BELTANE
DER WEITE WEG
1. Teil -
Erster Tag – Frühjahrsbeginn 15 n. Chr.
Die Geräusche militärisch gleichmäßiger Schritte nähern sich. Nicht sichtbar für uns, die außerhalb der Festungsmauern auf Einlass Wartenden, bewegt sich eine Gruppe Legionäre jenseits der Mauer auf das große, geschlossene Tor zu. Hell klatschen die genagelten Sohlen ihrer Caligae auf die Steinplatten der Via Praetoria.
Eine befehlsgewohnte männliche Stimme gibt Anweisungen, die von den Legionären offensichtlich sofort in die Tat umgesetzt werden. Deutlich hören wir, wie schweres Holz über schartiges Eisen kratzt. Die acht Wachtposten schieben die beiden dem Tor als überdimensionale Riegel dienenden viereckig zugehauenen Eichenstämme unter Einsatz all ihrer Kräfte aus ihren starken Bügeln, um sie dann am Fuße der Mauer niederfallen zu lassen. Bereit für den nächsten Einsatz. Die zwei großen, metallbewehrten Holzflügel schwingen knarrend selbsttätig einen halben Schrittweit auf, nun befreit von den über die gesamte Breite des Haupttores angebrachten mächtigen Balken.
Die ungewöhnliche Einlasssperre scheint in diesem Moment beendet zu sein.
Nicht wie sonst üblich weit geöffnet, war das Tor heute über die Mittagszeit geschlossen und verriegelt.
Als ich kurz vor dem Beginn der nach römischer Zeitrechnung achten Tagesstunde meinen Handelswagen vor dem östlichen Durchgang des Legionslagers ausrollen ließ, wurde ich augenblicklich Teil einer ratlos vor dem Tor wartenden Menschenansammlung.
So war meinen zwei Zugpferden ein kurzer Moment der Ruhe vergönnt. Nachdem ich sie während der vergangenen zwei Tage stark habe antreiben müssen, um so schnell wie nur möglich diese Römerfestung zu erreichen, nahmen sie die kurze Rast dankbar an.
Gleich nach meiner Ankunft löste sich einer der Wartenden aus der aufgeregt, fast hitzig diskutierenden Gruppe bunt zusammengewürfelter Bewohner dieses Landes, die sich vor dem Tor versammelt hatte. Als er nur noch wenige Schritte von mir entfernt war, grüßte ich ihn mit einer Handbewegung und veranlasste ihn somit, kurz bei mir stehen zu bleiben.
Auf meine Frage nach dem Grund der Schließung antwortete er mir mit knappen, aber doch auch erregten Worten, dass bereits seit Beginn der sechsten Tagesstunde jedem Einlass Begehrenden der Zutritt zur Festung verwehrt wurde. Seitdem mussten sie auf dem durch die erst vor fünfzehn Tagen einsetzende Schneeschmelze leicht morastigen Platz vor dem Mauerwall ausharren.
Eine Erklärung für die Schließung des Zugangs hat jedoch niemand von ihnen. Nur vage Vermutungen, die, als mein Gegenüber sie aussprach, mir einen Schauder über den Rücken jagen ließ.
Wenn sie so stimmen sollten, dann bestätigen sie meine dunklen Ahnungen. Ahnungen, die mich bereits befielen, als ich die nur von Frauen, Kindern und alten Männern bevölkerten Dörfer durchquerte, die in den vergangenen Tagen an meinem Weg durch das von den Südländern besetzte Territorium lagen.
Wo waren - nein, wichtiger noch - wo sind die wehrfähigen Bewohner dieser Ortschaften? Was geschieht hier im Augenblick? Hecken diese Römer wieder einmal etwas gegen uns aus? Uns, die sie Ost-Germanen, das Land, unsere Heimat, aus der wir sie vor fast sechs Jahren mit vereinten Kräften hinauswerfen konnten, Germania Magna nennen?
Jedenfalls deuten all diese Beobachtungen und Berichte, die ich während der vergangenen Tage sammeln konnte, auf außergewöhnliche und besorgniserregende Aktivitäten des Feindes meines Volkes hin.
Sie waren auch der Anlass dafür, meine als Handelsfahrt getarnte Erkundungsreise durch Gallien vorzeitig zu beenden. Denn die gleichen beängstigenden Anzeichen zeigten sich mir auch im
vergangenen Jahr kurz nach der Erntezeit, als wir unser Haustblot feierten.
Dieses wodelsbierreiche Erntedankfest nutzten die Invasoren, um das erste Mal nach dem Großen Krieg wieder mit vielen tausend Söldnern erneut den Rhenus überschreitend in unsere Dörfer einzufallen. Da wir dieses Fest stets unbewaffnet feiern, war mein Volk den Schwertern und Lanzen der Römer so gut wie wehrlos ausgeliefert.
Der hinterhältige Überfall brachte Tod und Verderben in mein Land und fast unsere vollständige Auslöschung. Das durch uns, die Stämme der Marser, gehütete Heiligtum der Tamfana wurde durch sie in schlimmster Art entweiht und anschließend gänzlich zerstört.
Auch vor diesem bisher letzten Überfall lief die Mobilisierung der römischen Truppen unter strengster Geheimhaltung.
Ein banges Gefühl, eine beklemmende Angst befällt mich, die sich fast schmerzhaft in meinem Magen festsetzt. Mein Volk, meine Familie befindet sich wieder einmal in höchster Gefahr, von den Schergen der Römer angegriffen und erschlagen zu werden.
Die starken, rostigen Eisenangeln der Porta Praetoria quietschen laut protestierend, als die Torflügel von den Wachtposten nun vollends aufgestoßen werden. Das in den Ohren gellende Geräusch reißt mich aus meinen düsteren, sorgenvollen Gedanken. Es macht mir wieder bewusst, schnellstens Näheres im Lager erfahren zu müssen.
Dieses aus mächtigen Steinquadern und Holzbalken erbaute Tor bildet den uns, dem potentiellen Gegner, zugewandten Haupteingang zum ständigen römischen Militärlager Vetera.
Meine Pferde am Zügel führend reihe ich mich in den Strom der anderen bisher teils geduldig, teils unruhig murrend Wartenden ein.
Die Torwachen lassen neben uns Händlern mit den ochsen-, esel-, pferde- und sogar ziegenbespannten Karren noch einige wenige Bewohner aus den umliegenden Dörfern und zurückkehrende Söldner in das Bollwerk römischer Macht einziehen.
Aus der Verärgerung über die Wartezeit geborene hämische und derbe Rufe werden laut. “Warum verschließt ihr das Tor? Sitzt euch die Angst im Nacken, dass die Germanen während der Mittagszeit den Rhenus überqueren, hier einfallen und euch das Essen stehlen?“ oder “braucht ihr zwei Stunden, um ein Mädchen zu entjungfern?” sind noch die harmlosesten.
Verdrossen stehen die Posten an den Enden der Torflügel und treiben uns mit einigen stummen Handbewegungen an, den Durchgang schneller freizugeben.
Wieder entstehen vor meinem geistigen Auge Bilder, die sich fest in meine Erinnerung gruben. Die mich immer wieder Szenen des letztjährigen Überfalls nacherleben lassen. Sie lassen mich Frauen und Kinder sehen, die erschlagen in verkrümmter Haltung am Boden liegen. Niedergemetzelte Männer, die noch in letzter Not einen Knüppel ergreifen und sich kurzzeitig wehren konnten, um dann von mehreren Angreifern gleichzeitig bedrängt und ebenfalls ermordet zu werden. Schreiende, wimmernde und klagende Menschen überall. Und zwischen ihnen die Horden der Legionäre, die wahllos mit ihren Lanzen und Schwertern auf alles einstechen und einhauen, was sich bewegt.
Ich muss mich zwingen, wieder in die Gegenwart zurück zu finden, muss endlich erfahren, was gerade in meiner Heimat geschieht.
Fast gewaltsam richte ich meine Aufmerksamkeit auf die Geschehnisse um mich herum.
Eine ganz andere Situation als sonst üblich bietet sich mir hinter den Wällen. Das in normalen Zeiten im Lager zu dieser Stunde zu beobachtende Exerzieren und Treiben der Legionäre während und außerhalb ihres Dienstes fehlt fast vollständig. Auf den Straßen zwischen den exakt wie an einer straff gespannten langen Schnur ausgerichteten steinernen Gebäuden der größten nördlichen Bastion der Besatzer dieses Landes herrscht eine ungewöhnliche Ruhe vor. Also auch hier fast gähnende Leere.
Von den sonst in Castra Vetera stationierten über zwanzigtausend Söldnern scheint nicht mehr als höchstens eine Kohorte übrig geblieben zu sein. Fünfhundert Wächter, die, wie uns wenig später berichtet wird, für die Sicherung der Festung von dem zuständigen Feldherrn Germanicus zurückgelassen wurden.
Eben von jenem Nero Claudius Germanicus, dessen Vater Drusus vor etlichen Jahren als erster römischer Feldherr mit vielen tausend Legionären durch unser Land gezogen ist und dabei damals schon alles töten ließ, was sich ihm in den Weg stellte. Der, vor zwei Jahren zum Legat über Gallien erhoben, von den römischen Herrschern von Beginn an den Auftrag erteilt bekam, an der Spitze eines riesigen Heeres meine Heimat nun gänzlich unter römische Kontrolle zu zwingen. Koste es, was es wolle.
„Wir machen euren Brüdern im Osten die Hälse lang”, die Stimme eines der im Lager fest stationierten römischen Händlers gellt lauthals über den Platz, sich in meine wie im Fieberwahn kreisenden Gedanken zwingend.
„Mit acht Legionen ist Germanicus über die von Mogontiacum bis Castra Vetera erbauten Rhenusbrücken gezogen. Wir werden für jeden tapferen Soldaten, der unter dem unglücklichen Varus kämpfte und den die Aufständischen feige hinterrücks in ihren Wäldern erschlugen, mindestens fünf ihrer Leute töten.”
