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Böse Falle

Die Stunde rückt näher, die meiner Identität das Ende des irdischen Daseins bringen wird.

Allerdings ist es beileibe nicht so, dass ich suizidgefährdet, krank oder im Kopf nicht mehr ganz richtig wäre. Nein, bei weitem nicht. Ich bin körperlich kerngesund, geistig - so denke ich - noch auf der Höhe und beabsichtige auch nicht wirklich, selbst ins Grab zu steigen. Jedenfalls nicht in naher Zukunft. Diese besondere Ehre überlasse ich gerne einer anderen Person.

Um das zu bewerkstelligen benötige ich natürlich Hilfe: den hundertprozentigen Einsatz eines Mannes, der zwischenzeitlich zu meinem genauen Ebenbild ‘herangereift’ ist, mein Zwillingsbruder hätte sein können. Außer ihm neben meiner bisher noch nicht in alle Einzelheiten eingeweihten Geliebten insgesamt noch zwei weitere Statisten, die auch schon bereit stehen. Allerdings ohne von ihren speziellen Aufgaben die geringste Ahnung zu haben. Das finale Ereignis, der Auslöser zur endgültigen Durchführung der vorerst nur angedachten, jedoch sich langsam verdichtenden Idee meines vorgetäuschten Todes ereignete sich vor noch nicht allzu langer Zeit. Danach fügten sich viele kleine Puzzlestücke zu einem fast harmonischen und auch im wahrsten Sinne des Wortes todsicheren Plan zusammen. Ich bin mir sicher, wenn unvorhersehbare Zwischenfälle ausbleiben sollten, wird er einfach keine Chance haben, nicht gelingen zu können.

 

“Bianca, notierst Du für mich bitte einmal die Telefonnummer? Ich habe im Moment nichts greifbar”, rufe ich meiner im Nebenraum sitzenden Geschäftspartnerin und Nochlebensgefährtin durch die geöffnete Tür zu. “Hast Du wieder einmal nichts Schreibbares an Deinem Arbeitsplatz? Okay, los!” Ihr Ton ist gereizt und ansatzweise leicht aggressiv. Aber das dürfte sich legen und in stummes Entsetzen übergehen. Und zwar dann, wenn sie erkennen wird, wozu ich diese Notiz benötige.

“Martin Falkon, Telefon 5980022. Hast Du?” “Ja, hab’ ich,” erwidert sie ungehalten. Ich lege den Telefonhörer auf, aus dem mir bis zu diesem Zeitpunkt die Wetteraussichten für den morgigen Tag genannt wurden. Sie kommt mit einem Schreibblock und Kugelschreiber in der Hand zu meinem Tisch.

“Hier. Behandle mich in Zukunft nicht so, als wäre ich Deine Sekretärin!” Sie macht auf dem Absatz kehrt und rauscht wütend aus meinem Büro. Während ich ihr hinterher blicke, stelle ich fest, dass sie immer noch gut aussieht. Eigentlich schade, sie im Frauengefängnis versauern zu lassen. Vor meinem geistigen Auge sehe ich sie in der für diese Institute typischen Frauenkleidung. Natürlich hellgrau-schwarz quergestreift mit einer Nummer auf dem Rücken. Ähnlich denen der wieder einmal mehr in die Bredouille geratenen Panzerknacker bei Donald Duck.

Zur Erklärung: Unser Verhältnis ist seit kurzer Zeit etwas mehr als angespannt. Genauer gesagt, seitdem sie vor drei Wochen herausgefunden hat, dass ich ihr auf die Schliche gekommen bin. Eine von mir nicht unterzeichnete und so wieder an sie zurückgegebene Zahlungsanweisung, die sie mir einmal mehr unterschieben wollte, ließ sie nervös werden. Vor nun etwas mehr als drei Monaten stellte ich große Unregelmäßigkeiten in den Kontobewegungen unserer gemeinsam geführten Firma fest. Meine Partnerin ist für die Finanzen zuständig und ich unterschrieb Unterlagen und Zahlungsanweisungen, die sie mir vorlegte, stets gutgläubig und ohne exakte Überprüfung. Deshalb sieht es nun so aus, als sei ich der alleinige Verursacher ihrer diversen finanziellen Manipulationen. Ich habe nicht das Geringste in der Hand, um bei einer Aufdeckung der Betrügereien meine Unschuld belegen zu können.

