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ZUG ZURÜCK

 

Einsam steht sie dort. Eine hohe, schlanke, sehr aufrecht, aber trotzdem auch ängstlich wirkende Gestalt. In einen dieser Trenchcoats gehüllt, wie er vor einigen Jahren noch modern war. Einsam und allein. Mit einem morbid scheinenden, offenbar weitgereisten Lederkoffer in der Hand, der sicher schon einmal sehr viel bessere Tage sah.

Sie stellt ihn nun seufzend ab. Direkt rechts neben sich. Ihre Hand löst sich steif von dem stark abgenutzten Griff. Das braune, zerschundene Leder steht jetzt angelehnt an ihrem Bein, damit sie den Kontakt zu ihm nicht verliert. Es scheint so, als würde dieser Koffer, an dem sie offensichtlich schwer zu tragen hat, das bisherige Leben dieser hager wirkenden Frau beinhalten, so sehr behütet sie ihn.

Das lang gestreckte und mit Jahrzehnte alten, zum Teil gebrochenen Betonplatten bedeckte Areal, das einmal ein belebter Bahnsteig war, ist menschenleer. Bis auf eben diese Frau, die auf einen Zug zu warten scheint. 

Immer noch kommen, unvermittelt vor einem kleinen Waldstück beginnend, das die Sicht auf den weiterführenden Verlauf nimmt, von der nordwestlichen Seite die Gleise einer Bahn. Zwei parallel verlaufende und leicht rostige eiserne Schienen, deren Stränge sich unmittelbar an der Einfahrt zum Bahnhofgelände nach einer Weiche verdoppeln, um als zweifaches Band direkt rechts und links an dem Steig vorbeizuziehen. Am südöstlichen Ende des Bahnhofs sind die Gleise wieder vereint und verlieren sich nach einer leichten Biegung zwischen wild wuchernden Brombeerranken, hohen Gräsern und dichtem Gesträuch.

Die Frau weiß, in diesem Bahnhof wartete der Zug stets auf die Ankunft des Begegnungsverkehrs, da eine Gegenstrecke nie gebaut wurde.

Langsam lässt sie ihren Blick über die Gebäude und das Gelände gleiten. Es hat sich hier trotz der vielen Jahre nur wenig verändert. Selbst die am Rande wachsenden Brennnesseln scheinen noch die gleichen wie die aus ihrer Kindheit zu sein, in die sie einmal im Sommer mit nackten Beinen geraten ist. Sie kann sich noch deutlich an das schmerzhafte Brennen erinnern und ist fast versucht, sich zu bücken, um mit den Fingernägeln die vermeintlich juckende Stelle zu kratzen.

Vor wenigen Minuten erst hat sie sich, von der Bushaltestelle kommend, mit dem Koffer in der Hand durch die leere Halle des frisch renovierten Bahnhofsgebäudes geschleppt, um schwer atmend vor dem Fahrkartenschalter innezuhalten, den aber dann verwaist gesehen. Also zog sie weiter. Im festen Bewusstsein, eine Fahrkarte zu ihrem Ziel direkt beim Schaffner lösen zu können.

In ihren Gedanken sieht sie den Zug schnaufend und zischend angestampft kommen, den sie das vorletzte Mal von eben dieser Stelle aus vor bald auf den Tag genau sechzig Jahren bestieg. Vornweg die große, schwarze Dampflok und ihre anhängenden roten Waggons mit der aggressiv wirkenden seitlichen Aufschrift.

Ist es vielleicht sogar der Gleiche, den sie in diesem Moment ihrer Rückbesinnung einige Meter entfernt auf einem Abstellgleis stehen sieht? 41, die zwei ersten Ziffern der fünfstelligen Lok-Nummer stimmen jedenfalls mit denen aus ihrer Erinnerung überein.

Es ist eine riesige, schwere Lokomotive mit drei roten Personen- und dem hinten angehängten Paketwagen, die unter dem Vordach des alten Stückgut-Schuppens stehen und so vor den Unbilden der Natur geschützt sind.

Ist dies der Zug, mit dem sie Tag für Tag jeden Morgen zu ihrer Schule und Stunden später wieder heimgefahren ist?

Bis vor sechzig Jahren.

Etwas allerdings fehlt. Etwas an diesem Zug ist nicht so, wie es damals war.