„Dann werden hoffentlich auch endgültig ihre Überfälle aufhören, die sie ständig gegen uns verüben”, gibt ein altes römisches Marketenderweib mit kreischender Stimme zur Antwort, während ein etwas abseits auf einer grob gezimmerten Bank sitzender Legionär laut den während der Großen Schlacht erlittenen Tod seines Bruders beklagt.
„Wann haben sie den Rhenus überschritten?” fragt ein rechts zwischen mir und seinem mit zwei Ochsen bespannten Wagen stehender Händler. “Zwölf Tage nach idibus Aprilis (idibus Aprilis = 13. April, also an VII kalendas Maii ab urbe condita 768 oder 25. Mai anno domini 15) sind sie aufgebrochen. Und wie ich gehört habe, stießen sie bisher auf noch keinen nennenswerten Widerstand”, kommt die Antwort aus einer anderen Ecke des Platzes.
Dies alles dringt wie aus weiter Ferne in mein vor Schreck erstarrtes Bewusstsein. Seit fünf Tagen rücken die Truppen der Besatzer also erneut in breiter Front in das Land meiner Väter ein?
Nach dem im vergangenen Jahr erfolgten Überfall auf mein Volk ist dies nun Germanicus’ zweiter groß angelegte Versuch, den Weg zur Unterwerfung der ‘aufständischen Barbaren’, wie sie uns seit dem Großen Krieg auch nennen, zu bereiten. Und Unterwerfung heißt bei den Römern nichts anderes, als dass die auf der Strecke ihres Feldzuges liegenden Dörfer geplündert, verwüstet und gebrandschatzt, deren Bewohner gejagt und erschlagen werden, wenn sie vor den Angreifern nicht mehr rechtzeitig fliehen können. Die Art und Reihenfolge dieser Taten ist stets den jeweils vor Ort erforderlichen Gegebenheiten angepasst.
Germanicus lässt den Söldnern seiner Legionen hier in der Wahl der Mittel und der Aufteilung der Beute großzügig freie Hand. Nicht von ungefähr ist er so zu einem der beliebtesten Führer unter den Legionsfeldzeichen der Besatzer aufgestiegen.
Als Sprössling zweier alter und miteinander durch Heirat stark verbundener römischer Patrizierfamilien, deren bekanntestes Mitglied Gaius Iulius Caesar war und denen auch der im vergangenen Jahr verstorbene Augustus Caesar angehörte, bemüht er sich darum, das Werk seines leiblichen Vaters zu beenden.
Durch unsere Unterwerfung würde er persönlich in noch weitaus stärkerem Maße als bereits bisher die Anerkennung des römischen Volkes erlangen. Seine Anwartschaft als direkter Nachfolger seines erst im vergangenen Jahr, einen Monat nach Augustus’ Tod, zum Alleinherrscher ausgerufenen Mentors, Onkels und Stiefvaters in Personalunion Tiberius wäre gesichert, wenn er den für uns verhängnisvollen Auftrag erfolgreich durchsetzen könnte.
Sein späterer Triumphzug durch Rom würde dort alles bisher Dagewesene bei weitem in den Schatten stellen, da die Stämme des Nordens durch ihre mehrfach siegreich geführten kriegerischen Einfälle in römisches Gebiet für das Imperium seit Jahrhunderten eine ständig bedrängende Gefahrenquelle sind.
Wenn es ihm dann noch gelänge, der Bevölkerung Roms den von ihnen Arminius genannten Führer eines großen Stammes der Cherusker in Ketten gelegt vorführen zu können, wäre sein Erfolg vollkommen. Ein Gesamtsieg über die hier lebenden Menschen, deren Unterwerfung und somit Ausschaltung der latenten Bedrohung ihres eigenen Landes würde Germanicus bei seinem Volk den Status eines Nationalhelden einbringen. Er würde den von seinem verstorbenen Vater übernommenen Ehrennamen nach römischen Begriffen zu Recht tragen.
Aber so weit ist es noch nicht. Arminius, den wir Sigfryd Irmin nennen, ist einfach zu klug und erfahren, um sich in seinem eigenen Land von Römern gefangen nehmen zu lassen.
Und darüber hinaus bin ich mir sicher, wenn unsere Völker erneut zusammenfinden und ihren inneren Zwist überwinden, werden wir auch diesem erneuten Angriff entsprechend begegnen können. Unter der Führung des charismatischen, doch trotz seiner in der Vergangenheit errungenen großen Erfolge selbst im eigenen Lager nicht unumstrittenen Cheruskerfürsten sollte uns dies gelingen.
„Es wird dem jetzigen Feldherrn nicht anders ergehen als seinem Vorgänger im Amt des ersten römischen Blutsaugers in unserem Land“, murmele ich leise grimmig, allerdings unhörbar für die Umstehenden. Dieser, der damalige Legat Publius Quinctilius Varus, dachte bis vor knapp sechs Jahren bereits, uns erfolgreich in den römischen Staatsverband eingegliedert zu haben. Er war davon so fest überzeugt, dass er begann, uns mit erheblichen Steuern und der Einführung ihres Rechtssystems zu beehren.
Er hat es als Stellvertreter Roms zwischen den Bäumen des Osning büßen müssen. Inmitten der letzten Söldner der von ihm geführten und durch unsere Angriffe schon fast gänzlich vernichteten drei Legionen stürzte er sich in sein Schwert und setzte seinem Leben so selbst ein Ende. Als er erkennen musste, die bisher größte militärische Niederlage des römischen Reiches herbeigeführt zu haben, blieb ihm nur dieser eine Weg.
Die Köpfe seiner Offiziere haben wir als Dankesopfer für den Sieg, den uns die Götter schenkten, an die Baumstämme des dortigen Heiligen Haines gespießt. Einzig der des Varus wurde an Marbod, dem König der Markomannen, als Zeichen für sein Zaudern gesandt.
Denn er, der vor der Großen Schlacht von Sigfryd Irmin zu einem Bündnis gegen Rom aufgefordert wurde, war der festen Überzeugung, gegen die Legionen keine Siegeschance zu haben und verhielt sich aus diesem Grund ängstlich neutral.
Da nun aber unser großer Erfolg die anderen von Rom unterdrückten Völker zu ähnlichen Aktionen anspornen könnte, werden die Machthaber im fernen Zentrum des Imperiums diese Niederlage nicht ungestraft und somit den derzeitigen Status quo nicht auf Dauer akzeptieren.
Allein schon aus diesem Grunde lassen sie ihre Truppen immer wieder gegen uns anrennen. In diesem Augenblick also ein weiteres Mal.
Doch hat das nicht schon eine gewisse tragische Tradition? Bereits seit siebzig Jahren haben die Römer das Land westlich des Rhenus besetzt. Seit eben dieser Zeit versuchen sie, auch bei uns Fuß zu fassen.
Gaius Iulius Caesar war der erste Feldherr, der sein Pferd einige Meilen südlich dieser erst mehr als vierzig Jahre später erbauten Festung am linken Ufer des großen Flusses tränken und seine gegen die gallischen Stämme errungenen militärischen Siege als Ausgangspunkt für den weiteren persönlichen Weg an die Macht zu nutzen wusste.
Seine Stelle in dem von ihnen annektierten Gebiet nahmen Jahre später Drusus, der posthum den an seine Söhne vererbten Ehrennamen Germanicus erhielt, und sein älterer Bruder Tiberius ein, der jetzige römische Herrscher. Beauftragt durch ihren Stiefvater Augustus, dem Mann, der in der Zeit nach Gaius Iulius Caesar noch als Gaius Octavius Thurinus den römischen Thron nicht nur besetzte, sondern ihn erst errichtete, indem er durch eine erzwungene Abstimmung des von ihm unter Druck gesetzten Senats die ‘Herrschaft des römischen Volkes’ beendete.
Drusus gelang es mit seiner Streitmacht dann auch, die ersten für ihn und das römische Reich erfolgreichen Schritte über den Rhenus zu setzen und Feuer und Tod in unser Land zu tragen. Zwischenzeitlich zum römischen Konsul erhoben, starb er dann zu unserem Leidwesen erst Jahre später durch einen simplen Sturz vom Pferd, als er an der Spitze eines Heeres abermals in unser Land einfiel.
Mit seinem Tod hatte sich auch der Wunsch des Augustus zerschlagen, ihn zu seinem starken, mächtigen Nachfolger aufzubauen. Sein Bruder Tiberius übernahm, sozusagen als zweite Wahl, den frei gewordenen Platz in der Rangliste der Gunst des Imperators. Für zwei Jahre auch die Aufgabe seines Bruders als oberster Feldherr in Gallien, die er elf Jahre später bis zur Ernennung des Varus zum Statthalter der römischen Provinz nördlich der Alpen und nach dessen Niederlage und Tod erneut bis zur Einsetzung des Germanicus in dieses für Rom wichtige Amt einnahm.
Im vergangenen Jahr starb der Imperator Augustus gerade in dem Monat, der schon seit dreiundzwanzig Jahren ihm zu Ehren seinen Namen trägt. Und wie von ihm vorherbestimmt trat Tiberius seine Nachfolge als oberster Römer an.
Seitdem hat sich nichts an der überaus aggressiven Expansionspolitik der Machthaber des Imperiums verändert. Nach wie vor ist das große Ziel des römischen Reiches die Erweiterung seiner Grenzen, die mit der Unterwerfung fremder Völker und der Ausbeutung der teils immensen Bodenschätze einhergeht. Und hier sind derzeitig ihre besonderen Ziele die Gebiete östlich des Rhenus, der Heimat der Stämme meines Volkes. Die zwar nicht durch Reichtum, sondern eher als steter Unruheherd in das römische Bewusstsein treten.
