PROLOG
Britannia, 4. bis 12. Jahrhundert n. Chr.
Nach und nach verschwanden die Legionen ab Mitte des 4. bis zum Beginn des 5. Jahrhunderts n. Chr. von der Insel. Der Abzug der Besatzer und ihrer Ausrüstungen erfolgte schleichend, anfangs noch unbemerkt.
Auf ihren Handels- und Kriegsschiffen verließen sie Britannia, ruderten und, wenn der Wind günstig war, segelten nach Süden in Richtung Festland. Die Auslöser für ihren Rückzug aus dem vor rund 360 Jahren okkupierten Gebiet waren das Eindringen der germanischen Westgoten und Vandalen in das von Rom besetzte Gallien und diverse Machtkämpfe um das Jahr 407 unter den damaligen römischen Usurpatoren, was die Anwesenheit der Truppen auf dem Festland erforderte.
In der Folgezeit blieb die Gebietsverwaltung bis zum Hadrians Wall zwar noch römisch geprägt, doch die überwiegend keltische Bevölkerung von den mediterranen Eroberern weitgehend unbehelligt.
Die römische Fremdherrschaft geriet langsam in Vergessenheit.
Da die einheimische keltische Bevölkerung jedoch nach wie vor beharrlich an ihrer althergebrachten Lebensweise festhielt, verfielen die baulichen Hinterlassenschaften der ehemaligen Invasoren zum größten Teil, denn selbst deren mit allen derzeit möglichen Techniken ausgestatteten Wohn- und Badehäuser blieben in der Folgezeit meist unbenutzt. Soweit ihre Materialien bei den Kelten nicht doch noch Verwendung fanden, wurde der Rest dem Zahn der Zeit überlassen.
Obwohl die allgegenwärtige Präsenz der Fremden nun Vergangenheit war, hielt der Frieden keinen Einzug. Denn mit dem römischen Truppenabzug entstand ein Machtvakuum, das schon bald die nächsten Eindringlinge anlockte.
Weitere wanderwillige germanische Stämme, vorrangig die Angeln und die Sachsen, bewältigten mit ihren Booten nur wenige Jahre nach dem Rückzug der Legionen den kurzen Weg über die Nordsee. Sie unterwarfen und ‚bereicherten’ somit die britannische Gesellschaft nach einigen bereits während der Römerzeit vorausgegangenen mehr oder weniger gescheiterten Angriffen.
Noch viele Jahrhunderte danach stellten sie die herrschende Oberschicht auf der Insel, konnten sich dort sogar bis 1066 als führende Macht behaupten.
Nach dem Tod von Eduard der Bekenner, dem letzten angelsächsischen König auf Englands Thron, gab es drei Anwärter, die mit dem Herrscherhaus verwandt waren und die Krone für sich beanspruchten. Harald Godwinson und nach dessen Tod Edgar Ætheling waren zwei von ihnen, die kurz nacheinander vom englischen Witenagemot zum König ausgerufen wurden.
Der Dritte war der Normannenherzog Wilhelm, ‚der Bastard‘ genannt, ein Neffe Eduards. Er überquerte mit seinem Heer vom nordwestlichen Festland aus den Ärmelkanal, um seine Ansprüche auf die Krone durchzusetzen, denn nach eigenem Bekunden wurde ihm die Nachfolge bereits Jahre vorher von seinem königlichen Onkel versprochen. Da seine zwei Gegenspieler allerdings ihr in der Rangfolge höhergestelltes Geburtsrecht einforderten und das ‚Treffen der Weisen’ dem Folge leistete, musste Wilhelm um seinen Anspruch kämpfen.
Er gewann die erste Schlacht gegen Harald II, der auf dem Feld bei Hastings den Tod fand. Ebenso erfolgreich war sein zweiter Kampf gegen das Heer des erst fünfzehnjährigen Edgar Ætheling, der sich dem Normannenherzog unterwerfen musste. Die Kurzzeitkönige waren geschlagen, der Weg für ihn an die Macht war frei.
Am Weihnachtstag 1066 wurde Wilhelm, der nun seinen eher anrüchigen Beinamen verlor und fortan ‚der Eroberer’ genannt wurde, in der Londoner Westminster Abtei zum neuen englischen König gekrönt.
Zwölf Jahre später ließ er eine hölzerne Festung gegen die ihm gegenüber nicht gerade wohlgesinnten angelsächsischen Londoner Stadtbewohner errichten. Hierzu diente als Fundament ein Teil der Wehrmauerruine des alten Londiniums, dem vor einem Jahrtausend von den Römern errichteten Militär-Stützpunkt an der Themse und Hauptstadt ihrer damaligen Provinz im Südosten Britanniens.
König Wilhelm II. ließ nach dem Tod seines Vaters die eher provisorische Burg wieder abreißen und sie an gleicher Stelle durch einen Steinbau ersetzen, dem White Tower. Er war der Beginn einer Gebäudeansammlung, die später unter dem Namen ‚The Tower of London’ Weltberühmtheit erlangen sollte.
Rund 70 Jahre nach der Grundsteinlegung des hölzernen Bollwerks entstand in der Nähe eine weitere Anlage. Oberhalb der Grasnarbe war sie ein Hort der Barmherzigkeit und des Glaubens, unterhalb anfangs ein Flucht- und Rückzugsort, wenn feindliche Angreifer bedrohlich näher rückten und die Bewohner unter die Erde trieben.
Die Höhlung unterhalb der sichtbaren Anlage in den Fels zu schlagen war eine für mittelalterliche Verhältnisse enorme Herausforderung und äußerst langwierige, mühevolle Schinderei. Brocken für Brocken mussten mit den doch recht primitiven Werkzeugen aus ihm herausgemeißelt werden. Nicht wenige Arbeiter verloren durch unkontrolliert herabstürzendes Gestein ihre Gesundheit, einige sogar ihr Leben.
Doch trotz der humanen Grundidee, aus der heraus die Anlage erbaut wurde, sollten es nicht die einzigen Toten bleiben, die dieser Ort während seiner langjährigen Nutzung beherbergen musste.
London/Großbritannien, Samstag, 18. Juli 1965
Die Materialien für die Innenwände des trotz während der vergangenen 150 Jahre erheblicher Bauarbeiten in dem Gebiet noch immer existierenden Gewölbes lieferten seinerzeit die wieder nach alter römischer Herstellung arbeitenden Ziegelmacher. Denn Backsteine gewannen bei den für die Ausführung verantwortlichen Baumeistern wieder verstärkt an Bedeutung. Gerade rechtzeitig genug, um sie hier einsetzen zu können. So wurden eine Stirn- und eine Seitenwand der tief unterhalb der jetzigen neuzeitlichen Bebauung gelegenen Anlage bis zur etwa fünf Yards hohen Decke aus Ziegelsteinen errichtet.
In der schmaleren künstlichen Mauer ist eine aus der Anfangszeit gut erhalten gebliebene Eichenholztür mit einem großen rostigen, doch derzeit an den beweglichen Teilen sorgfältig eingefetteten Kastenschloss verankert.
Bei Ansicht dieses mit schweren Eisenbändern versehenen Meisterwerks aus der Epoche der Enkel des ersten normannischen Herrschers auf der Insel würde ein heutiger Restaurator alter Gebäude ins Schwärmen geraten - und dafür sicherlich ein Vermögen ausgeben, um es eines seiner Objekte zuführen zu können.
Zumindest hinter dieser Wand dürfte also noch ein weiterer Raum, vielleicht aber auch nur ein Stollen zu finden sein.
An der Anderen lehnen sechs Käfige. Sie sind aus senkrecht dicht nebeneinander stehenden mit Rost überzogenen, aber sicherlich aufgrund der dort geringen Temperatur und Luftfeuchtigkeit trotzdem noch immer stabilen Eisenstangen gefertigt. Ihre Enden wurden jeweils in Boden und Decke versenkt und auf halber Höhe durch umlaufende Querstreben verstärkt. Die sechs Zellen besitzen an der gemeinsamen Front je eine verschließbare Gittertür.
Keine Lichtquelle erhellt das Verlies. Ohne einen direkten Schacht zur Erdoberfläche ist es in undurchdringliche Schwärze getaucht.
Allein schon die Einrichtung lässt erkennen, dass im späten Mittelalter der ehemalige Fluchtraum zu einem Gefängnis umgestaltet wurde.
Meist war es in jener Zeit ein machtbesessener Herrscher, der an diesem Ort seine besonderen Feinde einkerkerte. Selten dann kam einer der meist politischen Gefangenen wieder ans Tageslicht, denn selbst ihre sterblichen Überreste wurden im Schutze der nächtlichen Dunkelheit beiseite geschafft.
All jene, die hierhinein verschleppt wurden, erlebten in der künstlich geschaffenen Grotte die grausam-sadistischen Handlungen der speziell geschulten Kerkermeister, die selbst die abgeschiedensten Räume des Towers meiden mussten.
Dieser Ort der Düsternis entwickelte sich so zu einer Stätte, die wie geschaffen war für die geheime Ausübung menschlicher Absonderheiten.
Exakt vier Monate nach dem Tod Heinrich VIII. und 400 Jahre nach Baubeginn, also am 28. Mai 1547, ließ der Leiter der gesamten Anlage den Hauptzugang zu dem dunkleren Teil seines Reiches verfüllen und mit Steinplatten versiegeln. Somit geriet der in den vergangenen zwei Jahrhunderten vor der Öffentlichkeit geheim gehaltene Ort über ein halbes Jahrtausend danach in absolute Vergessenheit. Denn die, die von ihm wussten, nahmen ihr Wissen mit ins Grab.
Obwohl sie knapp jenseits des südöstlichen Randes der Londoner City liegt, blieb die verzweigte Anlage unentdeckt. Jedenfalls bis zum Herbst des vergangenen Jahres.
Im November 1964 geschah die Auferweckung. Ihr Dornröschenschlaf fand ein abruptes Ende durch eine Person, die die schreckliche Tradition der letzten aktiven Jahrhunderte der Grotte nun wieder neu aufleben lassen will.
Eine noch erhaltene, versteckt gelegene Fluchttür ließ sich nach einiger Gewaltanwendung öffnen. Der Gang dahinter erwies sich als weitgehend unversehrt und gut begehbar. Nur wenige kleinere Teilstücke seiner Ziegelwand waren durch Regenwassereinbruch aufgeweicht, verwittert und eingestürzt.
Somit war die Voraussetzung gegeben, das unterirdische Verlies für einen Zweck einzurichten, der in naher Zukunft die ungeteilte Aufmerksamkeit nicht nur der Londoner Bevölkerung erreichen sollte.
Der Anfang dazu ist getan, denn zwei der Zellen sind belegt, ihre Türen verschlossen.
Auf an der Ziegelsteinwand angebrachten primitiven Holzpritschen sitzt in der ersten sowie in der dritten Zelle jeweils eine junge Frau. Die Eine apathisch, scheinbar aller Hoffnungen beraubt. Die Andere verschreckt und voll widerstreitender Gefühle. Bestehend größtenteils aus von unsicherer Angst überlagertem Zorn.
Es ist mehr als offensichtlich, dass sich Beide nicht aus freien Stücken hier befinden.
