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Es ist Freitag, der 20. Juni, exakt 17 Uhr und 10 Sekunden. Die Testamentseröffnung hat, wie nicht anders zu erwarten, pünktlich begonnen. Doktor Klein, langjähriger Rechtsanwalt und Freund des vor zehn Tagen plötzlich verstorbenen Dr. Harald Berger, ist in der Einhaltung festgelegter Termine äußerst penibel.

Er sitzt, seinem Namen alle Ehre machend, klein und schmächtig hinter seinem riesigen Schreibtisch und schaut über den Rand seiner altmodischen Nickelbrille, die so sehr zu seinem Äußeren passt.

Langsam lässt er seinen Blick über die Schar der Nachkommen des Mannes schweifen, dessen Vermögen hier und heute aufgeteilt werden soll. Sie alle warten gespannt darauf, was die nächsten Minuten bringen werden. Und hoffen, zumindest fünf von ihnen, aus dem Nachlass einen stattlichen Brocken an sich reißen zu können.

Seine finanzielle Hinterlassenschaft ist groß, aber die biologische noch etwas größer, sodass sich neben den legitimen Söhnen Marian und Henrik noch deren Halbgeschwister hier eingefunden haben. Es sind zwei Frauen und drei Männer, von deren Existenz die Beiden bis zum heutigen Tag keine Ahnung hatten.

Wenn nun jeder von ihnen seinen ihm zustehenden Anteil erhalten wird, dürfte es für die aus offensichtlich bescheidenen Verhältnissen stammenden neuen Verwandten der zwei Brüder Berger ein Tor zu einer besseren Welt sein, das allerdings vermutlich nicht so weit aufgesperrt werden wird, dass sich für sie nun Arbeit von selbst verbietet

Ein leichtes Räuspern lenkt die Aufmerksamkeit zu Onkel Albert, wie Marian und Henrik Doktor Klein seit ihrer frühesten Kindheit nennen, obwohl er nie Mitglied der Familie war. Diese Anrede hatte sich damals seit den ersten gesprochenen Worten der Kinder einfach so ergeben und ist bis heute erhalten geblieben.

Seinen jetzt leicht indignierten Blick lässt er ein weiteres Mal über die vor ihm Sitzenden gleiten, nimmt aber bewusst die zwei Berger-Brüder aus dieser Betrachtung heraus und beginnt anschließend, eigentlich mehr zu den Beiden sprechend, mit seinen einleitenden Worten.

Das Testament ist klar und eindeutig, wie alles im Leben des Verstorbenen klar und eindeutig war - bis auf nur unwesentliche Kleinigkeiten wie zum Beispiel die Umstände des Entstehens der fünf Halbgeschwister

Da seine Frau Christiane vor vier Jahren bereits einem Krebsleiden zum Opfer fiel und den gemeinsamen Kindern ein erhebliches Vermögen hinterließ, geht es den Beiden hier nicht so sehr um die weltlichen Güter ihres Vaters. Es sind nur kleine Dinge, die ihnen sehr am Herzen liegen. So ihr Elternhaus und das Haus des Großvaters väterlicherseits, das sie nicht in die Fänge ihrer Neugeschwister wandern sehen möchten. 

Und genau in diesem Sinne ist der letzte Wille des Erblassers auch aufgesetzt, den Doktor Klein nun mit bedächtiger Stimme vorliest. Marian bekommt das Anwesen des Großvaters und Henrik, der Ältere der zwei, das Elternhaus, in dem sie aufgewachsen sind und das der Vater noch bis zu seinem Tod bewohnte. Außerdem erhalten sie auch jeweils zur Hälfte die weiteren Liegenschaften, die dieser sich im Laufe der Zeit angeeignet hatte. Das Barvermögen wird unter allen sieben Geschwistern zu gleichen Teilen aufgeteilt, sodass jeder ab heute einen Anteil von immerhin jeweils einer halben Million Euro sein Eigen nennen darf.

Mit vor Freude glänzenden Gesichtern schicken sich die fünf außerehelichen Brüder und Schwestern an, den Raum zu verlassen. Ohne Gruß, ohne ein weiteres Wort an Marian und Henrik wenden sie sich der Tür zu. Jeder ist mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Mit den Plänen, wie sie den über sie gekommenen Geldsegen bestmöglich verwenden können.

