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JENSEITS DES HORIZONTS

Jenseits des Horizontes

 

Der Frühling hat das Land erreicht. Nach einigen wolkenlosen Tagen ist es bereits angenehm warm. Selbst während der Nacht hielt sich die Temperatur im zweistelligen Bereich. Trotzdem zieht er fröstelnd das Plaid hoch. Bedeckt damit seine breiten, aber während der vergangenen Wochen hager gewordenen Schultern und den Hals bis zu seinem Kinn.

Wie so oft während der vergangenen Tage ruht er auf der großen Liege am Rande der Terrasse seines Hauses. Vollkommen ungewöhnlich für ihn, der Zeit seines Lebens aktiv war, sich nie eine Ruhepause gönnte. Hat sie seit dem Vorabend nicht verlassen können. Dazu fehlte ihm einfach der Wille, vermutlich aber auch die Kraft. Oder war es so, dass er den besonderen Hauch des Frühlings, die Aufbruchsstimmung der Natur noch einmal ganz intensiv erleben wollte? Einem Zustand, der so garnichts mit seinem eigenen gemein hat.

Das erste Grün der üppigen Vegetation in seinem Garten, der schon eher einem Park gleicht, zeigte sich bereits vor gut zwei Wochen. Nach den verwelkten Blüten der Schneeglöckchen und Krokusse zuerst die gelben Blüten der Forsythien, gemeinsam mit den verschiedenen Farben der Tulpen.

Er wollte seine sicherlich letzten Stunden im Freien verbringen und, wenn er es noch schaffen sollte, die aufziehende nächtliche Dunkelheit und das tägliche Wiederauferstehung der Sonne bewusst erleben.

Durch das zaghaft einsetzende Singen der erst vor kurzem aus ihren Winterquartieren zurückgekehrten Vögel wurde er vor einigen Minuten aus einem ohnmachtsähnlichen Schlaf geweckt, in den er sich erst zwei Stunden vor Tagesanbruch nach grüblerisch verbrachter Nacht flüchtete.

Das melodiöse Zwitschern hat sein Bewusstsein wieder zurück in die Gegenwart gleiten und ihn tatsächlich noch einmal sehen lassen, wie die Sonne sich unaufhaltsam ihren Weg durch einen schmalen Dunststreifen in den östlichen Horizont fraß.

Wenn ihm die Möglichkeit bleibt, wird er auch beobachten können, wie sie weiter unbeirrt über den blassblauen, wolkenlosen Himmel steigt, um dann jenseits des kleinen Waldstreifens im Westen ihre Bahn zu beenden.

Oder wird sie stehen bleiben genau an jenem Punkt, den sie erreicht hat, wenn sein Leben ihn verlässt? Nein, sicher nicht. Nicht in dieser Welt, dieser Daseinsform.

Wie seit Anbeginn der Zeit wird sie auch weiterhin Tag und Nacht bestimmen in diesem Land, das er seit seiner Geburt Heimat nennt. Und sie wird ihre Bahn selbst dann noch ziehen, wenn von der Menschheit nicht einmal mehr die Erinnerung an sie übriggeblieben ist.

Vielleicht aber verharrt sie doch, allein für ihn, an eben jener Stelle. Dann, wenn es in seinem Danach eine nächste Stufe geben und er sie erreicht haben sollte.

So als wäre es das erste Mal folgt sein Blick gierig ihrem langsamen Aufstieg. Der bereits vielmilliardenfach Vergangenheit, aber sicher ebenso oft noch Zukunft sein wird.

Er ahnt, dass dieser Morgen sein Letzter ist, hatte gestern Abend schon nicht erwartet, dem alltäglich wiederkehrenden Naturschauspiel noch einmal beiwohnen zu dürfen.

Seine Zeit ist abgelaufen. Dessen ist er sich bewusst, denn der Tod hat bereits die Ausgangstür seines Lebensraumes weit geöffnet. Er weiß, er hat die letzten Stunden des Winters seines Lebens erreicht.

Fast teilnahmslos fragt er sich, ob er es wohl spüren wird, wenn sich die knochigen Finger um seine Fußfesseln legen und ihn dort hindurch in die unvermeidlich letzte Dunkelheit ziehen werden?