Ich ließ mir in der Folgezeit nichts anmerken, sondern suchte nach eindeutigen Beweisen, die mich entlasten konnten. Aber leider ohne Erfolg. Sie hat alles so geschickt durchdacht, dass jeder auch noch so unerfahrene Staatsanwalt mich anhand der prüfbaren Unterlagen jahrelang hinter Gitter bringen könnte. Allerdings kontrollierte und dokumentierte ich seitdem alle Vorgänge, die mir von ihr zur Unterschrift vorgelegt wurden. Ebenso fertigte ich eine Aufstellung ihrer von mir bisher entdeckten Betrügereien an und hinterlegte diese Gesamtliste in einem verschlossenen Umschlag bei meinem Rechtsanwalt. Natürlich mit dem hintersinnigen Vermerk, dass sie nur nach meinem Tod offengelegt werden darf. Warum hintersinnig? Nun, dazu komme ich noch.

Leider ist sie vorsichtig geworden und hat mich bis zum heutigen Tag nichts Außergewöhnliches mehr unterschreiben lassen. In der Folgezeit intensivierte ich meine Bemühungen um Tina, Biancas drei Jahre jüngerer Schwester. Ich setze also Beziehungsbetrug gegen wirtschaftlichen Betrug und schaffe somit vorläufig eine fast ausgleichende Gerechtigkeit.

Kurz nach dieser Erkenntnis, von meiner Partnerin und Lebensgefährtin geschäftlich hintergangen zu werden, ließ ich einen Versicherungsmakler kommen. Bei ihm unterzeichneten Bianca und ich einen auf gegenseitige Absicherung vereinbarten Lebensversicherungsvertrag in einer Höhe von jeweils zwei Millionen Euro. Mein Vertrag erhielt im Bezugsrecht allerdings einen besonderen Vermerk. Er besagt, dass im Falle meines vorzeitigen Ablebens Tina die gesamte Versicherungssumme erhält, wenn sich herausstellen sollte, dass Bianca für meinen Tod verantwortlich ist. Ich konnte ihr diesen Passus als kleinen Gag schmackhaft machen.

Sie unterzeichnete den Vertrag leicht lächelnd in dem Bewusstsein, mich niemals umbringen zu wollen. Ich werde sie in diesem Punkt, vor allem aber auch die Polizei, eines Besseren belehren müssen.

Mein Verhältnis zu Tina hatte sich da bereits so weit entwickelt, dass unsere gemeinsamen Treffen und Gespräche hauptsächlich in ihrem Schlafzimmer stattfanden.

Bianca, so denke ich, hat bis heute nicht die geringste Ahnung von meiner intimen Beziehung, die ich zu ihrer Schwester pflege.

Lange suchte ich nach einer Möglichkeit, mein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Bisher waren sämtliche Ideen nicht durchführbar oder zu unsicher. Dann fand ich einen überaus geeigneten Weg, der mir durchführbar erschien, als ich eines nachmittags vor acht Wochen meinem Double auf einer Bank im Stadtpark begegnete.

Zugegeben, er hätte zwar dem Gesicht nach mein Zwillingsbruder sein können, besaß in etwa die gleiche Stimmlage wie ich und auch meine Körpergröße und Statur, nur bei dem Gewicht bestand noch ein gravierender Unterschied, den ich aber mit der Zeit und gutem Essen auszugleichen gedachte. Ich trug noch einen dichten Vollbart, sodass er selbst nicht auf unsere ungeheuer verblüffende Ähnlichkeit aufmerksam wurde. Er wirkte abgerissen, krank und orientierungslos. Wir kamen damals ins Gespräch und ich erfuhr seine Lebensgeschichte. Wie er mir wortreich und eindrucksvoll schilderte, verloren bei einem Verkehrsunfall seine Frau und ihre gemeinsame Tochter ihr Leben, er danach seinen Lebensmut und nach langer Zeit, obwohl seine Arbeitskollegen versuchten, ihm immer wieder auf die Beine zu helfen, am Ende auch seinen Job.

Leise und resigniert erzählte er mir, dass er seit Mitte der vergangenen Woche an jedem Vormittag und manchmal auch bis kurz vor der Dämmerung, so wie an jenem Tag, auf dieser Bank sitze. Während dieser Zeit zerbricht er sich den Kopf über eine Möglichkeit, wie er seinem Leben schnell und schmerzlos ein Ende setzen könnte.

Mit einigen beiläufig gestellten Fragen erfuhr ich von ihm, dass er bisher mit dem Gesetz noch nie in Konflikt geraten ist und somit seine Daten erkennungsdienstlich noch nicht gespeichert wurden.