Wir, das Volk der Marser, die wir unsere Dörfer und Felder nicht weit vom Rhenus gebaut haben, sind im vergangenen Jahr hauptleidtragendes Opfer des ersten großen Vergeltungsfeldzuges des neuen Legaten geworden. Nun trifft es uns also erneut. Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit. Zwar vermutlich nur mehr am Rande, denn die eigentlichen Ziele des Römers sind sicherlich die Dörfer unserer östlichen Nachbarn, der Chatten, da bei uns nicht mehr viel zu holen ist.
Vermutlich zieht es Germanicus auch weiter in das Gebiet der Cherusker. Sie stellten unter der Führung Sigfryd Irmins neben uns den Hauptanteil der Kämpfer in der Großen Schlacht im Osning, die zum Untergang der drei Legionen führten. Somit würden auch wir wieder einmal zwangsläufig direkt in Mitleidenschaft geraten, denn unsere Dörfer liegen auf dem Weg dorthin.
Einige wenige der neben mir stehenden Händler blicken mitfühlend verstohlen zu mir herüber, wie ich selbst Böses ahnend. Sie kennen mich und wissen, dass ich aus dem von den römischen Söldnern bedrohten Gebiet stamme,
Sie vermuten, dass mein Volk, mein Dorf, meine Familie wieder einmal vor der Gefahr des drohenden, dieses Mal vielleicht sogar endgültigen Untergangs steht.
Hastig und unkonzentriert, aber trotzdem zu einem relativ guten Preis wickele ich meine Geschäfte mit den Händlern dieses Lagers ab. Der Rest einer Ladung Felle wird komplett gegen römische Münzen eingetauscht.
Nach dem Ende des allgemeinen Feilschens verlassen viele der anderen Händler zusammen mit mir mit unterschiedlich leeren Wagen wieder durch die der Porta Praetoria gegenüberstehenden Porta Decumana die Festung.
Ein Großteil zieht von hier aus direkt weiter in ihre Heimatdörfer oder eine der nächsten Siedlungen, um ihre restlichen Waren gegen Tiere, Schmuck, Nahrungsmittel, Gebrauchsgegenstände oder auch römische Münzen einzutauschen.
Wenige kehren in Cugernorum ein, der westlich im Schutze Castra Veteras erbauten Siedlung. In der auch, wie hinter vorgehaltener Hand erzählt wird, einige dort ständig stationierte Offiziere ihre Familien und Mätressen untergebracht haben.
Da ich in der Festung keine weiteren Auskünfte erhielt, schließe ich mich der Gruppe derer an, die in die verschiedenen Wirtshäuser einziehen. In der Hoffnung, hier etwas Näheres erfahren zu können. Durch verräterische Fragen hätte ich die römischen Händler sicher misstrauisch gemacht.
Deshalb ist es günstiger, meine Nachforschungen im zivilen Bereich der Römerbehausungen zu stellen.
Odoaker setzt sich in der von uns beiden aufgesuchten Taverne auf die Bank neben mich. Er ist einer der Händler, die von meiner Herkunft wissen und selbst dem Volk der Usipeter angehört. Sie haben ihr Gebiet ebenfalls jenseits des Rhenus nicht weit von dem unseren. Sein Dorf ist also gleichsam durch den Einfall der Römer von der Zerstörung direkt bedroht.
Nach einer kurzen Zeit gemeinsamen Schweigens, in der wir den ersten Schock verarbeiteten und uns im Geist ausmalten, wie die römischen Horden gerade jetzt in unseren Dörfern wüten, bin ich endlich soweit, mir Gedanken über meine nächsten Schritte zu machen.
Odoaker bricht als erster das Schweigen.
„Acht Legionen, Albin, das sind mehr als sechzigtausend Legionäre. Er muss alle unter Waffen stehenden Männer Galliens zusammengerufen haben. Du bist doch einige Zeit durch dieses Land gezogen. Ist dir nichts darüber zu Ohren gekommen?”
„Nein, ich habe nichts davon gehört, dass Germanicus in einem solch riesigen Ausmaß seine Truppen mobilisiert und zusammengezogen hat. Allerdings ist mir auf dem Weg hierher aufgefallen, dass in den Dörfern im Westen keine wehrfähigen Männer anzutreffen waren. Auf meine Fragen nach deren Aufenthaltsort bekam ich stets nur ausweichende Antworten. Ich ahnte schon da, dass uns etwas Ähnliches bevorsteht, denn dies waren die gleichen Vorzeichen wie die, die sich mir bereits im vergangenen Jahr zeigten, als wir das erste Mal von Germanicus überfallen wurden. Nachdem ich dann die Porta Praetoria verschlossen vorfand und mir ein Händler von den Vermutungen der Gruppe der Wartenden berichtete, wurden meine schlimmsten Befürchtungen zur Gewissheit. Hast du während deiner Reise nichts bemerken können?“
Wir sprechen beide in der weithin gleichen Sprache unserer Stämme, die von den Römern allgemein nicht verstanden wird.
„Nein, das hat er nicht nur im Westen sehr geheim halten können. Ich habe auch erst heute, aus den Ländern der Tamesis-Friesen kommend, den Fluss überquert. Und obwohl diese Stämme vertraglich mit den Römern eng verbunden sind, war auch bei ihnen nichts bekannt von einem bevorstehenden erneuten Rachefeldzug des Germanicus.”
„Was machst du nun, Albin?” fährt er fort, „wirst du ihnen folgen und versuchen, deine Familien zu warnen?”
„Dazu dürfte es bereits zu spät sein. Wenn die Römer seit fünf Tagen unterwegs sind, werden sie sicherlich das Gebiet der Stämme deines Volkes durchquert und so vermutlich auch schon über unsere Dörfer hergefallen sein.”
Wenn Germanicus plant, diesen Feldzug ähnlich durchzuführen wie den im vergangenen Jahr gegen uns, dann haben seine Legionen auf einer Breite von etwa vierzig bis fünfzig Meilen alles vernichtet, was sich ihnen in den Weg stellte. Somit werden sie auch unsere Familien nicht verschonen, die gemeinsam mit den nordöstlichen Stämmen der Usipeter, zu denen auch Odoakers Dorfgemeinschaft gehört, in den Heiligen Hainen, am Platze unseres zerstörten Tamfana-Altars, unser Frühlingsfest Beltane feiern.
Wieder also greift er uns während eines der wichtigsten Feste meines Volkes an. Wieder benutzt er die Zeit unserer Feiern zu einem weiteren feigen Angriff.
Beide blicken wir verzweifelt in die vor uns auf dem Tisch stehenden noch vollen Weinbecher.
Geistesabwesend ziehe ich mit dem Zeigefinger aus einer der neben dem Krug entstandenen kleinen Wasserpfützen Kreise auf die Holzbretter der Tischplatte. Etwas von der Flüssigkeit sickert durch die Lücken eines Astloches und tropft auf mein rechtes Knie. Mit einer eher unbewussten Handbewegung wische ich das Wasser von den Brettern und reiße mir dabei einen Holzsplitter unter die Haut meines rechten kleinen Fingers.
Etwas von meinen bleischweren Gedanken abgelenkt ziehe ich ihn vorsichtig wieder heraus und schnippe ihn unter den Tisch. An der leicht blutenden Wunde saugend schließe ich die Augen und atme tief ein. Was kann ich unternehmen, um meine Familie, die Familien meines Dorfes, meines Volkes zu retten? Sind die Römer innerhalb dieser fünf Tage schon so weit vorgedrungen, dass sie unseren Heiligen Hain, den Ort unseres zerstörten Heiligtums und damit seit Menschengedenken einen der wichtigsten Festplätze unserer Völker, bereits erreicht haben?
Mein Kopf ist wie leergefegt. Trotzdem muss eine Entscheidung her. „Nachdem die Pferde ausgespannt sind, werde ich den Wagen bei dem Wirt unterstellen und sofort zum Festplatz reiten. Ich muss wissen, was mit meiner Familie geschehen ist.”
„Du bist Besitzer zweier Pferde, Albin, mit denen du dich schnell bewegen kannst. Meine Ochsen sind zu langsam. Ich werde dich damit nicht begleiten können.”
„Wozu habe ich zwei Pferde?! Nimm es für den Weg zu den Heiligen Hainen und lass’ dein Gespann ebenfalls hier stehen. Der Wirt hat in seinem Stall Platz genug.”
„Und was ist mit meinen restlichen Waren? Soll ich sie etwa hier bei Quintus zurücklassen?”
„Mir ist meine Familie im Augenblick wichtiger als mein Besitz. Du solltest dem Wirt einfach vertrauen - obwohl auch er Römer ist.”
„Vielleicht”, sagt er zögernd, um sich nach kurzem Überlegen zu einem Entschluss durchzuringen. „Du hast sicher Recht, eine andere Möglichkeit bleibt mir in dieser Situation wohl auch nicht. Danke für dein Angebot, Albin, natürlich nehme ich es an. Wann reiten wir?”
„Nachdem wir gegessen haben. Wir haben einen Gewaltritt vor uns und müssen bei Kräften bleiben.”
Fast im gleichen Moment steht der Wirt vor unserem Tisch und serviert uns das bereits während des Eintritts mit einem Handzeichen bei ihm bestellte Mahl.
„Sag mal, Quintus”, beginne ich vorsichtig, jetzt wieder in der Sprache der Besatzer, während er die Essensplatten vor uns auf dem Tisch abstellt, „was hast du von dem Feldzug jenseits des Rhenus gehört?“
„Ich weiß nur, dass bis auf die Wachen alle verfügbaren Söldner der drei hier stationierten Legionen aus Vetera abberufen sind. Mehr haben auch wir nicht erfahren. Die Planungen zu diesem Feldzug unterlagen der allergrößten Geheimhaltung.”
„Danke dir. Ist ja nicht gerade viel, was bis zu dir vorgedrungen ist”, gebe ich leicht sarkastisch zurück.