„Sag, Doris, was hat der Kerl mit uns vor?“ Obwohl ein leerer Käfig zwischen ihnen ist, klingt die wütend erregte Stimme der auf der dritten Bank Hockenden lauter, als sie tatsächlich sein müsste. Sie hallt dumpf durch die Weite der lichtlosen Halle und rollen als schwaches Echo wieder zurück. Ihre der derzeit herrschenden Außentemperatur angepasste sommerliche Kleidung ist nicht sonderlich dazu geeignet, sie vor der Kühle dieses Raumes zu schützen. Aber noch verspürt sie sie nicht. Dazu ist die Frau zu aufgewühlt.
Die künftigen Wochen sollten ihr allerdings genügend Gelegenheit zu einer dauerhaften Gänsehaut geben.
Nur stockend, mit zwischendurch großen Pausen und resigniert-mattem Tonfall antwortet ihr die in der ersten Zelle Sitzende. „Genau weiß ich es nicht…. Doch ich fürchte, es ist nichts besonders Angenehmes, was uns erwarten wird…. Während der mehr als fünf Monate, die ich nun hier schon eingesperrt bin, hat er mich nicht sexuell belästigt…. Das ist also nicht sein Beweggrund…... Er sprach ausschließlich und immer wieder enthusiastisch von seiner großen, absolut genialen Aufgabe, für die er mich… uns… als Medium auswählte…. Allerdings ohne auf Details einzugehen…. Jedoch vermute ich, es ist eher kein künstlerisches Ziel, wovon er mehrfach redete, sondern sehr wahrscheinlich etwas Spiritistisches… Okkultes, dem er sich verschrieben hat…… Denn wozu sonst sollte er wohl ein ‚Medium’ benötigen?“
Einige Sekunden hält sie inne, während derer sie geräuschvoll-stockend tief Luft in ihre Lunge saugt, um dann verzweifelt schluchzend fortzufahren. „Ich denke, der Mann ist geisteskrank… verrückt… absolut irre!“
DER KALENDERMÖRDER
DAS KLAGELIED DER GRILLEN
London/GB, Montag, 8. Februar 1965
Die Verhandlungen sind ins Stocken geraten. Still und ruhig abwartend sitzt Ronald Currothers neben seiner Tochter drei Männern gegenüber, die den Raum seit sieben unendlich lang scheinenden Minuten mit spannungsgeladen starrem Schweigen füllen. Ein neutraler Beobachter könnte vermuten, die Fünf wollten herausfinden, wer von ihnen erstmals unruhig wird und die derzeitige Lautlosigkeit bricht.
Dabei sind ihre Gedanken alles andere als unbeweglich. Für den Leiter der Gästedelegation gilt es, die ihm neu vorgelegten Daten zu analysieren und, wenn nötig, mit einem kurzen Fingerzeig auf einzelne Positionen aufmerksam zu machen, die sofort darauf von einem seiner beiden Mitarbeiter exakter ausgewertet werden. Den Gastgebern ist das Schicksal beschieden, sich gedulden, die Signale der Gegenseite deuten und bei Bedarf reagieren zu müssen.
Auf Seiten der Wartenden hat unter dieser Situation die zwischen den vier Männern einzig anwesende Frau besonders zu leiden.
Von ihrer inneren Unruhe ist ihr allerdings kaum etwas anzumerken. Nur wer sie kennt weiß, dass ihre Nerven zum Zerreißen gespannt sind. Doch obwohl sie das Verhalten ihrer Besucher als unnötiges Hinauszögern einer schon vorab feststehenden Entscheidung empfindet, wird sie sich beherrschen müssen. Es ist einfach nur ärgerlich, da die aktuelle Situation mit zunehmender Dauer auch an ihrer seit dem vergangenen Wochenende ausnehmend erwartungsvoll guten Stimmung kratzt.
Im Allgemeinen ist es nicht so, dass Doris Currothers Stille allzu viel ausmacht. Unter gewissen Bedingungen mag sie sogar die absolute Ruhe. Ein Umstand, der ihr in naher Zukunft sogar sehr hilfreich sein könnte. Nur hier und jetzt erscheint sie ihr unerträglich! Vor allem, da ihr bewusst ist, dass entweder zwangsläufig versteckt gehaltene Enttäuschung oder befreiendes Aufatmen durch die nächste Wortmeldung ihrer Verhandlungspartner ausgelöst werden wird. Verhandlungspartner, in denen sie im Augenblick eher Diebe ihrer Zeit sieht.
Wenn die Drei noch länger hier herumsitzen und zu keiner diese Runde abschließenden Entscheidung kommen sollten, wäre es um die vorzeitige Vereinbarung eines sehr langfristig angelegten und auch lukrativen Geschäftsabschlusses geschehen.
Sie weiß allerdings, die Gespräche würden mit einem Vertrag beendet werden. Wann und zu welchen Konditionen auch immer. Darüber macht sie sich nicht allzu viel Gedanken. Die Unterschriften folgen dann eben mit einiger Verspätung.
Doch dies ist nur der sekundäre Auslöser ihrer sie derzeit quälenden Sorgen. Der Hauptgrund liegt auf einer völlig anderen, sehr privaten Ebene.
Rechts neben ihrem Vater sitzt sie auf einem der elf um den langen Buchenholztisch gruppierten und trotz ihres modernen Aussehens auch bequemen Stühle und versucht, ihre Ungeduld nicht allzu deutlich werden zu lassen. Angespannt wartet sie auf eine entscheidende Regung der Gegenseite, der drei ihr gegenüber hockenden Männer, die ihnen im Augenblick diese dumpfe, lähmende Atempause aufzwingen. Die mit dieser in ihren Augen unnötigen Verzögerungstaktik eine am frühen Morgen vereinbarte Verabredung platzen und somit die besonderen Stunden ihres bevorstehenden Feierabends verderben könnten, die sie seit dem Einstieg in die beginnende hektische Arbeitswoche leidenschaftlich herbeisehnt. Und das trotz oder gerade aufgrund dieser für ihren Vater, den Familienkonzern und somit im Endeffekt auch für sie äußerst wichtigen Verhandlungsrunde, die ihren weiteren Weg in eine erfolgreiche, finanziell gesicherte Zukunft positiv beeinflussen würde.
Der jungen Frau sind die Egozentrik und fehlende Professionalität ihrer in diesem Moment vorherrschenden Gedanken absolut bewusst. Deshalb ist sie auch sehr darum bemüht, sie nicht nach außen dringen zu lassen.
So ist es auch eine eher unbewusste Geste, die sie mit dem rechten Handrücken leicht über die Stirn streichen und dem abgespreizten Daumen eine widerspenstige Strähne des üppigen langen, blonden Haares wieder an ihren Platz befördern lässt. Sogleich blickt ihr Vater sie forschend an, da die Bewegung leicht verärgert wirkt und somit gegen ihren Willen doch ihre wachsende Ungeduld verrät.
Oder ist es nur eine gewisse Abgespanntheit, die sie gereizt erscheinen lässt? Denn eigentlich müsste sie sehr müde sein. Die vergangenen zwei Nächte hatten ihr nur wenig Schlaf gebracht.
Doch die gerade jetzt während der Zeit des Wartens immer wieder in ihr Bewusstsein einfließenden Erinnerungen an das vergangene Wochenende lassen ihr Blut jedes Mal erneut etwas schneller als normal zirkulieren. Einer der Gründe, die ihre Müdigkeit im Keim ersticken lassen.
Immer noch spürt sie die behutsam zärtlichen Finger - und nicht nur sie - des vor einer Woche erst in ihr Leben getretenen Mannes auf ihrer nackten Haut und möchte, dass sie schnellstmöglich mit diesem erregenden Spiel fortfahren. Wobei sie ihnen für diverse Einzelheiten abermals freie Hand gewähren würde.
An diesem eiskalten, klaren Montagmorgen ließ sie gegen 8 Uhr leise und mit einem wehmütigen Gefühl die Korridortür zur Wohnung ihres neuen Liebhabers hinter sich ins Schloss fallen.
Während er sich weiterhin in dem Bett räkeln konnte, das sie beide kurz zuvor noch dicht aneinander gedrängt etwas stärker beanspruchten, hatte sie nun einige ereignisreiche, nein, sogar entscheidende Arbeitsstunden vor sich. Es erwartete sie eine Aufgabe, die sie jetzt, durch die Erlebnisse dieses Wochenendes gestärkt, mit neuer Kraft und Lebensfreude angehen würde. So zumindest dachte sie zu jenem Zeitpunkt noch.
Ihr Mini Cooper stand am Straßenrand nicht weit vom Apartmenthaus entfernt, in dem sie mit Jerome die letzten zwei Tage verbrachte.
Eine steife, eiskalte Brise wehte ihr ins Gesicht, als sie das Gebäude verließ und den Gehweg betrat. Mit schnellen Schritten, gesenktem Kopf und eng am Hals zusammengehaltenem Mantelkragen näherte sie sich dem Fahrzeug und betrachtete ungehalten dessen Scheiben, die mit einer dicken Reifschicht bedeckt waren.
Missmutig klaubte sie ihren Plastikschaber aus dem Wageninneren und machte sich ans Eiskratzen. Die frostige Kälte, die sich ihr nun auch noch schmerzhaft beißend in die Fingerspitzen grub, ließ schnell ihre Augen tränen. Sie hasste den Winter und alles, was mit ihm zusammenhing.
Als sie endlich vor dem schneidenden Wind in das Fahrzeug flüchten konnte und hinter dem Lenkrad saß, drehte sie als erstes nach dem Starten des Motors die Heizung voll auf. Innerhalb der nächsten zehn Minuten würde es im Wageninneren angenehm warm werden. So jedenfalls hoffte sie, denn auf die Heizung des Mini war nicht unbedingt und ständig Verlass.
Doch zu ihrer großen Erleichterung funktionierte sie an diesem Morgen tadellos.
Somit besserte sich ihre kurzfristig auf Eis gesetzte Stimmung während der Fahrt zum Currothers-Line Center mit der langsam ansteigenden Temperatur des Innenraums. Sie streckte sich einige Male wohlig seufzend, soweit es das beengte Platzangebot des Kleinwagens zuließ und gedachte der vergangenen Nacht.
Noch knapp zehneinhalb Stunden, dann würde sie wieder in den Armen ihres spanischen Studenten liegen. Noch genau 620 unendlich lange Minuten.
Da sie für ein längeres Wochenende von ihrem Vater einen freien Samstag erbat - und auch genehmigt bekam, was in der Vergangenheit nicht immer der Fall war, lag ein etwas größerer Stapel Notizen und Anfragen als sonst auf ihrem Schreibtisch. Nach der Bearbeitung der seit Freitagabend eingetroffenen Meldungen ihrer Kunden und Mitarbeiter betrat sie direkt nach dem Lunch das Büro ihres Vaters. Es galt, die Taktik der eine Stunde später anstehenden Vertragsverhandlung zu besprechen.
Nun sitzt sie mehr als ungeduldig wartend hier und sieht von Minute zu Minute stärker ihre Befürchtung bestätigt, dass dies nicht mal eben eine schnelle ad hoc-Sitzung sein würde.
Je näher der Zeitpunkt ihrer Verabredung heranrückt, umso unruhiger wird sie.
Dabei jedoch sind ihre Gefühle sehr zwiespältiger Natur. Wie heißt es bei Goethes Faust doch so überaus treffend: zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust. So auch bei ihr. Denn einerseits erwartete sie seit einer Woche mit Spannung diesen Termin, will noch heute die derzeit geführten Vertragsverhandlungen zu einem positiven Abschluss gebracht sehen, sie andererseits aber auch so bald wie nur irgend möglich beenden und den Heimweg antreten.