Es gab für ihn noch einen weiteren Grund, um den vorzeitigen Tod zu suchen. Er bestand darin, dass er krank und der Meinung war, keine Möglichkeit zu besitzen, als völlig Mittelloser einen Arzt konsultieren und bezahlen zu können. Er war also ein optimaler Kandidat für die Hauptrolle, die ich ihm zu übertragen gedenke.

Zuerst einmal brachte ich ihn in meinem selten benutzten, abseits in den bewaldeten Bergen und rund zehn Kilometer von der Stadt entfernt gelegenen Jagdhaus unter. Dort versorgte ich ihn mit allem, was er brauchte. Verpflegung, Kleidung, Fernseher, Radio, Laptop mit Internetanschluss, Zeitschriften usw., einfach alles. Nur in der Öffentlichkeit sehen lassen durfte er sich nach Abschluss einiger wichtiger vorbereitenden Arbeiten während seiner letzten Tage nicht. Mit einer einzigen Ausnahme. Und dieser eine Auftritt wird nicht nur der Wichtigste, sondern auch der Höhepunkt seines Lebens werden.

Wie sagt man doch so treffend: wenn der Zenit erreicht ist, ist die Zeit gekommen, um sich auf den Weg zum Nadir zu machen. Dieses Arrangement ist für ihn bereits getroffen. Dass ich ihm mein Vorhaben bis zum Schluss verschweigen werde, versteht sich natürlich von selbst.

Er war mit der Abgeschiedenheit seiner Behausung zufrieden, da dies das Beste war, wie er mir versicherte, was ihm seit langem widerfahren sei. Unter einem Vorwand gelang es mir, Einblick in seinen Personalausweis zu nehmen. Meine folgende gründliche Recherche zeigte mir, von ihm in Hinsicht auf eine mögliche kriminelle Vergangenheit nicht angelogen worden zu sein.

Nun war ich mir sicher, in ihm das richtige Werkzeug in Händen zu halten. Ich selbst bin privat krankenversichert, benötigte aber in der bisher kurzen Zeit hier in dieser Stadt noch nie einen Arzt, weshalb meine Daten also auch von keinem ortsansässigen Mediziner registriert wurden. Diesen Umstand ausnutzend schickte ich ihn in einem meinem Kleidungsstil angepassten Anzug, mit meiner Versicherungskarte, einigen Instruktionen und vierzig Euro für die Busfahrkarten in der Tasche erst zu einem Zahnarzt, danach zu einem Allgemeinmediziner, die ihn beide gründlich untersuchten und natürlich auch seine Gebissabdrücke und Röntgenbilder speicherten. Natürlich mit meinem Namen in den jeweiligen Unterlagen.

Als ich sah, dass mit der Zeit sein Gewicht sich dem meinen so allmählich anzunähern schien und sich sein Gesundheitszustand rapide verbesserte, nahm ich den zweiten Teil meines Vorhabens in Angriff.

Nein, dies ist nicht das Märchen von Hänsel und Gretel und ich bin nicht die Hexe, die den Hänsel mästet, um ihn später zu verspeisen. Obwohl, wenn mein Plan aufgehen sollte, das Ergebnis auf fast das Gleiche hinauslaufen wird. Fast fühlte ich mich schon als Wohltäter. Aber dieses Gefühl werde ich nicht ausarten lassen dürfen. Es fehlt noch, dass ich Mitleid mit meinen Opfern verspüre!

Ein weiteres Puzzle meines Planes war, einen Auftragskiller zu finden, was in den einschlägigen Kreisen der Bewohner dieser Stadt nicht besonders schwierig sein dürfte. Dies ist mir in der vergangenen Woche auch gelungen, ohne dass ich persönlich in Erscheinung treten musste. Tina gegenüber erklärte ich erst einmal den Plan so, dass ich vorhabe, auf mich schießen zu lassen, dabei durch eine schusssichere Weste allerdings unverletzt bliebe. Dieses Attentat, das durch eine geschickte Manipulation scheinbar auf Biancas Konto gehen soll, würde ich als kleine Revanche für deren Unterschlagungen ansehen. Später werde ich Tina etwas tiefer in mein eigentliches Vorhaben blicken lassen. Bianca würde verhaftet werden für etwas, was sie nicht getan hat. Für die Geldabzweigungen war sie nun leider nicht zu belangen. Doch ließ ich dieses Vorhaben später fallen, da er für mich im wahrsten Sinne des Wortes ins Auge gehen könnte.

