zu. Sie sind die Krönung der Aktion, die die Höhepunkte seines restlichen Lebens werden sollen. Ihnen wird er eine besondere Behandlung zuteilwerden lassen.
Der erste Mann ist wie die anderen seiner Zielpersonen Mitte vierzig und wohnt auf einem südlich der Hauptstadt gelegenen Landsitz. Wenn er dann auch den Letzten, den Besonderen, ins Grab geschickt hat, ist sein selbst gestellter Auftrag erledigt.
Sorgfältig räumt er den Innenraum des Transits auf und setzt sich hinter das Lenkrad.
An den vergangenen Tagen hat er seine ‚Londoner‘, wie er sie nennt, gründlich observiert. So auch sein heutiges Zielobjekt, das er am Steuer seines Rovers jeweils um 6.45 Uhr die Einmündung passieren sah. Er wird dem Mann auch heute wieder folgen.
Drei günstige Stellen für eine ähnliche Situation wie die am Vortag schon bei Robson Praktizierte hat er bei seiner letzten Verfolgungsfahrt ausgemacht. Er entscheidet je nach Verkehrslage vor Ort, welche infrage kommt.
Seinen darauffolgenden Opfern sollte er dann eine andere Todesart gönnen, bei denen nicht immer sein Fahrzeug eine Rolle spielt. Er darf dem Yard nicht zu viele Ansatzpunkte liefern, denn immerhin will er nach getaner Arbeit unerkannt wieder zurück in seine Heimatstadt gelangen.
Rückblickend muss er sich eingestehen, dass die gestrige Aktion nicht sorgfältig genug geplant und somit für ihn gefährlich hätte enden können. Nicht nur wegen der Möglichkeit, mit dem Lastwagen zu kollidieren. Er wollte vor seinem Anschlag die bereits in Deutschland gestohlenen und montierten Kennzeichen tauschen, hatte dies für den Samstagmorgen vorgesehen. Allerdings war es durch die Fahrt über Schneematsch etwas stärker verschmutzt, sodass schon sehr genau hingesehen werden musste, um es erkennen zu können.
Durch einen Anruf am Freitagmittag bei Robsons Arbeitgeber, in dem er sich als Freund des Fahrers ausgab, erfuhr er, dass der Lkw nicht wie üblich am Samstag, sondern bereits in wenigen Stunden wieder aus dem Norden zurückerwartet wurde. Weit früher als geplant. Also musste er schnell umdisponieren und den Wechsel in der Eile verschieben.
Doch zum Glück verlief seine erste Angriffsaktion erfolgreich und ohne Komplikationen. Es waren nur wenige Passanten unterwegs, die zu überrascht waren, um die Situation schnell genug erfassen und somit auf sein Fahrzeug achten zu können.
Trotzdem darf er in Zukunft ein solch großes Risiko nicht mehr eingehen. Doch sicherlich wird mit seinen folgenden Aufgaben auch seine Routine wachsen. Er weiß, er ist dazu gezwungen. Allein schon die Möglichkeit, dass ein Augenzeuge sein deutsches Schild erkannt, es der Polizei hätte nennen und somit seine England-Aktion in Gefahr bringen können, treibt ihm den Schweiß auf die Stirn.
Genau in diese Überlegung hinein biegt vor seinem Parkplatz der letzten Nacht ein stahlblauer Rover aus der Lichfield Road nach rechts ab. Am Steuer sitzt sein Mann. Es ist genau 6 Uhr 45. Klar, der Mann ist Büroangestellter mit festen Arbeitszeiten, die ihn auch samstags pünktlich seine Wohnung verlassen lässt.
Er startet den Ford und folgt ihm über Victoria Gate in Richtung Themse.
*****
Am Montag, dem 16. März, klingelt gegen sieben Uhr der Wecker. Wie an jedem Morgen zur gleichen Zeit dezent, jedoch unmissverständlich. Er stellt ihn schnell aus, um seine neben ihm noch schlafende Frau nicht zu wecken.
Mit einem prüfenden Blick auf Eve wirft er die Bettdecke zur Seite, schwingt mit noch nicht sehr viel Elan die Beine aus dem Bett und steht wenige Sekunden später im Bad.
Der erste Blick in den Spiegel zeigt ihm im Gegensatz zu seinem normal gesunden Teint einmal mehr ein bleiches Gesicht. Es war wieder der alte Albtraum, der ihn in unregelmäßigen Abständen seit dem Ende des 2. Weltkrieges quält.
Er sieht die Bomben fallen und die darauffolgenden kleinen, grellroten Punkte unter ihm aufleuchten. Und er weiß, er hat in diesem Land nicht nur kriegswichtige Anlagen, sondern auch Wohnhäuser zerstört, somit Menschen getötet und den Überlebenden großes Leid gebracht.
Er streicht sich mit beiden Händen über das Gesicht und versucht so, diese oftmals in Schüben auftretenden quälenden Gedanken zu vertreiben.
Nach der üblichen Morgentoilette kleidet er sich an, geht hinunter ins Speisezimmer, in dem seine langjährige Köchin Amanda wie an jedem Morgen ein reichliches Frühstücksbuffet für vier Personen bereitgestellt hat.
Seine Zwillinge sitzen bereits am Tisch und langen kräftig und zugleich hastig zu. Für sie wird es Zeit, sich auf den Weg zur Schule zu begeben.
Er lächelt still. In ihrem Alter hatte er auch stets Hunger für zwei.
In wenigen Wochen werden sie auf das Merton College in Oxford wechseln. Die Schule, die bereits alle männlichen Sprösslinge aus der Familie der Rowleys beherbergte. Danach werden sie nur noch während der Semesterferien und an den Wochenenden hier gemeinsam mit ihren Eltern sitzen können. Er wird sie vermissen.
Sie begrüßen sich wie jeden Tag, während Lord Charles mahnend auf die in der Zimmerecke stehende große Standuhr zeigt. Die Zwei nicken kurz mit noch vollem Mund, stehen auf und greifen sich ihre bereitstehenden Schultaschen. Mit einem fröhlichen Ciao verabschieden sie sich und sind einen Augenblick später durch die Tür zur Eingangshalle verschwunden.
Mit einem letzten flüchtigen Gedanken an seinen nächtlichen Traum schaut er sich nun nachdenklich im Raum um. Oftmals glaubt er, gemeinsam mit seiner Familie aus diesem ewig gleichen Kreislauf ausbrechen, etwas Aufregendes unternehmen zu müssen. Eine Weltreise auf einer gecharterten Hochseeyacht etwa. Die finanziellen Möglichkeiten dazu hätten sie sicherlich.
Nach dem Ende seiner durch den Krieg unterbrochenen sportlichen Karriere verläuft sein Leben in überaus geordneten Bahnen. Ähnlich wie ein Marathonlauf über das ewig gleiche Stadionoval. Langweilig und ohne große Höhepunkte, wie er seit kurzem findet.
‚Die britischen Adligen sind auch nicht mehr das, was sie bis vor dem zweiten Weltkrieg noch waren. Ausschließlich darauf bedacht, ihren Reichtum zu vermehren, zumindest aber zu erhalten. Die meisten von ihnen dekadent bis zum Abwinken‘. Er grinst bei dieser Vorstellung und weiß, würde er diese Ansichten im Kreise seiner Sitznachbarn im britischen Oberhaus offenlegen, würde ihm bei vielen von ihnen die gesamte Spannbreite von distanziert kühler Kritik bis zur offenen Anfeindung entgegenschlagen.
Lord Charles Rowley wirft einen Blick auf den neben dem Brotkorb liegenden Zeitungsstapel und schiebt ihn, noch immer lächelnd, erst einmal etwas zur Seite.
Ehe seine Frau sich zu ihm gesellen wird vergeht noch eine gute Stunde. Bis dahin hat er die Wirtschaftsnachrichten der wichtigsten Zeitungen studiert und den ersten Kaffee getrunken.
Seine Zeit bis gegen elf Uhr wird Eve gehören. Ihr vierundvierzigster Geburtstag steht in genau zwei Wochen an. Sie werden sich heute auch über die Planung der dazu auf Schloss Glenmore anstehenden Feierlichkeiten unterhalten müssen.
Danach wird er in seinem Arbeitszimmer die restlichen Zeitungsberichte überfliegen und die zwischenzeitlich eingegangene Post sichten. Wie an jedem Tag.
Er nimmt als erstes die obenauf liegende Times zur Hand und blickt auf das abgebildete Foto eines verunglückten Rovers. Es ist wieder einer dieser Horrorcrashs, jetzt auf dem Victoria Gate. Der Fahrer kam am vergangenen Samstag bei dem Unfall ums Leben. Da es keine Zeugen gab, wird die Ursache vermutlich ungeklärt bleiben.
Lord Rowley faltet die Zeitung wieder zusammen, da gerade in diesem Augenblick Eve die Tür öffnet und sich ihm lächelnd nähert.
Lord Charles ergeht es wie immer. Wenn sie erscheint, und dies im wahrsten Sinne des Wortes, wirkt doch jeder von ihr betretene Raum plötzlich leuchtender, heller. Liegt es an ihrem herrlichen Gesicht und der makellosen Figur oder an ihrer offenen, immer gutgelaunten Art? Er weiß es nicht, vermutet jedoch, dass es ein Zusammenwirken aller drei Faktoren ist, was sie so anziehend macht. Und dies nicht nur für ihn, wie er immer wieder, vor allem bei gesellschaftlichen Ereignissen, etwas eifersüchtig und doch gleichzeitig auch stolz erkennen muss.
„Guten Morgen, mein Schatz. Du bist früh dran. Steht etwas Besonderes an?“ Charles Rowley blickt seiner Frau in die schönen Augen, die er besonders an ihr mag.
„Nein, mein Lieber, nichts Außergewöhnliches. Ich konnte nicht mehr schlafen. Vielleicht fahre ich heute Nachmittag in die Stadt. Ich muss mich für das anstehende Fest neu einkleiden.“
„Ja, mach‘ das. Denke jedoch bitte daran: wir müssen sparen“, entgegnet er grinsend.
Sie geht lächelnd auf seinen Scherz ein. „Natürlich. Da wir doch bereits am Hungertuch nagen, werde ich mir von irgendeinem dieser obskuren Shops in der dunkelsten Londoner Nebengasse einen grauen Kittel anfertigen lassen.“
Sie steht nun neben ihm und küsst ihn auf den Mund. „Was schreiben die Zeitungen? Gibt es Neuigkeiten?“
„Der Börsenverlauf ist ruhig. Keine großartigen Ausreißer nach oben oder unten. Nur BOAC hat etwas zugelegt, der Kauf deines Kittels ist also gesichert. Alle Mitglieder der Königsfamilie leben noch und sind sogar bester Gesundheit. Bis auf Philipp, den eine leichte Erkältung behindert. Dann wieder einer dieser Verkehrsunfälle in der Nähe der Kew Gardens mit einem Toten. Weiter kam ich noch nicht.“
Während er sprach, ist sie an die Rückenlehne seines Stuhls getreten und legt ihm von hinten die Arme um den Hals. Dabei beugt sie sich zu ihm hinab und knabbert spielerisch an seinem rechten Ohr.
„Danke, Liebling, für die vergangene Nacht. Das sollten wir heute Abend unbedingt wiederholen.“
Er dreht seinen Kopf nach rechts und küsst mit verrenktem Hals ihren Mund. „Gern, mein Schatz. Also wie jeden Abend.“
„Höre ich da nun Langeweile, vielleicht sogar Überdruss heraus?“
„Nein, absolut nicht. Und das ist dir auch sicherlich bewusst.“ Er rückt seinen viktorianischen Stuhl etwas zur Seite und zieht Eve auf seinen Schoß. „Komm nur nicht auf seltsame Gedanken. Nicht, dass du auch diesem derzeitigen Modetrend nachgibst und zu einem Psychiater rennst.“
„Den werde ich vermutlich dann aufsuchen müssen, wenn irgendwann unser Liebesleben nachlassen sollte. Doch jetzt habe ich Hunger.“ Nach einem weiteren Kuss steht sie entschlossen auf und setzt sich Lord Charles gegenüber auf ihren Stuhl, „solch eine Nacht macht Appetit.“
Er sieht ihr lächelnd in die Augen, „ich liebe dich.“
Lady Eve wirft ihm eine Kusshand zu und greift am Ende dieser Armbewegung nach einem Croissant.
Es ist bereits 11.15 Uhr, als der Lord mit dem Zeitungsstapel auf dem linken Unterarm sein Arbeitszimmer betritt.
Die vor wenigen Minuten eingetroffene Post hat James, sein Butler und gelegentlicher Chauffeur, bereits sorgfältig gestapelt auf dem Schreibtisch deponiert.
Er blättert sie kurz durch und findet nichts außergewöhnlich Wichtiges darunter. Also wird er sich zuerst seinen Zeitungen widmen können.
Er schlägt die wieder obenliegende Times auf und sucht den Artikel über die von der Regierung angedachte Gebietsreform. Es interessiert ihn, inwieweit die Presse informiert ist. Als er den Bericht findet, stellt er fest, dass nichts Neues enthalten ist.
Direkt darunter sieht er wieder das Bild mit dem verunglückten Rover. Als er die Ablichtung des Fahrers sieht, denkt er, an Halluzinationen zu leiden, denn es beschleicht ihn zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage der Verdacht, auch diesen Mann schon einmal gesehen zu haben. Wie bereits vor zwei Tagen bei dem Konterfei des Lkw-Fahrers.
Doch wann und in welchem Zusammenhang? Er hat nicht die geringste Ahnung.
‚Ach was, das bilde ich mir ein. Das sind Allerweltgesichter, die ich irgendwann irgendwo gesehen und sofort wieder vergessen haben werde‘. Doch eine dumpfe Ahnung gibt ihm das Gefühl, dass diese Erklärung nicht den Kern trifft.
Lord Charles blickt noch einmal nachdenklich auf den Artikel und blättert schließlich mit einem Schulterzucken die Seite um.
*****
Donnerstag, 26. März 1964
Zehn Tage später sitzt kurz nach Arbeitsbeginn der 34-jährige Ambrosius Bumper, Detective Superintendent des Metropolitan Police Service, an seinem Schreibtisch im New Scotland Yard-Gebäude am Londoner Victoria Embankment. Auch er blättert, allerdings eher gelangweilt, durch die Seiten der aktuellen Times.
Zurzeit beschäftigt ihn keine besondere Ermittlungsarbeit. Selten genug, dass er einmal in Ruhe seine Zeitungen lesen kann. Nach aller Voraussicht steht ihm ein ruhiges Wochenende bevor.
Sein Blick fällt auf einen knappen Bericht. Ein Verkehrsunfall mit einem Toten im Londoner Westend.
Nachdenklich lehnt er sich in seinem Bürostuhl zurück. Wieder einmal einer dieser mysteriösen Verkehrsunfälle, die sich in den letzten Tagen vermeehrt ereigneten?
Er stützt die Ellenbogen auf die Armlehnen seines Bürostuhls und setzt die Fingerspitzen gegeneinander. Für seine engen Mitarbeiter, die ihn seit seiner Chief-Inspector-Zeit Chief nennen, ein Zeichen dafür, dass er in seinen Überlegungen nicht gestört werden möchte.
Sein Bauchgefühl sagt ihm, dass diese Häufung tödlicher Verkehrsunfälle einen gemeinsamen Ursprung haben könnten.
Etwas steifbeinig erhebt er sich von seinem Stuhl und öffnet die Verbindungstür zu seinem Vorzimmer.
Miss June Leroy, seine hübsche gleichaltrige Sekretärin, schaut von ihrer Arbeit auf und blickt ihn erwartungsvoll an.