Nachdenklich blickt sie genauer hin. Und dann weiß sie es. Das Hakenkreuz im Kreis und der auf ihm sitzende Adler mit den weit ausgebreiteten Schwingen, darunter das DR für Deutsche Reichsbahn sind nicht vorhanden. Einfach nur schwarz überstrichen. Somit auch das besondere Symbol innerhalb des Kreises, das zu zeigen im heutigen Deutschland nicht nur verpönt, sondern sogar verboten ist.

 

Nicht so an jenem Tag, der in ihr Gedächtnis gezeichnet ist wie der Abdruck eines glühenden Brandeisens im Fell eines Pferdes.

Es war der Tag nach dieser letzten Heimfahrt, an dem sie auch ein letztes Mal ihre Schule besuchen durfte. An dem am selben Abend ein anderer Zug ihre Familie, sie, den Vater, die Mutter und ihre drei Geschwister aufnahm. Ein von Soldaten eskortierter Zug, in den sie einzusteigen gezwungen wurden. Der sie und die mit ihnen hier Eingesperrten aus ihren heimatlichen Gebieten rollte.

Auch an jenem Tage war es eine schwarze, schwere Lokomotive mit ihrem roten Unterbau und den vorn an den Seiten des Kessels angebrachten leicht gebogenen schweren Blechen, die wie Scheuklappen anmuteten. Scheuklappen, die anzudeuten schienen: ich bin nur eine dumpfe, eiserne Lokomotive und habe mit dem, was hier geschieht, nichts zu tun. An dem Tag waren die Waggons hinter diesem zischenden, bedrohlichen Monstrum andere als die, die sie bisher gewohnt war. In diesen kalten, zugigen, rollenden Bretterverschlägen hockend, die keine Sitzbänke, an jeder Seite jeweils nur eine große Schiebetür und in Kopfhöhe einige Lüftungsschlitze besaßen, wurden sie abtransportiert.

Menschen in Viehwaggons. Eng zusammengepfercht. So wurde weniger Platz beansprucht und der Zug nicht zu lang. Obwohl er, als sie mit ihrer Familie und einigen weiteren Bewohnern ihres Dorfes und dieser Stadt einsteigen mussten, bereits sehr lang war. Viel zu lang!

Und in jedem größeren Bahnhof verlängerte er sich um einen weiteren Waggon, der an den jeweils Letzten angehängt wurde, wenn dieser schon wie die anderen vor ihm überfüllt war. Auch aus ihnen blickten durch die Lüftungsgitter verängstigte Augenpaare. Augen, die in eine ungewisse Zukunft sahen.

Für viele von ihnen eine Zukunft, die es bald darauf für sie nicht mehr gab.

Es waren Augen, die bald brachen. Deren Körper in riesigen Öfen verbrannt oder zusammen mit anderen leblosen Körpern in einer langen Grube achtlos verscharrt wurden. Das allerdings wussten sie, die in diesem Zug saßen, zu dem Zeitpunkt noch nicht.

Aber die damals Fünfzehnjährige sah bereits in dem Waggon, der sie und ihre Familie aufnahm, Menschen elend sterben, ohne dass ein Arzt gerufen werden konnte.

Einige der Uniformierten an den Haltestellen, die angefleht wurden, sich um die Kranken zu kümmern, lachten nur hämisch, viele aber wandten verlegen ihren Blick ab. Nur Hilfe wurde ihnen nicht zuteil.

Sie alle kamen nach Polen in eine Stadt, die sie Warschau nannten. Das spärlich möblierte Zimmer, in dem ihre sechsköpfige Familie untergebracht wurde, befand sich in einem alten, heruntergekommenen Wohngebäude, in dem bereits viele Menschen hausten, denen ein gelbes, sechszackiges Zeichen an die Kleidung genäht war.

Sie lebten in einem Stadtbezirk, einem Ghetto, das sie nur zu angeordneten Arbeitseinsätzen verlassen durften. Drei lange Jahre. Drei Jahre, in denen sie täglich um ihre Nahrung, um ihr Überleben kämpfen mussten. Denn nur sehr gering waren ihre Essensrationen, die sie von der Kommandantur erhielten. Zu gering, um nicht stehlen zu müssen.