„Nein, hast Recht. Aber ich sag’ ja, keiner derer, die ich gesprochen habe, durfte über die Pläne und Vorbereitungen berichten.”
Der Wirt wollte sich gerade wieder abwenden, da kommt meine nächste Frage. „Ach, Quintus, noch etwas. Hast du in deinem Stall ausreichend Platz für ein Ochsengespann und zwei Karren, die wir für einige Tage bei dir einstellen können?”
Er blickt mich leicht befremdlich an, grinst jedoch verhalten, als er mir antwortet, „habt ihr nicht Weib und du zumindest……”, dabei sieht er augenzwinkernd Odoaker an, “……auch Kind zu Hause? Albin, und hast du nicht erst vor kurzer Zeit ein Weib zu dir in dein Haus genommen? Braucht ihr etwa eine kurze Auszeit von euren ehelichen Pflichten?”
Er ist, da wir immer dann bei ihm einkehren, wenn wir mit unseren Wagen hier durchziehen, recht gut über unsere familiären Verhältnisse informiert, nicht jedoch darüber, welchem Volk wir tatsächlich angehören. Das haben wir bisher verschweigen und ihn somit wohlweislich in dem Glauben belassen können, in einem von den Römern befriedeten und links des Rhenus gelegenen Dorf zu wohnen. So sieht er auch keinen besonderen Grund, uns gegenüber misstrauisch zu sein.
Ich blicke ihn an und lege dabei einen Zeigefinger auf die Lippen, „psst, nicht so laut. Wenn sich das herumspricht und meinem Weib zu Ohren kommen sollte, habe ich bei ihr nichts mehr zu lachen. Aber da die Männer alle unterwegs sind, können wir uns die Gelegenheit doch nicht entgehen lassen.” Ich versuche ein verschmitztes Lächeln, das mir aber unter den gegebenen Umständen sicher nicht ganz gelingt.
„Klar könnt ihr meinen Stall benutzen”, kommt, immer noch grinsend, die Antwort.
„Was ist mit euren Waren? Bleiben die ebenfalls hier?”
„Ja, geht nicht anders. Aber nur Odoakers Wagen ist noch beladen, für meine Felle habe ich bereits Käufer finden können.”
„Gut, dann muss ich nur während dieser Zeit die Tore sichern.” Quintus blickt mich nachdenklich an, „hast du deine Sesterzen noch nicht eingetauscht? Du bringst doch dafür sonst immer Stoffe und Metallwaren mit in dein Dorf, nachdem deine Waren verkauft sind.”
„Ja, richtig, aber das werde ich unter den gegebenen Umständen auf einen späteren Zeitpunkt verschieben müssen. Durch euren Feldzug bedingt sind mir die Preise zu hoch, die derzeit verlangt werden.”
Für diese Fahrt hatte ich geplant, mit den eingetauschten Münzen der Römer erstmals unter anderem einige Amphoren Wein einzuhandeln und mit in unser Dorf zu bringen. Ein Getränk, das die Eindringlinge in dieses Land brachten und von ihnen bei jeder Gelegenheit getrunken wird, allerdings bei uns noch wenig bekannt ist, da die dafür benötigten Trauben in unserem Gebiet nicht wachsen.
Die Platten sind schnell geleert und, nachdem wir die Tiere ausgespannt, die Karren in den Stall gerollt und Odoakers Ochsen versorgt haben, reiten wir noch weit vor der durch tiefhängende, dichte und dunkelgraue Wolken verursachte früh einbrechenden Dämmerung zum Ufer des Flusses.
Zwei große Schiffe liegen fest vertäut nicht weitab des hier ebenfalls befestigten Weges an einem langen, breiten Holzsteg. Nur etwa zweihundert Schritte vor der im vergangenen Jahr neu erbauten Rhenusbrücke entfernt. Sie werden von einigen Männern entladen und warten darauf, ihre Fahrt fortsetzen zu können.
Ist dies die für eine Invasion notwendige Verpflegung und Ausrüstung für Germanicus’ Truppen aus Rom oder den weiter südlich gelegenen römischen Militärlagern? Der Nachschub für die Mörder unserer Völker? Auf dass sie bei Kräften bleiben für die Ausübung ihres brutalen, tödlichen Handwerks!?
Nun reiten wir der den Fluss überspannenden, aus Holz, Eisen und Stein gefertigten riesigen Konstruktion entgegen. Bisher noch ungesehen von den Brückenwachen, im Schutz des nachwinterlich kahlen, aber mit jungen Bäumen durchsetzten und deshalb trotzdem dichten und blickundurchlässigen Strauchwerks. In der Hoffnung auf eine günstige Gelegenheit, die Brücke von den zwei Posten unbemerkt benutzen zu können, da wir unliebsamen Fragen aus dem Wege gehen wollen.
Wir haben Glück, denn gerade jetzt erscheinen aus der Richtung einer kleineren Siedlung direkt am Fluss zwei junge und trotz der noch kühlen Witterung leicht bekleidete Frauen in auffällig lasziver Haltung, die ein kurzes, aber scheinbar sehr intensives Gespräch mit den beiden Legionären führen.
Die Pause, die wir während der Preisverhandlung der Vier einlegen, benutzen wir, um den Pferden einige schon vorher bereitgehaltene Stofffetzen um die Hufe zu wickeln. Offensichtlich sind die Wachtposten mit den zwei Frauen einig geworden, denn die Pärchen verschwinden auf der anderen Wegseite im Dunkel der am Rande des Flusses wachsenden Büsche und sind vermutlich nun erst einmal längere Zeit mit etwas beschäftigt, das mit ihrem ursprünglichen Auftrag wenig zu tun hat.
Dies ist die Gelegenheit für uns, unsere Tiere so fast geräuschlos an dem verwaisten Wachhäuschen vorbei auf und über die lange Brücke zu führen.
Wenig später reiten wir dem Festplatz der Heiligen Haine mit der bangen Frage entgegen, was mit unseren Familien geschehen ist, wenn die Römer sie auf ihrem Vormarsch schon erreicht haben sollten.
Auch Odoaker hat aus nächster Nähe miterleben müssen, auf welch grausame Weise Germanicus seinen ersten Feldzug gegen uns durchführte. Die Gräueltaten sind uns beide noch in deutlicher Erinnerung. Deshalb ahnen wir, was uns erwarten wird und treiben die Tiere scharf an, reiten ohne Unterlass auch während der Nacht.
Zweiter Tag
Als wir einige Zeit vor Anbruch des folgenden Tages den nördlichen Rand des Berglandes erreichen und ihm folgen, fällt leichter Sprühregen. Das dichte Astwerk der Bäume fängt ihn zum größten Teil auf und lässt das Wasser die schwarz glänzenden Stämme herabrinnen. Nur vereinzelt lösen sich dicke Tropfen von den Zweigen und fallen auf den Waldboden, wo sie von dem langsam verrottenden Vorjahreslaub und den dichten Moosmatten gierig und auf Nimmerwiedersehen aufgesogen werden.
Wir legen, um den Pferden eine Erholung zu gönnen, die erste Rast am Rande einer mit dichtem, aber zu dieser Jahreszeit noch nicht sehr hohem Gras bewachsenen Lichtung ein, durch die sich ein kleiner Bach schlängelt. Diese Ruhepause, die uns wertvolle Zeit kostet, steigert unsere innere Unruhe noch weiter, ist aber notwendig, um die Tiere wieder zu Kräften kommen zu lassen.
Der Festplatz der Heiligen Haine ist nicht mehr weit. Immer noch haben wir die Front der römischen Legionen vor uns. Und werden sie auch sicher nicht mehr vor ihrem Angriff durchreiten können, denn anhand des Alters der Spuren müssten sie gegen Ende des gestrigen Tages entweder das Gebiet erreicht oder aber kurz vorher ihr Marschlager für die Nacht erbaut haben. Aber in beiden Fällen kämen wir zu spät, um unsere Familien zu warnen.
Ob sie von den Legionen bereits am vergangenen Abend sofort angegriffen wurden oder später überfallen werden, vielleicht gerade in diesem Moment, wenn alle noch auf ihren Schlafstellen liegen, erfahren wir erst im durch die immer noch tief ziehenden Wolken verursachten spätmorgendlichen Grau dieses Tages, wenn wir endlich die Lichtung erreicht haben. Wir werden dann sehen, ob unsere schlimmsten Befürchtungen Wahrheit geworden sind und dort unseren Verwandten, Freunden und Nachbarn das gleiche Schicksal widerfuhr, das die Bewohner der wenigen von uns bisher durchquerten Dörfer ereilte, die ausnahmslos von den nördlich der römischen Kampflinie operierenden Legionen niedergebrannt wurden.
Bis zuletzt hatten wir noch die Hoffnung, dass sie dieses Gebiet nicht erreichen, vielleicht daran vorbei ziehen. Aber jeder weitere Schritt unserer Pferde, der uns dem Ziel näher bringt, lässt uns auch gleichzeitig immer deutlicher erkennen, dass unsere drängenden Wünsche sich nicht erfüllen werden.
Die Fährten der Römer weisen, nachdem sie vorher schon einmal leicht in eine Richtung abschwenkten, die am Festplatz vorbeigeführt hätte, nun wieder zielgenau auf ihn zu.
Jetzt, zum Beginn der dritten Stunde, sind es nur noch wenige Schritte, dann erreichen wir mit einem beklemmend ahnungsvollen Gefühl den Fuß eines flachen, lang gezogenen und schmalen Hügels, der sich wie ein kleiner Wall so vor uns aufstellt, als wolle er uns davor bewahren, das Schreckliche, das sich direkt dahinter verbergen könnte, sehen zu müssen.
Diese leichte Barriere trennt uns noch von der Stätte, der unseren in diesem Bereich lebenden Völkern bisher stets als Lagerplatz während der Tage diente, an denen wir die gemeinsamen Feste feierten. Von dem Ort, der in unmittelbarer Nähe unseres zerstörten Tamfana-Heiligtums liegt.