„June, mir ist etwas äußerst Merkwürdiges aufgefallen. In letzter Zeit nimmt die Anzahl der tödlich verlaufenden Verkehrsunfälle zu, bei denen der Hergang nicht zweifelsfrei ermittelt werden konnte. Nie oder selten gab es einen Unfallgegner oder Zeugen. Besorgen Sie mir doch bitte die Akten der in dieses Schema passenden Todesfälle der … hm, sagen wir letzten dreißig Tage aus dem Großraum London.“
Die Frau lächelt verhalten. „Sie haben nichts zu tun, Sir. Kein Mord, keine Entführung, keine ungelösten Fälle. Da durchforsten Sie die Zeitungen und suchen etwas, in das Sie sich verbeißen können. Sie wollen einfach nicht glauben, dass es selbst in London auch Tage, manchmal sogar Wochen ohne Gewaltverbrechen geben kann.“
„Die Menschheit ist schlecht, June. Die meisten Untaten geschehen im Geheimen. Wir müssen sie nur aufspüren. Und gerade diese Häufung mysteriöser Unfälle kommt mir etwas seltsam vor. Ich habe kein gutes Gefühl dabei.“
„Ich war schon immer fasziniert, wenn Sie mir von einer Ihrer Ahnungen zu Beginn eines neuen Falles berichteten. Denn oftmals stimmte das anschließende Ergebnis mit Ihrer Vorhersage überein. In zwei Stunden haben Sie alle entsprechenden Akten auf Ihrem Schreibtisch, Sir.“
Es ist ein Stapel von insgesamt sechzehn Ordnern, den June ihm nicht ganz zwei Stunden später auf den Schreibtisch legt.
„Ich war bei den Kollegen der Verkehrsabteilung und habe dort etwas herumgestöbert. Dies sind die Ermittlungsergebnisse der tödlichen Unfälle der letzten vier Wochen, die bisher ungeklärt sind. Die Opfer waren fünf Frauen und elf Männer. Was mir bei acht Männern auffiel war, dass sie Anfang bis Mitte der zwanziger Jahre geboren wurden. Ob das allerdings auf einen Zusammenhang hinweist, weiß ich nicht. Selbst Männer in diesem Alter haben oftmals noch einen sehr risikoreichen Fahrstil.“
Eine halbe Stunde vor der Mittagspause hat er aus dem einen großen drei kleine Stapel gemacht. Im Ersten sind die Fälle der fünf Frauen, der Zweite besteht aus nur drei Akten. Es sind die Unfälle eines 75-Jährigen, dessen Fahrzeug erst gestern an einem Baum zerschellte und zweier ebenfalls älterer Männer, die ähnlich gelagert sind. Die Abschlussberichte der KTU und der Pathologie fehlen, sodass noch nicht feststeht, ob die Unfälle durch fahrerische Mängel, Krankheiten oder Fremdeinwirkungen ausgelöst worden sind.
Die acht restlichen Ordner bestätigen Junes Aussage. Sie alle waren Anfang bis Mitte vierzig und übten unterschiedlichste Berufe aus.
Einem inneren Drang folgend drückt er auf die Sprechanlage, die ihn direkt mit dem Arbeitsplatz seiner Sekretärin verbindet.
„June, Sie können die Akten zu sich hinüberholen. Die älteren Männer und diese fünf Frauen weisen keine Parallelen auf. Ich vermute bei ihnen ganz simple Unfälle ohne verbrecherischen Hintergrund. Im Falle der anderen, so denke ich, ist Ihnen vielleicht etwas Wichtiges aufgefallen. Besorgen Sie mir doch bitte, wenn vorhanden, die Personalakten dieser acht Mittvierziger. Ich will wissen, ob in der Vergangenheit irgendeine Verbindung zwischen ihnen bestand. Eventuell haben sie zusammen im Sandkasten gespielt, besuchten eine gemeinsame Schule, einen Club oder einen Sportverein. Irgendetwas in der Richtung.“
*****
Der Alte ist zufrieden. Mehr als die Hälfte seiner Aufgabe ist erfüllt, ohne dass ihm die Polizei auf die Spur gekommen ist. Bis auf die Zwei sind die Londoner Adressen auf seiner umfangreichen Liste erfolgreich abgehakt. Die akribische Vorarbeit hat sich bezahlt gemacht.
Noch vor Einbruch der Dunkelheit steuerte er seinen Ford auf einen Rastplatz vor Amesburys Stadtgrenze. Hier will er die kommende Nacht verbringen. Die Nacht, die ihn noch von seiner nächsten Aufgabe trennt.
Er verlässt den Innenraum seines Ford Transit durch die rechte Seitentür und besieht sich den Schaden am vorderen linken Radlauf, den das zweite Opfer mit seinem Rover verursacht hat. Der Mann wollte doch partout die Fahrbahn nicht verlassen. Etwas Lack ist abgeschabt, doch die Beule ist nicht groß und fällt nur bei genauem Hinsehen auf.
Ein Rundumblick zeigt ihm, dass er noch immer allein hier steht. Er rechnet nicht damit, bei der derzeit vorherrschenden feuchten Witterung weitere Besucher des Parkplatzes erwarten zu müssen.
Mit dem Abtauchen der Sonne hinter dem Horizont flammten nach und nach die Lichter der Stadt auf und ließen das nur zögernd aufleuchtende Funkeln der Sterne am wolkenlosen Himmel schnell wieder verblassen. Dafür schiebt sich am südöstlichen Horizont die Sichel des abnehmenden Halbmonds in seine Startposition und wird, wenn der Himmel weiterhin klar bleibt, während seiner Reise über das Firmament die britische Nacht in ein schwaches, geisterhaftes Licht tauchen.
Der Mann klettert wieder in sein Fahrzeug und bereitet sein Nachtlager vor.
Er hat schon am ersten Tag in London die Stadtpläne der für ihn wichtigen Orte der Insel gekauft und in einem seiner Geheimfächer versteckt. Nun hat er den von Amesbury ausgebreitet vor sich auf dem Tisch liegen.
Die Wohnung seines neunten Opfers befindet sich an einer Straße am östlichen Stadtrand, also nicht weit von seinem jetzigen Standort entfernt.
Wenn er James O’Connor seinen Besuch abgestattet hat, wird auch von ihm nur noch ein lebloser Körper übrigbleiben.
Erst danach wird er auf dem Weg zu seiner nächsten Adresse einen Traum verwirklichen, den er vor langer Zeit mit seiner Frau teilte. Nach Beendigung des Krieges, das hatten sie sich fest vorgenommen, wollten sie nach dem Tal der Könige auch die Pyramiden besuchen und als Nächstes vor der imposanten Kulisse von Stonehenge stehen.
Doch dazu kam es nicht mehr. Er wird ihr nach seiner Rückkehr nur noch seinen von den gigantischen Steinkreisen gewonnenen Eindruck schildern können, nachdem er das an ihrem Grab gegebene Versprechen erfüllt und ihr den Vollzug seiner selbst gestellten Aufgabe gemeldet hat.
*****
Wieder hat Lord Charles Rowley bei der Durchsicht der Times das gleiche Gefühl wie bereits zweimal vorher.
Wieder ist es ein Verkehrsunfall mit tödlichem Ausgang. Auch hierbei gibt es keine Zeugen, die den Hergang des Unglücks beobachteten.
Er kennt das Opfer, das weiß er mit Sicherheit. Dieses Mal hat es einen Rechtsanwalt aus Chelsea erwischt. Und im Zusammenhang mit den ihm aufgefallenen Zeitungsberichten über die zwei ersten Unfalltoten vor nicht ganz zwei Wochen beschleicht ihn die Ahnung, eine Verbindung herstellen zu müssen.
Doch wie könnte die aussehen? Seite an Seite die Schulbank gedrückt haben sie nicht. Die Verbindung zu seinen ehemaligen Kameraden aus Oxford-Zeiten besteht noch und wird jedes Jahr während eines Treffens erneuert. Das also kann er ausschließen.
Waren es wie er selbst Sportler, die vor vielen Jahren gemeinsam mit ihm trainierten?
Nein. Es ist etwas Anderes. Etwas, was er tief in sich verborgen hat, woran er nicht mehr erinnert werden möchte.
Doch bevor er beginnen kann, in den Tiefen seines Unterbewusstseins zu graben, klingelt das Telefon auf seinem Schreibtisch und rückt seine Überlegungen in den Hintergrund.
Sein Bruder, Sir Edward Rowley, meldet seinen Besuch auf Schloss Glenmore für den Nachmittag an und lässt ihn somit die Unfälle vorerst vergessen.
*****
Sollte er dieses Mal mit seinem Bauchgefühl falsch liegen? Vor wenigen Minuten kam seine Sekretärin mit den acht Akten auf dem Arm in sein Büro.
„Ich habe nichts gefunden, Sir, das diese Männer zusammenbringen könnte. Absolut nichts. Sie alle stammen zwar aus London oder sind direkt nach dem Krieg zugezogen, gehören jedoch unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten an. Auch über die Stadtteile, in denen sie wohnen oder aufgewachsen sind, habe ich keine Verbindungen herstellen können. In diesem Fall, so glaube ich, führt Ihr Bauch Sie in die Irre.“
„Kein Sportclub, keine politischen Aktivitäten, die sie gemeinsam hatten?“
„Nein, absolut nichts, Sir.“
Nachdenklich streicht er über sein glattrasiertes Kinn. „Seltsam. Trotzdem sagt mir eine innere Stimme, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Lassen Sie mir die Ordner hier, June. Die Ergebnisse Ihrer Recherchen sind in den Akten?“
„Ja, Sir. Ich habe alles notiert, was ich über die Toten herausfinden konnte.“
Nach Unfalldaten geordnet liegen die Akten geöffnet nebeneinander vor ihm. Die Blätter mit den Fotos sind obenauf abgeheftet.
Der erste Tote war der Lkw-Fahrer, der von einem weißen Liefer- oder Kastenwagen von der Straße gedrängt wurde und in der Themse landete. Der Letzte war ein Rechtsanwalt aus Chelsea. Auch hier meinte ein Zeuge, einen an den Seiten mit bunten Werbeaufschriften beklebten weißen Kastenwagen mit britischen Kennzeichen gesehen zu haben. Alle Toten waren knapp über 40 Jahre alt.
Bei den sechs anderen Unfällen konnten keine Zeugen ermittelt werden. Allerdings wies eines der Fahrzeuge, ein Rover, frische weiße Lackspuren auf, die auf den Zusammenstoß mit einem am Unfall beteiligten zweiten Kraftwagen deuten könnte.
Eine erste Spur? Ein erster Hinweis auf ein und denselben Täter? Denn auch den Unfall mit dem Lkw verursachte ein weißes Fahrzeug, wie drei der fünf Unfallzeugen berichteten, ohne Einzelheiten nennen zu können. Würde ihm hier eine Lackanalyse weiterhelfen?
Er drückt auf die Ruftaste der Sprechanlage auf seinem Schreibtisch. Miss Leroy meldet sich sofort. „June, finden Sie doch bitte heraus, ob das zweite Unfallfahrzeug, der Rover, sichergestellt wurde. Wenn dies der Fall ist, lassen Sie, wenn dies noch nicht geschehen ist, die weißen Lackspuren überprüfen, die an der Seite des Wagens gesichtet wurden. Ich möchte wissen, um welchen Wagentyp, welches Fabrikat es sich bei dem möglichen Unfallgegner gehandelt hat.“
„Der Rover steht noch auf dem Abstellplatz der Forensik, Sir. Ich werde sofort alles Nötige veranlassen.“
Mehr kann er im Moment nicht unternehmen. Nun heißt es warten. Warten auf die Ergebnisse der technischen und auch medizinischen Untersuchungen.
*****
Wie an jedem Morgen schließt sie gegen sechs Uhr die Tür zu ihrer Wohnung hinter sich und macht draußen auf dem Bürgersteig erste Dehn- und Stretchübungen. So bereitet sie sich auf ihren täglichen Waldlauf vor, der sie regelmäßig im Norden Amesburys durch die Wälder der nahen Umgebung führt. Ihr Ehegatte liegt derweil noch in Morpheus' Armen und hat noch gut eine Stunde, bis sein Wecker ihn mit lautem Schrillen dort herausreißt.
Es ist noch stockdunkel. Den Sonnenaufgang erwartet sie erst kurz vor sieben Uhr. Die ersten fünfhundert Yard geht sie verhalten an. Erst danach erhöht sie ihr Tempo kontinuierlich. Bis sie den nahen Wald erreicht.
Sie benutzt immer den gleichen Weg über Waldwege und ausgetrene Trampelpfade. Nur während der vergangenen vier Tage benutzte sie eine andere Strecke, weil ihr diese ein sportlich Gleichgesinnter vor einigen Tagen empfahl.
Doch sie ist eine Frau, die ungern einmal beschrittene Wege verlässt. Außerdem trifft sie auf ihrer normalen Strecke manchmal einen anderen Waldläufer, mit dem sie dann einige Worte wechselt. Was sie als reine Hausfrau gern in Anspruch nimmt, da ihr Ehemann nicht der Redseligste ist.
Als sie nach etwa fünf Minuten wieder eine kurze Übungspause einlegt, meint sie, einen lauten Schrei zu hören, danach wenige Minuten Stille, und dann einen lauten Knall.
*****
Amesbury liegt hinter ihm. Der neunte Haken auf seiner Liste ist gesetzt.
Schon am zweiten Tag fand er heraus, dass O’Connor sein Haus jeden Morgen gegen sechs Uhr im Trainingsanzug verließ und einen einstündigen Waldlauf absolvierte.
Am zweiten Tag seiner Beobachtung bereitete er sich darauf vor, sein Zielobjekt im Wald zu verfolgen. Sportlich genug war er trotz seines fortgeschrittenen Alters. Der folgende Tag sah ihn, in einem Gebüsch versteckt liegend, neben der ermittelten Strecke an einer schlecht einsehbaren Stelle im Wald auf der Lauer. Bekleidet mit einem dunkelgrauen Overall mit Kapuze, die er sich über den Kopf gezogen hatte.
An den vergangenen beiden Tagen war der von ihm Observierte allein hier unterwegs. Deshalb ging er davon aus, dass auch an diesem Morgen kein weiterer Frühaufsteher hier entlanglaufen würde.
Doch um allen Unwägbarkeiten zu begegnen hatte er einen dünnen Draht in Schienbeinhöhe an einem auf der anderen Seite des Waldweges stehenden Baum befestigt. Der liegt nun erst einmal laubbedeckt locker quer über dem Pfad, mit dem anderen Ende in seiner rechten Hand. Für sein Opfer in der Dämmerung unsichtbar, wird er ihn bei dessen Annäherung nur noch spannen müssen.
Sein Plan ging auf, der Mann war allein, stürzte und lag vor den Füßen des sofort neben ihn getretenen Alten.
Dieses Mal allerdings verlief seine Arbeit nicht ohne Komplikationen. Er wurde von einer jungen Frau gesehen, als er O’Connor die Pistole an die Schläfe setzte und ihm dabei in fließendem Englisch vor dem Schuss erklärte, warum er nun sterben müsse.
Die Frau lief in panischer Angst davon. Doch das war ihm im Grunde genommen egal. Ihre Anwesenheit stellte nach seiner Ansicht keine Gefahr für ihn dar. Er löste den Draht vom Baum, rollte ihn zusammen und verstaute ihn in der linken Tasche seines Overalls. Wenige Minuten später hatte er seinen Ford erreicht und befand sich auf dem Weg zu seinem etwas anderen nächsten Ziel, den mächtigen Steinkreisen von Stonehenge.
Nach einer halben Stunde Fahrt stoppte er den Wagen in einer weiteren schmalen Waldschneise. Er musste einige Male tief durchatmen, denn er empfand während seines Attentats die gleiche Befriedigung wie während seiner Zeit als KZ-Mitarbeiter.
Kam damals ein neuer Zug, dessen Viehwagen durch die Schiebetüren seine ‚Hotelgäste‘ freigaben, war er nach getaner Arbeit stolz, wieder einen Schritt weiter für die Erhaltung und ethnische Säuberung des Vaterlandes gegangen zu sein. Mit Befriedigung blickte er dann über die Gruppen. Über die der Arbeitsfähigen und die der von ihm für die Gaskammer Aussortierten.
Bedächtig entfernte er nun am Ford die seitlichen Aufkleber und wechselte die Nummernschilder. Die nächsten Werbefolien legte er sich für seine nach dem Besuch der Steinkreise folgende Aufgabe zurecht.
