Vorwort
Vor nun auf den Tag 98 Jahren kam ich in einer Ortschaft genau im geographischen Zentrum eines großen Gebirges zur Welt. Nicht nur meine Geburt, auch die Ereignisse in diesem Teil der Welt waren, wenn ich all dies mit meinen bis heute gemachten Erfahrungen betrachte, voller Geheimnisse und Unerklärbarem. Für uns, die jungen Dorfbewohner, allerdings waren sie Normalität, denn wir wuchsen damit auf. Sie waren natürlich, allgegenwärtig. Wir Kinder der neuen Generation kannten damals nichts anderes als eben dieses Leben. Nein, etwas Geheimnisvolles hatte es für uns nicht.
Anders war es für die Außenstehenden, die Siedler in den weit entfernt liegenden Nachbardörfern, die keine Ahnung von dem hatten, was in diesem kleinen Gebiet inmitten uralter Gesteinsformationen geschah. Erst als ich das Leben außerhalb unserer Gemeinschaft kennen lernen musste, erkannte auch ich, wie seltsam meine ersten achtzehn Lebensjahre verliefen.
Ist es interessant zu wissen, warum ich darüber schreibe? Überhaupt die Möglichkeit dazu habe, meine Erlebnisse zu Papier bringen zu können?
Mein Ende ist vermutlich nah, da ich nach Jahren die weitaus älteste Bewohnerin dieser Stadt bin. Und so will ich das, was ich erlebt habe, allein für mich in Worte und Sätze fassen.
Die Erinnerung, es ist das Einzige, was mir von meinem Dorf geblieben ist.
Viele hatten es bisher verlassen. Vor mir und sicherlich auch nach mir - bis zum heutigen Tag. Und viele weitere werden uns noch folgen. Nur habe ich es als Erste und vermutlich auch als Letzte geschafft, sich der großen Aufgabe entziehen zu können.
Der Aufgabe, der unsere Eltern, die Bewohner des Ortes, sich vor sehr sehr langer Zeit verpflichteten.
Ich bin die Einzige, die jemals von dem Weg zu ihrer Vorbestimmung abweichen konnte, nein, abweichen musste, da mein Abschied damals nicht freiwillig war. Denn ich bin eine Verbannte, eine aus der Dorfgemeinschaft von ihren Führern Ausgestoßene.
Vor mehr als achtzig Jahren wurde ich gezwungen, den Ort meines bisherigen Lebens zu verlassen, mir südlich des Gebirges in einer großen Stadt eine neue und nun seit einigen Jahren zurückgezogene Existenz aufzubauen.
Um dies erreichen zu können, musste ich mich bei dem Leben meiner Eltern verpflichten, niemals auch nur ein Sterbenswort von unserem Geheimnis preiszugeben.
Ich werde meinen Schwur nicht brechen, denn dieses Buch werde ich, wenn ich es fertig gestellt habe, stets bei mir tragen und, wenn ich meinen nahenden Tod spüren werde, noch vor meinem Hinscheiden verbrennen. Bis dahin wird es mein einziger Trost sein werden.
Es wird mir darüber hinweg helfen, dass es mir verwehrt ist, meine Geburtsstätte, das Dorf, das lange Zeit meine Heimat war, vor allem aber meine Eltern, die jetzt ihrem Erscheinen nach vermutlich soviel jünger sein dürften als ich es bin, noch einmal sehen zu können.
1. Kapitel
Cymargon, das kleine Dorf am Fuße des mächtigsten Berges im Zentrum eines stattlichen Gebirgsmassivs, das das nördlich gelegene deutsche vom spanischen Habsburgischen Reich trennt, wirkt auf Durchreisende verschlafen und hinterwäldlerisch, wenn sie es denn je zu Gesicht bekommen.
Es liegt abseits der Hauptreiseroute an einem von zweirädrigen Pferdefuhrwerken ausgefahrenen Weg, der eher einem Wildwechsel als einem von Menschen benutzten Pfad gleicht und auf dem großen Dorfplatz sein Ende findet.
In der Zeit, in der ich hier aufwuchs, begegneten die älteren Bewohner den wenigen irrtümlich diesem Pfad folgenden Fremden freundlich, aber distanziert. So, als hätten sie etwas vor der Welt zu verbergen.
Und sie machten alle Anstrengungen, um die Besucher schnellstens wieder auf den rechten Weg zu bringen.
Aus den entfernt liegenden Nachbardörfern konnte niemand mit Recht von sich behaupten, jemals einem von ihnen einen Arbeitsplatz angeboten, geschweige denn eine diesbezügliche Anfrage erhalten zu haben.