Es herrscht fast Totenstille. Außer dem emsigen und sorglosen Zwitschern der Vögel sind keine weiteren Laute zu hören. Das an diesen Tagen normalerweise hier schon zu vernehmende fröhlich-laute Spielen und Streiten der herumtollenden Jugendlichen fehlt völlig.
Wir erreichen unter Hoffen und Bangen die Wallkuppe und haben von hier aus einen weiten Blick auf die große Lichtung.
Das, was sich unseren Augen hier bietet, lässt mich mein Blut in den Adern gefrieren. Obwohl wir uns ausgemalt hatten, was uns erwarten könnte, trifft uns der Anblick wie ein starker Schwertschlag, denn augenblicklich sehen wir unsere ärgsten Befürchtungen auf das Schlimmste bestätigt.
Vor uns öffnet sich die Lichtung, die übersät ist mit wahllos niedergemetzelten und oftmals schwer verstümmelten menschlichen Körpern, teils noch auf ihren Schlaflagern, teils unvollständig bekleidet vor ihren niedergerissenen Zelten liegend.
Niemand wurde verschont. Alte liegen neben Kindern. Frauen und Männer, die im letzten Moment ihres Lebens noch eine Waffe ergreifen konnten, hatten nicht die geringste Überlebenschance.
Die Legionäre müssen allem Anschein nach noch vor Beginn des heutigen Tages über die ahnungslos und friedlich Schlafenden hergefallen sein und sie getötet haben, ohne dass der Großteil von ihnen auch nur die geringste Gegenwehr leisten konnten.
Erst starr vor Schreck, dann voller Verzweiflung und Angst eilen wir von einem toten Körper zum anderen, drehen hier die wehrlos Erschlagenen um und blicken denen, die auf dem Rücken liegen, in die totenstarren Augen, in die blutbesudelten und teilweise zerstörten Gesichter.
Mit jedem weiteren Toten wachsen neben unsäglicher Verzweiflung ohnmächtige Wut und unbändiger Zorn in uns, ohne sie auch gegen nur einen der Verursacher richten zu können.
Bisher ist unsere Suche nach Verwandten oder Nachbarn und Freunden ohne Ergebnis geblieben.
Hoffnungsvoll sehen wir uns an. Sollte es möglich sein, dass sie sich haben retten können? Sollten sie es wirklich geschafft haben, diesem hier stattgefundenen grausamen Massaker entkommen zu sein? Es muss sich doch jemand finden lassen, der überlebt hat und Auskunft geben kann, ob einigen der Überfallenen die Flucht geglückt ist!
Vermutlich haben sich die Fliehenden, soweit es wirklich einige geschafft haben sollten, in eine mir bekannte nahe gelegene Schlucht des nicht weit von diesem Ort liegenden nördlichen Rand des Berglandes zurückgezogen und halten sich dort verborgen.
Ich weise Odoaker darauf hin und gemeinsam besteigen wir nach zwei weiteren Stunden vergeblicher Suche wieder die Pferde. Es ist nicht weit. Nach einem Ritt von einer halben Stunde liegt sie vor uns.
Wir erkennen vereinzelte Fußspuren, die aus der Richtung der Heiligen Haine in eine schmale Senke zwischen zwei kleinen, eher Hügeln gleichenden Bergausläufern führen und folgen ihnen.
Nach einer weiteren halben Meile erreichen wir eine Biegung der Schlucht, die die Sicht auf eine dahinter liegende große höhlenartige Vertiefung in einem Felsabbruch versperrt, vor der die Spuren enden.
Wenn wir gehofft hätten, hier eine größere Ansammlung derer zu finden, die fliehen konnten, so wären wir enttäuscht worden. Es sind nur sehr wenige Überlebende, auf die wir hier stoßen. Von den etwa achttausend Menschen, die sich wie immer während dieser Zeit zum Fest zusammengefunden haben, konnten sich nicht mehr als etwa einhundert hierher retten.
Mit gemischten Gefühlen, voller Bangen und Hoffen reiten wir auf die kleine Gruppe zu, über die unsere Blicke angstvoll von einem zum anderen der mit unbeweglichen Mienen in Schreck erstarrten, teils weinenden Menschen gleiten.
Kurz darauf jubelt Odoaker befreit auf. Er hat im Hintergrund sein Weib und seinen halbwüchsigen Sohn entdeckt. Nur meine Suche ist bis jetzt erfolglos geblieben.
Apathisch und kaum Notiz von uns nehmend sitzen die Flüchtlinge am Boden, ihre Rücken an die Felsen und vereinzelten Baumstämme gelehnt, zu sehr steht ihnen der Schock in die blassen Gesichter geschrieben.
Sie hatten nur kurz verschreckt ihren Blick auf uns gerichtet, als sie das laute Klappern der Hufe unserer Pferde auf dem stellenweise felsigen Untergrund wahrnahmen. Gleich darauf fielen sie wieder zurück in ihre vorherige Lethargie, nachdem sie nur zwei Reiter aus ihren eigenen Reihen erblickten.
Mit halb gesenktem Kopf und den Rücken ebenfalls an die Felswand gelehnt erkenne ich im Hintergrund in einem der Männer den Sohn des alten Schmiedes eines Nachbardorfes, der ebenso wie alle um ihn herum teilnahmslos vor sich auf den Felsboden starrt. Ich gehe zu ihm und spreche ihn behutsam an.
„Arne, was ist geschehen? Ich sehe dich allein hier. Wo sind unsere Familien?”
Er schaut mich lange mit ausdruckslosem Blick an. Dann, nachdem er mich endlich erkannt und in die Realität zurück gefunden hat, füllen sich seine Augen mit Tränen. Nur mit viel Mühe bringt er einige gestammelte, fast unverständliche Worte über seine Lippen.
„Tot, alle tot. Diese Mörder haben uns im Schlaf überfallen und all die, die nicht mehr flüchten konnten, lachend und grölend wie räudige Hunde erschlagen.”
Mit dem Handrücken trocknet er sein nasses Gesicht, bevor er mit brüchiger, stockender Stimme fortfährt.
„Sie haben uns sogar bis weit in die Wälder hinein verfolgt und abgezählt, wer den Nächsten ermorden darf. Ich habe mit ansehen müssen, wie sie meinem Weib und meinem ältesten Sohn die Köpfe einschlugen und vielen unserer Nachbarn das Gleiche antaten, ohne dass ich ihnen zu Hilfe kommen konnte. Drei dieser hinterhältigen Wegelagerer, die mich angriffen, habe ich mit meiner bloßen Faust erschlagen können, einem Vierten habe ich den Hals umgedreht und musste flüchten, als eine in der Nähe wütende Söldnergruppe auf mich aufmerksam wurde.”
Tröstend lege ich ihm meine Hand auf die Schulter. Nach einer kurzen Zeit verbitterten Schweigens stelle ich ihm die im Augenblick für mich wichtigste Frage, „hast du sehen können, was mit meiner Familie geschehen ist? Ich habe sie auf dem gesamten Schlachtfeld nicht ausmachen können.”
„Sie lagerten nicht weit von uns entfernt direkt am Rand der Lichtung. Ich glaube, sie sind ebenfalls in den Wald geflüchtet, wurden aber von einer johlenden Horde zum Teil berittener Legionäre verfolgt. Ich weiß nicht, was danach dort mit ihnen geschehen ist.”
„Wo war euer Lager und in welche Richtung liefen sie?”
„Wir lagerten an der Stelle, die wir auch vor drei Jahren schon einmal belegt hatten. Du kennst sie. Es ist der Platz vor den zwei dreistämmigen Kastanien. Die Leute deines Dorfes flüchteten über den kleinen Anstieg in den Wald hinein.”
Nun hält mich nichts mehr hier an diesem Ort. Ich laufe zu Odoaker hinüber, um ihm zu berichten, was ich erfahren habe. Dann vereinbaren wir, dass er die stark traumatisierten Menschen mobilisiert, mit ihnen zurück zum Ort des Überfalls geht und nach schwerverletzten Überlebenden suchen wird.
Ich werde mit meinen zwei Pferden vorausreiten und sehen, was mit meiner Familie geschehen ist.
Sehr schnell finde ich die Kastanien und somit die Stelle, die Arne mir beschrieb. Dann auch das zerstörte Lager der Familien meines Dorfes, aber hier nur wenige Tote, die ich einen nach dem anderen untersuche. Sie alle stammen aus unseren Dörfern und sind zum Teil grausam zugerichtet.
Aber ein Mitglied meiner Familie ist nicht unter ihnen. Nun beginne ich damit, den Fährten der Flüchtenden zu folgen. Sie sind in den Wald gelaufen, sagte er. Ja, sicher, wohin auch sonst, denke ich bitter.
Hier gibt es viele Spuren, die in den Wald hineinführen. Ich reite einfach aufs Geratewohl los und sehe schon nach kurzer Zeit die nächsten Erschlagenen auf den dichten Moosteppichen liegen.
Es sind auch hier ausnahmslos Einwohner unserer Dörfer. Jugendliche, die das erste Mal Gelegenheit bekamen, an dem Fest teilzunehmen, Männer und Frauen, meine Nachbarn, mit denen ich schon als Kind durch unsere Wälder gestreift bin. Erbarmungslos und voller Mordlust erschlagen. Und das nur, weil es im fernen Rom einigen machthungrigen Patrizierfamilien und ihren hier in unserem Land ihr für uns bitteres Unwesen treibenden mordgierigen Schergen so beliebt.
Wo ist meine Familie, wo ist Edda, mein Weib? Wenn ich sie hier gleich finden sollte, wie alle um mich herum ebenfalls getötet, vielleicht mit eingeschlagenen Köpfen, werde ich unverzüglich auf den Rücken meines Pferdes springen, zu Germanicus reiten und ihn mit meinem in der Großen Schlacht erbeuteten römischen Schwert töten, egal, was anschließend mit mir geschieht!