Er weiß nicht, ob sein Fahrzeug während seiner doch bereits zahlreichen Aktionen schon in Scotland Yards Visier geraten ist. Die Medien, die er natürlich aufmerksam verfolgt, berichteten bisher nichts darüber. Deshalb ist er unsicher, ob er die Typbezeichnungen des deutschen Transits nicht in die des nicht einmal ähnlich aussehenden britischen Ford Thames ändern sollte. Die entsprechenden Chrom-Schriftzüge hat er in einem seiner Geheimfächer deponiert. Zwar würde er Gefahr laufen, von einem kundigen Passanten auf die falsche Bezeichnung angesprochen zu werden, doch das könnte er in Kauf nehmen.
Er entschließt sich dann aber doch, mit dem Wechsel bis zu seinem nächsten Zielobjekt zu warten.
*****
Ihr Körper zitterte wie bei einem Schüttelfrostanfall. Als sie in die Richtung ging, aus der die Geräusche kamen, sah sie zwei Männer. Ihr gelegentlicher Gesprächspartner am Boden liegend und eine mit einem Overall bekleidete Gestalt über ihm stehend. Der Unbekannte bückte sich, drehte den bewegungslosen Körper unter ihm so, dass er in dessen Gesicht sehen konnte, nickte zufrieden mit dem Kopf und drehte sich in ihre Richtung.
Sie hatte einen kaltblütigen Mörder beobachtet und wusste, auch der Mann hatte sie soeben gesehen. Doch warum folgte er ihr nicht, als sie panisch flüchtete?
Erst nach einigen Sekunden setzte ihr Denken wieder ein. Sie stoppte und schaute sich um.
Versteckt hinter dichtem Buschwerk sah sie zwischen den Baumlücken, wie der Mörder ohne Hast in Richtung Landstraße ging. Es ließ ihn scheinbar völlig kalt, dass seine Tat beobachtet wurde.
Trotz ihrer Angst schlich sie mit weitem Abstand hinter ihm her. Dabei immer das Buschwerk und die Bäume als Deckung nutzend und achtgebend, nur nicht auf einen trockenen Ast zu treten, dessen lautes Brechen sie hätte verraten können.
Kurz vor dem Waldrand sah sie, wie er in einen auf einer schmalen Schneise inmitten des hier dichten Buschwerks geparkten weißen Kleintransporter stieg. Sie sah nur das Dach des Fahrzeugs, der Rest wurde verdeckt vom dichten Buschwerk.
Er startete und fuhr rückwärts auf die Landstraße. Sie konnte kurz durch eine Lücke im Grün das Kennzeichen erkennen und merkte es sich. Auf dem Asphaltband der Landstraße schaltete der Mann in den ersten Gang und ließ die Antriebsräder durchdrehen.
Sie sah nun auch das Logo einer landesweit bekannten Firma an den Seiten des Wagens, als er in Richtung Norden davonjagte. Erst danach lief sie zum nächsten Telefon, um die Polizei zu verständigen.
Nach dem Eintreffen der Beamten am Tatort schilderte sie den Tathergang, soweit sie ihn mitbekommen hatte. Die Beschreibung des Kastenwagens gelang ihr dann nur unvollständig, da sie den Hersteller oder sogar Typ nicht nennen konnte. In entschuldigendem Tonfall erklärte sie, eben kein Autofreak zu sein. Die des Mörders war ebenfalls äußerst ungenau. Nach kurzem Überlegen legte sie sich auf einen Mann nicht definierbaren Alters mit militärischer Haltung fest, der groß, schlank und bedingt sportlich war. 'Aber es war auf keinen Fall ein junger Mann', setzte sie erklärend hinzu.
So kam es, dass das Amesbury Police Department eine Großfahndung nach einem nicht genau beschriebenen Mann mittleren bis leicht fortgeschrittenen Alters einleitete. Wobei während einer von der örtlichen Polizeidienststelle einberufenen Pressekonferenz keine Details bekanntgegeben wurden. Vor allem, was das Fluchtfahrzeug betraf, bei dessen Identifizierung, einem mit der Werbung eines englandweit vertretenen Elektro-Großhandels-Betriebs lackierten Kastenwagens in weißer Grundfarbe und britischen Kennzeichen, die Zeugin auch nach langem Überlegen nicht sicher zu sein schien. Sie konnte nur die Buchstaben ‚Trans‘ über dem großen Kühlergrill des Fahrzeugs ausmachen. Wieviel Buchstaben danach noch folgten, war für sie nicht mehr erkennbar.
Wie die Beamten schnell herausfanden, wurden die Fahrzeugkennzeichen achtzehn Tage vorher in Luton gestohlen. Der Diebstahl eines weißen Kastenwagens mit auffälliger Beschriftung ist allerdings auch landesweit noch nicht aktenkundig. Selbst bei der Firma nicht, zu dessen Fahrzeugbestand der an den Seiten mit ihrer Werbung bedeckte Wagen hätte gehören können.
Wie jeder spektakuläre Mord gelangte dieser Fall in die Presse. So auch mit leichter Verspätung über den Daily Telegraph auf den Tisch des Londoner Scotland Yard-Beamten Detective Superintendent Ambrosius Bumper.
„June, besorgen Sie mir bitte sofort die Akte des Mordfalls O’Connor aus Amesbury. Wie ich durch einen Anruf bei meinem Amtskollegen in Amesbury erfuhr, ist darin, wie auch bei einigen unserer Londoner Fälle, ein weißer Kastenwagen verwickelt. Ich will alles darüber wissen. Dann besorgen Sie bitte eine Aufstellung und Fotos aller infrage kommenden aktuellen Kasten- und Lieferwagentypen, die in Europa gebaut werden. Also Alte und auch solche, die erst seit kurzer Zeit auf dem Markt sind.
Dann müssen wir die Analyse der am Rover anhaftenden Lacksplitter abwarten und sie mit den Modellen abgleichen. Vielleicht können wir so und auch mit Hilfe der Amesbury-Zeugin das Fahrzeug des Mörders auf diese Weise genau identifizieren. Die gleichen Fotos legen wir hier in London den Zeugen des Robson-Unfalls vor, die ebenfalls einen weißen Kastenwagen davonfahren sahen. Sollte mich mein Bauchgefühl doch nicht getäuscht haben? Offenbart sich hier eine Mordserie, die sich durch England zieht? Besorgen Sie mir die Unterlagen, dann wissen wir vielleicht mehr.“
*****
Auch Lord Charles Rowley las den Bericht über den Mord an James O’Connor in Amesbury.
Er sitzt wie immer eine Stunde vor Mittag an seinem Schreibtisch. Mehrere Tageszeitungen bringen Fotos des Toten. Die Times beschreibt ihn als einen ledigen 43-Jährigen. Er war ein erfahrener Hubschrauberpilot, der im zweiten Weltkrieg als Freiwilliger bei der Royal Air Force seinen Flugschein machte.
Auch ihn kennt er, und mit den Zeitungsmeldungen hat er nun endlich die Verbindung zu den Londoner Toten, über deren Unfälle die Tageszeitungen ebenfalls berichteten.
Plötzlich hat er wieder alles vor Augen. Zwei Jahrzehnte benötigte er, um all das zu vergessen, für das er als Handlanger der damaligen Politiker verantwortlich war. In seiner Erinnerung hört er die jeweils vier donnernden Motoren der Flugzeuge, die am Beginn des Rollfeldes auf das Startsignal warteten, spürt wieder die gespannte Atmosphäre der Besatzung hinter ihm, als er die Nase seiner Maschine an der Spitze der Staffel nach oben in die Wolken richtete. Die orangefarbenen Flammenpunkte auf deutschem Boden unter ihm, die die Bombeneinschläge markierten, haben sich in sein Gedächtnis gebrannt. Es sind nicht die schönsten Erinnerungen, die wieder in ihm hochgeschwemmt werden.
Er atmet tief ein und streicht mit beiden Händen über sein Gesicht, als ob er so die Geister der Vergangenheit vertreiben könnte.
Mit seiner Linken ergreift er den Telefonhörer, und nach kurzem Zögern legt er ihn wieder auf die Gabel.
Kann er sich mit seiner Vermutung an Scotland Yard wenden? Kann es wirklich einen Irren geben, der reihenweise die ihm seinerzeit unterstellten Flugzeugpiloten eliminiert?
Wenn es so sein sollte, dann wäre er doch als Erster gefährdet.
Er führte von Mai 1944 bis zum Kriegsende als Wing Commander eine Staffel von fünfzehn schweren Bombern an und flog selbst eine dieser Avro Lancaster Mk.X FM213. Während dieser zwei Jahre verlor er vier seiner Maschinen, und mit ihnen die Besatzungen. Es war ein hervorragender Wert. Trotzdem waren es vier zu viel.
Glenn Robson, Paul Jones-Meredith und auch James O’Connor waren drei der Piloten aus den ihm während der letzten Kriegsmonate unterstellten Maschinen.
Was ist, wenn sich seine Vermutung bestätigt? Stehen die anderen Besatzungsmitglieder ebenfalls auf der Liste dieses Irren? Ist es so, wäre sie sehr umfangreich, denn es sind weitere neunzig Männer, die mit in den fünfzehn Flugzeugen saßen.
Lord Charles hat sich entschlossen. Natürlich wird er dem Yard seine Befürchtung vortragen müssen. Wenn sie sich bestätigen sollte, dann wären nicht nur er selbst, sondern mindestens seine damaligen Piloten akut gefährdet, also weitere elf Männer. Sie müssen gewarnt und beschützt werden.
Lord Charles nimmt den Hörer wieder auf und wählt die Nummer Scotland Yards.
Er wird sich von der Zentrale mit Detective Superintendent Bumper verbinden lassen, den er vor einiger Zeit kennenlernte und als fähigen Beamten in Erinnerung behielt.
*****
Den Ford hat er auf dem Feldweg geparkt, der direkt an dem riesigen Monument vorbeiführt. Nur wenige Yards entfernt steht der Mann auf einem kleinen, von einem kreisrunden Graben umschlossenen flachen Hügel. Starr betrachtet er ehrfurchtsvoll die aufrechtstehenden tonnenschweren Megalithen, die die gewaltigen Kreise bilden.
Seine Lippen bewegen sich.
„Schau genau hin, Martha. Ich habe es dir versprochen. Wir werden einmal Stonehenge sehen. Auch wenn du nicht neben mir stehen kannst, im Geiste bist du bei mir.“ Seine flüsternd gesprochenen Worte hört niemand. Er ist allein auf dem sonst von vielen Touristen bevölkerten Areal.
Vor einer Stunde ist er angekommen. Seitdem ist er an jeden Steinblock herangetreten und presste seine Hände an die rauen Wände.
Schon als Kind war er von diesem Ort fasziniert. Begierig las er, was er über ihn in die Hände bekam. Er weiß alles über die Steinkreise – und doch auch wieder nichts. Ihr Alter ist ebenso wenig bekannt wie die Erbauer und dem oder den Zwecken, denen sie dienten. Und vermutlich wird auch niemals etwas Genaues erforscht werden können.
Nachdenklich dreht er sich um und geht zu seinem Fahrzeug. Schlecht geschlafen hat er während der vergangenen Nacht. Zu sehr hat ihn seine morgendliche Aufgabe in Verbindung mit der Aussicht auf diesen darauf folgenden besonderen Besuch erregt.
Nun hat er Stonehenge endlich erlebt und kann sein Vorhaben mit neuer Kraft zum Abschluss führen.
*****
Auf dem Schreibtisch des Scotland Yard-Beamten liegen einige großformatige Fotos. Es sind die von Miss Leroy aus dem Archiv erhaltenen Abbildungen der für die Morde infrage kommenden Transportfahrzeuge. Ambrosius Bumper hat sie nach dem Alphabet sortiert nebeneinander auf seinem Schreibtisch verteilt.
Insgesamt sieben Kastenwagen sind es, die sie ausfindig machen konnte und auf die die Beschreibung aus Amesbury passt.
Die Polizeistation der westlich von London gelegenen Stadt ist bereits telegrafisch gebeten worden, sie der Zeugin des Mordes an James O’Connor vorzulegen. Der Frau, die bei einem kurzen Blick auf die Front des Fluchtfahrzeugs ein großes TRANS erkannt haben wollte.
Nun könnte es sich dabei um einen Werbeaufdruck wie etwa ‚Transport‘, jedoch auch um eine Typenbezeichnung des Fahrzeugs handeln.
Eine erste Sichtung der Fotos zeigte ihm einen in Deutschland gebauten Ford mit der Bezeichnung TRANSIT. Hatte er hier bereits seinen Treffer?
So sehr ihm der Fall unter den Nägeln brennt, mit einem genauen Ergebnis der Befragung kann er frühestens am folgenden Tag rechnen. Fast vierundzwanzig Stunden, die er nutzlos verstreichen lassen muss, und in der der Mörder weitere Opfer finden könnte. Denn der Yard-Beamte ist zwischenzeitlich der festen Überzeugung, hier auf einen Serientäter gestoßen zu sein, der mit seinem weißen Kastenwagen durch England zieht, um, aus welchen Gründen auch immer, Männer im Alter von knapp über vierzig Jahren umzubringen.
Nachdenklich blättert er die links neben den Bildern liegenden Akten der acht Todesfälle durch. Was ist, wenn er bisher nicht nur die acht Londoner und den Hubschrauberpiloten aus Amesbury ermordet hat? Der Mörder muss auch nicht bei jeder Tat sein Fahrzeug benutzt haben.
Er sollte alle ungeklärten Fälle der letzten Wochen untersuchen lassen, in denen Männer, vielleicht auch Frauen im Alter von etwas über vierzig Jahren getötet wurden. Und es muss endlich eine Verbindung, irgendetwas Gemeinsames gefunden werden, was diese Menschen zu Opfer werden ließ.
Bumper drückt auf die Gegensprechanlage. Miss Leroy meldet sich sofort. „Ja, Sir, ich höre.“
„June, haben wir schon eine Rückmeldung aus Amesbury? Die Zeugin könnte zwischenzeitlich doch bereits befragt worden sein.“
„Nein, noch nicht. Ich werde gleich einmal dort anrufen und herausfinden, wie weit sie sind. Sir, ich erhalte gerade den Anruf Lord Charles Rowleys. Er ist das Mitglied des Oberhauses, der sich in der Vergangenheit bereits mehrfach für unsere Arbeit interessierte. Er möchte mit Ihnen verbunden werden. Er hat von den Todesfällen gelesen. Scheinbar kann er Ihnen hierzu einige Hinweise geben. Soll ich den Anruf auf Ihren Apparat hinüberlegen?“
*****
Das Freizeichen dringt schrill in sein Ohr. Dann knackt es in der Leitung und eine männliche Stimme sagt ihm, dass er mit der Telefonzentrale des Metropolitan Police Service verbunden sei.
Lord Rowley lässt sich mit dem Vorzimmer des Superintendenten Bumper verbinden. Miss Leroy, die er bei einem seiner Besuche im Yard kennenlernte, begrüßt ihn erfreut und schaltet die Leitung nach einer kurzen Unterhaltung weiter in das Büro ihres Vorgesetzten.
„Lord Rowley… Mylord, was verschafft mir die Ehre Ihres Anrufs?“ Der Beamte, den die älteren Kollegen nur Amb, die Untergeordneten nur Chief nennen, ist verblüfft. Mit einem derartigen Anruf hat er nicht gerechnet.
Nach einigen Höflichkeitsfloskeln kommt Lord Charles zur Sache. „Sir, vermutlich bin ich auf etwas Ungeheuerliches gestoßen. Wie viele andere Londoner lese auch ich regelmäßig nicht nur die hiesigen Tageszeitungen. Unter anderem ist innerhalb der vergangenen zwei Wochen jeweils über den nach meinem Verständnis sehr seltsamen und bisher als Unfälle dargestellten Tod dreier Männer berichtet worden. Ich kannte sie. Alle drei. Sir, ich habe hierbei einen furchtbaren Verdacht, über den ich mit Ihnen sprechen muss. Heute Nachmittag bin ich in London und würde dazu gerne gegen vier Uhr zu Ihnen kommen. Ich denke, es ist wichtig, was ich Ihnen zu sagen habe.“
*****
Sollte nun wirklich Bewegung in seine ins Stocken geratenen Ermittlungen kommen, in die er die Aufmerksamkeit der letzten Tage steckte? Sollten diese mysteriösen Todesfälle etwas mit Lord Rowley zu tun haben? Mit dem Adligen, der sich seit Jahren für die Polizeiarbeit interessiert und ihm persönlich innerhalb der letzten drei Jahre schon einige gute Tipps gab, die ihm halfen, zwei mysteriöse Fälle zu lösen?