Dunkelheit!? Er war nie ein gläubiger Mensch und hat, wie viele Menschen vor, mit und sicher auch nach ihm, nicht die geringste Vorstellung von dem, was danach ist. Nach seiner Begegnung mit dem Tod. Der bereits die Türöffnung durchschritten haben und nun vor seinem Lager stehen mag. Ob es danach noch einmal einen Neuanfang, einen neuen Frühling für ihn geben wird?

Was ist das Leben? Was bezweckt es? Ist der Weg, den wir während unserer Existenz auf diesem Planeten beschreiten, das Ziel? Oder ist sein Ende die Erfüllung unseres Daseins? Fragen, die er sich seit frühester Jugend vergeblich stellt. Und die ihm bisher schlüssig auch noch niemand beantworten konnte.

Er streckt seine Glieder, soweit ihm das noch möglich ist. Denn eine langsam einsetzende Gefühllosigkeit steigt, in den Fußzehen beginnend, unaufhaltsam seine Beine empor und macht sie kalt und bewegungsunfähig.

Ist sie bis in den letzten Winkel seines Körpers gezogen, wird sich ihm das Geheimnis offenbaren! Das bisher Unerforschte. Das einem jeden Lebenden bis zum Ende dessen letzter Sekunde verschlossen bleibt.

Aber wird es denn nach seinem Tod eine Offenbarung für ihn geben? Wird er nicht einfach nur erlöschen und auf ewig nicht mehr sein? Ist es nicht nur Wunschdenken eines jeden intelligenten Wesens, nach dem Lebensende weiterhin existieren zu können? Wie und auf welche Art auch immer?

Oder wird es doch ein neues Dasein, vielleicht sogar eines in einer anderen Lebensform für ihn geben? So wie nach jeder Nacht ein weiterer Tag, nach jedem Winter ein neuer Frühling folgt? Erwartet ihn eine Zukunft mit vielleicht anderen Bedingungen?

Bei dieser Vorstellung gleitet unwillkürlich ein leichtes Lächeln über sein Gesicht. Nur angedeutet, kaum wahrnehmbar.

Soll er den Lehren der alten Mystiker, der Religionsgründer vertrauen, die nie selbst das ‚Jenseits’ sahen? Vielleicht auch nicht sehen konnten, da es doch nicht existent ist? Aber die trotzdem darüber philosophierten, als hätten sie es eingehend erforscht. Den Versprechungen der Kirchenvertreter, welcher Richtung auch immer, die dem Gläubigen, dem Schaf Gottes - und nur diesem - einen Platz an der Seite des höchsten himmlischen Wesens in Aussicht stellen? 

Wenn dies wirklich der Fall sein sollte, dann würde ihn das Höllenfeuer erwarten. Aber lieber warm unter Gleichgesinnten als bewegungslos in einer Schafherde eingeschlossen zu sein. Bei diesem Gedanken zieht abermals der Ansatz eines Lächelns über sein Gesicht. ...

 

Vor einigen Jahren unterhielt er sich während eines nicht von Geldanlagen und Firmenaufkäufen geprägten abendlichen Beisammenseins mit seinem Geschäftspartner über Vor- und Nachteile eines langen Lebens. Ihm wurde die Frage gestellt, wie alt er werden wolle. Seine Antwort entsprach seiner damaligen Einstellung: ‚In einhundert Jahren bin ich nicht mehr. Dann ist es völlig belanglos, wie lange ich gelebt habe – und mir dann auch egal’.

Ist sein Denken heute ein anderes? Wäre er glücklich darüber, wenn er noch einige Jahre länger leben dürfte? Er weiß es nicht. Sicher wäre es so, dass ihm nicht einmal bewusst würde, wenn er eine gewisse Zeit auf Erden ‚geschenkt’ bekäme. Er nähme es hin. Um danach vor dem gleichen Problem wie heute zu stehen. Nur zeitverzögert. Vielleicht wäre dieses ‚Nachspiel’ nur eine weitere Prüfung. Und eine Verkürzung des Seins, das ihn nach seinem Tod erwartet. Wer weiß es?

Im Falle seines Umzugs in die Hölle wäre dies dann allerdings von Vorteil. Wieder mildert ein verhaltenes Lächeln seinen harten Blick und macht den verschlossen wirkenden Ausdruck des kantigen Gesichtes um einiges sympathischer.

Er hebt mit einer schwach wirkenden Bewegung die rechte Hand und reibt sich die Stirn. Versucht so, die dunklen Vorstellungen zu vertreiben.