Wie spät ist es jetzt? Sie wagt nicht, in Richtung Tür zu blicken und die Zeiger der darüber angebrachten elektrischen Wanduhr zu befragen. Jede Bewegung in dem überschaubaren Konferenzzimmer würde registriert werden - somit die unvermeidliche und verräterische Wendung ihres Kopfes erst recht. Ein versteckt tadelnder Blick ihres Vaters könnte für diese ungeduldige Aktion wieder einmal die Quittung sein. Außerdem wäre es sinnlos, da doch erst wenige Minuten seit dem letzten verstohlenen Blick auf ihre modisch kleine und deswegen nur mühsam abzulesende Armbanduhr vergangen sind.
Trotzdem, wie einem inneren Zwang gehorchend, dreht sie von den Gästen unbemerkt abermals das Handgelenk, um auf das winzige Zifferblatt blicken und anhand der Zeigerstellung sehen zu können, wie viel Zeit ihr noch bleibt.
4:57 Uhr. Also noch gut eineinhalb Stunden bis zu ihrem Rendezvous, dem sie jetzt immer ungeduldiger und leidenschaftlicher entgegenfiebert. Verbunden mit dem Wunsch, dass es erst mit dem morgendlich gemeinsamen Erwachen und anschließendem Frühstück enden wird - in welcher Form dieses auch immer sein mag.
Wenn die Gespräche sich noch länger hinziehen, wird sie gezwungen sein werden, mit ihrer Nachbarin zu telefonieren. Sie wird sie bitten müssen, ihren neuen Freund bei sich aufzunehmen. Jedenfalls bis zum Zeitpunkt ihres Eintreffens. Denn sicher dürfte es ihm, dem Wärme liebenden kastilischen Studenten, zu kalt sein, um im Fahrzeug auf sie zu warten.
Der Gedanke daran gefällt ihr nicht besonders. Doch besser, er ist kurze Zeit dort in einer gut geheizten Wohnung, als nachher durchgefroren mit einer triefenden Nase bei ihr im Bett.
Nicht, dass sie eifersüchtig wäre. Gewiss nicht. Nur - einen solch attraktiven Mann sollte sie nicht länger als fünf Minuten mit einer ebenso attraktiven Frau allein lassen.
Verstohlen beobachtet sie nun die drei Besucher, die jenseits des Tisches die bequemen Polsterstühle besetzen. Sieht sie im Augenblick verhalten diskutieren, während ihre Blicke abschätzend über einige geöffnet vor ihnen liegende Aktenordner wandern, auf deren Seiten Listen mit kleinen Gruppen aneinander gereihter Zahlenkolonnen zu erkennen sind.
Sie selbst hat dieses bisher letzte Angebot vor wenigen Minuten nach den leise gegebenen Anweisungen ihres Vaters erstellt und den Gästen vorgelegt. Mit allerdings nur geringen und unwesentlichen Änderungen gegenüber dem Vorherigen. Sie hofft, hiermit nun abschließend den Durchbruch schaffen und den Vertrag unter Dach und Fach bringen zu können.
‚Nun kommt! Entscheidet euch! Unterschreibt endlich und fahrt nach Hause!’ Die Gedanken sind ihr für einen kurzen, unbedachten Moment deutlich anzusehen.
Doch die drei Männer sind zu sehr beschäftigt, um die innere Anspannung der jungen Frau zu bemerken. Sie sehen nicht ihren für einen Sekundenbruchteil lang genervten Augenaufschlag. Haben nur Interesse für die neuen Zahlen, die vor ihnen liegen und deren Ergebnisse, die es zu berechnen gilt. Obwohl sich ein Blick auf ihr weibliches Gegenüber durchaus lohnen würde.
Der Mittlere der Drei umreißt in diesem Augenblick stumm mit einer kurzen Handbewegung einen Abschnitt der mit einem Kugelschreiber auf das Papier gebrachten Ziffern. Der rechts neben ihm Sitzende deutet noch einmal mit fragendem Blick und der Spitze seines geöffneten Füllfederhalters auf die gleiche Stelle der Seite und zieht, als sein Partner ohne ein Wort zu sagen nur kurz mit dem Kopf nickt, eine klobige mechanische Rechenmaschine näher zu sich heran. Nicht ohne vorher die vom Austrocknen bedrohte vergoldete Feder seines Schreibgerätes wieder mit der Schraubkappe zu schützen.
Während er geschickt mehrere Hebel und zwischendurch auch immer wieder die rechtsseitig angebrachte Kurbel bedient, klingt bei jeder ihrer Drehungen ein dumpfes Ratschen durch den Raum. Erst mit dem Erreichen des letzten gesuchten Multiplikators auf der oberen Zeile des Gerätes kehrt die Stille in den Raum zurück. Denn das schwache Kratzen seines wieder aufgeschraubten und somit einsatzbereiten Füllers ist kaum zu hören, als er schnell einige Zahlen auf ein bereits halb beschriebenes Blatt Papier zeichnet.
Er schiebt den Bogen über die Tischplatte nach links in den Blickbereich seiner Partner und diskutiert in gedämpftem Flüsterton mit ihnen das Resultat seiner Berechnungen.
Ronald Currothers lehnt sich währenddessen auf seinem Stuhl zurück. Er ist seit 44 Jahren Inhaber und in vierter Generation Namensgeber der Mitte des vergangenen Jahrhunderts gegründeten Londoner Schifffahrtslinie und hat schon viele Schlachten dieser Art geschlagen.
So erwartet er, äußerlich ruhig und entspannt, gemeinsam mit seiner Tochter die Antwort auf die letzte Offerte. Die Zustimmung der Kunden für weitere über einen langen Zeitraum festgeschriebener Transportaufträge.
Die den Besuchern übergebenen grünen Hefter mit seit Verhandlungsbeginn mehrfach nur geringfügig geänderten Zahlen beinhalten das abschließende Angebot der Reederei an einen ihrer wichtigsten Verlader. Wenn es zu einem Vertrag kommen sollte, werden sie den sicheren Fortbestand und die gesunde Ertragslage des alteingesessenen Familienbetriebes auf Jahre hinaus festigen.
Während vor ihm an der anderen Tischseite noch leise diskutiert wird und Doris in gespannt abwartender Sitzhaltung schweigend verstohlen die Besucher beobachtet, ist Ronald Currothers Blick auf das Gebiet jenseits der breiten Fensterfront des Konferenzraumes gerichtet. Sein eigenes Büro bietet das gleiche Panorama, da es gleich nebenan liegt.
Jedes Mal, wenn er während seiner Arbeit eine kurze Ruhepause einlegen kann, steht er an einem
dieser Fenster im obersten Stockwerk des Currothers Line-Centers. Von hier aus beobachtet er gerne das faszinierend gemächliche Treiben auf dem trägen, schmutziggraubraunen Wasser der Themse, die sich wie ein geschlungenes Band durch London zieht.
‚In der Kloake möchte ich nicht einmal als Leiche liegen’. Der Gedanke zieht kurz durch sein Bewusstsein und versinkt sofort wieder. Denn obwohl aus vielen Abwasserleitungen verdreckt liebt er diesen Fluss. Er hat ihn und seinen Arbeitsalltag seit Jahrzehnten begleitet.
Und stets ist es eine außergewöhnliche Ansicht, die sich ihm immer wieder bietet. So auch heute.
Er schaut auf den weit gezogenen Bogen des Stromes und bemerkt einen kleinen Touristendampfer mit nur wenigen Passagieren an Bord, der, langsam zwischen Lastkähnen seine Kiellinien ziehend, einigen unerschrockenen Besuchern der Stadt den Ausblick auf die imposante Uferrandbebauung des in eisiger Kälte erstarrten Londons bietet.
Er ist etwas verwundert, denn bisher war er der Ansicht, die Ausflugsboote würden über die Wintermonate im Dock liegen und für die nächste Saison instand gesetzt werden. Dieses aber scheinbar nicht. Er kennt den Eigner des Schiffes, da er mit ihm im gleichen Club verkehrt. Geht es dem Mann geschäftlich so schlecht, dass er jeden Penny mitnehmen muss?
Er blickt hinauf zum eisblauen Himmel. Der Winter war bisher zwar feucht, doch auch recht mild. Für das südliche England nichts Ungewöhnliches. Als dann jedoch vor drei Tagen der Wind drehte, fielen die Temperaturen plötzlich und rapide. Der zeitweise böige Luftstrom treibt nun nicht mehr die gemäßigt warmen Dunstschleier des Atlantiks, sondern die über den riesigen Weiten Asiens und Osteuropas herrschende trockene Kälte aus Ostsüdost über die Insel. Vermischt hier allerdings wieder mit teils dicken Nebelschwaden. Nur sind es jetzt tiefgekühlte, auf seiner kurzen Wasserquerung von der Oberfläche der Nordsee eingesammelt, die als Raureif über das meist einheitliche Grau der Gebäude und Straßen Londons herfallen und es mit einer Decke aus weißglitzernden Kristallen überzieht.
Auch die Stahlträger der nur wenige hundert Yards stromauf stehenden Waterloo- und des dahinter liegenden Mehrfachstrangs der Hungerford Bridge glänzen in einem reinen Weiß, durch die waagerecht einfallenden Strahlen der eine knappe Handbreit über dem südwestlichen Horizont stehenden Sonne noch intensiviert.
Es verwundert ihn, dass sich bisher auf der Themse trotz der Temperaturen weit unterhalb der Frostgrenze noch kein Eis gebildet hat. Doch wenn die jetzige Wetterlage über einen längeren Zeitraum hinweg anhalten sollte, wird es nicht mehr lange auf sich warten lassen und die derzeit noch mögliche Flussschifffahrt sogar zum Erliegen bringen können.
Es böte sich nach vielen eisfreien Jahren für die Londoner dann erstmalig wieder die Gelegenheit, ihre vermutlich rostig gewordenen Schlittschuhe aus ihrem tristen Dachboden-Dasein erlösen zu können.
Der Reeder Currothers sieht dem möglichen Zufrieren der Londoner Hauptverkehrsader allerdings eher gelassen entgegen, denn das Eis würde den Frachtschiffen seiner Linie kaum etwas ausmachen. Deren Anlegestellen sind die Verladekais der großen Überseehäfen der Welt. So zum Beispiel auch Tilbury. Das in regelmäßigen Zeitabständen durch den Tidenhub einströmende Meerwasser verschont den direkt vor der Strommündung zur Nordsee liegenden Themse-Hafen weitestgehend auch im härtesten Winter vor übermäßiger Eisbildung. Er ist für die Currothers Line in den eisigen Winterzeiten der nächste Anlegeplatz, wenn es darum geht, große Schiffsladungen für oder von London aufzunehmen.
Mit nicht sichtbarer innerer Spannung, wie sie sich bei ihm während solch wichtiger Verhandlungen immer einstellt, aber auch schwachem Bedauern wendet Currothers seinen Blick ab von dem das Blassblau des wolkenfreien Himmels widerspiegelnden Flusslauf.
Der gewiefte Taktiker weiß, er sollte seine Besucher jetzt nicht länger unbeobachtet lassen, da nun die Endphase der Verhandlung eingeläutet werden könnte. Und schon eine geringe Änderung ihres Verhaltens gäbe ihm Aufschluss über die Richtung ihrer Entscheidung.
Somit lenkt er seine Konzentration erneut auf die drei Männer. Voller Zuversicht, dass das zuletzt vorgelegte Angebot endlich den gewünschten Erfolg bringen wird.