Bumper weiß von der sportlichen Vergangenheit des Lords, die nur durch die Kriegsjahre unterbrochen wurde und so seinen Aufstieg in internationale Gefilde verhinderte. Sollte es eine Gemeinsamkeit mit den Toten auf diesem Gebiet geben?
Zu viele Sollte für ihn. Da sie gesellschaftlich zu unterschiedlich sind, schließt er derartige ebenso wie geschäftliche Verknüpfungen der Männer aus.
Bumper drückt auf die Taste der Gegensprechanlage, die ihn mit Miss Leroy verbindet.
„June, versuchen Sie doch bitte einmal, etwas Näheres über Lord Charles Rowley herauszubekommen. Und überprüfen Sie, welche Verbindungen mit unseren bisher bekannten Unfallopfern bestehen könnten. Der Lord hat seinen Besuch für vier Uhr heute Nachmittag angekündigt. Ich möchte bis dahin wissen, was er mir hierzu Wichtiges sagen könnte.“
„Dann sind es nur noch etwa vier Stunden. Ich werde sofort ins Archiv gehen und dort etwas Hektik verbreiten. Unser guter Archivar Gil wird danach wieder einige Zeit mit dem Aufräumen verschwenden müssen.“
„Lord Rowley ist jetzt Mitte vierzig, also im gleichen Alter wie die Toten. Gehen Sie rund fünfundzwanzig, nein, besser dreißig Jahre zurück. Vielleicht hat er in einer Jugendgang mitgewirkt, und eines seiner Opfer will sich rächen. Wer weiß denn, zu was diese adligen Teenager alles fähig waren … und leider immer noch sind.“
*****
Er sitzt in seinem Fahrzeug, ist auf dem Weg zum nächsten Ziel und sieht die monumentalen Steine durch die Rückspiegel langsam kleiner werden. Nach einer Kurve verschwinden sie schließlich völlig aus seinem Blickfeld.
Da vor wenigen Minuten eine Touristengruppe im Steinkreis wie eine Horde Eroberer einfiel, stieg er hinter sein Steuerrad und fuhr los. Er mag die Nähe von Briten nicht.
Das war nicht immer so. Doch seitdem er weiß, wer seiner Familie den Tod brachte, hasst er die Menschen, die Englisch ihre Muttersprache nennen.
Als er sich weit genug entfernt hat, um von den Touristen nicht mehr gesehen zu werden, erscheint vor ihm das Hinweisschild auf einen 500 Yard entfernten Wanderparkplatz. Mit gedrosselter Geschwindigkeit nähert er sich ihm und findet ihn verwaist. Langsam lässt er den Ford von der Straße herunter auf einen hinter einem dichten Busch gelegenen Standplatz rollen und schaltet den Motor aus.
Der Mann öffnet die Tür des Ford, rutscht mit den Beinen voraus vom Sitz auf den staubigen Parkplatz und schaut sich um. Er ist allein hier, deshalb kann er es wagen, die Kennzeichen zu tauschen und die Werbefolien von seinem Ford zu ziehen.
Das nächste Ziel heißt Marlborough. Sein Mann ist dort Schuhhändler, betreibt ein Geschäft in der Innenstadt.
Er ist nach dem kurzen Abstecher zu Stonehenge gerade in der rechten Verfassung, einen vorläufigen, trotzdem todsicheren Plan für sein nächstes Vorhaben ausarbeiten und ihn später den örtlichen Gegebenheiten anpassen zu können.
Einen Blick auf seine Liste, der ihm die Anschrift verraten würde, braucht er nicht. Den Weg dorthin ist er mit seinem rechten Zeigefinger über die Straßenkarte bereits mehrfach abgefahren.
Dem Mann ist bewusst, dass sich mit jedem seiner erfolgreichen Anschläge die Gefahr der Entdeckung verstärkt. Er muss vorsichtiger werden und darf in Zukunft keine Risiken mehr eingehen. Will er als freier Mann seiner Familie an deren Grab vermelden können, dass er ihre Mörder bestraft hat, sollte er noch weitaus umsichtiger als bisher vorgehen.
So wird er auch eine Situation wie im Wald bei Amesbury in Zukunft vermeiden müssen. Er bemerkte zwar die von panischem Schrecken begleitete Flucht der seine Tat beobachtenden Frau, doch zu dem Zeitpunkt war es ihm gleich. Nach einiger Zeit allerdings formte sich in seinem Kopf der Gedanke, eine besonnenere, mutigere Person hätte ihm unbemerkt folgen und so mehr herausbekommen können, als ihm lieb gewesen wäre. Weiß er denn, ob es nicht auch so geschah? Ob sie ihm nicht doch bis in die Nähe seines Fahrzeugs nachgeschlichen ist?
In solch eine Situation darf er sich unter keinen Umständen noch einmal bringen!
Bei seinen folgenden Aktionen wird er sein Umfeld besser im Auge behalten. Er will nicht die Gefahr eingehen, einen völlig unbeteiligten Beobachter unschädlich machen zu müssen. Obwohl …, wenn es ein Brite wäre, würde es ihn auch nicht sonderlich berühren.
*****
Der bereits an den Schläfen leicht ergraute 45-Jährige Dan Albright kann es sich erlauben, zu spät zur Arbeit zu kommen. Der Mann ist der Besitzer des größten und umsatzstärksten Schuhgeschäftes seiner mittelenglischen Heimatstadt.
Das gemeinsam mit der Familie eingenommene Frühstück ist beendet.
Während Helen, seine Ehefrau, den Tisch abräumt, bereiten sich die 16- und 14-jährigen Töchter Cathrin und Eileen auf den Schulweg vor. Der 8-jährige Edgar trödelt allerdings wie stets und wird wieder einmal nicht fertig.
Helen richtet ihren Blick auf ihn, sieht dann ihren Mann an und verdreht leicht genervt die Augen. Ein Zeichen für Dan, aufzustehen und seinen Sohn nicht allzu energisch zur Ordnung zu rufen.
Nachdem die drei Kinder das Haus verlassen haben, verabschiedet auch Dan sich mit einem Kuss von Helen.
„Was gibt es heute zum Mittagessen?“ fragt er, schon in der Haustür stehend.
„Etwas Besonderes. Lass‘ Dich überraschen!“
„Etwas Besonde… - oh verflixt, ich hab‘ nicht daran gedacht. Unser Hochzeitstag. Entschuldige bitte, Helen. Komm‘ in meine Arme, Schatz.“
Sie kommt lächelnd auf ihn zu, „das wäre das erste Mal, dass Du ihn vergessen hättest.“
Nach einigen Sekunden legt er seine Hände auf ihre Schultern, schiebt sie so wieder etwas von sich und blickt ihr spitzbübisch grinsend in die Augen. „Helen, schaust Du nachher einmal kurz unter unseren Betten nach? Ich glaube, ich habe heute Nacht von dort ein leichtes Kratzen vernommen.“
„Ich habe doch gewusst, dass Du ihn nicht vergessen hast. Bis zum Mittag, Liebling. Komm bitte nicht zu spät.“ Sie gibt ihm noch einen schnellen Kuss, löst sich aus seinem Griff, dreht sich um und läuft ins Haus zurück.
Auf dem Weg zum in der Grundstückseinfahrt abgestellten Fahrzeug fällt ihm ein auf der anderen Straßenseite etwa 50 Yards entfernt rechts parkender weißer Ford Kastenwagen mit der Werbeaufschrift eines bekannten Londoner Möbelhauses auf.
Haben sich seine Nachbarn wie regelmäßig alle zwei bis drei Jahre mit einer neuen Wohnungseinrichtung eingedeckt?
Er beachtet das Fahrzeug nicht weiter und lenkt seinen bereits in die Jahre gekommenen Jaguar XK 150 nach rechts auf die Straße.
Dass der Ford wenige Augenblicke nach seiner Vorbeifahrt ebenfalls gestartet wird und ihm mit großem Abstand folgt, entgeht seiner Aufmerksamkeit. Zu sehr kreisen seine Gedanken um Helens mögliche Reaktion auf das Geschenk zum Hochzeitstag, das bis vor wenigen Minuten noch unter dem Bett lag und nun sicherlich mit großer Spannung ausgepackt wird.
Ein leichtes Lächeln stiehlt sich in sein Gesicht. Er ist zufrieden mit seinem Leben, hat eine glückliche Familie, ein gut florierendes Geschäft, eine stabile Gesundheit und einen vergnüglichen Zeitvertreib, dem er in wenigen Minuten begegnen wird. Was will er mehr?
Schön, der gestrige Anruf des Yard aus London bereitet ihm doch schon einige Sorgen. Es sind ihm bis auf einen groben Umriss noch keine genaueren Angaben gemacht worden. Die wird ihm in wenigen Stunden der örtliche Polizeichef bei einem Vieraugengespräch mitteilen. Also dürfte es so akut nicht sein, da er erst ab heute Mittag eine zweiköpfige Eskorte als ständige Begleiter gestellt bekommen soll. Er wird bis dahin schon auf sich selbst aufpassen können.
*****
Vor ihm liegt die von ihm bereits durchgesehene Akte, die Miss June über Lord Rowley zusammenstellen konnte, als die Gegensprechanlage auf seinem Schreibtisch leise summt. Der Yard-Beamte drückt auf den blinkenden Knopf. „Was gibt es, June?“
„Sir, mir wurde gerade vom Eingang Lord Rowleys Ankunft mitgeteilt. Er wird in zwei Minuten vor der Tür stehen.“
„Ist es denn bereits vier Uhr? Schicken Sie ihn bitte sofort zu mir durch, June. Danke.“
Es ist nur ein Eintrag, den seine Sekretärin über den Lord finden konnte. Ein Vorkommnis, das allerdings vor dem zweiten Weltkrieg mit einem glatten Freispruch für den Adligen abgeschlossen wurde und mit dem derzeitigen Fall sicher nichts zu tun hat. Er schließt den Aktendeckel und legt den dünnen Ordner in die Schublade seines Schreibtisches.
Die zwei Männer, der Beamte einen halben Kopf kleiner als sein Besucher, doch beide mit sportlicher Figur, begrüßen sich lächelnd mit einem herzlichen Händedruck. Amb begleitet Lord Charles zur Sitzecke und bietet ihm seinen bequemsten Sessel an.
Am Ende eines etwa fünfzehnminütigen Berichts schiebt der Adelige dem Yard-Beamten einen bisher in seiner mitgeführten Ledertasche deponierten Aktenhefter über den Tisch.
Der Lord deutet auf den aufgeschlagenen ersten Bogen. „Sir, hierauf sind die Namen aller Besatzungsmitglieder mit Rang und Funktionen, die während der letzten Kriegsmonate in meiner Staffel ihren Dienst bei der Royal Air Force leisteten. Diese Liste und die darunter abgeheftete Kopie, die ich direkt nach Kriegsende erstellt habe, ist inoffiziell und somit eigentlich nicht ganz legal, und ich dürfte sie Ihnen auch nicht überreichen. Doch angesichts der letzten Ereignisse sehe ich mich dazu gezwungen. Drei bei den angeblichen Verkehrsunfällen innerhalb der vergangenen Tage Getötete sind auf dieser Liste mit einem Kreuz gekennzeichnet. Es waren bisher ausschließlich die Piloten meiner Staffel. Durch einige Anrufe erfuhr ich, dass weitere fünf meiner in London wohnenden ehemaligen Männer innerhalb der vergangenen zwei Wochen ebenfalls durch ungeklärte Unfälle zu Tode gekommen sind. Auch sie sind auf der Liste mit einem Kreuz versehen. Ich fürchte, ein Verrückter ist hier im Lande und macht Jagd auf sie … auf uns, muss ich mich berichtigen. Sir, Sie müssen die Wohnorte der anderen ausfindig machen und die Familien unter Polizeischutz stellen.“
Mit der linken Hand fährt Amb sich über seinen nicht vorhandenen Bart, während seine Rechte die Akte entgegennimmt. „Mylord, diese … ich nenne es einmal Serie … ist mir bereits ebenfalls aufgefallen. Nur konnte ich bisher noch keinerlei Verbindungen herstellen. Ihre Liste könnte mich ein erhebliches Stück weiterbringen. Ich werde sie sofort Miss Leroy zur weiteren Bearbeitung übergeben. Sie entschuldigen mich bitte einen Augenblick?“ Mit dem letzten Wort löst er die Kopie aus der Akte, erhebt sich und geht damit in Richtung Tür zu seinem Vorzimmer.
Mit der Hand auf dem Griff wendet er sich noch einmal seinem Gast zu.
„Sie haben keine Verbindungen mehr zu ihren Ehemaligen? Es würde uns die Suche etwas erleichtern.“
„Nein, Sir. Die haben wir direkt nach dem Ende des Krieges abgebrochen. Wir alle wollten nicht an dieses sinnlose Schlachten erinnert werden. An ein Töten vieler Menschen, in der Mehrzahl Zivilisten, an dem wir aktiv teilnahmen. Es ist möglich, dass einige der Männer noch untereinander Kontakt halten, doch ich habe ihn nicht. Auch diese Akte habe ich seit dem Ende des Krieges nicht mehr in Händen gehalten. Ich wollte die ganze damalige Zeit einfach nur vergessen.“
„Ja, das kann ich sehr gut verstehen. Es war eine schreckliche Zeit. Mylord, uns sind bisher mit dem Amesbury-Mord insgesamt neun männliche Personen bekannt, die eines unnatürlichen Todes gestorben sind. Sehen Sie sich deren Namen gleich bitte einmal an und …“ dabei hebt er die Hand mit der Kopie, „… vergleichen sie mit Ihrer Liste.“
Wenig später konnte ihm Lord Rowley nach einem Blick auf die Namen bestätigen, dass die Männer die sind, die er auf seiner Aufstellung durch ein Kreuz gekennzeichnet hat. Alle Neun waren Piloten seiner damaligen Staffel. Alle Neun hatten einen Londoner Wohnsitz.
Obwohl Miss Leroy augenblicklich an die Arbeit ging, konnte sie ihrem Vorgesetzten den Großteil der Anschriften der außerhalb Londons lebenden ehemaligen Piloten erst am Nachmittag des folgenden Tages vorlegen.
Da es auf der Insel kein Einwohnermeldeamt nach dem Muster einiger festlandseuropäischer Staaten gibt, musste sie sich der Wählerlisten bedienen und auf die Auskünfte der Royal Air Force warten, die sehr zögerlich und auch erst nach der Intervention des zwischenzeitlich über Bumpers Verdacht in Kenntnis gesetzten Sir James Miller, dem diesjährigen Mayor of London, und einem vom Yard-Beamten verfassten ausführlichen Bericht flossen.
Nach den gegen 8 Uhr übermittelten Unterlagen der RAF und den dadurch nun ermöglichten genaueren Recherchen konnte June Leroy auch die Aussagen des Lords bestätigen. Somit hat sich der Verdacht erhärtet, dass auf der Insel ein Serienmörder unterwegs ist, der es bisher speziell nur auf die ehemaligen RAF-Piloten unter Lord Rowleys Führung abgesehen hat.
Schnell rafft sie alle Unterlagen zusammen und sitzt wenige Augenblicke später vor dem Schreibtisch ihres Vorgesetzten.
„Es scheint nun doch, Sir, dass Ihr Spürsinn Sie mal wieder auf die richtige Fährte gelenkt hat.“
„Ja, allerdings ohne Lord Rowleys Hilfe würde ich noch immer im Dunkeln tappen. Die Namensliste seiner ihm untergebenen RAF-Piloten brachte den entscheidenden Hinweis.“
Mit versteinerter Miene blättert er Sekunden später in seinem Büro die Akten durch, überfliegt die Daten und erhebt sich wieder aus seinem Bürostuhl, um noch einmal zurück zu Miss Leroy zu gehen.