Noch nie kam es vor, dass verwandtschaftliche Beziehungen zwischen den Bewohnern dieses Ortes und den Nachbargemeinden geknüpft wurden.
Händler mit ihren vollgepackten Pferde- oder Ochsenwagen bahnten sich regelmäßig ihren Weg in das Dorf und rollten leer wieder zurück. Ein Zeichen dafür, dass dort auch nichts hergestellt wurde, wodurch sich das finanzielle Überleben erklären ließe.
Die Bewohner zahlten diese Lieferungen regelmäßig und sofort mit Dublonen, von denen einige vor Jahren schon von einem misstrauischen Händler auf Goldgehalt und Gewicht hin überprüft wurde.
Es stellte sich heraus, dass beides um einiges höher lag als die der im normalen Handel erhältlichen Goldmünzen. Niemand wusste, woher sie diese Mittel erhielten, um ihre Rechnungen zu begleichen.
Seit langer Zeit schon wurde gemunkelt, einige reiche, weit entfernt wohnende ehemalige Bewohner dieses Ortes schickten ihnen regelmäßig Teile ihrer Einnahmen. Aber dessen sicher war sich niemand.
Andere behaupteten seit einiger Zeit, die Häuser würden Hexen und Magier beherbergen. Aber auch dies konnte von keinem belegt werden.
Einem Fremden, den es vor Jahren einmal ungewollt länger als die maximal üblichen zwei Stunden hierher verschlug, lüftete sich ein - zugegebenermaßen nur sehr geringer - Teil des Geheimnisses, der darin bestand, dass keiner der Dorfbewohner einer festen, regelmäßigen Beschäftigung nachging. Jeder tat das, wozu er gerade Lust hatte. So wird es ihm an jenem Nachmittag jedenfalls erschienen sein müssen.
Die Aufgaben, die täglich im eigenen Haushalt zu bewältigen waren, erledigten die siebzehn Familien schnell in den ersten Morgenstunden eines jeden Tages.
Danach trafen sie sich alle zur gemeinsamen Arbeit auf dem Dorfanger, wo der Gemeindevorstand Gruppen einteilte, die sich um die Sauberkeit und Erhaltung des Dorfes zu kümmern hatten. Deswegen erschienen die Häuser, Straßen und Anlagen in blitzsauberem Zustand.
Diese Arbeiten, wenn sie denn als solche aufgefasst wurden, waren regelmäßig bis zum Mittag getan.
Die Tiere waren sehr gut versorgt und tummelten sich vor Gesundheit strotzend auf den Weiden und Höfen. Das gesamte Dorf strahlte Wohlhabenheit, nein, sogar Reichtum aus, was niemand verstehen würde, der den täglichen Ablauf der Bewohner über längere Zeit hätte beobachten können.
Potentielle Zuwanderer, die sich in diesem Dorf ansiedeln wollten, wurden sofort abschlägig beschieden. Es wäre kein Platz, kein Grundstück frei, um eine neue Familie aufzunehmen, hieß es dann jedes Mal. Obwohl mehr als ausreichend Land vorhanden war. Trotz der räumlichen Beschränktheit, die ein von Bergen umgebenes Tal mit sich bringt.
Auch sie hatten selten Gelegenheit, sich länger als bis zu zwei Stunden im Ort aufzuhalten.
Vor vielen Jahren versuchte eine Gruppe Jugendlicher aus einem der nächstgelegenen Nachbardörfer, unserem Geheimnis auf den Grund zu gehen. Sie versteckten sich mehrere Nächte hintereinander am Rande des Dorfes in einem Waldstück, um zu beobachten, was sich in der Dunkelheit der Nacht hier abspielte.
Eine Nachmittagserkundung Tage vorher beendete eine Gruppe der erwachsenen Dörfler rigoros. Woher und wie sie vom Eindringen der Jugendlichen erfuhren, blieb den Wagemutigen bis heute ein Rätsel, denn sie näherten sich sehr vorsichtig von einer Seite, die vom Dorf aus nicht einsehbar war.
Sie hätten während der letzten nächtlichen Aktion auch fast Glück gehabt, als sie gegen Mitternacht des vierten Tages unbemerkt fünf Bewohnern in eine kleine, aber wild zerklüftete Schlucht folgen konnten. Dort erschien plötzlich vor einer hoch aufragenden Felswand, die so glatt wirkte, als hätte ein Riese sie poliert, wie durch Zauberhand ein hell strahlender Lichtball, der die Gruppe vor ihnen umhüllte und sie wie einen Schwamm aufsog. Wenige Augenblicke später erlosch er wieder und von den Dorfbewohnern war niemand mehr zu erblicken. Sie schienen sich in Luft aufgelöst zu haben.