Nach kurzem Zögern war Tina dann auch bereit, dem Entsorgungsfachmann noch vor Biancas Abreise von deren Büroanschluss aus telefonisch den Auftrag zu erteilen, “mich” zu erschießen. “Mich” ist in diesem Fall natürlich mein bartloses Double, das zum Zeitpunkt des Anschlags von mir nicht mehr zu unterscheiden sein wird, da ich mir vorgestern gegen Mittag erst meinen Vollbart abrasiert habe. Kurz darauf ließ ich mich noch im Firmengebäude sehen, sodass meine Mitarbeiter mein neues Äußeres registrieren konnten. Direkt danach ließ ich einige Passfotos mit meinem neuen Aussehen anfertigen. Von denen übergab ich drei Exemplare an Bianca, was ich auf der Rechnung des Fotografen vermerkte.  

Nachlässig verstaute sie die Fotos mit ihren Fingerabdrücken versehen in ihrem Schreibtisch. Den Zettel mit dem Namen und der Telefonnummer des Killers, eines gewissen Martin Falkon, geschrieben in Biancas Handschrift, wird die Polizei an einem versteckten Platz zusammen mit nur noch zwei meiner neuen Fotos in ihrem Schreibtisch finden können. Ebenso wie seine Anschrift in ihrem Computer. Mit ihm habe ich den an Falkon gerichteten Briefumschlag während eines Augenblickes geschrieben, in dem sie ihren geöffneten und passwortgeschützten Computer für einige Zeit unbeaufsichtigt ließ.

Dieser Umschlag enthielt die genauen Informationen zu meiner Person. Zusammen mit dem dritten Foto aus ihrem Schreibtisch und einem Banknotenbündel von 20.000 Euro, deren Herkunft nicht zurückverfolgt werden kann. So erhalten die Behörden sogar noch die Möglichkeit, einen Auftragsmörder aus dem Verkehr zu ziehen.

Dass die Polizei Biancas Schreibtisch und ihre Unterlagen durchsuchen wird, dafür sorge ich mit dem bereits erwähnten Brief, den mein Notar erhalten hat. Natürlich mit dem Auftrag, ihn im Falle meines plötzlichen und unnatürlichen Todes der Ermittlungsbehörde zu übergeben. Hierin schilderte ich ihre geschäftlichen Machenschaften wahrheitsgetreu in allen Einzelheiten. Berichtete weiterhin von ihrer zu dem Zeitpunkt zwei Wochen alten Erkenntnis, dass mir ihre Betrügereien aufgefallen sind und ich aus diesem Grund um mein Leben bange.

Logisch, dass ich die restlichen Passfotos mit der Rechnung des Fotografen über sechs Abbildungen und dem entscheidenden Vermerk wie achtlos in einer Schublade meines Schreibtisches platziere. Die Polizei wird sicher auf sie stoßen.

Ihre Geschäftsreise, die sie sehr kurzfristig plante und gestern antrat, wird ihr bei der ermittelnden Behörde auch kein ausreichendes Alibi verschaffen können. Im Gegenteil. Der Staatsanwalt wird ihr diese Reise als Versuch auslegen, sich ein eben solches verschaffen zu wollen.

Während der Killer nun in Aktion treten und alles seinen geplanten Gang nehmen wird, tauche ich unter. In der Hütte warte ich auf die bei Unfalltod verdoppelte Auszahlung der Lebensversicherung an Tina, die ich dann vorher über die restlichen unbedeutenden Einzelheiten informieren werde. Mit ihr, der Versicherungssumme und der Identität meines Doubles werde ich ein neues Leben beginnen. Dass ich mein privates Vermögen und die Firmenanteile in meinem Testament Tina vermacht habe, versteht sich von selbst. Ausgenommen natürlich einer nicht unbedeutenden Summe, die ich auf einem Schweizer Nummernkonto deponiert habe - für alle Fälle.

 

Die Tatzeit wird heute, Freitag, am dreizehnten Tag des Monats sein werden. Nicht etwa dreizehn Uhr, nein das wäre doch eine sinnbildliche Umkehrung des negativen Vorzeichens. Für siebzehn Uhr werde ich mich mit meinem 'Zwilling' verabreden, aber aus gewissen taktischen Gründen selbst nicht erscheinen. Ich würde den Schützen so nur unnötig verunsichern. Treffpunkt und Tatort ist die bewusste Parkbank, auf der ich Bert, mein Double, kennengelernt habe.

Um ihn nicht auf unsere frappierende Ähnlichkeit aufmerksam zu machen, befinde ich mich mit einem aufgeklebten Bart versehen und in Freizeitkleidung auf dem Weg zum Jagdhaus. Ich bin spät dran, da ich gestern aufgrund eines kleinen nächtlichen Fernsehauftrittes erst am frühen Morgen ins Bett gekommen bin. Und dann musste ich vor meiner Fahrt hierher noch einige gewisse Vorbereitungen in Biancas Büro erledigen.