Ganz anders seine Tochter. Sie betrachtet die Gäste aus den Augenwinkeln mit einer Mischung aus erzwungenem Abwarten und mühsam verborgen gehaltener unruhiger Anspannung. Wenn dieser Auftrag unter Dach und Fach ist, so hofft sie, wird endlich die vor einigen Monaten in den USA entwickelte und in ihrem Kopf weiter Gestalt angenommene Idee von ihrem Vater aufgegriffen werden können.
Vorerst jedoch muss sie sich weiterhin in Geduld fassen. Sie hat in den letzten Jahren gelernt, bei langwierigen Vertragsverhandlungen nie Druck auf die jeweiligen Abgesandten ihrer Kundschaft ausüben zu dürfen. Was bei ihrem zeitweise überschießenden Temperament manchmal nicht einfach für sie ist.
So sollte sie auch auf keinen Fall die Vermutung aufkommen lassen, die Reederei wäre unbedingt auf den Auftrag angewiesen. Selbst wenn er einen solch großen Umfang hat wie der augenblicklich Verhandelte. Das könnte bei der Gegenseite zu falschen Rückschlüssen führen und sie vermuten lassen, noch etwas an der Preisschraube drehen zu können.
Seit gut zwei Stunden sitzen die Fünf hier und feilschen um Frachtraten und Laderaum. Immer wieder hat Doris Currothers die von ihrem Vater neu angegebenen und stets nur unwesentlich veränderten Zahlen berechnen, auf Papier bringen und den Kundenvertretern vorlegen müssen.
Nun sitzen beide gedankenverloren am Tisch und warten auf die Entscheidung der drei Männer.
Die Unruhe der jungen Frau ist während der letzten Minuten weiter gestiegen, was bisher allerdings nur ihr Vater bemerkte. Trotzdem ignoriert er, der weißhaarige, kräftig gebaute Endsechziger im
korrekt sitzenden dunklen Geschäfts-Anzug, beharrlich die Blicke seiner Tochter, die wiederholt und
in immer kürzeren Abständen nur für ihn sichtbar auf ihre Armbanduhr gerichtet sind. Das mit
stoischer Absicht, wie auch ihr mit zunehmender Dauer immer bewusster wird.
Statt ihrer Ungeduld Beachtung zu schenken, blättert er bedächtig in den vor ihm liegenden Seiten seines blauen Ordners. Scheinbar nach etwas suchend, das er sicherlich auf Anhieb hätte finden können. Denn auch das letzte Angebot an seine drei Verhandlungspartner kennt er in- und auswendig.
Gerade heute sei es ihr wichtig, zeitig nach Hause zu kommen. Dies hatte sie ihrem Vater noch am Vormittag in vorsichtigen Andeutungen zu verstehen gegeben. Allerdings besaß sie von vornherein keine allzu große Hoffnung, mit diesem Wunsch bei ihm auf wohlwollendes Verständnis zu stoßen, denn dieser für den Auftragsbestand des Unternehmens wichtige Termin ist ihr ausreichend lange bekannt.
Sie weiß um seine Einstellung, die er ihr schon einmal vor Jahren während einer ähnlichen Situation deutlich machte. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Und dass er diese bei ihr besonders streng anwendet, versteht sich von selbst. Denn immerhin ist sie sein einziges Kind und somit bald Erbin einer florierenden Großreederei, die auch weiterhin sicherer Arbeitsplatz vieler Menschen sein und wie bisher gewinnbringende Geschäftserlöse erzielen muss. Auch dann natürlich, wenn der Tag gekommen ist, nach dem er nicht mehr an der Spitze des Konzerns stehen wird. Und um den Betrieb weiterhin auf gesundem Erfolgskurs halten zu können, ist es unbedingt notwendig, in der Zeit bis zu seinem Ausscheiden ihrem noch zum größten Teil aus reiner Theorie bestehenden Universitätswissen nun auch die kaufmännische Grundlage, die praktische Erfahrung zukommen zu lassen.
Vor sieben Jahren stellte er seiner Tochter die entscheidende Frage nach ihren Zukunftsplänen. Hätte sie es abgelehnt, den Betrieb zu übernehmen, wäre der älteste Sohn seines Bruders die zweite Wahl gewesen. Gerald, der zwischenzeitlich ebenfalls für die Reederei als Leiter der Akquisitionsabteilung arbeitet, trotzdem aber nicht zur derzeitigen Verhandlung geladen wurde, da dieser Kunde reine Chefsache ist.
Doris war auch, sehr zum Leidwesen Geralds, sofort einverstanden, was sie drei Monate später mit dem Beginn eines Wirtschaftsstudiums bewies. Obwohl Currothers ihr damals bereits vor Augen führte, dass mit der Übernahme dieser Aufgabe ihr Privatleben oftmals zu leiden haben wird.
Sie hat dies anstandslos akzeptiert und wird sich jetzt und in Zukunft entsprechend verhalten müssen.
Selbstverständlich hätte er heute eine Ausnahme machen, etwas mehr Rücksicht auf sie und ihre Gefühle nehmen können. Nur bekommt sie dadurch weder die richtige Berufsauffassung vermittelt noch lernt sie etwas über erfolgreiche Verhandlungsführung.
Auch hätte der Reeder seinen Neffen oder einen anderen der leitenden Angestellten zu diesem Termin abberufen können. Allerdings wäre er dann erst recht seinen Prinzipien untreu geworden. Denn an erster Stelle ist ihm wichtig, den Kunden den Umgang mit seiner Tochter vertraut zu machen. Ist sie es doch, die in absehbarer Zeit deren Vertrags- und Geschäftspartnerin sein und die Gespräche mit ihnen führen wird.
Und wie heißt das gute alte britische Sprichwort? Learning by doing. Denn allein so existenzielle Verhandlungen wie diese heute Geführte sind es, die ihren Nachholbedarf insbesondere auf dem Gebiet der Geschäftsführung ausmerzen können.
Currothers ist die neue Liaison seiner Tochter sicherlich nicht entgangen, zeigt sie sich in den letzten Tagen doch so gut gelaunt wie selten zuvor. Auch weiß er aufgrund ihrer heutigen Andeutungen um ihre abendliche Verabredung.
Jedoch Geschäft ist nun einmal Geschäft. Sie wird sich daran gewöhnen müssen, dass die Interessen des Betriebes immer und ausschließlich vor persönliche Belange zu stellen sind.
Deshalb macht es ihm auch wenig aus, seiner Tochter Zeit des heutigen Zusammenseins mit dem neuen Mann an ihrer Seite, besser gesagt in ihrem Bett, so von Minute zu Minute schrumpfen zu lassen.
Ebenfalls ihr am Vormittag vorgebrachtes Argument, nach 5 Uhr in die Londoner Rush Hour zu geraten, stößt bei ihm auf Unverständnis. Da sie auch an diesem Morgen wieder am Steuer ihres Mini Coopers auf den Betriebshof rollte, wird sie sich nach dem Abschluss der Verhandlungen an gleicher Stelle sitzend in den werktäglichen Feierabendverkehr einreihen müssen. Warum nur ignoriert sie ständig seinen Ratschlag?! Die Underground ist gerade während der Stunden des einsetzenden Berufsverkehrs nun einmal schneller, auf Dauer auch weitaus kostengünstiger und nervenschonender als die tägliche Fahrt mit ihrem neuen Austin Mini. Dieses von ihm belächelte seltsame Kultfahrzeug erfreut sich zurzeit trotz seiner spartanischen Einrichtung gerade bei der Jugend besonderer Beliebtheit.
Als sie schon nicht mehr daran glaubte, heute noch den Konferenzraum mit einem positiven Ergebnis verlassen zu können, war es dann plötzlich beendet. Der Füllfederhalter wanderte auf der anderen Tischseite von einer Gästehand zur nächsten. Dann wurde der Ordner, mit drei Unterschriften auf dem untersten der inliegenden Blätter versehen, über den Tisch geschoben und das obligatorische Händeschütteln setzte ein.
Es war geschafft. Die Vorverträge sind unterzeichnet, die Verhandlungen somit zu einem für die Currothers-Reederei positiven Ende gebracht. Ein wichtiger lukrativer Großauftrag ist so gut wie gesichert.
Um 5.45 Uhr verabschieden sich die Verhandlungsführer des Auftrag gebenden Unternehmens, um die Verträge ihrem Vorstand zur endgültigen Unterschrift vorzulegen. Sie lassen einen erleichterten Ronald Currothers und seine jetzt trotz der späten Stunde freudestrahlende Tochter Doris allein zurück.
Nun, da sie im Büro des Vaters nebeneinander stehen, tritt ihre Ähnlichkeit deutlicher als am Konferenztisch sitzend zutage. Er, 69 Jahre alt, groß, in früheren Jahren einmal athletisch gebaut mit nun im Alter langsam ansetzenden zusätzlichen Pfunden, wird unübersehbar seiner Tochter nicht nur den Konzern vererben. Noch ist sie gertenschlank, dass sie jedoch trotzdem einmal die Statur ihres Vaters bekommen wird, ist deutlich zu erkennen. Denn allein schon die ausgeprägten Schultern und starken Handgelenke zeugen von einem stabilen Knochenbau, der nur darauf zu warten scheint, einiges mehr an Körperfülle tragen zu dürfen.
Für wenige Wimpernschläge in Gedanken versunken blickt Currothers auf das etwas über handflächengroße gerahmte Bild neben dem Telefonapparat auf seinem Schreibtisch. Es zeigt seine Frau am Tage ihrer Niederkunft mit der gerade erst geborenen Tochter, gemeinsam im Wochenbett liegend. Es ist ein Foto von Vielen, die der begeisterte Hobbyfotograf und Vater an jenem Tag von seiner soeben um ein kleines, augenzukneifendes Baby erweiterten Familie schoss. Es wird in genau sechs Tagen ein Vierteljahrhundert alt.
Richtig! Am kommenden Sonntag hat Doris Geburtstag.
Bis auf diese restlichen Stunden sind bereits fünfundzwanzig Jahre vergangen, als er sie zum ersten Mal auf seinen Armen trug. Eine lange Zeit, in der sie ihm nicht immer nur Freude bereitete.
Jedoch hat sie mittlerweile ihre Sturm- und Drangperiode überwunden und sich zu einer Frau entwickelt, die seinen großen Erwartungen nun langsam gerecht wird.
Deshalb hat er ihr bereits vor zwei Wochen ohne ihr Wissen 25 Prozent der Reederei-Anteile überschrieben. Die Urkunden dazu wird sie zu ihrem Geburtstag erhalten.
Natürlich gaben dazu auch steuerliche Überlegungen einen zusätzlichen Anreiz, jedoch hat sie sich diese Anerkennung redlich verdient.
Ebenso wird er der Familie an diesem Tag seinen für das kommende Jahr geplanten Rücktritt aus dem Konzern ankündigen. Sein siebzigster Geburtstag soll endgültig der Termin sein, der Doris die alleinige Entscheidungsgewalt über die Currothers Line bringen wird. Er weiß, sie hat das Zeug, den traditionsreichen Familienbetrieb nach seinem Ausscheiden übernehmen und auch erfolgreich weiterführen, mit viel Geschick sogar noch ausbauen zu können.
Er ist gespannt auf ihre Reaktion, wenn er seinen Entschluss am Sonntag während einer kleinen Feier innerhalb der Familie öffentlich machen wird.