Doktor Klein, der sie bis zum Ausgang begleitet hat, gesellt sich wieder zu den immer noch stumm Dasitzenden und lässt sich, fast erschöpft wirkend, zurück in seinen Schreibtischsessel fallen.

“Ich kann eure Fassungslosigkeit und die Situation verstehen, in der ihr euch nun befinden müsst. Ihr wisst, ich kannte euren Vater seit vielen Jahrzehnten, aber als ich nach seinem Tod die lange Liste seiner unehelichen Kinder einsah, die ich alle zur Testamentseröffnung anzuschreiben hatte und bis heute vor euch verheimlichen musste, bekam ich einen Mordsschrecken. Ich habe ebenso wenig davon gewusst wie Christiane, eure Mutter, bis zu ihrem bedauerlichen Tod.”

Er macht eine kleine Pause, während der er sinnierend mit seinem Brieföffner spielt, der vor ihm auf der Schreibtischplatte liegt, ehe er fortfährt.

“Wie ich weiß, war er sehr oft in geheimen Fragen der nationalen Sicherheit im Ausland unterwegs. Während dieser Zeit wird er die Frauen kennengelernt haben, mit denen er eure Geschwister zeugte.”

Wieder etwas Neues, was die Zwei hier erfahren. Ihr Vater war in geheimen Aufträgen unterwegs?! War er ein Spion, der als Mitglied des Geheimdienstes James Bond Konkurrenz machte?
Während der Zeit, in der sie als Kinder im Haus der Eltern lebten, sahen sie ihren Vater ziemlich selten. Wenn er zwischen zwei seiner Reisen manchmal einige Tage Zeit hatte, ließ er sich bei seiner Familie sehen. Ob seine Frau wirklich etwas von seinen Aufträgen und außerehelichen Verhältnissen wusste oder auch nur ahnte, davon haben die Söhne keinen blassen Schimmer. Darüber sprach sie auch niemals mit ihnen. Ihr Vater erklärte stets, dass er zu irgendwelchen Messen und diversen geschäftlichen Besprechungen unterwegs war. Die Drei nahmen es immer als das Selbstverständlichste der Welt hin. Denn da stets mehr als genügend Geld vorhanden war, mussten die Geschäfte des Vaters sehr erfolgreich gewesen sein.

Als Marian und Henrik Anstalten machen, die Besprechung zu beenden und die Kanzlei zu verlassen, erhebt auch Dr. Klein sich aus seinem Ledersessel, kommt um seinen Schreibtisch herum und hält Henrik am Arm zurück.

“Vor einiger Zeit sagte mir Dein Vater etwas, was ich Dir nach seinem Tod noch mitteilen sollte. Sieh doch einmal in seinem Schreibtisch nach. Er sagte, er hätte darin eine CD versteckt, auf der einige Hinweise sind, die Du Dir unbedingt ansehen müsstest. Ob es allerdings noch Bestand hat und diese CD wirklich existiert, weiß ich nicht. Aber finde es bitte selbst heraus.”


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Der Schreibtisch wirkt penibel aufgeräumt und fast steril, ganz anders also, als das sich das Leben seines Vaters im Nachhinein herausgestellt hat. Unschlüssig steht Henrik Berger nun vor diesem riesigen Eichenholzmöbel, das er zu Lebzeiten seines Erzeugers nicht einmal hat anfassen dürfen. Nun soll er sogar den unglaublichen Frevel begehen, ihn zu öffnen? Und nicht nur das, er soll ihn auch durchsuchen!

Er weiß nicht, wo er beginnen soll. Also geht er systematisch von links oben nach rechts unten vor. Es sind genau acht Schubfächer und zwei kleinere Türen, die Henrik zu öffnen hat. Aber außer diversen Büromaterialien und Papieren, die sich bei genauerer Sicht als unwichtig herausstellen und einer Walther PPK: nichts.

Ist diese "Walther Polizei Pistole Kriminal" nun ein Beweis für eine geheimdienstliche Tätigkeit seines Vaters? Er kann es kaum glauben.

Henrik sucht weiter. Selbst als er die einzelnen Fächer noch einmal herauszieht und die Unterseite des Bodens in Augenschein nimmt: nichts.