Aufgrund der Live-Übertragung ist nun jeder, der diese Sendung gesehen hat, informiert über mein neues Aussehen. Auf dem Totenschein dürfte also ohne Zweifel mein Name stehen.

Ich werde Bert mein Auto überlassen und ihn mit den für meinen Plan nötigen Instruktionen versorgen. So wird er, mit Hilfe meines Porsche als Requisit, die Verabredung mit seinem Mörder einhalten können. Während der Auftragskiller seine Arbeit erledigt, werde ich in der Blockhütte auf Tina warten, mit der ich mich dort verabredet habe. Wann sie allerdings kommen wird, haben wir offen gelassen, da die Polizei ihr vermutlich einige Fragen stellen wird, die sich bis in die Nacht hineinziehen könnten.

Der Waldweg, der zu meinem Jagdhaus führt, erscheint auf der rechten Seite der schmalen Landstraße. Ich biege ein und fahre auf dem teilweise mit Schotter belegten Weg bis zum Haus vor. Dabei quere ich ein kleines Rinnsal, in dem ich dieses Mal mit dem Fahrzeug fast steckenbleibe.

Die Tür öffnet sich und Bert erscheint auf der kleinen Terrasse. Seltsam, mit seinem in der letzten Zeit gewachsenen Bart sieht er exakt so aus wie ich bis zum gestrigen Nachmittag. Er betrachtet mich mit einem etwas sonderbaren Blick. Ich trete auf ihn zu und schiebe ihn wieder ins Haus zurück. Ein zufällig vorbeigehender Wanderer braucht uns nicht unbedingt hier zusammen stehen sehen.

“Hallo Christof”, begrüßt er mich. “Was gibt es denn so Dringendes, dass Du Dich heute zu mir herbemühst? Ich habe doch noch alles hier.”

“N’Tag Bert. Ich habe Dir einen Anzug mitgebracht, Du kannst ihn gleich einmal anprobieren und das gute Stück sofort anbehalten, denn ich habe ein Treffen heute für Dich mit einem Mann organisiert, bei dem Du selbst etwas für Deine Zukunft tun kannst. Aber rasieren wirst Du Dich noch müssen, denn ich habe Dich als bartlos avisiert. Du kannst mit meinem Porsche schon einmal vorfahren. Ich werde nachher abgeholt und rufe Dich noch an, um Dir den genauen Treffpunkt und die Uhrzeit zu nennen."

“Was ist denn das für ein Treffen?” fragt er zurückhaltend.

“Du wirst einen Mann kennenlernen, dem es gemeinsam mit der Erledigung eines meiner Anliegen auch gelingen wird, Dein derzeitiges Dilemma zu beenden.”

Ich glaube nicht, dass er die Doppeldeutigkeit dieser Formulierung erfasst hat. Zumal er nicht den geringsten Anlass hat, mir zu misstrauen.

 

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Es macht riesigen Spaß, dieses Auto durch die engen Serpentinen zu jagen. Ich befinde mich mit dem 911er auf der Landstraße, die in die Stadt führt. Das Leben in diesem komfortabel eingerichteten Jagdhaus, in dem ich die letzten drei Monate verbrachte, gefiel mir von Stunde zu Stunde immer besser. Und heute erkannte ich eine Möglichkeit, meinen derzeitigen Aktionsradius auch noch etwas auszudehnen.

Durch den mit einem Internetanschluss versehenen Computer hatte ich schnell herausgefunden, wer mein großzügiger Gönner war. Christof Römer war gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Bianca Borchers Besitzer einer großen Softwarefirma. Somit war er tätig in einer Branche, in der ich selbst bis vor zwei Jahren noch ein Ass war. Doch dann endete meine Karriere durch einige aufgeflogene dubiose Geschäfte, wie der Staatsanwalt bei der Verhandlung sagte. Ich verlor meinen Job und zeitweilig auch meine Freiheit. Welche Aktivitäten ich nach meiner Haftentlassung durchführte, um wieder Boden unter die Füße zu bekommen, darüber schweige ich lieber. Das Einzige, wovor ich bisher zurückschreckte, war Mord.