Die Verfolger suchten akribisch im Schein einiger Fackeln die Stelle des seltsamen Lichtes ab - aber sie fanden nicht den geringsten Anhaltspunkt für das plötzliche Verschwinden. Also legten sie sich wieder auf die Lauer und erblickten kurz vor Tagesanbruch die Gesuchten ebenso plötzlich wie sie verschwanden wieder an gleicher Stelle, jeweils einen nicht großen, aber sicherlich mit sehr schwerem Inhalt gefüllten Sack auf den Schultern tragend.
Der Bericht der Jugendlichen nach ihrer Rückkehr in das Heimatdorf verstärkte das Geheimnisvolle dieses Ortes um ein Vielfaches. Nun war jeder davon überzeugt, es mit einem Dorf voller Magier zu tun zu haben.
Niemand der Beobachter hat jemals mit Sicherheit herausbekommen, was sich in den Säcken befand. Aber viele vermuteten danach die Quelle des goldenen Reichtums des Dorfes an dieser Stelle.
Sobald einer dieser für die Außenstehenden rätselhaften Menschen in einem der Nachbarorte erschien, verstummten die Gespräche um sie herum. Es war kein Misstrauen, das ihnen dann entgegenschlug. Schon eher so etwas wie Neugierde und Respekt, Ehrfurcht vor dem Mystischen.
Und wussten die Bewohner der Nachbardörfer denn, ob sie nicht ein Blitzstrahl treffen würde, sollten sie den Bewohnern Cymargons auch nur einmal unfreundlich begegnen?
Dies alles erfuhr ich erst, nachdem ich mein Dorf verließ, mich von meinen mir zugedachten Aufgaben lösen musste.
Bis heute habe ich nicht verstanden, warum die Jugendlichen aus den Nachbarorten uns damals so unbehelligt beobachten konnten. Von dieser Spähaktion wurde mir berichtet, als ich direkt nach meinem Auszug einen Tag in dem uns nächstgelegenen Ort übernachtete.
Als Kind stellte ich mir die Frage nicht, wie meine Eltern und die übrigen Bewohner des Dorfes ihren Lebensunterhalt verdienten.
An Geld mangelte es nie. Es waren immer große, goldene Münzen mit hohem Wert, die zum Teil die Händler erhielten, die mit ihren voll beladenen Karren in unser Dorf rollten. Woher das Gold kam, war mir damals gleichgültig. Es war da, und das war gut so.
In jungen Jahren konnte ich morgens die Enten und Gänse des Dorfes füttern, die gemeinsam auf einer zum Schutz vor den Raubtieren eingezäunten Weide mit Anschluss an den Dorfweiher am Ortsrand untergebracht waren. Mein zehn Monate jüngerer Bruder versorgte währenddessen die Hunde des Dorfes, während die Katzen sich selbst überlassen waren. Jedes Kind hatte eine andere Aufgabe, die es in den Morgenstunden erfüllte.
Bereits weit vor Mittag war regelmäßig unsere Tätigkeit erledigt und den Rest des Tages verbrachten wir mit den Gleichaltrigen auf dem Dorfanger oder im Wald.
Vor allem der Wald hatte es uns angetan, ließen sich doch ständig kleine Schatten zwischen den Bäumen erkennen, die zwischen uns Kindern hin- und herwuselten, aber dessen Verursacher niemals sichtbar wurden.
Meine Eltern taten meinen entsprechenden Bericht und der Frage nach dem Grund dieser Phänomene wissend lächelnd als Hirngespinste ab, verboten mir aber auch nie, weiterhin die Wälder zu durchstreifen. Da sie also keinerlei besondere Notiz von unseren Verfolgern nahmen, betrachtete ich sie als gegeben und ignorierte sie seitdem.
Mit den anderen zweiunddreißig Kindern sprach ich nie darüber, mit meinem Bruder erst einen Tag vor meiner Vertreibung aus dem Dorf.
Direkt in der Ortsmitte stand ein riesiges, aus glatt behauenen Steinen erbautes Gebäude, dessen spitz zulaufender Turm von einem eisernen Kreuz gekrönt wurde. Bereits vor vielen hundert Jahren wurde es gemeinsam von den Familien des Dorfes errichtet.