Dann erinnert er sich, dass er, damals noch ein Teenie, seinen Vater einmal dabei überraschte, wie dieser eine Stelle unterhalb der Schreibtischplatte berührte und daraufhin ein kleines Geheimfach herausschnellte. Sollte es möglich sein, dass sein Vater sich an jenen Vorfall erinnerte und deshalb, im Bewusstsein, dass sein Sohn dort suchen würde, die besagte CD darin versteckt hat?

Henrik setzt sich also unterhalb der Platte so auf den Boden, dass er einen Druckknopf oder ähnliches dort ausmachen könnte, wenn so etwas vorhanden sein sollte.

Das Stück eines kleinen Metallstabes lugt an der rechten Innenseite hervor und erst, nachdem Henrik ihn in das Holz gedrückt hat, schnellt zum Stuhl hin das geheimnisvolle Fach aus seinem Versteck heraus. Und dies so heftig, dass die wahrhaftig in ihr liegende CD-R fast auf die Steinfliesen befördert worden wäre, wäre sie nicht im letzten Moment noch von ihm aufgefangen worden.

Wie kommt sein Vater an einen Computer-Datenträger? Zeitlebens hatte er ständig seinen Abscheu vor den “modernen Dingern” betont, wie er sie nannte. Deshalb besaß er auch nie einen eigenen Computer. Zumindest nicht hier in seinen Räumen.

Unschlüssig hält Henrik die silberne Scheibe in der Hand. Soll er sie gleich jetzt auf dem uralten Rechner in seinem Zimmer im zweiten Stock öffnen oder erst einmal mit zu sich nach Hause nehmen?

Die Neugier in ihm überwiegt. Vier Treppen höher öffnet er die Tür zu seinem Jugendzimmer, das bis zu Vaters Tod für ihn immer noch bereit stand. Ein Druck auf den Einschaltknopf des Turms - und wirklich, er funktioniert tatsachlich noch.

Nach einem recht langen Hochfahren des Computers erscheint als Hintergrundbild Henriks erste eigene Segeljolle, die er mit achtzehn Jahren von seinen Eltern geschenkt bekam. Damals überraschte ihn sein Vater nach dem bestandenen Abitur plötzlich mit der Wahl zwischen einem neuen Kleinwagen und diesem Boot, auf das der Schüler lange hat sparen wollen. Zu dem Zeitpunkt besaß er noch keine große Verbindung zu besonderen Straßenfahrzeugen. Die kam erst einige Jahre später.

Langsam und behäbig baut sich der Inhalt der in den Schacht geschobenen CD auf. Es erscheinen drei Daten, von denen er die Erste öffnet.

Es ist eine Botschaft seines Vaters an ihn direkt:

‘Mein Sohn, wenn Du diese Zeilen liest, werdet Ihr mich bereits beerdigt haben. Dann wirst Du auch von Deinen Dir bisher von mir verheimlichten Geschwistern wissen, die mir während meiner diversen Aufträge “passiert” sind.
Und genau um diese Aufträge geht es mir in dieser CD. Wenn Du alle Schritte äußerst genau befolgst, wird das Ergebnis Deiner Nachforschungen eine noch immer aktuelle Liste nicht aller, aber vieler in unserem Land tätiger Geheimagenten in fremden Diensten und überaus brisante Informationen mit den entsprechenden und sie untermauernden Belegen von immer noch großer Tragweite sein werden. Was Du anschließend mit Deinem Wissen anstellst, bleibt Dir überlassen. Aber bedenke, solange nur Du diese Unterlagen besitzt, werden sie eine große Gefahr für Dein Leben bedeuten, sollte jemals eine direkt beteiligte Macht von deren Existenz erfahren. Du fragst Dich sicher, warum ich Dir dieses Risiko zumute. Aber Du bist das einzige Mitglied meiner Familie, das sorgsam und zweckdienlich mit diesen Informationen umgehen kann. Nicht ohne Grund habe ich Dir seinerzeit zu Deinem jetzigen Beruf geraten und auch insgeheim dazu verholfen.