Als Christof mich auf der Parkbank auflas, war ich am Ende. Auf der Flucht vor der Polizei und den Mitgliedern einiger mafiöser Strukturen. Ohne Geld und der Möglichkeit einer menschenwürdigen Unterkunft. Meinem Retter konnte ich einen bereits vor langer Zeit besorgten falschen Pass vorlegen und damit eine Geschichte auftischen, die ihn für mich einnehmen musste, wenn er nicht absolut hartgesotten war. Dass er mir allerdings nicht nur wie insgeheim erhofft Geld, sondern sogar diese feudale Unterkunft samt Kleidung und Verpflegung zukommen ließ, überstieg meine Erwartungen um ein Vielfaches.

Als ich heute Morgen wieder einmal durch die Internetseiten seiner Firma stöberte, stieß ich auf einen Bericht über seinen am gestrigen Abend erfolgten Fernsehauftritt. Und der bestärkte meine bisherige Vermutung. Deutlich erkannte ich unsere unglaubliche Ähnlichkeit. Sah, dass ich der sein könnte, der da vor der Kamera stand. Er hatte seinen Bart abrasiert und zuerst dachte ich, mich auf dem Bildschirm zu sehen. Er sah mir zum Verwechseln ähnlich. Natürlich denke ich da an mein Aussehen, bevor ich mir diesen Bart wachsen ließ.

Nun, vor meiner Abfahrt musste ich ihn dann doch wieder entfernen, um meinen Plan nicht zu gefährden. In diesem Interview trat er ohne seine Partnerin auf. Ihre Abwesenheit, deren Auftritt ebenfalls angekündigt war, wurde mit einer gestern begonnenen außerplanmäßig und zwei Wochen dauernden Geschäftsreise nach Fernost erklärt.

Da Christof mich gestern Nachmittag per E-Mail von seinem heutigen Erscheinen in dem Jagdhaus informierte, erwartete ich ihn gegen zwölf. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, weswegen er kommen wollte. Proviant für die nächste Woche besaß ich noch. Alles andere war ebenfalls ausreichend vorhanden. Vielleicht wollte er mir nur zeigen, wie er ohne Bart aussieht, dessen Attrappe er sicher in der Hütte vor meinen Augen entfernt hätte!?

Jedenfalls erkannte ich während dieses Fernsehinterviews, dass meine Chancen, seine Stelle einzunehmen und somit mein Leben von Grund auf zu ändern, erheblich gestiegen sind. Mich kennt in diesem Bundesland niemand, somit brauchte ich ihn nur auszuschalten und seine Identität anzunehmen. Nur muss nach der Aktion schnell der Bart wieder her, denn meine Verfolger kennen mich nur bartlos.

Die ersten Tage in seiner Firma könnte ich überstehen, indem ich irgendeine Krankheit vortäuschte. Vielleicht eine Teilamnesie, die meine Unwissenheit in bestimmten laufenden Vorgängen erklären ließe. Ich lächle leicht. Teilamnesie! Irre Idee. Im Grunde genommen bin ich durch meine diversen Arztbesuche, die Christof mir mit seiner Versicherungskarte ermöglichte, eigentlich schon er. Ich brauchte also nur noch den letzten und endgültigen Schritt zu gehen. Und da ich die Anwesenheit seiner Partnerin während der folgenden zwei Wochen nicht fürchten muss, würde ich genügend Zeit haben, mich in meine neue Rolle einzuarbeiten.

Seine private Anschrift entnahm ich einer seiner mitgeführten Visitenkarten. Aus den Medien wusste ich, dass er unverheiratet, aber mit seiner Geschäftspartnerin liiert ist. Was brauchte ich noch? Natürlich die Adresse seines Firmensitzes. Die erfuhr ich anhand einer weiteren Visitenkarte. Alle anderen Informationen im Internet sind allgemein gehalten und waren für mich vorläufig nicht von so großer Wichtigkeit, dass ich sie hätte notieren müssen.

Zwölf Uhr. Pünktlich auf die Minute hörte ich seinen Porsche aufröhren, als er herunterschalten musste, um einen den Waldweg querenden kleinen Wasserlauf zu durchpflügen. Kurz darauf preschte er mit heulendem Motor im ersten Gang hinter dem Brombeerdickicht hervor, das die Sicht auf die letzten Meter des Waldweges versperrt.

Eine lange Bremsspur vor dem Jagdhaus wurde nur durch das ABS seines Porsche verhindert. Sofort erkannte ich: Er trug wieder Bart. Was waren das dann für Bilder, die ich heute im Internet gesehen habe? Eine Konserve? Nein, konnte nicht sein, es war ganz eindeutig ein Ausschnitt aus seinem gestern erfolgten Fernsehinterview. Was ging hier vor sich? Er wird mir also, wie bereits vermutet, eine kleine Überraschung präsentieren.