„June, können Sie herausfinden, wo genau diese Fliegerstaffel während des Krieges eingesetzt war? Gab es vielleicht noch außerdem irgendeinen Vorfall innerhalb der Gruppe, der einen der Männer auf dieser Liste zum Rächer hätte werden lassen?“ Amb verzieht sein Gesicht jetzt zu einer leicht resignierten Grimasse, „ob die zweite Frage allerdings nach rund zwanzig Jahren noch geklärt werden kann, bezweifle ich sehr. Doch versuchen Sie es trotzdem. Wenn etwas Derartiges geschah, wäre es möglich, dass hierüber noch Aufzeichnungen, eventuell sogar auch Militärgerichtsakten existieren. Lord Rowley wird Ihnen sicherlich ebenfalls Auskunft geben können. Sollte er jedoch während eines möglichen Vorfalls innerhalb seiner Mannschaft direkt involviert gewesen sein, wird er sich mit seiner Hilfe und seiner Auskunftsfreudigkeit vermutlich sehr einschränken.“
„Sie wissen schon, Sir, dass das Militär in der Herausgabe gerade dieser Unterlagen ausgesprochen eigen ist? Vor allem dann, wenn es um gerichtlich relevante Verfehlungen ihrer Angehörigen geht. Ich denke, hierbei wird uns nicht einmal unser aller Vorgesetzter Sir Miller helfen können. Die Militärs werden mich dort vermutlich auf Granit beißen lassen.“
„Mit Ihrem Charme und den gesunden Zähnen werden Sie es schaffen, June. Da bin ich mir sicher.“
Dieses Mal ist es Miss Leroy, die skeptisch ihre Stirn kräuselt.
Amb will sich gerade abwenden und in sein Büro zurückgehen, da fällt ihm noch etwas ein.
„June, das hätte ich fast vergessen – und eigentlich viel eher in Auftrag geben müssen … nehmen Sie doch bitte als Nächstes eine Landkarte und zeichnen alle Wohnorte der für weitere Anschläge infrage kommenden Personen dort ein. Ich denke, unser Mann wird sich einen Plan zurechtgelegt haben und sicher nicht kreuz und quer durch England fahren wollen. Ich will wissen, wen er nach Amesbury als Nächsten ins Auge gefasst haben könnte. Im Großraum London scheint er ‚fertig‘ zu sein und wendet sich nun offensichtlich seinen außerstädtischen Zielen zu. Die Karte hat oberste Priorität, ich muss wissen, wen er als Nächsten ins Visier nehmen könnte. Konzentrieren Sie sich hierbei erst einmal ausschließlich auf die Piloten. Augenscheinlich hat er es nur auf sie abgesehen, da die untergeordneten Besatzungsmitglieder der Lancaster-Bomber mit Londoner Wohnsitzen bislang ungeschoren blieben.“
Mit einem leichten Lächeln hält ihm Miss Leroy ein Blatt etwas steiferen Papiers hin. „Vor wenigen Sekunden erledigt, Sir. Die Karte wollte ich Ihnen soeben bringen.“
*****
Dan Albright, der sich gerade in der Haustür so liebevoll von seiner Frau verabschiedet, scheint bisher ein glückliches Leben geführt zu haben. Ein Leben innerhalb einer offensichtlich intakten Familie mit Frau und drei Kindern.
Ein Leben, das ihm, dem am Steuer des in der Nähe des Schuhhändler-Hauses geparkten Ford Transit Wartenden, verwehrt geblieben ist. Nicht zuletzt aufgrund der für viele tausend Menschen tödlichen Handlungen dieses Mannes, der … ja, der möglicherweise sogar die für seine Familie todbringende Bombe aus dem von ihm gesteuerten Flugzeug auf sein Haus fallen ließ.
Er selbst will nun diesem Glück ein Ende setzen. Ein längst überfälliges Ende.
Gestern am späten Abend ist er nach seiner Ankunft in Marlborough durch die Innenstadt gefahren. Sein Ziel war die Erkundung der Lage des Albright-Schuhgeschäfts und einer günstigen Stelle für seinen Angriff. Die anschließende erfolgreiche Flucht wird für ihn bereits Routine sein werden.
Die Berichte der Medien über seine gestern erfolgte letzte Hinrichtung sind sehr allgemein gehalten. Nichts über die Zeugin und noch weniger über ihn oder sein Fahrzeug. Gut so! Allerdings ist er sich auch im Klaren darüber, dass die Polizei den Medien nicht alle Ermittlungsergebnisse auf den Tisch legen wird.
Diesen ersten Morgen in Marlborough will er nun dazu nutzen, die Gewohnheiten des Mannes auszuspähen. Er wird dem Jaguar-Roadster folgen, der in diesem Moment von seiner kurz vor dem Ende der Sackgasse von Manton Hollow liegenden Hauszufahrt in Richtung Einmündung zur Golding Avenue rollt.
Der Beobachter hat sich in der einer Enklave ähnlichen Anlage gründlich umgeschaut. Es herrscht hier außerordentlich wenig Betrieb. Die ersten ausschließlich männlichen Bewohner verließen gegen sieben Uhr ihre Häuser. Albright scheint einer der Letzten zu sein.
Dieses Wohngebiet ist beileibe kein Domizil für Arbeiterfamilien. Die einzeln auf relativ großen Grundstücken stehenden Häuser der etwas außerhalb der Stadt angelegten Siedlung sind klar erkennbar nur für gutbetuchte Bürger erbaut.
Der Mann am Steuer des Ford lächelt still. Eines von ihnen wird in absehbarer Zeit einen Bewohner auf für die Familie recht traurige Weise verlieren.
Erst als Albright etwas über einhundert Yards entfernt ist, startet er seinen Ford und folgt dem roten Sportwagen.
*****
Zu Dienstbeginn am Morgen des zweiten Tages nach dem Amesbury-Mord sieht Miss Leroy ihren Vorgesetzten Detective Superintendent Bumper bereits an seinem Schreibtisch sitzen.
Sie legt den Bericht der Kriminaltechniker auf seinen Schreibtisch.
„Guten Morgen, Sir. Ich habe die Lackanalyse aus dem Labor mitgebracht.“
„Danke, June. Sehe ich mir gleich an.“
Er hat die Landkarte vor sich liegen, auf der June am Tag zuvor die Wohngebiete der potentiellen Opfer mit einem Kreuz markiert hatte.
Der Großraum London, Amesbury – was folgt als nächster Anschlagsort? Wer ist sein nächstes Opfer? Nachdem er seine Londoner Ziele eliminiert hatte, wandte er sich nach Westen. Bumper kann also davon ausgehen, dass der Mann von Amesbury aus die nächstgelegene Stadt ansteuern wird, und das ist … Bumper fährt mit dem rechten Zeigefinger über die Landkarte … eindeutig Marlborough. Oxford, March, Holt und wieder London sind zu weit entfernt. Der Mörder würde zu weite Umwege machen, wenn er seine Ziele auf anderem Weg abfahren würde.
Am vergangenen Abend noch hat er den Auftrag gegeben, die Polizeidirektionen dieser Orte zu verständigen und aufzufordern, sofort eine zivile 24-Stunden-Wache vor die jeweiligen Häuser der gefährdeten Personen zu organisieren.
Sein Assistent, Detective-Inspector Rutherford, setzte sich auch gleich darauf an sein Telefon und gab die entsprechenden Weisungen weiter.
Also Marlborough. Amb blickt auf die Bürouhr über der zweiten Tür, die auf den Korridor hinausführt und von innen stets verschlossen ist. 8 Uhr. Er drückt auf die Taste seiner Gegensprechanlage, die ihn direkt mit seinem Vorzimmer verbindet und spricht ins Mikrofon, noch bevor seine Sekretärin sich melden kann.
„June, stellen Sie doch bitte eine Verbindung mit dem Police-Department in Marlborough her. Ich denke, dort wohnt das nächste Ziel unseres Attentäters.“
„Sofort, Sir. Ich stelle sofort durch, sobald die Leitung steht.“
*****
„Hi, Onkel Charles, was habt ihr geplant für das kommende Wochenende? Mir ist langweilig, deshalb suche ich etwas Abwechslung durch intelligente Gesprächspartner und würde gern zu euch kommen. Denn wo sollte ich sie besser finden als bei euch?“
„Hallo, Catherine. Natürlich, Du bist immer herzlich willkommen. Bei uns steht nichts Besonderes auf dem Terminkalender, und ich denke, die Zwillinge sind ebenfalls anwesend.“
Die Stimme Catherine Rowleys, Tochter Sir Edward Rowleys, des um zwei Jahre jüngeren Bruders des Lords, klingt alles andere als gelangweilt, sondern energiegeladen wie eh und je.
„Schön, dann wird es also auch lustig werden.“
„Wie soll ich das denn nun verstehen? Sind Deine Tante und ich Dir etwa schon zu … nun, sagen wir … zu sehr abgeklärt?“
Ein etwas langgezogenes ‚Nein‘ kommt als Antwort, und sofort danach ein durch verhaltenes Lachen gedämpftes „natürlich nicht. Nur sind die Gespräche mit euch auch amüsant, eher aber interessant und horizonterweiternd, da ihr allem gegenüber aufgeschlossen seid. Die mit Henry und Thomas jedoch sind spaßig und unkonventionell. Ich mag das Eine sowohl als auch das Andere sehr. Und da die Zwei im kommenden Schuljahr die Familienplätze am Merton College in Oxford einnehmen werden, dürfte ich sie ab dem Zeitpunkt nicht mehr allzu oft sehen können. Ich denke, ich werde sie vermissen.“
Nach weiteren fünf Gesprächsminuten legt Lord Charles lächelnd den Hörer zurück auf die Gabel. ‚Na, da hat sie noch so gerade eben die Kurve bekommen. Ich hätte ihr auch die Ohren langgezogen, hätte sie ihren Eingangsspruch nicht relativiert.‘
Erneut nimmt er den Telefonhörer in die Hand. Mit nachdenklicher gewordenem Gesichtsausdruck wählt er die Nummer des Yard. Wenige Augenblicke später steht die Verbindung zu Superintendent Bumper.
*****
Der von Miss Leroy auf seinen Apparat geleitete Anruf bei der Polizeistation in Marlborough brachte dem Chief die Auskunft, dass Dan Albright, das vermutlich nächste Opfer auf der langen Liste des Mörders, rund um die Uhr überwacht würde. Jedoch erst ab dem späten Vormittag des folgenden Tages, da die Mannschaft noch nicht komplett zur Verfügung stünde.
Kopfschüttelnd beendet Amb das Gespräch in leicht verwundertem Tonfall, ‚wann ist denn bei euch dort Dienstbeginn?‘ und hört, dass neben einer Grippeepidemie in der Polizeistation während der vergangenen Nacht in der Stadt ein Großeinsatz stattfand, der sämtliche noch zur Verfügung stehende polizeiliche Einsatzkräfte auf die Straße beorderte.
Der Hörer liegt gerade wieder auf der Gabel, da rasselt die Glocke erneut los. Miss Leroy meldet sich ein zweites Mal und avisiert einen Anruf Lord Rowleys.
„Mylord, Sie möchten sich vermutlich über den Stand unserer Ermittlungen informieren. Wir haben noch keinen Hinweis auf den Täter. Nicht einmal seine Nationalität ist bekannt. Er benutzt zwar ein Fahrzeug mit britischer Zulassung, trotzdem können wir nicht zwangsläufig davon ausgehen, dass der Täter ein Einheimischer ist. Da das bisher ermittelte Kennzeichen gestohlen wurde, müssen wir auch andere Möglichkeiten in Betracht ziehen. Auf jeden Fall, und damit bin ich mit Ihnen einer Meinung, wird der Auslöser dieser Anschläge ein Vorfall sein, der sich während des zweiten Weltkrieges zugetragen hat.“
„Keiner während der Zeit, in der diese Männer mir unterstellt waren. Und vor dieser Zeit hatten sie in den unterschiedlichsten Truppenteilen Dienst, hatten vorher also keinen Kontakt miteinander. Ich habe zwischenzeitlich natürlich auch einige Überlegungen angestellt. Zum Beispiel: warum hat er nur acht seiner Londoner Zielpersonen eliminiert und mich dabei bisher verschont? Als Kommandeur der Staffel wäre ich doch sein wichtigstes Zielobjekt. Stattdessen schwenkt er ab in Richtung Westen. Wie wird er weiter vorgehen? Haben Sie die Wohnorte der restlichen fünf Piloten ermitteln können?“
„Ja, Mylord, haben wir. Wenn er den kürzesten Weg hin zu ihnen wählen sollte, was wir vermuten, dann dürfte er innerhalb der nächsten Stunden bei Dan Albright zuschlagen wollen. Seine und auch die Familien der anderen vier ehemaligen Piloten werden von meinen Kollegen vor Ort bewacht.“
„Haben Sie etwas Genaueres über das Fahrzeug des Mörders herausfinden können?“
Die Lackanalyse! Sofort greift Amb nach dem Umschlag und öffnet ihn.
„Einen Moment, Mylord, ich habe hier den Bericht der Techniker. … Die Lacksplitter an dem verunfallten Rover des zweiten Opfers stammen von einem bisher nur in Deutschland gebauten Ford Taunus Transit. Es ist ein Kleintransporter. Ein Kastenwagen oder Kleinbus, wie er von den wenigen bisherigen Zeugen beschrieben wurde. Somit ergibt auch das von der Joggerin in Amesbury erkannte ‚Trans…‘ auf der Front des Fluchtfahrzeugs einen Sinn.“
„Das heißt aber nun auch nicht unbedingt, dass der Mann Deutscher sein muss. Und erst recht nicht, dass er aus Köln stammt, der Stadt der Ford-Werke …“ Hier unterbricht der Lord den Yard-Beamten, „…. obwohl ich gerade mit Köln eine Verbindung ziehen könnte. Mit unseren Lancaster sind wir gegen Ende 1944 zwei Angriffe auf diese Metropole am Rhein geflogen. … Doch meine jetzige Vermutung ist absolut undenkbar. Wenn der Attentäter oder seine Familie vor zwanzig Jahren Opfer dieser Angriffe geworden ist und er nun einen Rachefeldzug durch England startete, frage ich mich, wie er an unsere Namen und auch derzeitigen Anschriften gelangen konnte. Selbst wir Ehemalige hätten keinen Zugriff auf diese Daten.“
„Nun, Mylord, auf jeden Fall müssen wir trotz Ihrer Bedenken auch diese Möglichkeit in Betracht ziehen. Auch dann, wenn sie absurd erscheint. Allerdings haben wir zurzeit auch keinen anderen Anhaltspunkt, an dem wir ansetzen könnten. Der Yard-Beamte zögert etwas, bevor er weiterspricht. „Dazu eine Frage, Mylord, gab es gegen Ende des Krieges innerhalb der Royal Air Force irgendeinen Vorgang, der ein Mitglied Ihrer Staffel oder auch einen Außenstehenden dazu bewegen könnte, selbst nach zwanzig Jahren noch eine derartige Racheaktion durchzuführen? Ich denke hier an eine mögliche Disziplinarstrafe, die von allen anderen initiiert wurde und die der Empfänger als ungerecht betrachtet haben könnte. Oder einen Streit unter den Piloten. Irgendetwas in dieser Richtung.“
Lord Charles antwortet unverzüglich und mit fester Stimme, „Mr. Bumper, natürlich habe auch ich hierüber bereits Überlegungen angestellt, und ich verstehe die Beweggründe Ihrer Frage. Doch nein! Wir waren damals eine eingeschworene Gemeinschaft. Da wäre Jeder für Jeden durchs Feuer gegangen. Also nochmals: nein, einen derartigen Vorgang gab es auch nur ansatzweise nicht!“
Diese Aussage kommt ohne Zögern und so überzeugend, dass der Chief diese Option gleich in den gedanklichen Papierkorb verbannt. Vorerst jedenfalls, denn er hat nicht die geringste Ahnung, wie sich der Fall weiterhin entwickeln wird.