Gedanken, die ihm seit dem Beginn der letzten Nacht durch den Kopf ziehen. Nicht schwirrend wie Kolibriflügel, sondern eher mit dem langsamen Schwingenschlag eines suchend über stets dem gleichen Gebiet kreisenden Bussards.

 

Obwohl die Sonne nicht nur an Höhe, sondern auch an Strahlkraft gewinnt, wird ihm nicht wärmer. Erschauernd zieht er die Decke noch enger um sich.

Er spürt, wie die Kälte nun auch von seinem Unterleib Besitz ergreift.

Wie lange wird ihm noch bleiben?

Hat er an alles gedacht? Die Formalitäten seiner Nachfolge sind geregelt, sein Besitz wird durch seinen Nachlassverwalter verteilt werden.

Niemand wird ihn betrauern, und das ist ihm nur recht so, da er sich nie besonders viel aus den Gefühlen seiner Mitmenschen gemacht hat.

Es ist auch nur ein kurz aufflackernder Gedanke, der sehr schnell wieder verweht. Er ist unwichtig, tritt weit hinter dem zurück, was ihm bevorsteht.

Was ihm bevorsteht! Wieder dieser Gemeinplatz. Wieder dieser kreisende Bussard. Was verbirgt sich hinter ihm?

Er verwirft ihn abermals. Wie so oft innerhalb der vergangenen Nacht, da dieses Thema nicht zu seinen Lebzeiten zu klären ist. Er hat sich noch nie lange mit einem Problem aufgehalten, das nicht gelöst werden kann. Warum jetzt?! Weil er vielleicht das Endergebnis seines Lebens, sein letztes Ziel, direkt vor sich hat? Oder bald erreichen wird? Bald. Bald wird er sich damit eingehender befassen können. Wenn überhaupt!

Unwillig schüttelt er den Kopf. Konzentriert die Aufmerksamkeit nun wieder auf seinen Körper.

Das Taubheitsgefühl, das sich vor wenigen Minuten nun auch in seinen Händen erstmals bemerkbar machte, wird stärker. Das die Finger nun ebenfalls unbeweglicher werden lässt.

Auch spürt er, wie das Pochen seines Herzens schwächer, unregelmäßiger wird. Manchmal aussetzt, um dann umso heftiger seinen Dienst wieder aufzunehmen. Als wolle es die nicht getanen Schläge kompensieren.

Der seit einigen Wochen vorherrschende Schmerz in der Brust ist verschwunden. Unmerklich, ohne eine Spur zu hinterlassen. Nicht mehr vorhanden. So, als hätte es ihn nie gegeben.

Sieht so der Tod aus? Wird er all das auslöschen, was ihn bewegt? Was er verspürt, empfunden und gedacht hat? Alle Erinnerungen? Alle Gefühle? Und auch die Schmerzen?

Müde schließt er für kurze Zeit die Augen, um sie dann erneut auf die Spenderin allen Lebens auf Erden zu richten. …

 

Immer noch in das Plaid gehüllt liegt er regungslos in der Morgensonne. Hört nicht die Rufe seiner Haushälterin, die vor wenigen Sekunden ihr Fahrzeug auf dem Parkplatz neben dem Eingangsportal abstellte und in diesem Moment die Terrasse erreicht.

Die Frau tritt beunruhigt neben die Liege, auf der der Mann ruht, dem sie treu über zwei Jahrzehnte den Haushalt führte. Der während dieser Zeit ihr Lebensinhalt war. Von ihm entweder bewusst ignoriert oder nur einfach nicht wahrgenommen. Dessen starrer Blick auf den Sonnenball gerichtet ist.

Von Panik erfüllt wühlt sie mit hektisch suchenden Händen in dem Stapel der Zeitungen auf dem Terrassentisch. Wo ist das Telefon? Sie muss den Arzt rufen! Vielleicht ist es noch nicht zu spät!

 

In ihrem Entsetzen bemerkt sie nicht die winzig kleine, einsame weiße Wolke, die sich genau in diesem Augenblick vor das Rund der gleißenden Sonne schiebt und deren Strahlen für kurze Zeit die frühlingshafte Kraft nimmt.

Impressum

Texte: Roland Böhme
Tag der Veröffentlichung: 21.08.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Die letzten Gedanken eines sterbenden Mannes.

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