Trotzdem beschloss ich, erst einmal etwas vorsichtig zu sein. Außerdem trat er in einem Freizeitoutfit an, was für ihn mehr als ungewöhnlich war und zu dem Zeitpunkt meinem ursprünglichen Plan etwas entgegenlief. Aber vielleicht war das auch nicht so gravierend, dachte ich, als ich ihn auf das Haus zukommen sah. Vielleicht ist es sogar von Vorteil, wenn ich mich zuerst in seiner Privatwohnung umsehe und mir die entsprechende Kleidung besorge. Zumindest kann ich dort einige Eindrücke sammeln, die mir bei meinem ersten Auftritt im Betrieb meines Opfers zugute kommen könnten.

Jedoch erledigte sich die Sache mit der Kleidung von selbst. Ich sah, dass er einen eingepackten Anzug in der Hand hielt, den ich, wie er mir wenige Minuten später erklärte, heute während eines von ihm arrangierten Treffens tragen sollte. Wozu? Steht seine Firma etwa vor dem Konkurs und ich war von ihm dazu ausersehen, an seiner Stelle den Sündenbock zu spielen, nachdem er selbst sich mit eventuell veruntreutem Geld abgesetzt hat?

Na ja, diese Fragen interessierten mich in diesem Augenblick eher sekundär, denn der Fernsehbericht zeigte seine Firma in sehr positivem Licht. Es wird einen anderen Grund geben. Später werde ich mir durch das Studium seiner Geschäftsunterlagen darüber schon noch einen genaueren Überblick verschaffen können. Ich verließ den Fensterplatz und ging zur Tür, um sie zu entriegeln, bevor er anklopfen konnte.

Sekunden später ließ ich ihn in das Haus eintreten, dessen Besitzer er etwa eine halbe Stunde später dann aufgrund seines besonderen Zustandes nicht mehr war. Auch eindeutig nicht mehr sein konnte.

Gewissensbisse? Skrupel? Nein! Was weiß ich denn, welche außerordentlich menschenfreundlichen Absichten er mit mir hegte?! Und dass etwas nicht in Ordnung war, bewies mir allein schon sein verkleideter Auftritt.

 

In weniger als fünfzehn Minuten bin ich in der Stadt. Unter Mithilfe des Navigationsgerätes war es ein Kinderspiel, die Adresse meiner neuen Identität zu finden. Mit dem Schlüssel, den der leblose Christof mir widerspruchslos überließ, öffne ich die Tür zu der Villa, dessen großes Tor zur Einfahrt sich mir nach dem Betätigen des infraroten Signalgebers motorgesteuert auftat.

Es ist 12.50 Uhr. Zeit genug, um mir das Haus anzusehen.

Gerade bin ich auf dem Weg zum ersten Stock, da fährt ein weiteres Auto auf den Hof und setzt sich hinter Christofs - nein, meinen Porsche. Es ist ein neuer VW Golf mit dem hiesigen Kennzeichen TB 333. Das kann nur Tina Borchers sein, von der er mir eines abends einmal berichtete. Die Schwester seiner Lebensgefährtin.

Wie ich wenig später am geräuschvollen Öffnen der Haustür feststelle, besitzt sie einen eigenen Schlüssel!

Dann steht sie, eine außergewöhnlich hübsche Blondine, vor mir und gibt mir einen Kuss. Nicht etwa auf die Wange, nein, direkt auf den Mund. “Hallo Schatz, ich hatte nicht vermutet, dass ich Dich hier antreffen werde. Läuft alles nach Plan? Ich habe es sehr eilig, brauche nur etwas aus meiner Kleidertasche, die ich gestern hier abstellte und bin sofort wieder weg. Hast Du alles vorbereitet? Ich dachte, Du wolltest Deinem Double schon früher den Porsche bringen. Bleibt es bei heute Abend?” Das kann ja heiter werden! Da habe ich es also mit gleich zwei Frauen zu tun.

Schnell habe ich mich wieder gefangen und bringe gerade noch rechtzeitig ein “aber ja, es ist alles klar. Wie ausgemacht, heute Abend!” zustande.

“Schön. Besorgst Du den Sekt oder soll ich vorher noch kurz einkaufen fahren?”

“Das erledige ich, mach’ Dir deswegen keine Gedanken.”

“So wie letztes Mal, als wir schon einmal trocken im Jagdhaus saßen und nicht auf unseren ersten gemeinsamen Erfolg anstoßen konnten?” fragt sie schelmisch.

“Nein”, beeile ich mich, sie zu beruhigen, “ich besorge schon das Nötige.”