Sein Rückzug von der Firmenspitze und ihre damit verbundene Ernennung werden zwar nicht allzu überraschend kommen, da ihr schon bei der Geburt der Chefsessel sozusagen mit in die Wiege gelegt wurde. Und es war vorauszusehen, dass dies gezwungenermaßen sehr früh geschehen würde. Denn ihre damalig bislang kinderlos gebliebenen, nun aber frischgebackenen Eltern hatten bereits ein Alter erreicht, in dem sich viele andere Paare seit längerem schon mit einer mehr oder weniger großen Anzahl an Enkelkindern beschäftigen konnten.
Der Rat eines seiner langjährigen Kunden zwei Jahre vor Doris’ Geburt brachte die Wende. Er ließ das Ehepaar einen Arzt konsultieren, der sich auf eben diese Problemfälle spezialisiert hatte. Es sollte der letzte Versuch sein. Und der hatte Erfolg.
Somit kündigte sie sich zu einem Zeitpunkt an, als der Reeder die Hoffnung auf einen Erben längst schon aufgegeben hatte und sich langsam zu der Entscheidung durchrang, den damals sechzehnjährigen Neffen zu seinem Nachfolger an der Spitze des Unternehmens aufzubauen.
Da er diesen Punkt bereits während mehrerer Treffen mit seinem zwei Jahre jüngeren Bruder besprach, überwog eher die Enttäuschung dessen Sohnes nach Bekannt werden des baldigen freudigen Ereignisses, als dass er es als für die Familie glücklichen ‚Umstand’ empfand. Daran konnte auch sein mittlerweile erlangter Posten im Führungsstab der Reederei nichts ändern. Er war und ist nur zweite Besetzung.
Currothers geht zu dem der Fensterfront und seinem Schreibtisch gegenüber stehenden, die gesamte Wand ausfüllenden Mahagonischrank und öffnet eine der vielen Türen. Aus den dicht platzierten Reihen unterschiedlicher Gläser ergreift er mit der linken Hand zwei uralte, grünfarbene Römer und stellt sie vor sich auf eine kleine Marmorplatte. Währenddessen klappt seine Rechte eine Schrankblende auf und zieht aus einem dahinter eingelassenen Weinregal behutsam einen verstaubten Bordeaux.
Routiniert und mit der gebotenen Vorsicht befreit er mit einem Korkenzieher den Flaschenhals von dem Verschluss und lässt die dunkelrote Flüssigkeit langsam in eine Glaskaraffe rinnen. Daraus füllt er nach einigem Abwarten nun die Gläser zu etwa einem Drittel, tritt mit ihnen auf seine Tochter zu und überreicht ihr eines.
„Siehst Du, mein Mädchen, solch eine erfolgreich abgeschlossene Verhandlung ist doch ein großartiges Erlebnis. Mit diesem Auftrag werden knapp dreißig Prozent unserer derzeitigen Laderaum-Kapazitäten auf Jahre hinaus ausgelastet sein. Und das zu einer Marge, die schon beachtlich ist. Jetzt endlich können wir auch Deinen Vorschlag aufgreifen und den Bau eines dieser von Dir entdeckten neuartigen Containerschiffe in Auftrag geben, das uns weitere und in der Zukunft sicher immer bedeutender werdende Geschäftsfelder eröffnen wird.
Darauf lass uns mit diesem alten und speziell für solch besondere Gelegenheiten aufgehobenen Wein anstoßen. Wir haben ihn uns verdient.“
Mit säuerlichem Lächeln nimmt sie das wertvolle Glas entgegen. Sie mag es nicht, von ihrem Vater ‚mein Mädchen’ genannt zu werden. Fühlt sie sich doch sofort wieder als zehnjähriges Gör mit langen, geflochtenen Zöpfen und einer Puppe im Arm. Gleichzeitig jedoch führt sie innerlich einen Freudentanz auf. Ihre Idee trug also Früchte.
„Nenn’ mich nicht immer so, Dad. Ich bin erwachsen. Seit mehreren Jahren bereits. - Aber ja, Du hast Recht. Es ist ein schönes Gefühl. Du hast die Herren ganz nett an der Nase geführt.“
„Ja, und Du hast mir dabei geholfen. Ich bin stolz auf Dich. Obwohl Deine Nervosität und Ungeduld heute offensichtlich war. Jedenfalls für mich.“
„Du weißt, Vater, dass ich verabredet bin. …… Wann wirst Du der Werft den Auftrag erteilen? Nimmst Du mich mit nach Odense?“
„Sobald die heute ausgehandelten Verträge endgültig unterschrieben vor mir auf dem Schreibtisch liegen. Natürlich fährst Du mit. Immerhin soll das neue Schiff Deinen Namen tragen.“
„Ich freu mich drauf. Nur dass der Bau eine solch lange Zeit in Anspruch nimmt, ist ärgerlich. Mehr als zwei Jahre muss ich auf den Stapellauf des Schiffes warten. Hoffentlich erlebe ich das noch!“
„Nun, mein Schatz, Du hast selbst mitbekommen, wie aufwändig allein schon die Ausarbeitung der Pläne ist. Dann brauchen wir auch die Zeit, um die Voraussetzungen zu schaffen, dieses Schiff auch einsetzen zu können. Du weißt, bisher sind selbst in Europa noch keine Häfen auf diese neue Art der Verladung eingerichtet. Außerdem werden wir noch etwas die Baukosten drücken müssen. Was unseren heutigen Kunden recht war, kann uns nur billig sein.“
Dann, nachdem sie einige Male an ihrem Wein nippte, fügt er hinzu, „nun aber los. Du kommst zu spät zu Deinem Rendezvous.“
Nach einem schnellen Blick auf ihre Armbanduhr leert sie in kleinen, hastigen Schlucken ihr Glas, während er ihr mit gespielt verzweifeltem Gesichtsausdruck dabei zusieht.
„Dir ist bewusst, dass dies ein ganz besonderer Tropfen ist? Den solltest Du trotz Deiner Eile genießen.“
„Habe ich doch, Vater. Hab’ ich doch. Jeden einzelnen. Doch meinst Du nicht, dass er ein wenig korkig schmeckt?“
Schelmisch lächelnd stellt sie das nun leere Glas auf dem Schreibtisch ab und gibt ihrem Vater einen Kuss auf die Wange. Er drückt sie dabei herzlich an sich.
„Wann wirst Du uns Deinen neuen Freund vorstellen?“
„Ach, ich denke, das hat Zeit. Erst dann, wenn ich mir sicher bin, dass er auch mein Freund bleibt.“
„Immer noch sehr wählerisch, meine Kleine. Aber richtig so. Man sollte nicht den Erstbesten zum Partner auf Lebenszeit wählen.“
„Danke, dass Du es so siehst, Dad. Die Eltern vieler meiner Freundinnen hätten jetzt die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und sich moralisch entrüstet.“
„Nun, was glaubst Du, warum ich mich mit Deiner Mutter immer noch so gut verstehe. Ich habe damals lange suchen müssen, um sie zu finden.“
„Ja, ich habe es bereits von verschiedenen Seiten gehört. In Deiner Jugend musst Du ein richtiger Schwerenöter gewesen sein.“
„So, ich denke, für Dich wird es Zeit. Verschwinde, meine liebste und beste Tochter“, grinst er sie an.
„Ich bin Deine einzige Tochter!“ erwidert sie mit gespielt anmutender Empörung.
„Ja, eben deshalb.“
‚Ohje’, denkt sie, ‚immer wieder falle ich auf diese Phrase rein’. Andererseits - warum auch soll sie das sich in unregelmäßigen Abständen wiederholende Ritual brechen?!
Im Hinausgehen winkt sie ihm noch einmal lachend zu und lässt die Tür hinter sich sanft ins Schloss fallen.
Er starrt nachdenklich auf die geschlossene Tür und verspürt plötzlich ein merkwürdiges Gefühl in der Magengegend. Ist es die Aufregung, die auch für ihn große Nervenanspannung der letzten Stunden? Denn noch kann er nichts von der Gefahr ahnen, die sich der Erbin seines Lebenswerkes drohend und bisher unbemerkt nähert. Auch nicht davon, dass dies auf lange Zeit der letzte Blick auf sie, seine lebensfrohe und für wenige verbleibende Minuten ebenfalls sorglose Tochter gewesen sein könnte, sollte eine noch im Verborgenen agierende Person ihren Plan innerhalb der nächsten Stunde erfolgreich umsetzen können.
Wieder einmal hat sich eine ihrer bisher gemachten Erfahrungen bestätigt. Es ist nicht immer nur von eitel Sonnenschein geprägt, als leitende Angestellte im familieneigenen Konzern arbeiten zu dürfen. So auch an diesem Tag. Immer wieder mussten heute weitere Unterlagen her, mit geänderten Vorgaben neue Berechnungen erstellt werden, um die Herren endlich zufrieden zu stellen.
Doch sie hat es trotz allem gut getroffen. Während sich der Großteil ihrer Kommilitoninnen am Ende der Studienzeit die Finger an Bewerbungen wund schrieb, war ihr Berufsweg vorgezeichnet. Sie hat sich im Betrieb ihres Vaters von der Poststelle ausgehend über die einzelnen Abteilungen bis zur Assistentin des Chefs mit Akribie nach oben gearbeitet, hätte dies mit ihrem Tochter-Status allerdings auch bei weitaus weniger Engagement geschafft.
Seitdem wächst sie zur Nachfolgerin ihres Vaters heran und ist bei allen wichtigen Terminen an seiner Seite zu finden.
Nur heute wäre es ihr wichtig gewesen, etwas früher das Büro verlassen zu dürfen. Doch hat er auf ihre entsprechenden Andeutungen nicht einmal reagiert. Somit blieb ihr nichts anderes übrig, als sich dem Schicksal zu ergeben und bis zum Ende der Verhandlungen und Verabschiedung der Kundenvertreter präsent zu bleiben.
Schön, es ist ein erhebendes Gefühl, sich nach einem erfolgreichen Geschäftsabschluss zufrieden in den Bürostuhl sinken lassen zu können. Und sie bewundert auch das Verhandlungsgeschick ihres Vaters, der sein erstes Angebot mit nur geringen Abstrichen durchboxen konnte. Aber muss darunter ihr Privatleben leiden?
Lange hält ihr Groll allerdings nicht an. Vor allem, da er überlagert wird von dem Hochgefühl, ein wichtiges Geschäft unter Dach und Fach gebracht zu haben, das den Bau eines neuen Schiffes mit ihrem Namen zur Folge hat. ‚Doris, ein guter Name für ein gutes Schiff. Vielleicht sogar bekommt sie ebenso viel Nachwuchs wie die Okeanide Doris aus der griechischen Mythologie, die mit Nereus 50 Töchter zeugte.’ Ein Lächeln spielt bei diesem Gedanken um ihre Mundwinkel. Ob ihr Nereus ein Spanier werden könnte?
Sie verehrt ihren Vater, denn er war und ist ihr zeit ihres Lebens ein treusorgender, liebevoller Dad. Der ihr stets ihre kleinen und großen Sorgen ansehen und diese dann auch meist lindern konnte. Mal mehr, mal weniger. Und mit seiner ihr soeben bekannt gemachten Aussicht auf die geplante und durch den heutigen Abschluss auch möglich gewordene Stapellegung eines neuartigen Schiffstyps wird er ihr den großen Wunsch erfüllen. Denn der Bau dieses Containerschiffes war ihre Idee. Sie hat diese Art der Verladung bei einem ihrer letzten Besuche in den Vereinigten Staaten gesehen und erkannte sofort dessen enormen Vorteil gegenüber der bisher üblichen Arbeitsweise. Ihr war sofort bewusst, dass dieses System die Transportart der Zukunft werden wird.