Voller Angst, Trauer, Verzweiflung und fast verschütteter Hoffnung reite ich suchend im Zickzack in die von Arne angegebene Richtung, von einem toten Körper zum nächsten. -
Dann das Unfassbare. Das Erste, was ich von ihnen zu sehen bekomme, sind die zwei unnatürlich verrenkten Beine meines bis zum Zeitpunkt seines Todes von einem einzelnen Gegner unbesiegten Vaters auf dem Waldboden.
Der mächtige Stamm einer riesigen Eiche verbirgt sie noch. Erst als nach einigen weiteren Schritten meines Pferdes liegen sie vor mir. Vater und Mutter, mein jüngerer Bruder Landogar einige Schritte weiter, alle mit klaffenden Wunden, über und über mit bereits geronnenem Blut besudelt.
Meine Gedanken, meine Gefühle ausschaltend untersuche ich sie kurz und sehe kein Leben in ihnen. Sie haben starke Kampfwunden, müssen sich also vor ihrem Tod noch heftig zur Wehr gesetzt haben, was auch die sechs Leichen der Söldner erklärt, die von ihren Kameraden zurückgelassen wurden. Aber wo ist Edda? Voller Panik reite ich weiter von Baum zu Baum, in der Hoffnung, sie hinter einem von ihnen versteckt vielleicht noch lebend finden zu können. Sie muss doch hier in der Nähe sein! Ich bete zu den Göttern, dass sie es geschafft hat, den Schlächtern zu entkommen. Laut rufe ich ihren Namen, der jedoch ungehört zwischen den Bäumen verhallt.
Da ich keine in den Wald weiterführende Spuren mehr ausmache, gehe ich langsam wieder zurück und komme so nach einiger Zeit wieder in den Bereich des Ortes, an dem meine Eltern liegen.
Ich hocke mich neben Landogar auf den Waldboden und höre im gleichen Moment eine schwache Stimme fast unhörbar hinter mir flüstern.
„Albin….” Ich wirbele herum und sehe die vor Schmerz weit geöffneten Augen meiner Mutter auf mich gerichtet. Da Vater fast wie schützend quer über ihrem Rücken liegt, war während der ersten Untersuchung nicht erkennbar, dass es größtenteils sein Blut war, das über sie hinweggeflossen ist. Meiner Eltern Blut, das sich mit dem leichten Sprühregen des frühen Morgens vermischte und teilweise im Boden versickerte. Dies hat so nicht nur mich, sondern vor allem auch die Söldner getäuscht und sie vor dem endgültig tödlichen Schwertstreich bewahrt.
„Mutter!” Ich stürze zu ihr hin, hebe behutsam Vaters leblosen Körper hoch und trage ihn neben Landogar, um Beiden jetzt die totenstarren, blicklosen Augen zu schließen.
Zwei warme Wassertropfen fallen auf meinen rechten Handrücken. Erst jetzt wird mir bewusst, dass mein Gesicht tränennass ist. Ich atme einige Male tief durch, trockne es mit dem Hemdsärmel, wende mich dann meiner Mutter zu und beuge mich über sie. Vorsichtig drehe ich sie auf den Rücken, währenddem sie schmerzvoll aufstöhnt, versuche behutsam, ihrem Körper eine bequemere Lage zu geben. Sie hat eine dick blutverkrustete, große Platzwunde am Hinterkopf und ihr linker Arm scheint gebrochen zu sein, denn er lag bisher in einer unnatürlichen Haltung unter ihrem Körper.
„Wo ist Edda?“ frage ich sie mit gepresster Stimme, indem ich weiterhin ihre Wunden untersuche.
Mühsam kommen ihr die Worte über die Lippen. „Ich habe noch sehen können, wie ein älterer römischer Legionär sie mit der flachen Seite seines Schwertes bewusstlos schlug, dann auf sein Pferd zerrte und mit ihr davon ritt. Ich konnte ihr nicht helfen, konnte nicht aufstehen, denn dein Vater lag doch erschlagen auf mir”, flüstert sie verzweifelt weinend und schließt erschöpft die Augen.
Beruhigend streichele ich ihren Arm, „Mutter, mach dir keine Vorwürfe, du hättest gegen die Legionäre doch nicht das Geringste ausrichten können. Sie hätten nur bemerkt, dass noch Leben in dir ist und dich daraufhin nur ebenfalls endgültig erschlagen. Dass sie dich verschont haben, liegt nur an Vaters Blut, das über deinen Körper geflossen ist. So hielten sie euch alle für tot und haben dich nicht weiter beachtet.”
Dann, nachdem sie wieder etwas Kraft gesammelt und ihre Fassung zurückgewonnen hat, fährt sie mit immer noch leiser, schwacher Stimme fort. „Es war ein sehr ungewöhnliches Tier, das dieser Römer ritt, ein großer Rapphengst mit weißer, fast kreuzförmiger Blesse auf der Stirn. Als er die bewusstlose Edda zu sich hochzog, sagte er etwas zu seinen Kumpanen, die daraufhin lauthals lachten. Du weißt, ich verstehe die Sprache dieser Menschen nicht. Es war das Letzte, was ich sah, bevor ich selbst wieder ohnmächtig wurde.”
Erschöpft von der Anstrengung des Sprechens schließt sie heftig und unregelmäßig atmend erneut einige Zeit die Augen.
Edda ist die Nichte eines benachbarten Gaugrafen, dessen jüngerer Bruder, ihr Vater, mit seiner Familie im vergangenen Jahr in unser Dorf gezogen ist. Sie ist groß, schlank und mit ihrem schönen, ausdrucksstarken Gesicht, umrahmt von dichtem, langem Haar, das in der Sonne leuchtet wie reifer Weizen eine jener Frauen, an denen die Blicke der Männer lange Zeit bewundernd haften bleiben. Für meine Begriffe manchmal auch eine gewisse Spur zu lange.
Sie als gefügig gemachte Sklavin in der Gewalt eines alten römischen, vor Lust geifernden Legionärs? Ich wage nicht, mir diese Situation auszumalen und wende mich, um das Bild aus meinem Kopf zu verbannen, dringenden Dingen zu.
Zunächst müssen schnellstmöglich die schweren Verletzungen meiner Mutter versorgt werden. In meiner Ausrüstung auf dem Rücken eines der zwei Pferde stecken einige saubere Woll- und Leinentücher, die ich als Verband benutzten kann.
Zwei von ihnen tauche ich in einem nahen Bach in das klare Wasser und säubere damit zuerst ihre Wunden, die sich nach einer eingehenderen Untersuchung als nicht lebensbedrohend herausstellen. Da der Schädelknochen scheinbar nicht gebrochen ist, wird sie mit einer sicher sehr starken Kopfprellung davon gekommen sein.
Problematisch könnte aber noch der hohe Blutverlust werden, den sie durch die weit klaffende Verletzung erlitten hat. Nachdem ich die blutbesudelten Tücher mehrmals ausgewaschen habe, wische ich ihr damit auch Vaters Blut vom Körper.
„Albin, ich habe Durst, gib mir bitte etwas zu Trinken.” Der leere Ledersack ist am Bach schnell gefüllt. Als er ihre trockenen, aufgesprungenen Lippen berührt, trinkt sie mit langen, durstigen Zügen.
Während ich meine Arbeit beende, berichtet sie mir unterdessen stockend in kurzen, abgehackten Sätzen von dem Überfall, der bis in die Morgendämmerung hinein erfolgte.
„Der Legionär hatte eine rote Narbe über dem linken Auge, die aussah wie ein gestreckter Finger”, sind ihre letzten Worte, bevor sie erneut das Bewusstsein verliert.
Somit bietet sich mir nun die Gelegenheit, ihre Unterarmknochen richten und schienen zu können. Aus einer am Bach stehenden Weide schneide ich dazu zwei schmale Rindenstücke und reinige sie, nehme aus meiner Tasche einige getrocknete und von mir auf meinen Reisen ständig mitgeführte Kräuter mit entzündungshemmender Wirkung, zerstampfe sie mit etwas Wasser zu einem Brei und bestreiche damit die Wunde. Die Rindenschalen werden anschließend mit einem in lange Bahnen gerissenen Tuch direkt an der Bruchstelle fixiert, während ein weiterer zu einer Schlinge geformter Stoffstreifen, um ihren Hals gelegt, den Arm in eine angewinkelte, stabile Lage bringt. So ist sie erst einmal provisorisch versorgt. Die Blutung aus der weit klaffenden Kopfwunde, deren Ränder ich mit einer an einem spitzen Fischknochen befestigten Tiersehne zusammenzog und vernähte, ist gestillt, ebenfalls mit dem Kräuterbrei behandelt und verbunden. Nun muss sie nur erst wieder zu sich kommen, dann sehen wir weiter.
Zwischenzeitlich untersuche ich Vaters und Landogars Körper.
Beide haben sie zahlreiche Schwerthiebe und -stiche und zum Schluss jeweils einen schweren tödlichen Schlag gegen den Kopf erhalten.
Verbittert und voller Zorn hebe ich ein provisorisches Grab aus, das groß genug ist, um beide aufzunehmen und sie somit vor den Zähnen der Waldtiere zu schützen. Später werden wir sie würdig bestatten müssen, damit sie von den Walküren vom Schlachtfeld zu Odin nach Walhall geführt werden können.
Mutter, die wieder zu Bewusstsein kam, ihre Augen aufschlug und mir wortlos mit tränenüberströmtem Gesicht bei meiner traurigen Arbeit zusah, versucht nun, sich mit Hilfe des gesunden Armes aufzurichten, lässt sich dann aber doch wieder auf den Waldboden sinken, als ihr schwarz vor Augen zu werden droht.