Dann kamen Soldaten in ihr Haus. Wieder einmal. Wieder einmal wurden sie hinausgezerrt und im Ungewissen gelassen über das Ziel, das sie erwartete, als die Uniformierten sie erneut in einen Waggon trieben. Dieses Mal war es ein grüner, den sie wieder erst verlassen durften, als sie die Endstation erreichten.

Auschwitz-Birkenau, wie sie erfuhren. Aber damals sagte ihr der Name noch nichts.

Der Bahnkörper wurde von schwarzuniformierten Soldaten mit zwei stilisierten 'S' auf den glänzendschwarzen Kragenspiegeln bewacht. Diese Männer waren es auch, die sie und ihre Familie im Tross mit den vielen anderen Leidensgenossen aus den Waggons über zwei Gleisstränge hinweg und die wenigen Meter in das Lager hinein eskortierten. Mit ihren Waffen im Anschlag, damit nur keiner den Weg verfehlte.

Die Kinder wurden sofort nach ihrem Eintreffen von den Eltern getrennt - die sie danach nicht wieder sahen.

Und obwohl in der Folgezeit an jedem Tag viele weitere dieser Menschentransporte eintrafen, wurde die Anzahl der Lagerinsassen nicht größer. Nur die Gesichter wechselten.

Dann plötzlich, nach Tagen hektischer Betriebsamkeit und immer leerer werdender Baracken, waren die Wachsoldaten verschwunden. An ihre Stelle traten Soldaten in erdfarbenen Uniformen. Auch sie trugen Waffen in ihren Händen. Aber Waffen, die den nur noch wenigen Lebenden des Lagers das Überleben und die Freiheit brachten.

Sie gehörte damals zu ihnen. Als Einzige ihrer Familie.

Die Hitler-Schergen hatten einfach vergessen, sie in die Todeskammer zu treiben.

 

Nun, seit über fünf Jahrzehnten im Ausland lebend, will sie vor ihrem vielleicht baldigen Ende noch einmal ihr altes Dorf wiedersehen. Das Dorf, in dem sie die ersten Jahre ihres Lebens verbrachte. Glückliche Jahre. Jahre in einer intakten, liebevollen Familie. In einer Familie, die seit über einem halben Jahrhundert nicht mehr existiert. Sinnlos und grausam ausgelöscht.

Sie ist seit dem frühen Morgen in dem Land unterwegs, das sie bis jetzt immer noch als ihre Heimat betrachtet. Dem sie aber gleich nach ihrer Befreiung den Rücken kehrte. Kehren musste. Denn wäre sie geblieben, hätte sie an ihrer Erinnerung zerbrechen können.

Sie weiß, wenn sie sich dazu überwinden kann, den Zug zu besteigen und erst einmal in ihm sitzen wird, vergehen noch einmal genau vierzehn Minuten, um ihre Füße auf den Steig des Heimatbahnhofes setzen zu können.

Und es wird sie Überwindung kosten, dessen ist sie sich gewiss. Obwohl ihr aber auch bewusst ist, jetzt in diesem Land mit seinem nun anderen Denken nicht mehr Gefahr laufen zu müssen, in einen Waggon gepresst zu werden, dessen Ziel sie nicht kennt.

Es kostet sie Kraft, sich aus diesen Gedanken zu lösen und in die Gegenwart zurück zu finden. Etwas verwirrt dreht sie ihren Kopf nach Nordwesten. Eine rein automatische Bewegung, die ihr nach fünf Jahren Schulbesuch in dieser Stadt verblieben ist.

Ängstlich, aber doch auch erwartungsvoll blickt sie in die Richtung, aus der der Zug kommen muss.

Wenn der Fahrplan sich nicht geändert hat und die Abfahrtzeiten noch so sind wie vor sechzig Jahren, sollte eigentlich bereits die Rauchfahne der Lokomotive hinter dem Wald zu sehen sein, da es windstill ist und der grauschwarze Qualm somit kerzengerade in den Himmel aufsteigen könnte.

Ach, Unsinn, schilt sie sich im selben Augenblick. Sicher wird es auch hier moderne Lokomotiven geben. Elektroloks, die keinen Rauch mehr erzeugen. Obwohl, wie sie gleichzeitig feststellt, an dieser Strecke keine Oberleitungen gespannt sind.

Ein Mann tritt plötzlich neben sie und beobachtet sie interessiert. Er ist etwa so alt wie sie selbst. Sie registriert ihn durch einen kurzen Seitenblick. Ein weiterer Fahrgast? Vielleicht.