Die kleinere zweite Datei enthält Decknamen, Einsatzorte, bürgerliche Namen und Adressen vieler meiner gegnerischen Kollegen, die dritte Datei sehr sensible Angaben, großteils auch über Hintergründe, die zu diversen kleineren und größeren zwischenstaatlichen, wissen- und wirtschaftlichen Auseinandersetzungen geführt haben. Oftmals waren es nur Lappalien, unbedeutende Kleinigkeiten, die unsere bedeutenden Staatsmänner und -frauen unter sich ausfochten, die aber Tausende, in einem besonders widerwärtigen Fall sogar Millionen von Menschenleben forderten.

Ich überlasse  Dir die Entscheidung, ob und wie Du sie der Öffentlichkeit zugänglich machst. Ich selbst hatte nicht den Mut dazu.’

 

Es folgten noch einige persönliche Worte, über die Henrik in den folgenden Tagen mit seinem Bruder sprechen muss. Schnell fertigt er eine Kopie an und versteckt diese in dem Schreibtisch-Geheimfach.

Es ist schon spät geworden. Seine Familie wartet sicher schon zu Haus auf ihn und so beschließt er, seine Entscheidung, was er mit der Original-CD anstellt, die er in der Innentasche seines Jacketts verstaut hat, erst einmal gründlich zu überschlafen.

Nachdenklich verlässt Henrik das Haus des Vaters, das seit dem heutigen Tag ihm gehört, zieht die Tür hinter sich zu und schließt sorgfältig ab, nachdem er die hochmoderne Sicherungsanlage aktiviert hat.

Sein Pkw steht in der Zufahrt zum Anwesen. Nur wenige Sekunden später sitzt er hinter dem Lenkrad und fährt los. Der Türöffner betätigt das hohe, massiv gusseiserne Tor, das langsam aufschwingt und, nachdem der schwere Wagen es passiert hat, sich automatisch wieder schließt und somit auch die Grundstückssicherung einschaltet.

Wenn nun jemand, der größer als 1,30 Meter ist, über die Mauer klettern und den Park betreten sollte, wird sofort eine lautlose Meldung an die örtliche Polizei weitergeleitet, die innerhalb weniger Minuten vor Ort sein kann. Diese Anlage ist erst vor einem halben Jahr neu installiert worden. Ebenso hat der Verstorbene vor wenigen Monaten erst seinen Söhnen dringend angeraten, ihre Häuser auf ebensolche Weise sichern zu lassen - und die Techniker sogar selbst beauftragt und auch bezahlt. 

Der Wagen schwenkt nach links auf die Straße. Seltsam, sofort hat Henrik das Gefühl, verfolgt, zumindest aber beobachtet zu werden. Sind es die zwei Männer im dunklen 325er BMW? Sie standen am Straßenrand, lenkten dann sofort den Pkw auf die Straße, nachdem er ihren Standort passiert hatte. Sie fahren nun mit leichtem Abstand hinter ihm. Dem Kennzeichen nach handelt es sich um ein Fahrzeug, das dem Bestand einer großen Mietwagenkette zuzuordnen ist.

Jetzt bewährt sich sein Wunsch nach einem PS-starken Dienstfahrzeug, das er sich von seiner Behörde erbeten und erhalten hat, dem seine Frau aber nie etwas abgewinnen konnte. Auf der Autobahn ist der BMW zwar noch hinter ihm, aber der Abstand zwischen den zwei Fahrzeugen wird merklich größer. Bis die Verfolger nach einigen Kilometern nicht mehr zu sehen sind.

Was ist es, was der Vater seinem Sohn mit dieser CD aufgebürdet hat?

‘Bin ich, ist meine Familie noch sicher? Wäre es nicht besser, ich würde diesen Silberling umgehend vernichten?’ sind seine Gedanken, die ihm seit dem Ausschalten des Computers durch den Kopf kreisen.


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‘Warum werde ich bereits jetzt verfolgt? Kann jemand vermuten oder gar wissen, dass mein Vater Daten gesammelt hat, die einigen hochrangigen Leuten gefährlich werden könnten? Oder ist es nur die eigene Behörde, die mich, ohne mich vorher kontaktiert zu haben, unter Polizeischutz stellen ließ?’

Nein, gibt er sich selbst die Antwort. Dies ist absolut ausgeschlossen, denn die Mitarbeiter seiner Behörde benutzen keine Mietfahrzeuge.