„Gut, dann ist dieser Punkt erst einmal geklärt. Ich denke, Mylord, der Attentäter wird als Nächstes im Nordwesten Englands versuchen, seine Aktivitäten fortzusetzen. Was wir natürlich verhindern müssen. Wie bereits geschildert stehen die Familien der betroffenen Männer Tag und Nacht unter Polizeischutz. Auch zu Ihnen ist ein Fahrzeug mit zwei meiner Beamten unterwegs, die Sie ab heute auf Ihren Wegen außerhalb Ihres Schlosses auf Schritt und Tritt begleiten und, wenn Sie in Southhill Castle sind, davor Wache halten werden. Wir müssen und werden natürlich weiterhin in alle Richtungen ermitteln, obwohl ich mit Ihnen übereinstimme, dass es der Mörder allein auf die Piloten Ihrer Bomberstaffel abgesehen hat. Sie dürften, wie Sie selbst auch vermuten, als Letzter auf seiner Liste stehen und für etwas Besonderes auserkoren sein. Immerhin waren Sie deren Kommandeur und könnten – wenn unsere Überlegung zutrifft - somit für ihn der Hauptverantwortliche sein. Für was auch immer.“
*****
Wie dem Londoner Yard bereits telefonisch mitgeteilt wurde, ließ eine schon seit mehreren Tagen unter den Beamten der Polizeistation in Marlborough grassierende Influenza-Epidemie deren Personalbestand auf ein in der Vergangenheit nie erreichtes Minimum reduzieren. Dann kam außerdem auch noch die gestrige Krawallnacht in der Stadt dazu, die alle noch verbliebenen Beamten auf den Plan riefen. Und ausgerechnet heute kommt Scotland Yard aus London mit einem Amtshilfeersuchen.
Der Einsatzleiter sitzt an seinem Schreibtisch und blickt mit finsterer Miene auf den vor ihm ausgebreiteten Dienstplan der aktuellen Woche. Erst morgen stehen ihm wieder einige Einsatzkräfte zur Verfügung. Somit hat er niemand, den er ad hoc als Personenschützer vor die Haustür dieser Familie stellen kann.
Ein Serienmörder! Unterwegs in einem weißen Ford Kastenwagen. Und die nächste Zielperson soll ein bekannter Schuhhändler in seiner Stadt sein?
Der Attentäter wird sich gedulden müssen. Erst morgen Vormittag wird er eine Streife abkommandieren können. Mr. Albright ist gewarnt und außerdem der Meinung, bis zum Eintreffen der Beamten auf sich selbst achtgeben zu können.
Er kann nur hoffen, dass dies so ist und bis zur ersten Kontaktaufnahme der bis dahin wieder einsatzfähigen Beamten nichts Ernsthaftes geschieht.
*****
Am Tag seiner Ankunft in der Stadt ist er nach der Auskundschaftung des Domizils seines nächsten Opfers Teil der durch die Geschäftsstraße flanierenden Einwohner und Besucher. Unscheinbar und offensichtlich dem Äußeren nach bereits Rentner.
Der Ford steht auf einem abseits gelegenen Parkplatz. Wieder ohne Werbeaufdrucke und mit abermals gewechselten Kennzeichen.
Er ist an diesem Morgen Albright bis zu einem alleinstehenden Einfamilienhaus im Osten Marlboroughs gefolgt, in dem sicher nicht sein Schuhgeschäft untergebracht ist.
Eine junge, gutaussehende Rothaarige öffnete ihm die Tür und empfing ihn mit einer herzlichen Umarmung.
‚Eine Privatkundin?‘ dachte er mit ironischer Miene. ‚Na, lange wird er diese Nebenbeschäftigung nicht mehr ausüben können.‘
Da er nun nicht unbedingt erfahren musste, wie lange sich Albright in diesem Haus aufhalten wird, startete er sein Fahrzeug und fuhr in die Stadt. Nach kurzer Suche fand er den Parkplatz, auf dem bereits mehrere Lieferfahrzeuge standen. Hier würde sein Ford sicher nicht auffallen.
In einem dem Schuhgeschäft gegenüberliegenden Café saß er einige Zeit am Fenster. Etwa eine Stunde später sah er Albright kommen.
Doch ehe er sein Geschäft betreten konnte, lösten sich zwei Männer aus dem Strom der Passanten und traten auf ihn zu.
Nach einem kurzen Gespräch, das die drei Männer mit einem angedeuteten Kopfnicken vorläufig beendeten, betraten sie gemeinsam das Schuhgeschäft.
Was war denn das? Er ist neugierig geworden. Nachdem er sein hier eingenommenes Frühstück bezahlte, stand er auf und verließ das Café.
Mit langsamen Schritten nähert er sich nun dem Eingang des Geschäfts, öffnet die Tür und betritt den großen Verkaufsraum.
Im letzten Augenblick noch sieht er die drei Männer in einem der hinteren Räume verschwinden.
Mit den Besuchern stimmt etwas nicht! Sie machen nicht den Eindruck, als würden sie sich schuhtechnisch beraten lassen wollen. Der Alte hat ein besonderes Gespür für Gefahr, das ihn bereits kurz nach dem Kriegsende einige riskante Situationen umgehen ließ.
Irgendwie benahmen sich die Zwei wie Polizeibeamte. Sollte Scotland Yard ihm auf der Spur sein? Aber … wie sollten sie das geschafft haben? Er weiß um die Verschwiegenheit der Royal Air Force, was die Geheimhaltung der Identitäten ihrer aktuellen und auch ehemaligen Mitglieder betrifft. Gerade bei denen, die während des zweiten Weltkriegs im Einsatz waren. Selbst für die Polizei wäre es schwierig, an gewisse Namen und Adressen zu gelangen.
Seine Überlegungen werden durch eine junge Frau unterbrochen, die auf ihn zusteuert und lächelnd fragt, ob sie ihm helfen könne.
Um nicht aufzufallen lässt er sich einige Sportschuhmodelle zeigen und kauft schließlich ein Paar, als er die zwei Männer wieder aus dem Büroraum kommen sieht.
Während die Tür hinter ihnen geöffnet bleibt, unterhalten sich die Drei weiterhin. In Albrights Gesicht sieht er eine Spur Besorgnis aufblitzen, die schnell wieder verschwindet und einem beherrschten Ausdruck Platz macht.
Sie nähern sich langsam dem Ausgang, während der Alte versucht, etwas von dem Gespräch zu erlauschen. Dabei blickt er in das Büro und sieht auf dem Schreibtisch des Ladenbesitzers neben dem obligatorischen schwarzen Telefon eine Schale mit dunklen Muffins. Dessen Lieblingsgebäck?
Die Männer stehen nun wenige Yards neben ihm an der Ausgangstür, die Albright öffnet und danach die Besucher verabschiedet.
Die letzten Worte des Älteren der Beiden lassen den Lauscher hellhörig und anschließend blass werden.
„‚… und denken Sie daran, Mr. Albright: wenn Sie mit Ihrem Fahrzeug unterwegs sind und den weißen Ford Transit noch einmal sehen sollten, stoppen Sie augenblicklich. Geben Sie uns so die Möglichkeit, einzugreifen und den Mann dingfest zu machen. Nachdem wir Ihr Geschäft verlassen, sitzen wir gegenüber im Café und folgen Ihnen, sobald Sie nach Feierabend im Fahrzeug auf dem Weg zu Ihrem Haus sind. Unser ziviler Dienstwagen steht direkt neben dem Ihren und mit uns anschließend vor Ihrem Haus. Gehen Sie kein Risiko ein.“
Der Alte ist nicht der einzige Kunde im Ladenlokal. Deshalb fällt es auch nicht besonders auf, als er seinen Einkauf ergreift und ohne Hektik hinter den Polizeibeamten den Verkaufsraum verlässt.
Gute Nerven besitzt er. Das bewies er bereits vor zwanzig Jahren während des Krieges an seiner Wirkungsstätte im deutschen Vernichtungslager.
Seine Befürchtung ist Realität geworden. Obwohl er damit rechnen musste, dass Scotland Yard irgendwann auf ihn aufmerksam werden könnte, hatte er nicht erwartet, so schnell ihren Atem in seinem Nacken spüren zu müssen.
Nun gut. Farbe und Art seines Fahrzeugs wurden ermittelt. Der Ford in seinem jetzigen Aussehen ist somit für ihn zu einer Gefahr geworden. Mit dieser Möglichkeit musste er bereits nach dem geglückten Anschlag auf sein erstes Opfer rechnen, hatte allerdings gehofft, die Entdeckung so weit wie möglich hinauszögern zu können. Doch er hat vorgesorgt. Nun wird er also einige Änderungen vornehmen müssen.
*****
Die Sprechanlage auf seinem Schreibtisch gibt wieder einmal dieses wenig melodiöse Geräusch von sich, das gleich darauf durch Miss Leroys weitaus angenehmere Stimme ersetzt wird. „Sir, die Polizeidienststelle Brighton meldete soeben, dass ein mit einem offensichtlich gestohlenen Kennzeichen auf einem abgelegenen Parkplatz abgestellter weißer Ford Taunus vor einer Stunde entdeckt wurde, der der Beschreibung des von uns gesuchten Lieferwagens sehr nahekommt. Ich hoffe, ich habe in Ihrem Sinne gehandelt, denn ich veranlasste, ihn nicht zu öffnen, bevor die Spurensicherung ihn untersucht hat.“
„Gut gemacht, June. Seit wann steht er dort? Ist etwas darüber bekannt?“
„Der Motor soll noch nicht völlig abgekühlt gewesen sein. Also wird er nicht lange dort gestanden haben. Sir, es könnte doch der Ford unseres ‚Themse-Mörders‘ sein, oder?“
„Das ist nicht auszuschließen, mit hoher Wahrscheinlichkeit wird er es sein. Das Modell ist bei uns im Königreich nicht sehr verbreitet, sogar eher selten.“
„Aber was macht er dann in Brighton? Die Stadt liegt doch ganz und gar nicht auf seiner Route.“
„Eine gute Frage, June. Rufen Sie doch bitte alle noch auf der Liste stehenden potentiellen Opfer unseres Attentäters an. Stellen Sie fest, ob sich einer von ihnen, hier speziell der Schuhhändler aus Marlborough, in Brighton befindet. Das könnte ein Grund sein. Ein weiterer Grund könnte seine Flucht auf das Festland sein, da er irgendwie mitbekommen haben könnte, dass wir ihm auf der Spur sind. Hier wären die Passagierlisten der Schifffahrtslinien oder die Charterboote auf dem Weg in Richtung Festland zu kontrollieren. In diesem Fall wäre allerdings Eile geboten. Wenn der Motor noch warm war, ist es möglich, dass er in der Stadt nach einem der Reeder sucht. Informieren Sie die Kollegen hierüber und kündigen Sie meinen Besuch an. Ich werde mich sofort gemeinsam mit unserem Team auf den Weg machen.“
„Wird sofort erledigt, Sir. Ich dachte mir schon, dass Sie in Brighton selbst mit vor Ort sein wollen. Die Fahrzeuge stehen auf dem Hof bereit und die Mannschaft versammelt sich dort ebenfalls schon.“
„Danke. Dafür habe ich Sie, June, dass Sie an alles denken …“
*****
Während der Fahrt zurück nach Marlborough wischt er sich nach einem Gangwechsel mit der rechten Hand den Schweiß von der Stirn. Es hätte nicht viel gefehlt und sie hätten ihn erwischt.
Nachdem er den Ford auf dem am Stadtrand von Brighton gelegenen Parkplatz ausgeräumt und alles in dem VW-Transporter verstaut hatte, setzte er sich hinter das Lenkrad seines ebenfalls zweckdienlich umgebauten zweiten Fahrzeugs, startete dessen Motor und überließ den verlassenen Wagen seinem Schicksal.
Scotland Yard weiß nun, dass er einen Ford Transit benutzt. Somit ist es zu gefährlich für ihn geworden, weiterhin mit dem doch auffälligen Fahrzeug auf Englands Straßen unterwegs zu sein.
Dann der Schock: Ein letzter Blick in den Rückspiegel des Volkswagens zeigte ihm eine Polizeistreife, die gezielt den verlassenen Taunus ansteuerte. Wenn sie nur zehn Sekunden früher gekommen wäre, hätte er in der Falle gesessen. Es waren nur wenige Sekunden, die über Erfolg oder Misserfolg seiner weiteren Pläne entschieden haben. Die Beamten hätten den restlichen Mördern seiner Familie das Weiterleben gesichert und ihm selbst den in England von den Richtern für Mord verhängten üblichen Strick gebracht.
Bei dieser Vorstellung fährt er sich mit der freien rechten Hand in die Lücke zwischen Hemdkragen und Hals. Keine allzu guten Aussichten, wenn er gefasst werden sollte, denkt der Mann, der während der deutschen Nazizeit selbst vielen Deportierten den Tod brachte. Menschen, die nur den einen ‚Fehler‘ hatten, entweder der falschen Partei, dem falschen Glauben oder der falschen Völkergruppe anzugehören.
Mit seiner Luger 9 mm Parabellum in Griffnähe hätte er nicht eine Sekunde gezögert, sich den Weg frei zu schießen. Doch die Waffe lag bereits gut verstaut im Handschuhfach seines VW.
Er verbannt den Gedanken an den Strick aus seinem Denken und widmet sich drängenderen Problemen.
Hat er bei seinem Fahrzeugwechsel an alles gedacht? Er geht in Gedanken noch einmal alle Risikofaktoren durch. Sämtliche Hinweise im und am Fahrzeug, die auf ihn als Besitzer schließen ließen, hat er bereits während der Planvorbereitung in seiner Heimatstadt entfernt. Die Plakette mit der Fahrgestellnummer ist ebenso demontiert worden wie die Motornummer, die er aus dem Motorblock herausfeilte. Der Innenraum wurde vollständig geleert.
Er hatte mit dieser Situation gerechnet. Deshalb trug er, um Fingerabdrücke zu vermeiden, während seiner Aufenthalte und Umbauarbeiten am und im Fahrzeuginneren ohne Ausnahme ständig Handschuhe. Nicht nur als reine Vorsichtsmaßnahme, denn ihm ist bekannt, dass seine diesbezüglichen Daten in Deutschland gespeichert sind.
Bis auf den leichten Schaden am Kotflügel weist somit nichts mehr weder auf ihn als Besitzer noch auf die bisherige Nutzung des Fahrzeugs hin.
Die Antwort lautet also: Ja, alles klar. Und er ist sich seiner Sache sicher. Zufrieden lehnt er sich im Fahrersitz zurück und überdenkt seine folgenden Aufgaben.
Während der nächsten Rast wird er die derzeit am VW angebrachten und in Deutschland von einem fremden Fahrzeug demontierten Kennzeichen gegen einen Satz der auf der Insel gestohlenen britischen Schilder tauschen müssen. Glücklicherweise ist der VW hier auf der Insel weitaus häufiger anzutreffen als der erst seit kurzem und nur in Deutschland gebaute Ford Transit. Somit dürfte er mit dem zweiten Fahrzeug auf den britischen Straßen sehr viel weniger Aufmerksamkeit erregen.
Sein finsterer Gesichtsausdruck verrät seine Gedanken. Wie verfährt er nun mit seinem Schuhhändler aus Marlborough? Der Mann ist gewarnt und steht unter Polizeischutz. Also dürfte eine direkte Attacke auf ihn oder sein Fahrzeug nicht in Betracht kommen. Um diesen Mann zu erreichen bedarf es somit einer anderen Vorgehensweise als bei seinen bisher bereits abgearbeiteten Zielobjekten.
Gift wäre eine Möglichkeit. Die nötigen Substanzen hat er gemeinsam mit seinen anderen Utensilien wie falsche Pässe und Wagenpapiere vom Ford in den Volkswagen verfrachtet. Doch wie soll er es Albright verabreichen? Zum Tee wird er ihn nicht einladen können.
Da entsinnt er sich einer Beobachtung, die er während seines Besuches im Schuhgeschäft machen konnte: Die dunklen Muffins auf dem Schreibtisch des Geschäftsinhabers!
In eines dieser Gebäckstücke zwei kleine Kristalle des Batrachotoxin projiziert, des auf der Haut südamerikanischer Pfeilgiftfrösche zu findenden und absolut tödlichen Giftes, und die letzten Sekunden seines aktiven Daseins auf Erden wären angebrochen.