Vielleicht aber auch einer der damals Uniformierten, die den Sterbenden in dem Zug ihre Hilfe verweigerten? Wenn, dann einer der hämisch Lachenden oder der scheu Wegblickenden? Aber nein. Dazu ist er zu jung. Zu der Zeit steckten Fünfzehnjährige in diesem Land noch nicht in Uniformen.

"Warten Sie auf den Zug?"

Sie sieht ihn nun prüfend mit ihren immer noch klaren Augen an. "Ja. Können Sie mir sagen, wann er fährt?"

"Von dieser Stelle aus fährt zu regelmäßigen Zeiten, schon seit einigen Jahren kein Zug mehr ab. Dieses Gelände gehört zu einer Museumseisenbahn. Sehen Sie dort die Lok mit ihren Waggons? Ich setze sie zweimal im Jahr unter Dampf, um einigen Nostalgikern die alten Zeiten wieder näher zu bringen. - Sie waren schon lang nicht mehr hier, meine Dame, sonst wüssten Sie es."

Nostalgie. Ist ihr Leben, sind ihre schrecklichen Erlebnisse der damaligen Zeit nur noch Nostalgie? Man sagt, alles wiederhole sich irgendwann einmal. Auch dieses? Wird die Zukunft noch einmal solche Grausamkeiten erleben lassen? Gibt es wirklich Menschen, die sich bewusst in diese Zeit zurückversetzen wollen?

Wieder blickt sie den Mann an.

"Ja, so ist es. Meine letzte Fahrt von diesem Bahnhof aus war vor sechzig Jahren."

"Aber das war im zweiten Jahr nach Kriegsbeginn. Während des Krieges haben Sie das Land verlassen und kehren heute zurück?"

"Nein, nicht ganz. Diese Fahrt führte mich damals nur in ein anderes Leben. Die in ein anderes Land folgte erst später."

Wodurch sie zwar eine zweite Heimat fand, aber in eine Existenz getrieben wurde, die sie mit diesen Erinnerungen im Gepäck gewiss nicht wollte.

Zögernd, als wäre er nicht sicher, ihr das anbieten zu dürfen, spricht der Mann an ihrer Seite weiter. "Ich habe mein Fahrzeug vor dem Bahnhof stehen. Es wäre mir ein Vergnügen, Sie zu Ihrem Ziel bringen zu dürfen."

Zweifelnd blickt sie ihn erneut an. "Es fährt heute ganz gewiss kein Zug?" "Heute und in den nächsten Wochen nicht", antwortet er lächelnd.

"Schön, dann nehme ich Ihr Angebot gerne an."

Die Worte der Frau klingen erleichtert. So, als wäre ihr eine Last genommen worden.

Das Gepäckstück ist im Kofferraum eines mittelgroßen Pkw mit einem sauber polierten Stern auf dem Kühler verstaut. Sie sitzt auf dem Beifahrersitz und starrt ihn an. Diesen Stern. Dieses Zeichen eines großen deutschen Fahrzeugherstellers, das, wenn ein Zweites um 180 Grad verdreht auf dieses gelegt würde, fast das Mal bildet, welches sie seit der Zeit ihrer Ghetto-Jahre verfolgt.

"Sie wohnten also früher in Neurath? Bis vor sechzig Jahren?" Die ruhige, tiefe Stimme des Mannes reißt sie aus ihren Betrachtungen.

"Ja, und zur Schule ging ich hier in dieser Stadt. Die Strecke befuhr ich über fünf Jahre lang außer sonntags jeden Tag mit der Bahn, einmal hin und einmal zurück."

"Dann besuchten Sie sicher das Städtische Gymnasium. Ich selbst stamme auch aus Neurath, bin dort sogar geboren. Wie ist denn der Name Ihrer Familie?"

"Heilbronner. Ich hieß damals Judith Heilbronner."

Abrupt lenkt der Mann sein Fahrzeug in die Mündung eines Feldweges am rechten Fahrbahnrand und tritt dabei heftig auf die Bremse.

»Judith? Judith Heilbronner? Ihre Familie wohnte in der Mittelstraße?"

"Das stimmt." Erstaunt schaut sie ihm diesmal direkt in die Augen. "Wer sind Sie?"