Als Kind erkannte ich den eigentlichen Sinn dieses Bauwerkes nicht. Für uns war es das 'Zentralhaus' genannte Gebäude, in dem der Raum unseres täglich abends stattfindenden Unterrichts lag. In dem die Gemeindeversammlungen abgehalten und die diversen Dorffeste gefeiert wurden.
Erst später ging mir auf, dass dieses Haus nach dem Vorbild der christlichen Kirchen erbaut worden war. Nicht, um darin Messen abzuhalten, wie ich sie später in gleichartigen Häusern meiner jetzigen Heimatstadt erlebte, sondern allein darum, um unliebsamen Fragen Fremder vorzubeugen, die in einem christlich geprägten Land nun einmal auch in jedem Ort eine Kirche erwarteten.
Wie schon erwähnt waren die Abendstunden dem Unterricht vorbehalten. Dazu trafen wir Kinder uns in eben jenem Haus und wurden von unseren Eltern in die Geheimnisse der Mathematik, des Schreibens, Lesens und allgemeinen Wissens eingeweiht.
Erst in der Fremde erkannte ich die immense Größe des Reichtums an Informationen, welches uns Kindern allein schon in unseren ersten Lebensjahren hier im Dorf vermittelt wurde. Was weit über das hinausging, das in den erst vor kurzer Zeit errichteten Schulen dieser Stadt, in der ich nun lebe, gelehrt wird.
In unserem Dorf wurde von der Welt als einem Gefüge aus Sonnen und Planeten in einem interstellaren Raum gesprochen, in dem unsere Erde nur einen äußerst kleinen Teil darstellt.
Im Kontrast dazu predigen die Kirchen noch heute der Menschheit von der Erde als Mittelpunkt des Alls, als einer zentralen Scheibenwelt, um die sich Sonne und Planeten drehen.
Diese Scheibe soll von unendlichen Wassermassen begrenzt sein und niemand weiß, was sich dahinter befinden soll. Welch ein Unsinn.
Erst vor wenigen Jahrzehnten bekam ein Mann, der dem Volk einen Teil der Wahrheit vor Augen hielt, die große Macht der Kirche zu spüren. Auf Grund dessen, dass er mundtot gemacht wurde, verlor die Menschheit die Möglichkeit, ihr Wissen weiter zu entwickeln. Von diesem Mann werde ich später noch ausführlicher berichten.
Ebenso verwunderlich in meinem damaligen Leben war, dass innerhalb der Familien jeder Junge nur eine Schwester, jedes Mädchen nur einen Bruder hatte. Aber dieses wurde mir erst während meiner ersten Besuche in einem der Nachbardörfer bewusst.
Jedes Elternpaar hatte stets zwei Kinder. Nie mehr, nie weniger. Alle waren in meinem Alter, was uns aber damals selbst nie merkwürdig vorkam, denn wir kannten nichts anderes.
Unsere Geburtstage lagen nur wenige Monate, manchmal nur Wochen oder Tage auseinander.
Ich erlebte auch nie, eines der Kinder länger als einen Tag krank gesehen zu haben. Jeweils am nächsten Morgen war es wieder gesund und munter, nichts war mehr von seiner Krankheit zu erkennen. Was immer es auch gewesen sein mochte.
Ich selbst hatte mir im Alter von acht Jahren durch den Sturz von einem Baum mein rechtes Bein gebrochen, wurde nach Hause getragen und musste mich in mein Bett legen. Es erschien kein Arzt, so wie ich es Jahre später hier in dieser Stadt habe kennen lernen können.
Als ich am folgenden Tag aufwachte, war das Bein wieder gesund, der Knochen wieder eins und stabil wie eh und je.
Da dies für meine Eltern und auch die Nachbarn durchaus normal war, nahm auch ich es als solches zur Kenntnis und tummelte mich tags darauf, nachdem ich meine Tiere versorgt hatte, wieder mit meinen Freunden im Wald.
An jenem Nachmittag fielen mir zwischen den Bäumen besonders viele Schatten auf, die ständig in meiner Nähe waren. Aber auch da sah ich keinen der Schattenwerfer. An diesem Tag wurde es für mich Gewissheit, dass es nur diese Schatten gab - und noch gibt. Aber auch darüber werde ich später eingehender berichten.
Am Tage meines sechzehnten Geburtstages kam der Dorfälteste zur Mittagszeit in unser Haus und setzte sich zu meinen Eltern,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Copyright by Roland Böhme
Tag der Veröffentlichung: 05.03.2010
ISBN: 978-3-7309-2793-9
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