Da seine Identität zwar über das Kennzeichen seines Dienstwagens nicht ermittelt werden kann, aber jeder, der daran interessiert ist, unschwer feststellen wird, dass er der Sohn des verstorbenen Harald Berger, Erbe der Villa und somit auch der darin befindlichen Gegenstände ist, wird er sich etwas einfallen lassen müssen, um seine Familie und auch sich selbst zu schützen.

Lange hat Henrik sich während der Fahrt überlegt, ob er Kirsten, seine Frau, in diesen “Fall” einweihen sollte, der sich möglicherweise auch als vollkommen harmlos herausstellen könnte.

Wenn er sich wirklich als solches erweisen wird, dann wird er es nicht dazu kommen lassen dürfen, dass mit Raketen auf Spatzen geschossen wird.

Es liegt noch einiges an Arbeit vor ihm, um seines Vaters Angaben auf deren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen. Er beschließt, erst wenn sich herausstellen sollte, dass an dieser Sache etwas dran ist, wird er sich Gedanken darüber machen, ob seine Familie eingeweiht werden muss. Trotzdem wird er alles in die Wege leiten, um sie zu schützen. Vor wem oder was auch immer.

Als er seinen Wagen wenig später in die um diese Zeit wie immer menschenleere Straße lenkt, an der sein Haus steht, hat er sich dazu entschlossen, gleich morgen früh mit der Durchsicht der Daten zu beginnen, um dann zu entscheiden, welche Konsequenzen der Inhalt dieser CD fordert.

Vielleicht, so seine nächste Überlegung, hat sich aber auch sein alter Herr nur einen zugegebenermaßen etwas skurrilen Witz mit ihm erlaubt und alles entpuppt sich als harmloser Ulk. Was er allerdings nach einiger Überlegung schon wieder ausschließen möchte, denn sein Vater war alles andere, nur kein Spaßvogel.

Da die Gebäude dieser Straße ausnahmslos relativ große Grundstücke besitzen, steht in der Regel hier auch kein einziges Fahrzeug am Straßenrand geparkt, ein Beobachter würde also unbedingt auffallen.

Er schaut sich um. Nichts ist zu sehen. Kein Fahrzeug, kein Mensch, nicht einmal Frau Schmiedel aus dem Haus gegenüber, die ständig mit ihrem Hund die Straße auf der rechten Seite hoch und auf der Linken wieder herunter wandert. Vorläufig beruhigt betätigt er mit seiner Fernbedienung das Tor und rollt die Auffahrt hoch, direkt in die sich ebenfalls öffnende Garage.

Die Verbindungstür zum Haus wird stürmisch aufgerissen und die beiden fünf- und siebenjährigen Söhne kommen mit lautem Hallo auf ihren Vater zugerannt. Dieser nimmt die zwei Leichtgewichte lachend auf den Arm und beantwortet ihre obligatorische Frage ‘Papa, hast Du uns etwas Schönes mitgebracht?’ mit einem geheimnisvollen ’Vielleicht?!’, woraufhin sie sich losstrampeln und mit lautem Juchhu wieder zurück in das Haus rennen.

Kirsten, seine Frau und Mutter seiner Kinder, die lächelnd in der Tür erschien, begrüßt er, indem er sie kurz an sich drückt. Hinter dem Eingangsportal schaltet er die Außensicherungsanlage scharf, was normal nicht seine Gewohnheit ist und ihr auch sofort auffällt.

“Schatz, Du kommst spät - und” - sie deutet auf den Sicherungsschalter - “das hast Du ja noch nie gemacht. Ist etwas? Du wirkst so bedrückt. Hat Dich der Termin bei Onkel Albert so sehr mitgenommen?”

“Neinnein, alles in Ordnung. Ich bin nur noch zu Vaters Haus gefahren. Es ist fast genauso gelaufen, wie Marian und ich es erwartet haben. Mit einer kleinen Überraschung allerdings: Onkel Albert hat uns mit fünf weiteren Geschwistern bekannt gemacht, von denen wir bisher keine Ahnung hatten.”

“Ach, und jetzt willst Du Dich vor denen schützen und verhindern, dass sie uns besuchen?” fragt sie schelmisch, aber mit leicht besorgt-interessiertem Unterton, wie ihn nur Frauen zustande bringen können.