"Sechzig Jahre verändern einen Menschen. Judith, ich bin Ralph, Ralph Immendorf. Wir waren Nachbarn, bevor sie Euch aus dem Haus holten."

Ihr Körper verspannt sich. Ihr nun blasses Gesicht wendet sich abermals dem Mann an ihrer Seite zu. "Ralph Immendorf", mit leiser Stimme murmelt sie den Namen. "Ja, ich erinnere mich sehr gut an Sie - an Dich. Du hattest damals noch rote Haare. Heute sind sie grau, schade, denn die Farbe gefiel mir sehr gut - damals, vor langer Zeit. Was ist aus Dir geworden, aus Deiner Familie? Wohnt Ihr noch in Eurem Haus neben dem, das uns gehörte?"

"Wieso gehörte? Nach dem Krieg hat es sich der Bruder Deines Vaters von dem ehemaligen Ortsleiter der NSdAP vor Gericht zurück erstritten, da von Deiner Familie niemand mehr auffindbar war. KZ, sagte man. Aber Du hast überlebt. Warum bist Du nie nach Neurath zurückgekommen?"

Sie ignoriert vorerst seine Frage. "Du sagst, mein Onkel ist nicht deportiert worden? Er und seine Familie? Die ganzen Jahre über dachte ich, sie hätten das gleiche Schicksal erfahren wie wir." Ihr Atem geht stoßweise, erregt durch diese Nachricht.

"Warum ich nie zurückgekommen bin, fragst Du? Könnte ich mir denn sicher sein, hier wieder leben, meinen Beruf, den ich zwischenzeitlich erlernte, ausüben zu dürfen? Ich hätte nie mehr mit dieser Bahn fahren können! Allein, dass ich heute dort am Steig stand, hat mich große Überwindung gekostet. Die Viehtransportwaggons, in die wir damals gezwängt wurden, mit der schwarzen Lokomotive davor habe ich wieder fast real vor meinen Augen gesehen. Wie so oft in der Zeit danach. Ich war froh, als Du mir einen Platz in Deinem Fahrzeug anbotest."

"Vielleicht werde ich das Vergnügen, Dich fahren zu dürfen, in der nächsten Zeit öfter haben. Ich denke, Du wirst in das Haus Deiner Familie einziehen können. Ich wohne nach wie vor direkt daneben."

"Ich weiß es noch nicht. Ich habe doch soeben erst von Dir erfahren, dass mein Onkel mit seiner Familie überlebt hat."

"Sie konnten sich auf einem Bauernhof verstecken. Mit einer weiteren Familie, die der Bauer vor den Nazis verbergen konnte, bis der ganze braune Spuk vorüber war. Dein Onkel hat damals sehr lange nach Euch gesucht, bis zu seinem Tod vor zwanzig Jahren. Aber immer wieder endeten die Spuren im Warschauer Ghetto. Niemand wusste, was dort mit Dir und Deiner Familie geschah. Es wurde dann vermutet, dass sie Euch nach Treblinka, Majdanek oder Auschwitz deportierten."

Leicht verlegen senkt er den Kopf, bevor er weiterspricht, "ich habe oft an Dich denken müssen. Ich weiß nicht, ob Du es damals bemerktest, aber ich mochte Dich sehr. Wärst Du nicht fortgeschafft worden, hätte ich nach meiner Ausbildung sicher um Deine Hand angehalten. Als Elfjähriger hatte ich Dir bereits versprochen, Dich zu heiraten."

"Das hattest Du allerdings während der Zeit danach sehr schnell vergessen. Du hast mich im Gegenteil oft gehänselt. Manchmal so, dass ich Dir die Augen hätte auskratzen können", blitzt sie ihn leicht belustigt an.

"Das war meine Art, Dir meine Zuneigung zu zeigen. Ditty, so habe ich Dich damals genannt, wenn Du Dich erinnerst."

Sie nickt lächelnd, mit leicht in sich gekehrt wirkendem Blick.

Behutsam ergreift der Mann die linke Hand der Frau.

"Willkommen daheim, Ditty." Nach einer kurzen Pause spricht er weiter. "Unserer gemeinsamen Jugend haben uns die damaligen Schergen des 3. Reiches zu meinem Leidwesen beraubt. Vielleicht aber erleben wir doch noch einige gemeinsame Jahre, wenn Du Dich entschließen könntest, wieder zurückzukehren."

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 08.01.2011

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