Der Verlader übergibt dem Spediteur seine für den Übersee-Export bestimmten Waren in einem genormten Container. Dieser befördert ihn mit geeigneten Lastwagen zum Hafen, wo er mit riesigen Portalkränen auf die neuartigen Frachtschiffe verladen wird. Am Zielhafen wird dieser Container, oder, wenn in ihm verschiedene kleinere Partien transportiert wurden, dessen Inhalt dann zu den Empfängern gebracht. Dieses System ist einfach großartig. Es erspart der Wirtschaft enorme Kosten für die nach alter Methode benötigten Arbeitskräfte für die Verladung, weiterhin Zeit und somit teure Liegegebühren in den Häfen.
Voraussetzung dafür wäre allerdings der Bau dieser Transportbehälter in großen Stückzahlen. Dann werden neuartige Lastwagen benötigt, die diese Container ausrollen können. Auch viele der derzeitigen Verladekräne und Hafenanlagen müssten um- oder neu gebaut werden. Dazu wäre es notwendig, große Freiflächen für die Lagerung der monströsen Blechkisten zu schaffen, was zu Lasten der Lagerhäuser gehen wird. Und natürlich muss die Bereitstellung entsprechender Schiffe gewährleistet sein. Es wäre ein riesiger Umbruch in der Verladewirtschaft und ein auch über Jahre gesehen enormer logistischer Aufwand, der sich nur mit der Bereitstellung großer Geldmittel durchführen lässt.
Genau aus diesem Grund beabsichtigt sie auch, später, nach dem sicher in wenigen Jahren anstehenden Rückzug ihres Vaters aus der Firmenführung, erst einmal nur einen kleinen Teil ihrer älteren Frachtschiffe gegen diese sogenannten Containerschiffe zu tauschen. Dazu wird sie ihren Kunden die neue Verladetechnik erst einmal schmackhaft machen müssen. Das amerikanische System besitzt in ihren Augen großes Potential und ist in Europa noch nicht bekannt. Allerdings dürfte sich das bei den auf Dauer gesehen offensichtlichen logistischen und finanziellen Vorteilen in absehbarer Zukunft ändern.
‚Oh verflixt’, denkt sie. ‚Jerome steht gleich vor meiner Tür und ich trödele hier herum’. Ihre hohen Absätze klackern laut auf den Fliesen, als sie nach einem hastigen Blick auf ihre Armbanduhr mit eiligen Schritten den Gang entlangläuft. Dabei sieht sie unter der Tür zum Arbeitszimmer ihres Cousins Licht durchscheinen. Also sitzt er noch an seinem Schreibtisch – oder hat wieder einmal vergessen, seine Lampen auszuschalten.
Sie schaut noch einmal auf ihre Uhr. Wie so oft schon innerhalb der letzten Stunde. Wenn sie sich beeilt, wird sie es noch rechtzeitig schaffen. Kein Bedarf also, ihre Nachbarin anrufen zu müssen.
Trotzdem ist es wieder einmal zu spät. Zu spät, um noch zügig nach Hause kommen zu können. Ein kurzer Blick aus dem Fenster des Büroflures macht ihr deutlich: der Zeitpunkt ist verpasst, um vor dem nachmittäglichen Verkehrskollaps die Innenstadt durchqueren zu können. Auf der Straße vor dem Firmensitz bewegt sich sehr zögernd eine lange buntblecherne Fahrzeugkolonne auf die Strand zu - der zu dieser Zeit stark frequentierten Londoner Ost-West-Verbindung, die direkt zum Trafalgar Square führt.
Es wird demzufolge wie so oft in letzter Zeit an den neuralgischen Stellen ‚stop and go’ heißen. Dabei natürlich wie immer mehr stop als go.
Es macht auch keinen Sinn, einige der Nebenstraßen zu benutzen, denn die sind genauso überlastet.
Sie nimmt den Umweg über ihr Büro. Dort angekommen streift sie eilig ihre Schuhe, die sie während der Bürostunden trägt, von den Füßen und ersetzt sie durch warme Wollsocken und hohe Winterstiefel aus ihrem Kleiderschrank. Dann greift sie sich die auf einem Bügel darüber hängenden Mantel, Schal und Tasche. So winterfest gekleidet wartet sie nun ungeduldig vor dem Fahrstuhl, der natürlich wieder einmal in jeder Etage hält.
Nach ihr unendlich erscheinenden Sekunden erreicht sie das Parterre gemeinsam mit drei aus den unteren Stockwerken zwischenzeitlich zugestiegenen Angestellten, mit denen sie sich kurz unterhält. Durch ein kurzes Winken ihrer rechten Hand verabschiedet sie sich von dem Pförtner und eilt zu ihrem Fahrzeug.
Mit kritischem Blick betrachtet sie den Himmel. Zwar ist er wolkenlos, doch leicht missmutig bemerkt sie, dass der steife Ostwind die aufsteigende Luftfeuchtigkeit von der nahen Nordsee über den schmalen Küstenstreifen in das Land trug und bereits Bäume, Hausdächer, Fahrzeuge und auch die Straßen mit einer dünnen Reifschicht überzog, die nun in der Dämmerung des späten Wintertages glitzernd leuchtet.
Abermals kratzt sie mühsam mit dem kleinen Schaber ihre Autoscheiben frei. Zum zweiten Mal an diesem Tag. Mit einem vorsichtigen Ruck zieht sie die angefrorene Tür auf und lässt sich auf den Fahrersitz sinken. Ihre klammen Finger nesteln eine Zigarette aus der zerknitterten Packung und versuchen, sie mit ihrem Gasfeuerzeug zum Glühen zu bringen. Dreimal dreht sie am Rad, sodass der Feuerstein Funken sprüht. Aber das Gas scheint verbraucht, der Tank leer zu sein. Sie öffnet die Tür wieder, kramt eine kleine Nachfüllflasche aus ihrer Handtasche und drückt das Röhrchen außerhalb des Fahrzeuginnenraums so lange an die Einfüllöffnung, bis es kurz leise zischt und somit anzeigt, dass das Gerät wieder einsatzbereit ist. Nach dem Anbrennen der Zigarette lässt sie es der Einfachheit halber in ihre durch die rechte Seitennaht verdeckte und somit kaum sichtbare Rocktasche des praktischen und trotzdem eleganten Kleidungsstückes gleiten.
Es ist eine Art Ritual. Nur eine Zigarette pro Tag. Und diese auch nur nach einigen mal mehr, mal weniger anstrengenden Arbeitsstunden in ihrem Fahrzeug während der Heimfahrt. Obwohl ihre Freunde sie oft hänseln, wenn ihr während einer Party ein ‚Sargnagel’ angeboten wird und sie diesen ablehnt, hat sie sich nie diese unter Jugendlichen modische Gewohnheit angeeignet. Rauchen ist in. Besonders auf Partys, während der es nicht immer nur nach normalem Tabakqualm riecht. Jedoch kann sie mit diesem ‚Positiv-Laster’ gut leben.
Trotzdem sollte sie ihren Aschenbecher, der zwischen den Vordersitzen ihres Minis steht, nach zwei Wochen endlich wieder einmal leeren. Sie nimmt sich vor, es gleich nach der Ankunft vor ihrer Wohnung zu erledigen.
Sie schließt die Tür wieder, startet den Motor und versucht, den Rückwärtsgang einzulegen. Doch da sie eine ausgesprochene Rechtshänderin ist, hat sie mit dieser Aktion so ihre Schwierigkeiten.
‚Warum führen wir nicht wie die meisten Länder dieser Welt den Rechtsverkehr ein?! Wir könnten mit Rechts nicht nur den Schalthebel und die Handbremse betätigen, sondern während der Fahrt auch einige andere Dinge erledigen, die uns mit Links nie gelingen würden. Wegen der unmittelbaren Nähe zur Tür werden bestimmte Handhabungen von rund 90 Prozent der Bevölkerung in britischen Automobilen be- oder sogar verhindert.’ Eine Idee, die sie bewegt, seit sie den Wagen besitzt und entstanden ist vermutlich aufgrund der sehr bescheidenen Ausmaße des Fahrzeug-Innenraumes.
Erst nach einem zweiten Versuch rastet der Schalthebel richtig ein. Das Glatteis zwingt sie nun, das Fahrzeug vorsichtig aus der Parklücke rollen zu lassen. Der erste Gang lässt sich leichter einlegen.
Jetzt bleibt ihr nichts anderes übrig, als hinter dem Steuer ihres roten Stadtflitzers wartend Teil einer zähflüssig dahinrollenden Blechschlange werden zu können.
Doch dann gelingt ihr dies schneller, als sie dachte. Sie bedankt sich mit einem Handzeichen bei dem Minor-Fahrer, der sich kurz vor der Firmenhofausfahrt vom Straßenrand abfahrend in den Verkehr schob, als sie mit ihrem Fahrzeug im Tor stand und auf eine Lücke in der gemächlich vorbeiziehenden Fahrzeugmasse wartete. Er blinkte einmal kurz auf und gab ihr somit ebenfalls die Möglichkeit zum Einscheren.
War das etwa ihr Vetter am Steuer des Minor? Er hielt den Kopf gesenkt, als sie kurz zu ihm herüberblickte und konnte ihn somit auch nicht genau ausmachen. Dann hat er zwischenzeitlich also ebenso wie sie Feierabend gemacht – oder doch vergessen, das Licht auszuschalten.
Sie schaut noch einmal in ihren Rückspiegel, erkennt allerdings auch jetzt nichts, da sie die Heckscheibe in ihrem zugefrorenen Zustand beließ. Ach, sicher ist er es nicht, denn erstens fährt er, wenn sie sich richtig erinnert, einen blauen Minor, und zweitens ist ihr Verhältnis seit Ewigkeiten leicht angespannt. Aus diesem Grund schon würde er ihr sicherlich nicht die Vorfahrt lassen. Denn die hat er ihr in der Vergangenheit bereits einmal zu viel gewähren müssen.
Nach wenigen Yards wieder Stillstand.
Es ist zwei Minuten nach 6 Uhr. Also bleiben immerhin noch 28 Minuten bis zu ihrer Verabredung.
Trotzdem wird ihr keine Zeit bleiben, die Wohnung in einen besonders vorzeigefähigen Stand versetzen zu können.
Nicht, dass sie bisher vernachlässigt worden wäre. Außerdem dürfte nur ein bestimmtes Zimmer besondere Aufmerksamkeit genießen. Trotzdem, der erste Gesamteindruck zählt.
Über das letzte Wochenende hinweg war sie mit ihrem Freund in dessen kleiner Einraum-Studentenbehausung zusammen. So ist ihr samstäglicher Putztag eindeutig zu kurz geraten und vieles liegen geblieben. Und das ein oder andere wäre sicher auch noch etwas netter zu arrangieren. Na, egal. Dann wird sie eben die Beleuchtung um einige Nuancen gedämpfter halten müssen.
Der vom leichten Ostwind über der Nordsee eingesammelte Dunst, der sich auf den tiefgekühlten Asphalt legte und dort sofort gefror, verwandelte die Fahrbahn in eine durchgehend spiegelglatte Eisfläche. Da der Mini erst im vergangenen Sommer von ihr gekauft wurde, weiß sie nicht, wie er auf diese besonderen Straßenverhältnisse reagiert. Nun, dann fährt sie eben nicht so rasant wie sonst üblich.
Trotz des langen Arbeitstages ist sie jetzt wieder gut gelaunt und voller Vorfreude. Und das nicht nur aufgrund des positiven Vertragsabschlusses.