Sie spricht von "Double", ist also von meiner Existenz informiert. Ich komme immer mehr zu der Überzeugung, dass die Beiden etwas ausheckten, das für mich bestimmt nicht von Vorteil hätte sein können.

Wenig später ist sie zurück und drückt ihren schönen Körper eng an meinen, was ich mir natürlich gerne gefallen lasse.

“Ich freue mich auf heute Abend” flüstert sie mir zu. Schon in der Tür stehend dreht sie sich noch einmal um. “Aber Du weißt, es kann spät werden.”

Sekunden später sitzt sie schon wieder in ihrem Golf und fährt, nachdem sie eine Runde auf dem Kiesweg um das Blumenbeet gedreht hat, mit quietschenden Reifen zurück auf die Straße. Ab sofort freue ich mich ebenso, auch und besonders auf heute Abend. Den ersten Testlauf habe ich also bravourös bestanden.

Nun stehe ich vor dem Eingang des Gebäudes, das seine Firma beherbergt. Ich muss unbedingt mein Denken ändern: es ist nicht mehr sein Betrieb, kann es nicht mehr sein. Ich bin er, und alles, was ihm gehörte, gehört nun mir. Auch die zwei Frauen! Ich werde schon einen Weg finden, dies zu koordinieren. Erst einmal muss ich unbehelligt in mein Büro kommen.

Na sieh mal, es geht doch! Also: mein Porsche, meine Firma - zumindest zu 50 %, mein Haus, mein Büro, meine zwei Frauen! Und nicht zu vergessen mein Jagdhaus, das ich allerdings noch von einigen Überbleibseln der Vergangenheit befreien muss. So liegt Christofs Leiche mit meinem fast perfekt gefälschten Pass in der Hosentasche noch in der kleinen Besenkammer und muss schnellstens im Wald entsorgt werden.

Wie sich doch das Schicksal wenden kann. Es ist noch gar nicht so lange her, da dachte ich noch darüber nach, wie ich wieder auf die Beine kommen könnte. Heute habe ich alles, was ich mir nur wünschen kann. Ich muss es jetzt nur fest in den Griff bekommen.

Den Weg am Pförtner vorbei schaffe ich ohne Schwierigkeiten. Die Chipkarte, die ich neben einigen Kreditkarten in Christofs Brieftasche fand, öffnet mir die Tür zum Fahrstuhl und lässt ihn automatisch in meinem Stockwerk halten. Auch meine Bürotür ist mit ihrer Hilfe kein Problem.

Es ist 15 Minuten nach 14 Uhr. Die nächsten Stunden werde ich brauchen, um mir einen ersten Überblick über die Geschäfte dieser Firma zu verschaffen. Kundennamen, Aufträge, Waren. Eine Flut von Daten wartet auf mich.

-

Nach zweieinhalb Stunden angestrengter Arbeit brauche ich eine kleine Pause.

Eine wie auch immer geartete Schieflage der Firma habe ich nicht feststellen können. Im Gegenteil, der Auftragsbestand übertrifft alle meine Erwartungen.

Was ist es nur, was die Beiden mit mir vorhatten? Ich denke, ich werde heute Abend von Tina durch geschicktes Vorgehen mehr erfahren können.

Der nahe Stadtpark bietet mir die Möglichkeit, mich einige Minuten zu entspannen. Auf meinem alten Platz? Warum nicht. Um diese Zeit, zwanzig Minuten vor siebzehn Uhr, hat Christof oft dort gesessen, wie er mir erzählte.

Nur eine halbe Stunde, danach muss ich noch etwas “lernen” und auch für den heutigen Abend einkaufen. Fünfzehn Minuten später sitze ich auf meiner Bank, die ich bis zu meinem hoffentlich späten Ableben als "mein Wurmloch zu einem besseren Dasein" ansehen werde. Auf dem großen Sprung zu einem neuen und sehr viel besser gestellten Leben.

Der Bewegung in dem dichten Busch etwa einhundert Meter halbrechts neben mir unter einer dicken Eiche schenke ich keinerlei Bedeutung. Warum auch. Es ist alles so still und friedlich in diesem Park. Und bei dem gedämpften Knall, den ich noch für den Bruchteil einer Sekunde wahrnehme, kann es sich doch nur um die Fehlzündung eines Automotors handeln! -

 

Eine Fehlzündung, die sich Sekundenbruchteile später in sein Gehirn brennt.

 

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Impressum

Texte: copyright by Roland Böhme
Tag der Veröffentlichung: 21.07.2009

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