Wie soll ich sie denn in diesem Zustand transportieren, und vor allem wohin? Weiß ich denn, ob unser Dorf noch besteht, ob es nicht schon längst eingeäschert und dem Erdboden gleichgemacht wurde?
Alles Fragen, auf die ich im Moment noch keine Antwort weiß. Und wieder überkommt mich kalte Wut. Was erlauben sich diese Verbrecher und Mörder, wer oder was gibt ihnen das Recht, in unser Land, unser Leben einzufallen, um mordend und plündernd unsere Dörfer, unsere Ernten zu verwüsten!
Und wieder muss ich mich zwingen, klaren Kopf zu bewahren. Aber ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, ich werde noch die Gelegenheit suchen und auch finden, meinen Zorn die spüren zu lassen, die für diese Taten verantwortlich sind.
Und wenn ich dann dem Mörder Vaters und Landogars, dem Entführer meines Weibes und auch dessen Auftraggeber gegenüberstehen sollte, wird es um ihn geschehen sein.
Etwas ruhiger überdenke ich die Tatsache, dass der Legionär ein wertvolles Pferd reitet. Dies deutet darauf hin, dass er den Rang eines Offiziers, vielleicht den eines Centurio bekleidet. Dies sind erste Anhaltspunkte, die mich später vielleicht in die Lage versetzen werden, ihn ausfindig machen und zur Rechenschaft ziehen zu können.
Vor allem aber überlasse ich ihm nicht tatenlos mein Weib! Ich werde meine ganze Kraft darin setzen, sie aus seinen mit meiner Familie Blut besudelten Händen zu befreien! -
Ich knie neben meiner immer noch am Boden liegenden Mutter.
„Soll ich dich auf das Pferd tragen? Wir müssen heim reiten, denn den Wagen habe ich in Castra Vetera stehen lassen. Wenn unsere Häuser noch existieren sollten, wird Gawein dich gesund pflegen.”
Gawein ist der Heilkundige des Dorfes und eingeweiht in die tiefsten Geheimnisse der Natur. Wenn es jemand schaffen sollte, einem Kranken wieder auf die Beine zu helfen, dann er.
„Hilf mir nur auf, Albin, Wenn ich erst einmal stehe, schaffe ich es schon.“
Zweifelnd blicke ich sie an. Aber da ich ihren eisernen Willen kenne, weiß ich, dass sie nichts von ihrem Vorhaben abbringen kann. Deshalb versuche ich es auch nicht erst, sondern greife ihr unter die Arme und ziehe sie behutsam hoch.
Sie hat erkennbar große Schmerzen, beißt aber die Zähne zusammen und quält sich mühsam auf die Beine.
Offenbar hat sie außer dem gebrochenen Arm, der großen Platzwunde am Hinterkopf und des daraus resultierenden schweren Traumas keine weiteren Verwundungen erlitten. Vater hat ihr in einer letzten Tat mit seinem tödlich verwundeten Körper das Leben gerettet.
„Schaffst du es, dich mit dem gesunden Arm an der Mähne des Pferdes festzuhalten, wenn ich dich auf seinen Rücken setze?” Wieder ein besorgter Blick von mir, aber mit einem kurzen, behutsamen Kopfnicken macht sie mir ihre Bereitschaft deutlich und setzt schon, schwer auf meinen Arm gestützt, einen Fuß vorsichtig vor den anderen.
Langsam gehen wir so zu einem dicken umgestürzten Baum, auf den ich sie sich setzen lasse und an einen starken, emporragenden Ast lehne. Danach führe ich von der anderen Seite das ruhigere der zwei Pferde heran. Oben auf dem Stamm stehend ziehe ich sie nun vorsichtig zu mir herauf und versuche, sie einigermaßen bequem auf dem Pferderücken unterzubringen. Vermutlich wird sie sich hier nicht sehr lange aus eigener Kraft aufrecht halten können, deshalb ist sie Augenblicke später durch einige Stangen und ein langes Seil aus meinem Gepäck so auf dem Tier gesichert, dass ein Sturz nicht mehr möglich ist.
In diesem Moment erreicht Odoaker mit den wenigen überlebenden Flüchtlingen, die er ihrer Schockstarre entrissen und aus dem Tal hierher zurückgeführt hat, den Ort des Überfalls und sucht gemeinsam mit ihnen das breit gestreute Feld des Massakers nach weiteren Verletzten ab.
Er sieht mich und steht kurz darauf neben uns.
„Was ist geschehen, Albin? Deine Mutter lebt, was ist mit den anderen Mitgliedern deiner Familie?“
Mit knappen Worten berichte ich, was meine Mutter mir bisher sagen konnte.
„Der Tod deines Vaters und Bruders tut mir Leid. Auch ich habe meinen Bruder verloren. Und dass dein Weib entführt wurde, ist schlimm. Was wirst du jetzt unternehmen?”
„Ich werde diesen Mörder so lange jagen, bis ich ihn vor mir habe. Und dann werden ihm selbst seine Götter nicht mehr helfen können! Ich werde Edda, das schwöre ich, aus seiner Gewalt befreien!”
„Gerne würde ich dich dabei begleiten. Aber ich muss erst sehen, was aus meinem Dorf geworden ist.”
Nach kurzer Zeit verabschiede ich mich von ihm, besteige mein Pferd, nehme die Zügel des Zweiten, auf dem meine Mutter mehr liegt als sitzt, in die Hand und führe es, jede unnötige Erschütterung vermeidend, langsam auf den Weg in die Heimat.
Nun erst wird mir schaudernd vollends bewusst, dass es diese für uns nicht mehr geben wird, wenn die römischen Horden unser Dorf entdeckt, zerstört und auch die Zurückgebliebenen getötet haben sollten.
An die vier Reittiere, die Edda, Landogar und meine Eltern für ihre Anreise benutzten, denke ich im Moment nicht. Brauche es aber auch nicht, denn da sie vermutlich von den Legionären als Beute mitgenommen wurden, sind sie auf jeden Fall für uns verloren. Vorerst.
Ich sehe meine Mutter auf dem Rücken des Pferdes zusammensinken und reite direkt neben sie, um sie zu stützen. Es wird ein sicherlich langer, sehr beschwerlicher, mühsamer Ritt sein werden, der nun vor uns liegt.
Zwischen den einzelnen Ohnmachtsphasen berichtet sie immer wieder in kurzen, abgehackten Sätzen von den Vorfällen der vergangenen Nacht.
Erst sehr spät hätten sich die Feiernden auf ihre Ruhelager begeben, nachdem einige Becher Wodelsbier geleert worden waren.
In tiefem Schlaf liegend sind sie dann vor dem Morgengrauen von den Legionären des Germanicus überfallen und, ohne auch nur die geringste Möglichkeit zur Gegenwehr gehabt zu haben, unter lautem Gejohle und Geschrei erschlagen worden. Nur wenige haben sich, zumeist nur sehr mangelhaft bekleidet und bewaffnet, in die Wälder flüchten können, wurden aber auch dorthin von den Söldnern verfolgt und erbarmungslos abgeschlachtet.
Der Angriff hat sich also genau so zugetragen, wie die Spuren auf dem Festplatz es Odoaker und mich vermuten ließen.
Wir passieren auf unserem Ritt die verkohlten und noch rauchenden, teilweise sogar noch brennenden Reste vieler zerstörter Siedlungen.
Vor jedem Dorf legen wir eine Pause ein. Am Rande des Ersten, das wir erreichten, bettete ich Mutter noch abseits des Weges in hohes Gras, unsichtbar für eventuelle römische Nachzügler oder Versorgungstrupps.
Ihr Pferd versteckte ich im dichten Unterholz des Waldes und ritt mit gezogenem Schwert zwischen die noch schwelenden Trümmer der Siedlungen.
Da dies aber auf Dauer zu umständlich war, zuviel Zeit und Anstrengung kostete, reiten wir beim Anblick der folgenden schon von weitem zu erkennenden Rauchfahnen offen in die zerstörten und verlassenen Dörfer ein.
In nicht einem der Orte finden sich weitere Leichen. Deshalb ist anzunehmen, dass der Großteil der Einwohner die Feier in den Heiligen Hainen besucht hat, die wenigen Zurückgebliebenen dann von einzelnen Flüchtenden gewarnt wurden und sich somit in die Wälder haben retten können.
Da wir so auch recht langsam vorankommen, besteht sicher nicht die Gefahr, dass wir auf die Reihen der Legionäre stoßen werden, denn ihre Geschwindigkeit, mit der sie durch unser Land ziehen, dürfte kaum langsamer als unsere eigene sein.
Unser Heimatort liegt etwas abseits der allgemeinen Reiserouten zwischen zwei Ausläufern eines kleinen Höhenzuges. Deshalb hoffe ich inständig, dass es wie im vergangenen Jahr von den römischen Horden nicht entdeckt und somit abermals von der Zerstörungswut der römischen Horden verschont bleiben wird.
Dritter und Vierter Tag
Erst am späten Nachmittag des folgenden Tages erreichen wir die Ebene vor dem Zugang zu unserem Tal. Hier erkenne ich voller Erleichterung anhand in diesem Bereich nicht vorhandener Fährten, die die Römer sonst auf ihrem in breiter Front vorgetragenen Vormarsch bisher überdeutlich hinterließen, dass unser Dorf vermutlich wieder einmal Glück im Unglück hatte.
Die in diesem Gebiet operierenden Legionen passierten die Hügelkette nördlich, ließen das Tal und somit auch unser Dorf völlig unbeachtet, wenn es nicht doch noch die südlicher agierende Legion aufgespürt haben sollte. Aber dies ist aufgrund der Geländebeschaffenheit eher unwahrscheinlich.
Dann, eine Meile weiter, erkenne ich erleichtert die im Schutze eines Waldausläufers stehenden unversehrt gebliebenen Häuser der Siedlung.
„Mutter, wir sind zu Hause. Die Römer sind an unserem Tal vorbei gezogen und haben das Dorf ein weiteres Mal nicht entdeckt.”