Sie drückt ihre Zigarette im Aschenbecher aus und schaltet das Autoradio ein. Die Nachrichten enden gerade in diesem Moment mit dem Hinweis, dass heute von der Regierung beschlossen wurde, in Zukunft die Tabakwerbung im Fernsehen zu verbieten.
‚Na, passt doch!’ denkt sie belustigt. Dem folgenden Bericht des Wetterdienstes hört sie nur noch mit verminderter Aufmerksamkeit zu. Sie hat die Kälte noch in den Fingern und muss nicht wissen, wie lange der Frost die Insel noch im Griff behalten wird.
Mit leisem, dennoch begeistert eindringlichem Tonfall stimmt die junge Frau in den nun aus dem Lautsprecher dröhnenden Vorjahres-Hit einer vierköpfigen Band mit ein, die erst vor zwei Jahren ihren großen Durchbruch erzielte. I Want To Hold Your Hand. Der Text passt punktgenau zu ihrer derzeitigen Gemütslage.… Nun ja, vielleicht doch nicht so hundertprozentig, denn das in diesem Stück besungene Körperteil wäre ihr nicht allzu wichtig. Der Focus ihrer Interessen liegt sichtlich zentraler.
Ihr und der Beatles Gesang wird begleitet vom locker angedeutet rhythmischen Schlagen ihrer rechten Handfläche auf die Querstrebe des Lenkrades.
Die Linke liegt währenddessen ruhig auf dem Schalthebel. Bereit, diesen bei Bedarf wieder in den ersten Gang zu drücken. Es wäre ein Zeichen dafür, dass es endlich weiter ginge.
Vor ihrem Mini Cooper baut sich wie ein voluminöser Schrank das unübersehbare Heck eines grellgelben Lastwagens auf, dessen Fahrer unablässig den Fuß auf dem Bremspedal stehen lässt. Und obwohl seine Rückleuchten nur ein dürftiges Licht abgeben, ist durch sie der Innenraum ihres ‚Straßenflohs’ in ein gespenstisch blasses Orangerot getaucht.
In der City Londons herrscht zur beginnenden Feierabendzeit der obligatorische Verkehrsstau. Wie am Ende eines jeden Arbeitstages. Und sie ist wieder einmal mitten hinein geraten.
Jedoch in Erwartung der schönen Stunden, die Doris Currothers nun vor sich liegen sieht, nimmt sie im Augenblick die Wartezeit eher gelassen hin.
Langsam rollen die Fahrzeuge wieder an. Bis abermals die Bremslichter des Transporters vor ihr aufleuchten. Wieder zwanzig Yards geschafft.
Vielleicht hätte sie doch ihre Nachbarin anrufen sollen. Denn wenn es so mühsam weitergehen sollte, wird sie nicht pünktlich zu Hause eintreffen.
Ach was! Die wenigen Minuten wird er trotz der Kälte in seinem Wagen sitzen und warten können.
Es ist frostig im Mini. Da sie vor wenigen Minuten erst den Motor startete, ist er noch nicht in betriebswarmem Zustand und die Heizung somit auch noch nicht in Aktion.
Sie unterbricht ihren Gesang und versucht, mit einem Schaber die durch ihren Atem zwischenzeitlich auch innen vereisten Scheiben frei zu kratzen. Doch ihrer Mühe ist nur mäßiger Erfolg beschieden. Die Kälte des endenden Wintertages lässt die Luftfeuchtigkeit im Fahrgastraum an den gereinigten Stellen gleich wieder kondensieren und überzieht so das Glas erneut mit einer dünnen, jetzt milchigen Eisschicht. Was die durch die weit fortgeschrittene Abenddämmerung schon eingeschränkte Sicht noch erheblich schlechter werden lässt.
Resigniert kurbelt sie die Scheibe der Fahrertür zwei Fingerbreit herunter und dreht den Gebläseschalter auf maximale Leistung. Sofort trifft sie ein eisiger Luftzug aus den zwei nun leise zischenden Öffnungen zwischen Armaturenbrett und Frontscheibe.
Vor Kälte zitternd zieht sie Schal und Mantelkragen am Hals zusammen. Jetzt fehlt nur noch, dass sie sich einen Schnupfen einfängt. Eine schniefende Nase würde so gar nicht in ihre Tagesplanung passen. Denn während des heutigen zweiten gemeinsamen Abends mit Jerome käme ihr eine Grippe wahrlich nicht gelegen.
Bei dem Gedanken an ihren spanischen Studenten gleitet ein glückliches Lächeln über ihr hübsches Gesicht. In Gedanken sieht sie ihn nackt vor sich auf ihrem Bett liegen. Schwarzhaarig, sportlich, sympathisch. Einfach aufregend gut aussehend. Eben so, wie sich eine Britin einen Südeuropäer vorstellt.
Sie wird für die bevorstehenden Stunden mit ihm noch Sekt kaufen müssen. Französischen natürlich! Champagner aus einem Gebiet, das seit vielen Jahrhunderten ihre Heimatländer voneinander trennt. Für sie wäre es das symbolische Zeichen eines Treffens auf jeweils halber Wegstrecke.
Die Spirituosenhandlung kurz vor ihrer Wohnung wird sie mit dem nötigen versorgen können. Sie friert jetzt schon bei dem Gedanken, sich wieder diesem schauderhaft eisigen Wind aussetzen zu müssen. Wenn auch nur für wenige Schritte.
Die Bremslichter des Lastwagens erlöschen. Der gelbe Blechschrank vor ihr rollt wieder an.
Sie ignoriert die immer noch vorherrschende Kälte im Wageninneren und nimmt die letzten Takte des Beatles-Hits wieder auf, während sie den Schalthebel in den ersten Gang drückt und den Mini anrollen lässt.
Endlich bilden sich freie Stellen im Eis an der Innen- und Außenseite der Frontscheibe. Über den Äther schickt BBC nun Always Something There To Remind Me von Sandy Show per Lautsprecher in das Wageninnere.
Nicht ganz ihr Fall. Allerdings auch kein Grund, um sich für die kurze Zeit, die das Stück dauert, einen anderen Sender zu suchen.
‚Fünfzig Yards in fünf Minuten! Das ist ein Yard in sechs Sekunden! Eine Schnecke ist schneller als wir!’ berechnet sie, nun schon etwas ungehaltener.
Wenn sich doch endlich der zähe Stau auflösen würde! Eine Ampel wäre an der vor ihr liegenden stark frequentierten Kreuzung mit der Strand mehr als notwendig. Warum hier noch keine installiert wurde, versteht sie nicht.
Ist es nicht das alte Dilemma mit den städtischen Bürokraten? Ein Problem ist nach langem Hin und Her endlich erkannt, doch bis eine akzeptable Lösung die verschlungenen Wege durch die Planungs- und Bauausschüsse erfolgreich passiert hat, vergehen noch einmal Monate, manchmal sogar Jahre.
Abermals geht es schrittweise weiter. Nun trennt sie nur noch der Lastwagen von der Einmündung vor ihr. Wenn er eine Lücke gefunden hat, wird sie als Nächste die Haltelinie in Höhe des Stoppschildes erreichen.
Langsam gewinnt ihre positive Stimmung wieder Überhand.
Die verschlafene Fahrweise eines gemächlich von rechts anrollenden Pkw-Lenkers macht dann den Weg unerwartet schnell auch für sie frei.
Der Lastwagenfahrer nutzt die entstandene Lücke und folgt der Vorgabe seines blinkenden linken Fahrtrichtungsanzeigers. Und sie schafft es ebenfalls noch. Begleitet vom wütenden Hupen des Trödlers.
‚Vermutlich entweder ein Dörfler oder ein Festland-Tourist, denn ein Londoner hätte sich in dieser Situation in stoischer Geduld geübt’. Freundlich winkt sie mit der linken Hand zurück.
Gleichzeitig jedoch bemerkt sie durch einen Blick in den Außenspiegel, wie ihr noch ein weiteres Fahrzeug aus der Seitenstraße folgt. Dann galt das Hupen also nicht ihr, sondern dem doch schon sehr riskanten Manöver des hinter ihr Fahrenden.
Es war der Minor. Der Wagen, dessen Fahrer vielleicht ihr Vetter ist. Der ihr, wenn er es wirklich sein sollte, unbegreiflicherweise vor wenigen Minuten die Möglichkeit verschaffte, sich vom Firmenparkplatz aus in die Fahrzeugschlange einreihen zu können.
Er hat es sicher ebenso eilig wie sie. Wartet eine Frau auf ihn, der sich bisher nie in weiblicher Begleitung blicken ließ? Wird das Essen kalt? Oder gar etwas anderes?
Sie lächelt bei diesem Gedanken und richtet ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorn.
Natürlich ist die rollende gelbe Wand weiterhin vor ihr.
Nun sind es nur noch maximal zwanzig Minuten, dann hat sie Ihr Ziel erreicht. Die angenehmen Stunden dieses eisigen Wintertages rücken langsam näher.
* * *
Der unauffällig gekleidete Mann mit dem leicht gelichteten aschblonden Haar scheint den Begriff ‚körperliche Bewegung’ nur vom Hörensagen zu kennen. Er hat sichtlich mehr als vier Quarters Übergewicht und wirkt auf den ersten Blick eher unscheinbar. In schwachem Gegensatz zu seinem grünen Austin Minor. Einem kleinen Fahrzeug, das in der stets erneut stockenden Fahrzeugschlange durch seine hölzernen Attribute an den hinteren Seitenflanken schon Aufmerksamkeit erregen könnte. Wenn sich jemand die Zeit nehmen würde, in dem bunten Gewirr aus sporadisch rollendem Blech und hastig eilenden, von winterlicher Kleidung vermummten Menschenleibern auf solche Einzelheiten zu achten.
So verschmelzen beide mit der tiefer werdenden Dunkelheit des eiskalten späten Februar-Nachmittages und dem allgemeinen Gewirr der nach Hause eilenden Menschen. Was dem Mann am Steuer nur recht ist. Denn da er ein großes Ziel vor Augen hat, den ersten bedeutsamen Schritt zu seinem Lebenswerk, sind interessierte Beobachter nicht eingeplant. Jedenfalls vorläufig noch nicht.
Diesen wird er sich zu einer späteren Zeit widmen können. Dafür dann auch umso ausgiebiger. Jedoch erst nach Abschluss seiner arbeits- und zeitaufwändigen Vorbereitungen, für die er insgesamt acht Monate veranschlagt hat.
Lange musste er heute auf sie warten. Erst gegen 6 Uhr trat sie aus dem Bürogebäude und stieg in ihr Fahrzeug. Er kennt ihr Ziel. Auch weiß er um die Verabredung mit ihrem neuen Liebhaber, der ihm allerdings nicht gefährlich werden kann.
Als sie die Hofausfahrt erreichte, startete er sein Fahrzeug und verließ den Parkstreifen. Zwängte sich rücksichtslos in die kleine Lücke zwischen einem gelben Lkw und dem dahinter fahrenden Rover. Sein kurzes Lichtzeichen ließ sie ihren Mini ebenfalls anfahren und sich vor ihm einordnen. Er senkte seinen Kopf, damit er von ihr nicht bereits jetzt erkannt wurde, als ihr Blick den seinen suchte. Trotzdem sah er, wie sie sich mit einem Handzeichen bedankte.
‚Na, wenn sie wüsste!’ kicherte er leise, indem er seinen Minor hinter ihr her rollen ließ und nach wenigen Minuten mit der linken Hand das Radio einschaltete.