Natürlich hat er auch für diese Eventualitäten vorgesorgt. Eingedeckt mit diesem doch eher schwer zu beschaffenden Toxin hatte er sich bereits vor rund zwanzig Jahren, wenige Monate vor dem Ende des zweiten Weltkrieges, an seiner ‚Arbeitsstelle‘, dem deutschen Konzentrationslager. Damals hatte er unbegrenzten Zugriff auf alle nur erdenklich möglichen Chemikalien und biologischen Extrakte, mit denen er seine Neugier befriedigen konnte. Seiner Neugier, wie das Pfeilgift einzeln für sich und in den unterschiedlichsten Verbindungen den menschlichen Organismus reagieren lässt.
Doch ist das sein Ziel? Welche Möglichkeiten hätte er, sehen zu können, wie der Mann stirbt? Er kann nicht das Schuhgeschäft betreten, eine Packung Muffins mit den Worten „ein Geschenk für den Chef“ auf den Ladentisch legen, um im gegenüberliegenden Café sitzen und auf die weiteren Reaktionen warten zu müssen.
Nun, denkt er, kommt Zeit, kommt Rat.
*****
Dem Chief stand zwar im Normalfall ein separates Fahrzeug mit Fahrer zur Verfügung, doch dieses ersparte er sich während der Fahrt nach Brighton.
Der abseits gelegene Parkplatz in der Nähe der Hafenstadt war von der örtlichen Polizei abgesperrt, als das Londoner Einsatzfahrzeug mit ihm auf dem Beifahrersitz eintraf.
Die in einem zweiten Fahrzeug folgenden Techniker stiegen sofort aus, nachdem sie ebenfalls auf den Parkplatz rollten und machten sich unter Zuhilfenahme der mitgeführten Geräte an ihre Arbeit.
Amb war klar: Wenn in dem Ford etwas Wichtiges gefunden werden kann, dann machen seine Männer das sichtbar.
Doch nach etwas über einer Stunde müssen sie feststellen, dass ihre Suche ergebnislos ist. Außer eines neben dem Ford liegenden Stückes schon trockenen Kaugummis mit deutlich sichtbaren Zahnabdrücken, die von ihrem gesuchten Attentäter stammen könnten, wurde bisher nichts gefunden. Selbst die bei allen Fahrzeugen eingestanzten Typen-, Fahrgestell- und Motornummern waren nicht zu finden, da sie großflächig herausgeschliffen oder die entsprechenden Blechstreifen entfernt wurden.
Gerade hatten die Techniker ihre Schnellübersicht beendet, da trifft der Autotransporter ein, der den Ford huckepack nach London zur speziellen kriminaltechnischen Untersuchung befördern soll.
Der Einsatzleiter der örtlichen Polizei gesellt sich zu Amb, dem in diesem Augenblick das vorläufige Ergebnis durch einen der Techniker mitgeteilt wird.
„Sir, soll ich die Beamten zu Ihnen führen, die den Ford entdeckten? Sicher haben Sie noch einige Fragen.“
Der Chief nickt nur kurz, während er ein Formular entgegennimmt, das ihm einer seiner Londoner Mitarbeiter zur Unterschrift überreicht. Dann wendet er sich seinem Kollegen aus Brighton zu. „Ja, sicher. Vor allem interessiert mich, ob sie etwas Verdächtiges bei ihrem Eintreffen hier gesehen haben.“
„Sie sahen zwar im letzten Moment das Heck eines den Platz verlassenden Fahrzeugs, beachteten dies jedoch nicht weiter. Erst als ihnen der Ford auffiel, kam ihnen ein leiser Verdacht. Aber da war es bereits zu spät, dem zweiten Wagen zu folgen. Zwar wurden sofort alle verfügbaren Streifen informiert, doch bisher kamen keine Ergebnisse. Es könnte ebenfalls ein Kleintransporter gewesen sein. Farbe, Kennzeichen und Typ haben sie nicht mehr erkennen können. Wir sind gerade dabei, die Bewohner zu befragen, ob ihnen der Ford oder ein vorher auf diesem Platz stehendes Fahrzeug aufgefallen ist. Das wird allerdings eine Weile dauern. Wenn etwas dabei herauskommt, telefonieren wir.“
Als der Autotransporter startbereit ist, setzt sich auch die Londoner Mannschaft in ihre Fahrzeuge und macht sich auf die Rückreise. Die Befragung der beiden örtlichen Beamten ergab keine weiteren Aufschlüsse. Nichts Neues, was deren Einsatzleiter nicht vorher bereits berichten konnte.
Dem Chief ist der Umstand bewusst, dass der Mörder mit einem dem Yard nun wieder unbekannten Fahrzeug unterwegs ist. Somit wird er die Polizeidienststellen an den Wohnorten der potentiellen Opfer entsprechend informieren müssen.
*****
Samstag, 28. März 1964
Amanda, Köchin im Hause Rowley, schneidet die ersten Kräuter des Jahres in dem neben dem linken Gebäudeflügel und somit unterhalb des Küchenfensters des Schlosses gelegenen Garten.
Langsam richtet sie sich wieder auf, um den leicht schmerzenden Rücken zu entlasten.
Von der Zufahrt zum Schlossplatz her hört sie leises Motorbrummen, das langsam an Lautstärke zunimmt. Wenige Sekunden später sieht sie den kleinen MGA Roadster der Nichte des Lords durch das Eingangstor auf den weitläufigen Platz vor Southhill Castle rollen.
Sie legt ihr Küchenmesser in den auf dem Erdboden stehenden Kräuterkorb und nähert sich dem einer etwas zu groß geratenen Konservendose ähnelnden Fahrzeug, während Catherine Rowley sich mit verdrehtem Oberkörper aus ihm windet.
Die zwei Frauen kennen sich seit Jahren, deshalb fällt ihre Begrüßung herzlich aus, obwohl sie nicht nur vom Aussehen, sondern auch von ihrer Herkunft nicht unterschiedlicher hätten sein können.
Amanda ist Mitte fünfzig mit bereits leicht grau durchschimmerndem, ehemals schwarzem Haar, nur gering unterdurchschnittlich groß und mit einer Figur ausgestattet, wie es einer Köchin zusteht, die ihre Gerichte selbst mit großem Genuss zu sich nimmt. Ihr manches Mal leicht mürrischer Gesichtsausdruck straft ihrer allgemein mütterlichen Ausstrahlung Lügen. Denn die, die sie kennen, wissen ihre positive Lebenseinstellung zu schätzen.
Das genau gegenteilige Äußere stellt die 24-jährige Catherine dar. Groß, schlank und blond steht sie nun vor Amanda und muss sich leicht bücken, um sie mit einer Umarmung begrüßen zu können.
„Du kommst spät, Cathy. Was hat Dich aufgehalten?“
„Vater rief heute Morgen an und bat mich, etwas bei ihm abzuholen, das ich Onkel Charles übergeben soll. Also musste ich zuerst zu ihm. Und da zu Beginn des Wochenendes die Straßen Londons verstopft sind, dauerte die Fahrt hierher eben einige Minuten länger.“
„Na, dann komm‘ erst einmal mit zu mir in die Küche und trink eine Tasse Tee. Die zehn Minuten Zeit hast Du, denn Dein Onkel ist aufgrund Deiner Verspätung noch kurz in sein Arbeitszimmer gegangen und mit seiner heutigen Post beschäftigt. Deine Tante führt augenblicklich einige Telefongespräche, um aufgrund ihrer anstehenden Geburtstagsfeier Bestellungen aufzugeben und Einzelheiten des Tagesablaufs zu organisieren.“
Während ihrer Unterhaltung ergreift Amanda ihren Kräuterkorb und deutet mit der freien Hand auf den Eingang zum Gebäude. 'Lass' uns hineingehen. Ich bin fertig mit der ersten Ernte des Jahres.'
Die zwei Frauen nähern sich dem großen Portal des Schlosses und bemerken sogleich, dass aus dem Tee in der Küche doch nichts wird. Lord Charles kommt ihnen in der Eingangshalle mit breitem Lächeln entgegen und streckt die Arme aus, um Catherine zu begrüßen.
„Cathy, Du hast Dich verspätet. Schön, dass Du uns mal wieder besuchst. Ich habe den knatternden Motor Deines MG gehört. Du solltest seine Abgasanlage in Ordnung bringen lassen.“
„Es kann sich nicht jeder so wie Du einen Mercedes Pullman leisten, Onkel Charles. Mein Geld reicht eben nur zu einem Kleinwagen. Und wenn ich spare, dann langt es sogar, um ihn reparieren zu lassen.“
„Dir ist aber schon bekannt, dass den 600er noch Dein Großvater kurz vor seinem Ableben bestellt hat. Ich war dem Händler gegenüber zur Abnahme vertraglich verpflichtet. Allerdings bereue ich das auch nicht. Es ist ein großartiges Fahrzeug.“
„Na, groß ist leicht untertrieben. Er hat die Ausmaße eines etwas in die Länge gezogenen Rolls Royce.“
Während Amanda in ihrem Refugium verschwindet, lassen sich Onkel und Nichte auf jeweils einem Sessel der in der Halle stehenden Sitzgruppe nieder. Hier wechselt Catherine schnell das Thema, bevor der Onkel die Gelegenheit erhält, ihr die technischen Unterschiede zwischen deutschen und britischen Fahrzeugen lang und breit zu erklären.
„Sind die Zwillinge bereits aufgestanden? Ich weiß doch, dass sie an Wochenenden gern länger schlafen.“
„Sie sind in ihren Zimmern im ersten Stock. Wenn Du willst, geh‘ hinauf und begrüße sie. Vermutlich warten sie bereits auf Dich.“
„Ach, bevor ich es vergesse, Onkel Charles, ich soll Dir etwas von meinem Vater geben. Er bat mich gestern, es heute bei ihm abzuholen, bevor ich zu Euch fahre. Scheinbar hat er in Großvaters Hinterlassenschaft noch etwas entdeckt, das Dich betrifft.“ Während sie sich wieder erhebt, holt sie aus ihrer etwas voluminösen Handtasche einen großen, etwa einen Inch dicken Umschlag, den sie ihrem Onkel reicht.
„Ich denke, zum Dinner werden wir gemeinsam herunterkommen. Ach, ich habe vergessen, Amanda zu fragen, was es heute gibt. Nun, dann lasse ich mich eben überraschen.“
Mit einem leichten Winken ihrer rechten Hand verabschiedet sie sich und eilt über die linke der zwei zur Empore des ersten Stocks führenden Treppenaufgänge nach oben. Dort angekommen dreht sie sich noch einmal um und ruft hinunter „dann werde ich die Zwillinge erst einmal etwas auf Trab bringen“, grinst schelmisch und verschwindet im Gang.
Verwundert hält Lord Charles den dicken Umschlag in der Hand. Was könnte sein Bruder ihm geben, wovon er noch nichts weiß? Ihr gemeinsamer Vater hat bis zu seinem Tod auf Schloss Southhill gelebt. Sein gesamter Besitz befand sich hier in diesen Gemäuern.
Neugierig öffnet er ihn und lässt den gesamten Inhalt auf den kleinen Tisch der Sitzgruppe gleiten.
Was er nun vor sich sieht, versetzt ihn wieder in die Zeit zurück, die er seit zwanzig Jahren vergessen will. Die ihn in seinen unregelmäßig wiederkehrenden nächtlichen Träumen stets schweißnass aufschrecken lässt.
Der Umschlag enthielt seine Offiziers-Patente, Orden und seinen gesamten Schriftverkehr mit der Familie während des Krieges. Zeugnisse, die beklemmende Erinnerungen an die von ihm mitverursachten unmenschlichen Geschehnisse aus einer schrecklichen Zeit wieder wachrufen. Erinnerungen, die ihn sicherlich bis zu seinem Ableben gefangen halten werden.
*****
Während er Brighton hinter sich lässt, überdenkt er seine nächsten Schritte. Die Polizei ist ihm auf der Spur, was die von ihm in Marlborough beobachtete Polizeieskorte des Schuhhändlers beweist. Sie kennt demnach sicherlich sogar seine nächsten Ziele.
Jedoch kann sie nicht wissen, wer er ist und woher er kommt. Obwohl er mit der Wahl seines ersten Fahrzeugs vielleicht doch einen Fehler begangen hat. Dass seine neueste Ausführung des Ford Taunus Transit erst vor kurzem auf den deutschen Markt kam, könnte für den Yard ein allzu deutlicher Hinweis sein. Allein schon aus diesem Grund wird er bedenken müssen, ob es nicht klüger wäre, wenn er seine Liste erst einmal für einige Zeit in der Schublade verschwinden lässt. Es muss Gras über die Vorfälle wachsen. Scotland Yard darf und würde somit in der nächsten Zeit auch keine weiteren Hinweise über ihn erhalten.
Etwa fünf bis sechs Wochen, die müssten reichen. Er wird währenddessen an den Gräbern der Familie von seinen bisher erreichten Erfolgen berichten können. Dann wird er aus Deutschland auf die Insel zurückkehren und die Weiterführung seiner Pläne in Angriff nehmen. Die Pläne, die ihn zum Höhepunkt der Reise auch wieder nach London führen werden.
Denn da hat nicht nur der Leiter der Bomberstaffel seinen Wohnsitz, sondern auch dessen oberster Feldherr. Der zwar in die Jahre gekommen, aber immer noch als Hauptschuldiger am Tod seiner Familie zu verurteilen ist.
Er umfasst das Lenkrad des Volkswagens fester, hat einen Entschluss gefasst. In der zweiten Maiwoche sieht die Insel ihn wieder. Immerhin, so seine Überlegung, darf er doch auch nicht riskieren, dass er seine bisher erworbene Routine einbüßt.
Bei diesem Gedanken entstellt für einen Moment ein zynisches Lächeln sein Gesicht. Es ist ein ähnliches Lächeln wie das, das er noch bis zum Beginn des Jahres 1945 vielen der ‚Gäste‘ des von ihm verwalteten Lagers kurz vor ihrem gewaltsamen Tod zeigte. Bis wenige Tage vor dem Eintreffen der russischen Armee an seiner damaligen Wirkungsstätte.
In Chichester wendet er und lenkt den VW in Richtung Osten. Vorsorglich meidet er das Gebiet von Brighton, umfährt es nördlich in großem Bogen. Er entspannt sich erst, als er die Stadt hinter sich weiß.
Sein weiterer Weg führt ihn an der Kanalküste entlang. Mit dem Ziel Dover. Von der dortigen Fähre wird er im Volkswagen mit dessen echten Kennzeichen auf das Festland übersetzen und, zurück in Köln, die sechs Wochen bis zu seinem nächsten Einsatz verstreichen lassen.
Seine letzten Zielpersonen werden solange auf ihren Tod warten müssen.
*****
Montag, 11. Mai 1964
Seit der Entdeckung des Ford Transit in Brighton vor vierundvierzig Tagen liegt der Fall brach. Weder in Marlborough noch an den Wohnorten seiner anderen möglichen Opfer ist der Themsemörder bis zum heutigen Tag wieder aktiv geworden.
Die Medien berichten nur noch sporadisch über den Verlauf der Ermittlungen. Selbst Superintendent Bumper von Scotland Yard hat die Akte etwas zur Seite geschoben.
Gab der Mörder seine weiteren Pläne auf? Sicher nicht. Dem Chief ist bewusst, dass der Attentäter wieder zuschlagen wird. Nur wann? Diese Frage stellt er sich täglich. Und wo wird der Mann sich während seiner Wartezeit aufhalten? Auf der Insel vermutlich nicht, wenn er aus Deutschland kommt. Also ist er dorthin zurück und somit unauffindbar für den Yard.
Woher sollte er auch sonst kommen? Das Fahrzeug wird in Köln gebaut und ist derzeit nur in dem Land des ehemaligen Kriegsgegners verfügbar. Seine Zielpersonen sind Männer, die während des Krieges als Piloten britischer und amerikanischer Flugzeuge Bomben und somit Tod und Zerstörung in das Land des Kriegsgegners brachten.