Langsam erwacht sie aus ihrer Benommenheit und blickt verständnislos um sich.
Ich wiederhole meine Worte und nur allmählich begreift sie, dass wir keine weiteren Toten beklagen müssen.
Ihre eigene Mutter und meine zwei jüngeren Geschwister, die alle im Dorf zurück geblieben sind, entgingen dem sicheren Tode, der sie ereilt hätte, wären sie von den Römern aufgespürt worden. Ebenso zogen Eddas Eltern und ihre jüngere Schwester es in diesem Jahr vor, nicht an dem Fest teilzunehmen.
Wir reiten einen kleinen Umweg, der uns zuerst in den Ort führt. Als wir die ersten Häuser passieren, fällt mir die Totenstille auf. Niemand kommt uns entgegengelaufen, keine spielenden Kinder auf den Wegen zwischen den Wohnstätten, alles ist still und leer.
Am Ende des Bogens stehen wir vor unserem etwas abseits des Dorfes gelegenen Haus. Hier löse ich die Stricke, mit denen meine Mutter gesichert ist.
Langsam und behutsam lasse ich sie nun, da sie wiederum nicht bei Bewusstsein ist, vom Rücken des Tieres gleiten und trage sie durch das nicht verriegelte Tor in das Vorhaus.
Auch hier ist niemand zu sehen. Nachdem ich sie sicher und bequem im Schlafraum der Eltern auf ihr Lager gebettet und noch einmal nach ihren Wunden gesehen habe, werden die Pferde in den hinteren Teil geführt, in dem auch in Friedenszeiten die Tiere untergebracht sind.
Die Ställe sind leer. Wie bei einem bevorstehenden Angriff üblich wurden sie vermutlich in ein Nebental geführt, um den Angreifern nicht in die Hände zu fallen. Außerdem fehlt der zweite Karren, der sicherlich mit unserem Hab und Gut beladen von der jüngsten Stute zur Schutzburg gezogen wurde. Bestätigt wird meine Vermutung, als ich feststelle, dass alle wertvollen Gegenstände verschwunden sind. Unter anderem auch das von mir erbeutete Feldzeichen der römischen XVIII Legion aus dem Großen Krieg.
Sie werden so, der Gefahr des Einfalles der Legionäre vorbeugend, sicherlich in dem nahe gelegenen Wald den Durchzug des römischen Heeres abwarten und erst wieder zurück kommen, wenn die Gefahr vorüber ist.
Etwas abseits, aber nicht weit von unserer Siedlung entfernt, an einer Stelle, an der uns sicher niemand vermuten wird, wenn das Dorf angegriffen werden sollte, haben wir noch vor dem vergangenen Winter, einige Tage nach der letzten römischen Invasion, eine kleine Festung errichtet.
Der Beginn des Weges zu dieser Stelle führt über eine lange, ebene Felsplatte, auf der keine Räderspuren erkennbar sind, wenn wir das Dorf vor einem Angriff mit den schwer beladenen Karren verlassen müssen. Durch den angrenzenden Wald erreichbar ist eine versteckt gelegene Lichtung, auf die wir um eine stark sprudelnde Wasserquelle herum einen siebzig Schritt durchmessenden Ring aus fünfunddreißig Fuß hohen, Rinde an Rinde tief in den Boden gegrabenen, anschließend miteinander verbundenen und von innen schräg abstützenden Baumstämmen bauten, der uns bei drohender Gefahr Unterschlupf, ausreichend Wasser und Schutz gewähren soll.
Als ich den Rand dieser Lichtung erreiche, höre ich im Hintergrund das Wiehern einiger Pferde und die Stimmen zweier sich streitender Kinder zu mir herüberschallen.
Da ich auch bereits durch das Guckloch hindurch von dem Wachtposten ausgemacht worden bin, öffnet sich das Tor und es treten mir die entgegen, die zu ihrem Glück noch nicht oder nicht mehr an unserem Fest teilnehmen konnten oder wollten und somit im Dorf geblieben sind.
Mein jüngster Bruder Gerleif kommt auf mich zugelaufen und bestürmt mich schon von weitem mit Fragen nach der Familie.
Bereits meinem Gesicht muss er deutlich angesehen haben, dass etwas Fürchterliches passiert ist, denn er wird immer langsamer und sieht mich mit weit aufgerissenen Augen stumm fragend an.
„Vater und Landogar lagen erschlagen im Heiligen Hain und sind bereits begraben. Mutter habe ich schwer verwundet mit in das Dorf gebracht und Edda ist von einem der Söldner gefangen genommen und zu seiner Sklavin gemacht worden.”
Mit dem letzten Wort ist mir bewusst, dass ich es ihm vorsichtiger hätte beibringen müssen, denn er steht wie erstarrt vor mir und bringt vor Schreck keinen weiteren Ton heraus.
Im gleichen Moment erreichen uns Großmutter und Freia, unsere Schwester, die am Fest hätte teilnehmen können. Aber aus irgendeinem Grund, den sie mir nicht nennen wollte, ist sie im Dorf geblieben, was ihr im Endeffekt das Leben, zumindest aber die Freiheit rettete.
Sie beide haben meine Worte ebenso vernommen und kümmern sich augenblicklich um Gerleif. Großmutter zieht ihn tröstend zu sich heran, und hier erst löst sich langsam sein Schock.
Alle Drei stehen weinend vor mir, sich voller Trauer umarmend und jetzt gegenseitig Trost spendend.
Bald darauf sind wir umringt von den anderen Dorfbewohnern, die mich mit Fragen nach dem Verbleib der eigenen Angehörigen bestürmen.
Eddas Eltern stehen plötzlich vor mir. Als ich ihnen mitteile, dass mein Weib, ihre älteste Tochter, in die Hände eines Römers gefallen ist, verbirgt Gisa ihr Gesicht an der Brust ihres Mannes und bricht in Tränen aus.
Von den im Kreis um mich herum stehenden Dorfbewohnern wird mir berichtet, dass drei Jungen und zwei Mädchen, die zum ersten Mal das Fest besuchten, sich haben retten können und bisher als Einzige unbeschadet zurückgekehrt sind. Sie konnten allerdings nur sehr wenig darüber aussagen, was auf dem Festplatz nun genau geschehen ist.
Augenblicklich wurden nach ihrem Bericht die wertvolleren Gegenstände auf Karren gepackt und die kleine Festung bezogen.
Zwei dieser Jungen wurden als Späher zur Beobachtung zum Anfang des Tales geschickt und erreichten die Lichtung erst kurz vor mir wieder, um von dem erfolgten Durchzug der Eindringlinge nach Osten zu berichten.
Wir sind den römischen Truppen auf unserem Weg also doch fast gefährlich nahe gekommen.
Die Fünf stehen nun vor mir und erzählen aufgelöst weinend mit schluchzenden Stimmen, wie sie das Massaker in den Heiligen Hainen überleben konnten.
Von ihren Eltern hatten sie die Erlaubnis erhalten, gemeinsam etwas weiter im Wald, getrennt von den Erwachsenen, übernachten zu dürfen. So wurden sie noch vor Morgengrauen durch lautes Schreien und vereinzeltes Waffenklirren geweckt. Außerhalb des um den Festplatz gezogenen Angriffsrings der Römer liegend mussten sie dann im Schein der Lagerfeuer und anschließend der brennenden Zelte ohnmächtig mit ansehen, wie die römischen Horden über die teilweise noch tief Schlafenden herfielen und sie gnadenlos erschlugen.
Sie selbst konnten von den Angreifern nicht entdeckt werden. Als sie merkten, dass sie ihr Leben nur noch durch schnelle Flucht retten konnten, haben sie sich vorsichtig davongeschlichen und, die Bewohner der auf dem Rückweg liegenden Orte warnend, völlig erschöpft, aber wohlbehalten das Heimatdorf erreicht.
Während ihres Berichtes werden sie von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt, die sie allmählich erst wieder unter Kontrolle bekommen. Vermutlich werden sie noch lange Zeit benötigen, um ihr Trauma überwinden zu können, das von diesem schrecklichen, unglückseligen Ereignis ausgelöst wurde.
Da ich meine Mutter nicht länger unbeaufsichtigt lassen will, werden die voll beladenen Karren geholt und gemeinsam gehen wir zum Dorf zurück, das noch ebenso friedlich daliegt, wie es kurz vorher von mir verlassen wurde.
Ein Ort der scheinbar sicheren Ruhe und Zufluchtstätte in einer zurzeit mordgierigen, gnadenlosen Umwelt.
Gawein, der Heilkundige unseres Dorfes, stellt nach der Untersuchung der Wunden meiner Mutter mit zufriedenem Kopfnicken fest, dass die Armknochen gut gegeneinander gesetzt sind und ich die genau richtige Pflanzenmixtur zur Entzündungshemmung und Heilung der Wunden und Brüche benutzt habe.
Die zusammengenähte Wunde an ihrem Hinterkopf ist wieder neu verkrustet und sieht aus, als würde sie innerhalb der nächsten Tage problemlos wieder zusammenwachsen. Auch von dem durch den Schlag verursachten Schädeltrauma sollte bald nichts mehr zu spüren sein.
Da meine Mutter nun in guten Händen ist, hält mich nichts mehr im Dorf. Obwohl ich Hunger verspüre, beschließe ich, mir nur Wegzehrung für drei Tage einpacken zu lassen und mich sofort wieder von meiner Familie und den Nachbarn zu verabschieden, um den Römern unverzüglich zu folgen. Essen kann ich während des Rittes, verliere so auch keine wertvolle Zeit.
Gerleif spannt unser drittes Pferd aus, das noch immer vor dem Karren steht. Es ist gleichzeitig unser schnellstes Tier und außerdem auch frischer als
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Texte: Copyright: Roland Böhme
Tag der Veröffentlichung: 10.05.2011
ISBN: 978-3-7309-3571-2
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