The Beatles. Er mag diese Boygroup nicht. Durch ihren seltsamen Haarschnitt sehen sie ihm zu sehr gekünstelt feminin aus.
Gemeinsam quälen sie sich nun Yard für Yard an die Einmündung zur Strand heran.
Wenn der direkt vor ihm wartende knallrote Mini Cooper gleich eine Gelegenheit zum Einfädeln im vorfahrtberechtigten Querverkehr der stark befahrenen Straße findet, wird er sich direkt hinter ihn heften müssen. Er darf ihn auf keinen Fall aus den Augen verlieren. Denn den heutigen Tag hat er als den seiner Generalprobe auserkoren.
Es ist der Tag, an dem sein Plan Gestalt annehmen soll. Der sein weiteres Leben bestimmen und den Weg ebnen wird, der Welt endlich seine enormen Fähigkeiten unter Beweis stellen zu können.
Zweiundzwanzig Minuten später bewegen sich die zwei Kleinwagen auf der Kensington Road in Richtung Richmond. Sie gelangten sehr viel schneller als erwartet durch die Londoner Innenstadt.
Während er noch vor dem Currothers Line-Center auf sein Opfer wartete, zeichnete die bereits vom Horizont verdeckte Sonne ein blutrotes Farbspektakel am südwestlichen Himmel, vor dem die Silhouetten der Häuser schwarz, fast drohend wirkten.
Jetzt herrscht tiefe Dunkelheit, die nur durch den Schein der zuckenden Neonreklamen durchbrochen wird.
Durch sie müssen sich die Automobillichter ihren Weg fressen und lassen so die Fahrbahnen wie von zwei unterschiedlich farbigen Glühwürmchenpolonaisen besetzt erscheinen. Rechts die in Doppelreihe anrollenden, weißen Augen ähnlichen Scheinwerfer, links die der sich entfernenden rot und orangefarben glühenden Gläser der Brems- und Rückleuchten. Beide jeweils nur dann von wandernden gelben Blinkzeichen flankiert, wenn ein Fahrzeug eines der gemächlich ziehenden Lichtbänder verlassen will.
Es ist die Dunkelheit, auf die er wartete. Die die Durchführung seines Vorhabens erleichtern wird.
Der Minor hält im Augenblick Abstand. Stets befinden sich zwei Fahrzeuge zwischen ihm und dem verfolgten roten Mini.
Immerhin kann es möglich sein, dass seine Zielperson ihn kurz nach ihrem gemeinsamen Start durch sein rücksichtsloses Fahrverhalten und dem Hupen des von ihm geschnittenen Fahrers an der Straßeneinmündung wahrgenommen und vielleicht sogar erkannt hat. Doch wenn schon! Nun ist es egal. Es würde nicht die geringsten Auswirkungen auf den Verlauf der nächsten Stunden haben.
Allerdings beabsichtigt der Mann auch nicht unbedingt, zu früh die Aufmerksamkeit der jungen Frau auf sich zu lenken und sie somit auch nur ansatzweise misstrauisch werden zu lassen. Es könnte die Ausführung seines Vorhabens eventuell etwas erschweren.
Das nötige Interesse wird sie ihm dann zu gegebener Zeit schon zuwenden müssen. Und das intensiver, als ihr lieb sein dürfte. Für eine noch unbestimmte Zeit. Denn über die Dauer ist er sich trotz all seiner bisherigen Planungen noch nicht ganz im Klaren. Über die genaue Beschaffenheit ihrer Dienste dagegen allerdings schon.
Ihn treiben nicht etwa schnöde sexuelle Gelüste. Nein. Seine Beweggründe sind wesentlich weitreichender, diffiziler, grausiger, als es sich ein normal denkendes menschliches Hirn ausmalen könnte. Doch nach seinen eigenen Vorstellungen sind sie unbedingt notwendig, um die von ihm selbst gesteckten Ziele zu erreichen.
Bei dem Gedanken an seinen Plan, seine Bestimmung zieht ein seltsam abwesendes Lächeln über das blasse Gesicht. Ein Gesicht, das von kleinen, stets misstrauisch blickenden Augen beherrscht wird. Das einen interessierten und speziell geschulten Beobachter schon fasziniert hätte, da dessen Ausdruck oftmals von einem Augenblick zum nächsten von nahezu arroganter Überheblichkeit zu tiefer Unsicherheit wechselt.
Ein Psychologe würde ihn nach einer ersten oberflächlichen Befragung als sensiblen, unsteten Menschen charakterisieren. Durchaus überdurchschnittlich intelligent, nur ohne ein allzu ausgeprägtes Selbstvertrauen.
Die obskuren Ideen, die sich schon geraume Zeit - und seit einer Woche verstärkt - unaufhaltsam in seine Gedanken drängen, konnte er bislang nach außen hin noch gut verbergen.
Je näher sie Richmond kommen, umso aufgelockerter wird der Straßenverkehr. Als die zwei Fahrzeuge über die Kew Bridge das südliche Themseufer erreichen, sind ihre Scheinwerferpaare die einzigen, die ihre Lichtbahnen in die nur vom gerade aufgehenden Halbmond und den nun vorerst vereinzelt erkennbar werdenden Sternen erhellte Dunkelheit bohren.
Wenige Yards hinter der Brücke biegt der Mini zum Kew Green ab und stoppt kurz darauf am Straßenrand. Direkt neben einem kleinen Spirituosengeschäft. Dem Mann bietet sich zehn Yards später eine Parkmöglichkeit.
Dass die Frau hier einen Zwischenstopp einlegt, konnte er nicht voraussehen. Doch ob es nun hier geschieht oder erst vor ihrer Haustür, ist im Grunde genommen nicht nur einerlei, sondern für ihn eher besonders günstig. Ist doch das östlich gelegene Parkgelände aufgrund der derzeit herrschenden frostigen Temperaturen mit Ausnahme einiger Krähen und Dohlen unbelebt. Somit hat er von dieser Seite aus weder Beobachter noch sonstige Überraschungen zu erwarten.
Er steigt ohne die geringste Hast aus, schlendert langsam zurück zum Ladeneingang und steht nun im Wind- und Sichtschutz einer mannshohen Werbetafel auf dem bis auf ihn menschenleeren Bürgersteig. Den Körper eingehüllt in eine knielange dunkelgraue Steppjacke mit über den Kopf gezogener Kapuze.
Niemand, der ihn hier stehen sieht, sollte weder Verdacht schöpfen noch ihn später detailliert beschreiben können. In seiner einheitlich dunkelgrauen Kleidung verschmilzt er mit der Finsternis und wird sicher, wenn überhaupt, nur als verschwommener Schatten wahrgenommen werden können.
Geduldig wartet er darauf, dass ihm die junge Frau in die Arme läuft. Dem drängenden Impuls, die Zigarettenschachtel aus seiner Jackentasche zu fingern und sich einen dieser nervenberuhigenden Glimmstängel anzustecken, widersteht er im letzten Moment. Anhand der Marke des ausgedrückten Stummels könnte die Polizei vielleicht Rückschlüsse auf seine Person ziehen. Obwohl das sicher mehr als unwahrscheinlich wäre, denn dazu fehlt ihr jeglicher Anfangsverdacht. Er ist die graue Maus unter Millionen anderer grauer Mäuse. Dennoch ist er vorsichtig.
Aufmerksam beobachtet er die Straße und ihre Umgebung. Nur einmal rollt ein aufgrund der Fahrbahnglätte vorsichtig seinem Ziel zustrebendes Fahrzeug an ihm vorbei. Der Fahrer beachtet ihn nicht einmal, obwohl er dicht am Straßenrand steht. Demnach hat er richtig gedacht, die Nacht saugt ihn auf und macht ihn unsichtbar.
Auf den Gehwegen der Umgebung sieht der Mann immer noch keine Bewegung. Der eisige Südostwind hat die Menschen von der Straße getrieben und lässt die Bewohner der umliegenden Häuser froh sein, unbehelligt von der ungemütlichen Witterung in ihren warmen Wohnungen sitzen zu können. Sollte sich jedoch tatsächlich jemand jetzt noch der frostigen Natur aussetzen müssen und etwas Dringendes zu besorgen haben, erledigt er dies mit vom hochgeschlagenen Jacken- oder Mantelkragen verdecktem Gesicht. So vermummt nicht nur vor der Kälte, sondern auch vor den Geschehnissen um ihn herum geschützt - und sicherlich daran auch nicht besonders interessiert.
Der Mann weiß, die Aktion wird problemlos verlaufen.
Langsam holt er eine mit Schraubverschluss gesicherte kleine braune Glasflasche und einen fest zusammengedrückten Wattebausch aus der Außentasche seiner Jacke hervor.
Noch ist es nicht so weit. Den Verschluss mit gestreckten Armen und dadurch sicherem
Abstand zu der von seiner Nase eingesogenen Atemluft öffnen und die helle Flüssigkeit vorsichtig mit dem Wind von der Seite auf die Watte träufeln wird er erst, wenn sein Opfer sich dem Ausgang zuwendet.
Im Augenblick noch steht sie mit zwei Flaschen französischem Sekt in einem passend großen Pappkarton an der Kasse vor dem Ladenbesitzer und wartet auf ihr Wechselgeld.
Wieder umspielt dieses seltsame Lächeln seine Lippen, das ihn weit von der Gegenwart entrückt erscheinen lässt.
Doris Currothers wird Beides nicht mehr nutzen können. Weder den Champagner noch die Münzen. Denn sein Vorhaben beruht darauf, sie aus ihrem bisherigen, von finanzieller Sicherheit und hohem gesellschaftlichem Ansehen geprägten Leben zu lösen und somit dauerhaft von all ihren bisherigen Aufgaben, Pflichten sowie auch Freuden zu entbinden. Egal, ob privater oder geschäftlicher Natur. Sie wird sich bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie ihren Zweck erfüllt hat und somit nutzlos für ihn geworden ist, ganz allein dem von ihm Geforderten widmen müssen.
Sie wird als erstes Objekt auf seinem Weg zu großem Erfolg Geschichte schreiben.
Dass er mit seinem Vorhaben die Pläne, Wünsche und Sehnsüchte, die überaus positiv ausgerichtete Zukunft dieser Frau und die Hoffnungen ihres Vaters auf die Übernahme der Reederei, seines Lebenswerkes, durch die Tochter abrupt beenden wird, interessiert ihn nicht im Mindesten. Hat sie ihr bisheriges Dasein doch lange genug in wohlhabender und sorgenfreier Zufriedenheit verbringen können.
Nur wenige Sekunden bleiben ihr. Sie soll diese kurze Zeitspanne noch genießen dürfen. Dieser Einkauf soll ihre letzte eigenverantwortliche Aktion in Freiheit sein werden.
* * *
Langsam und anfangs noch ohne Erinnerung taucht sie widerstrebend durch einen neblig grauen Schleier zurück an die Oberfläche ihres Bewusstseins.
Blinzelnd öffnet sie die Augen einen Spaltbreit, würde gerne weiterschlafen. Doch irgendetwas ist nicht so, wie es sein sollte. Sie hebt den Kopf etwas an, blickt verwirrt um sich und lässt ihn kraftlos wieder zurückfallen, wobei sie sich an der harten Unterlage stößt. ‚Das wird sicher eine dicke Beule geben’, denkt sie benommen, während
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
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Tag der Veröffentlichung: 21.12.2010
ISBN: 978-3-7309-0788-7
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