Auf jeden Fall muss jetzt bald etwas geschehen, denn lange wird er die Bewachung der ehemaligen RAF-Piloten nicht mehr aufrechterhalten können.
Das beschlagnahmte Fahrzeug brachte keine Hinweise, die verwertbar gewesen wären. Zu sorgfältig sind seine Kennziffern aus Motorblock und Fahrgestell entfernt worden.
Bekannt ist nur, dass das Modell Ford Taunus Transit 1500 seit September 1963 ausschließlich auf dem deutschen Markt angeboten wird. Es konnte also nicht älter als ein halbes Jahr sein, als es gegen Ende März in Brighton aufgespürt wurde.
Eine Anfrage beim deutschen Hersteller ist eine Option, die Miss Leroy bereits in die Wege leitete und mit der deutschen Polizeibehörde abstimmte. Da Ford Deutschland den Wagentyp in dieser Camping-Variante nicht im Programm hat, muss es der Gesuchte in Eigenarbeit nach seinen Plänen auf- und ausgebaut haben.
Wer also hat seit September 1963 ein entsprechendes Fahrzeug geordert?Zwangsläufig in Deutschland. Die Antwort darauf blieb bislang allerdings noch aus.
Auch hat seine Sekretärin nichts gefunden, was auf eine zollamtliche Einfuhr eines Fahrzeugs dieses Typs hinweisen könnte. Und eine Anfrage bei den Reedereien, die den Fährbetrieb zwischen der Insel und dem europäischen Festland betreiben, brachte ebenfalls keinen Erfolg, da keine Protokolle gefertigt werden, welche über Modell und Besitzer der einzelnen Fahrzeuge Auskunft geben könnten.
Es heißt also abwarten. Warten auf den nächsten Angriff.
*****
Und der wird nicht mehr lange auf sich warten lassen. Denn der Mann ist wieder auf dem Weg zur Insel. Wieder am Steuer seines Volkswagens, der immer noch das deutsche Kennzeichen trägt. Dies wird er erst auf der Insel gegen eines der Gestohlenen wechseln.
Es erschien ihm zu gefährlich, die Schilder bereits vor der Überfahrt zu tauschen. Bei einer Überprüfung der Kennzeichen durch die Behörden sind die möglichen Fluchtwege mit dem Fahrzeug auf dem Fährschiff doch zu sehr begrenzt. Im Grunde genommen nicht einmal vorhanden.
Die Wartezeit bis zu seinem erneuten Aufbruch nach England und somit der Wiederaufnahme der Erledigung seiner Ziele hat er genutzt, indem er sein Fahrzeug optimierte. So hat er einen stärkeren Motor, den eines 356er Porsche mit 90 PS, ein- und die Innenausstattung etwas umgebaut. An finanziellen Mitteln fehlt es ihm nicht. Die hat er sich während seiner Dienstzeit im Konzentrationslager von seinen kurzzeitigen ‚Gästen ausgeliehen‘.
Mit den Kenndaten wie Motor- und Fahrgestellnummern des Volkswagens verfuhr er wie mit denen des Ford. Sie sind nicht mehr erkennbar.
Er ärgert sich. Denn er hatte zwar damit gerechnet, den Transit irgendwann auf der Insel aufgeben zu müssen, doch dass dies so schnell geschah, war nicht geplant. Scotland Yard wurde von ihm einfach unterschätzt. Vermutlich allerdings war es sein Fehler. Die Frau im Wald bei seinem Anschlag auf den Hubschrauberpiloten hätte er ebenfalls eliminieren müssen. Sie wird ihm heimlich gefolgt sein und konnte somit seinen Ford identifizieren. Na, egal! Etwas Schwund ist immer.
Nun steht er am frühen Morgen in Calais vor der Fähranlegestelle. Eine halbe Stunde dauert es noch bis zum Ablegen des ersten Schiffes des Tages. Zeit, um seinen abgeänderten Plan noch einmal zu überdenken.
In Köln hat er etwas vorbereitet, das ihm die direkte Konfrontation mit dem Schuhhändler in Marlborough einsparen lassen könnte. Doch seine Fahrt dorthin ist erst einmal abgesagt. Vorläufig, denn vermutlich warten dort noch die englischen Polizeischergen auf ihn.
Deshalb überlegte er vor dem Beginn der zweiten Etappe seines persönlichen Feldzuges, den Rest seiner Liste nicht wie ursprünglich geplant im Uhrzeigersinn, sondern nun aufgrund der polizeilichen Präsenz in Marlborough von Ost nach West abzuarbeiten. Sein erstes Ziel würde somit Holt sein. Eine kleine Gemeinde etwa zwanzig Meilen nördlich von Norwich.
Doch ist das ratsam? Er hat lange nachgedacht über die Tatsache, dass Scotland Yard sein bisher letztes Ziel ermitteln konnte. Stehen die anderen Mörder seiner Familie ebenfalls unter Polizeischutz? Besitzt der Yard das Wissen über die Personen, denen sein Interesse gilt? Wenn dies der Fall sein sollte, wird er noch vorsichtiger vorgehen müssen, als er es bei seinen ersten Anschlägen bereits war.
Doch sollte er nun seinen Plan wahr machen und Holt als nächstes Ziel seines Rachefeldzug wählen, würde Scotland Yard während seiner Auszeit dann nicht genau diese seine neue Vorgehensweise durchdacht haben?
Er wird seine Jäger etwas verwirren müssen. So hat er während der Fahrt durch Belgien überlegt und hier im Fährhafen während der Wartezeit beschlossen, als erstes Opfer seiner neuerlichen Angriffe nun die Adresse in March, dann Oxford, danach Holt anzusteuern. Gefolgt vom Schuhhändler in Marlborough. Sein zweitwichtigstes Ziel mit dem Wohnsitz südlich von London, den Rädelsführer dieser mörderischen Bande, spart er sich nach wie vor bis kurz vor Schluss seiner Operation auf.
Die absolute Krönung seiner Mission wird dann allerdings der alte Mann sein werden, der während des Krieges und sechs Jahre danach noch einmal für eine weitere Amtszeit in London das Haus 10 Downing Street bewohnte.
Seine Meinung steht fest. Dieser feiste Zigarrenraucher ist es, der noch gegen Ende des Krieges den Auftrag zur Bombardierung deutscher Großstädte gab und somit indirekt für den Tod seiner Familie verantwortlich zeichnet.
Dass nach diesen Angriffen viele zehntausend tote Zivilisten zu beklagen waren, interessiert ihn wenig. Ihm geht es primär um seinen persönlichen Verlust, um Rache, und somit auch erst sekundär um den Tod seiner Familie. Allerdings ist ihm dies selbst, wie bei Menschen mit narzisstischer Gedankenwelt allgemein üblich, bisher nicht bewusst geworden.
*****
Mehr als fünf Wochen nach Lady Eve Rowleys Geburtstagsfeier ist wieder Ruhe in Southhill Castle eingekehrt. Das Leben geht wieder seinen geregelten Gang. Die Mordserie liegt seit der Entdeckung des in Brighton abgestellten Ford Transit brach. Obwohl Lord Charles in wöchentlichen Abständen von Superintendent Bumper über den jeweiligen Stand der Dinge informiert wird, kann er keine Ermittlungsfortschritte erkennen.
Doch Beide sind sich einig darüber, dass der Mörder nicht aufgegeben hat, sondern nur einige Zeit nicht in Erscheinung treten will. Sicherlich in der Hoffnung, die Aufmerksamkeit des Yard so einzuschläfern.
Und der Unbekannte liegt damit gar nicht mal so falsch, denn der Chief hat während des letzten Gesprächs durchblicken lassen, dass der Personenschutz nicht weiterhin über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten werden kann. Dazu sind die Ressourcen des Polizeiapparates zu knapp bemessen.
Der Alltag des Lord beginnt nach wie vor stets um sieben Uhr. Nach dem gemeinsamen Frühstück mit Lady Eve bearbeitet er die täglichen Zeitungsnachrichten, dann seine währenddessen eingetroffene Post. Die Zeit bis zum Lunch ist somit ausgefüllt.
Die Zwillinge sind zwischenzeitlich ins Merton College umgezogen und somit nur noch an den Wochenenden Bewohner des Schlosses.
Die Herrin auf Southhill Castle hat das zahlenmäßige Hinzufügen eines weiteren Lebensjahres gut verkraftet. Es ist eben, wie es ist. Dies sind die biologischen Konsequenzen des Zeitenlaufs, mit dem jedes Lebewesen konfrontiert ist. Vor dem Älter werden kann sich niemand schützen. Es sei denn, der Tod macht dem ein Ende.
Noch weiß Lady Evangeline Rowley, geb. Baroness Sinclair, nicht, dass ihr bis zu diesem Zeitpunkt nur noch sechs Tage bleiben.
*****
Ambrosius Bumper, Detective Superintendent des Metropolitan Police Service, betritt gegen 10 Uhr sein Büro, umkurvt genervt seinen Schreibtisch und setzt sich auf seinen Bürostuhl.
Während er Miss Leroy im Vorraum passierte, bat er sie um eine Tasse Tee. Es ist ihm anzusehen, dass er die auch dringend benötigt.
Die vor wenigen Minuten erst beendete Unterredung mit seinem Vorgesetzten, dem Commissioner, verlief etwas turbulent. Machte dieser ihn doch dafür verantwortlich, dass der Themse-Mörder, wie er im Yard allgemein genannt wird, seit dem Auffinden des Ford Taunus Transit in Brighton nicht wieder aktiv geworden und so gar keine Spur von ihm zu finden ist.
Warum kommt von den Deutschen nichts?! Diese Art Fahrzeug kam erst im September des vergangenen Jahres auf den Markt. Deshalb sollte es doch, verdammt noch mal, möglich sein, die entsprechenden Käufer ermitteln zu können. So viele können es doch nun wirklich nicht sein.
Der Chief drückt auf den Rufknopf der Gegensprechanlage. Miss Leroy meldet sich sofort.
„Sir, der Tee muss noch etwas ziehen, kommt aber in drei Minuten.“
„Ja, danke, June. Doch darum geht es mir im Augenblick nicht. Haben wir eine Nachricht aus Deutschland? Die Liste mit den Käufern des Ford lässt wirklich lange auf sich warten.“
„Ich habe erst am vergangenen Freitagmorgen noch einmal bei den entsprechenden deutschen Dienststellen und den Kölner Ford-Werken angefragt. Die Listen sind in Bearbeitung. Es dauert einige Zeit, bis die Rückmeldungen der über Deutschland verstreuten Verkaufsstellen eingetroffen sind. Es sind doch nicht nur die von den Händlern direkt an das Ford-Werk gemeldeten Käufer betroffen, sondern auch die, die ein sogenanntes Vorführfahrzeug kauften, das zuerst auf den Namen des Händlers zugelassen und später weiterveräußert wurde. Dann ist es auch noch möglich, dass ein Erstbesitzer nach kurzer Zeit den Wagen weitergegeben hat, was einen zusätzlichen Schritt benötigt. Da kann dann nur die deutsche Zulassungsstelle helfen. Also alles Wege durch die engen Gänge der Bürokratie, und die sind lang. Doch der Ford-Werksmitarbeiter versprach, mir die Liste der ihnen von den einzelnen Niederlassungen genannten Käufer vorab zu übermitteln. Sie könnte im Laufe dieser Woche eintreffen.“
"Um zu klären, ob die Fahrzeuge auf dieser Liste noch in Deutschland unterwegs sind, brauchen wir auch die Hilfe der dortigen Behörden. Es liegt noch viel Arbeit vor uns."
"Die haben uns ihre Unterstützung bereits zugesagt. Sobald auch sie diese Listen haben, werden sie jeden Besitzer aufsuchen und sich den Ford vorführen lassen."
"Sehr gut, June. Vielleicht können wir unseren Themsemörder so schon herausfiltern. Doch ich glaube, so leicht wird der Kerl es uns nicht machen. Ich habe das unbestimmte Gefühl, dass er innerhalb kürzester Zeit wieder bei uns auftauchen wird."
Und damit liegt der Chief unbewusst goldrichtig. Denn der Gesuchte befindet sich mit seinem Volkswagen gerade zu diesem Zeitpunkt auf dem Fährschiff von Calais nach Dover und hat sich vor wenigen Minuten eine Tasse mit etwas Milch und zwei Stückchen Zucker versetztem Kaffee servieren lassen.
*****
Schwieriger war es im Gegensatz zur eigentlichen Tatausführung dann doch schon, den 5-Liter-Kanister mit dem Treibstoff unbemerkt auf seinem Fahrrad zu transportieren. Er lächelte grimmig bei dem Gedanken daran. Mit der linken Hand balancierte er den in einer großen Papiertüte steckenden Behälter auf der Stange zwischen Lenkrad und Sattel, mit der rechten Hand hielt er das Fahrrad in der Spur. Sein Versuch, den doch nicht allzu sperrigen Gegenstand auf seinem Gepäckträger zu befestigen, schlug fehl, da dessen Halteklammer dem Gewicht nicht gewachsen war. Daran dachte er bei seinen Planungen nicht. Doch wurde nicht dieser Fehler am Ende zu seinem Problem.
*****
Es lässt ihm keine Ruhe. Er muss sich selbst ein Bild von den Vorgängen in March machen.
Er drückt auf den Knopf der Gegensprechanlage. Miss Leroy meldet sich augenblicklich.
"June, ich brauche den Wagen. Ich muss mir den Brand in March ansehen. Wenn dies unser Themse-Mörder war, wird er vielleicht Spuren hinterlassen haben. Spuren, die uns zu ihm führen könnten. Die Kollegen vor Ort sind nicht allzu sensibilisiert."
"Es hätte mich auch sehr gewundert, Sir, wenn Sie ruhig hinter Ihrem Schreibtisch geblieben wären. Das Fahrzeug steht bereits auf dem Hof. Der Fahrer wartet."
Ein kurzer Stöhnlaut und eine gespielt verzweifelte Stimme folgt dieser Meldung: "June, Sie kennen mich scheinbar besser als ich mich selbst. Danke. Ich mach' mich gleich auf den Weg."
*****
'Sach ma, hab' ich Dich nicht soeb'n mit dem Rad über die Brücke fahr'n seh'n?! Du komms' doch von dem brennend'n Boot! Und nun stehste hier und schaust zu, wie's abfackelt.'
Der Alte dreht sich um und sieht nun einen offensichtlich stark betrunkenen und abgerissen gekleideten etwa fünfzigjährigen Mann vor sich stehen.
'Das ist doch Seans Boot, das da hint'n brennt. Hast Du das Feuer gelegt? Ich werde jetzt zur Polizei geh'n und das meld'n. Und Du solltest jetzt hier steh'nbleib'n.'
Während sich der Mann stark schwankend auf den Weg zur Brücke machen will, blickt der Alte kurz um sich, sieht sein weiteres Umfeld menschenleer und zieht die Waffe, die bereits im Wald von Salisbury zum Einsatz kam. Ein ähnlicher Fehler wie dort wird ihm nicht ein zweites Mal passieren. Denn nur die Joggerin hatte der britischen Polizei das Aussehen seines Ford Taunus schildern können.
Einige schnelle Schritte bringen ihn dicht hinter den Mann. Er weiß genau, wo er den Schuss ansetzen muss. Er stößt die schräg nach oben gerichtete Mündung etwas unterhalb der Schulterblätter in dessen Rücken und drückt ab.
Der Mann ist tot, noch bevor sein Körper den Boden berührt. Der Alte geht davon aus, dass der Schuss am gegenüberliegenden Ufer nicht gehört worden ist, denn gleichzeitig zerbarsten dort einige der letzten Fensterscheiben des Bootes mit lautem Knall.
Schnell zieht er den Toten zur Mauer, lehnt ihn mit dem Rücken dagegen und winkelt ein Bein an. Jetzt dürfte es für einen flüchtigen Betrachter so aussehen, als würde der Mann seinen Rausch ausschlafen.
Ohne Hast setzt er sich auf das Fahrrad und verlässt den Schauplatz seines zweiten heutigen Mordes.
*****
Fortsetzung folgt
Tag der Veröffentlichung: 21.11.2016
Alle Rechte vorbehalten