Zwischenzeitlich erreichten sie das Esszimmer, in dem Henrik sofort wieder von den Kindern bestürmt wird. Nachdem er sie mit zwei Comic-Heften zufriedengestellt hat und sie begeistert mit ihnen nach oben in ihre Zimmer rennen, erzählt er Kirsten von den Vorgängen während der Testamentseröffnung, lässt dabei aber den Hinweis Onkel Alberts und den darauf folgenden Fund der CD vorerst unerwähnt.

Während der Zeit, in der Kirsten das Abendessen zubereitet, geht Henrik kurz in den Technikraum und blickt auf die Monitore, die die Bilder der Außenkameras zeigen. Er erkennt auf dem, dessen Objektiv auf die Straße vor dem Haus gerichtet ist, den dunklen BMW, der von den zwei Männern auf den Vordersitzen am Rand der gegenüber liegenden Straßenseite geparkt ist.

Wer sind seine Verfolger und was wollen sie? Was bezwecken sie mit ihrer Beschattungsaktion?

Henrik zieht das Bild des Pkw näher heran und ist das erste Mal froh, dass sein Vater ein sehr lichtstarkes APO-Zoomobjektiv hat einbauen lassen. Der BMW steht so günstig, dass die Gesichter klar und deutlich zu erkennen sind. Nachdem er einmal ein Bild des Fahrzeugs, auf dem das Kennzeichen zu lesen ist, und eines mit dem Konterfei der Insassen auf A 4-Fotopapier hat ausdrucken lassen, übermittelt er die entsprechende Datei mit einigen Hinweisen per Standleitung an seine Dienststelle und geht zurück in das Esszimmer, in dem die Familie bereits ungeduldig auf ihn wartet.

Nach dem Essen genügt ein Blick von ihm auf den Monitor, um festzustellen, dass der BMW verschwunden ist. Die Zwei rechnen vermutlich nicht mehr damit, dass von den Bewohnern heute noch jemand das Haus verlassen wird und wollen nun sicherlich nicht unnötig ihre Nachtstunden hier vertrödeln.

Henrik ist es recht so, dann wird die Familie bis zum nächsten Morgen - einem für ihn ausnahmsweise freien Samstag - nichts zu befürchten haben.


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Die Nacht verlief ruhig, und trotzdem fühlt Henrik sich wie gerädert, als er von dem Vogelgezwitscher geweckt wird, das aus dem hinter dem Haus liegenden Park herüberschallt. Schuld daran sind die wirren Träume, die ihn in den letzten Stunden seines Schlafes heimsuchten. Zeitweise wurde er von Spionen, dann wieder von Mitgliedern obskurer Geheimbünde und in seinem letzten Traum sogar von Russlands Putin Hand in Hand mit US-Trump und Nordkoreas Kim Jong Un persönlich verfolgt. 

Etwas später als sonst üblich, zum Beginn der 8-Uhr-Nachrichten, erscheint er leicht verkatert zum Frühstück, nachdem ein kurzer Blick aus dem Fenster des Schlafzimmers im ersten Stockwerk genügte, um ihn erkennen zu lassen, dass der BMW wieder vor der Grundstückseinfahrt steht.

Kirsten ist etwas früher aufgestanden als er und hat die Kinder beschäftigt, die im Regelfall ab sieben Uhr durch das Haus toben - auch samstags. Henrik begrüßt die Drei ausgiebig und setzt sich auf seinen Platz. Kirsten beobachtet ihn forschend.

“Du hast heute Nacht sehr unruhig geschlafen. Willst Du mir nicht sagen, was Dich so sehr beschäftigt?”

“Ach, Schatz, vielleicht ist es das plötzliche Auftauchen meiner fünf neuen Geschwister, das mir nicht aus dem Kopf geht. Sie haben gestern ihre Kontodaten bei Onkel Albert hinterlegt und verließen, ohne Marian und mir gegenüber auch nur ein weiteres Wort zu verlieren, freudestrahlend und jeder für sich die Kanzlei. Aber vielleicht tue ich ihnen auch Unrecht, denn sicher war es für sie doch vollkommen neu, mit gleich sechs bisher unbekannten Halbgeschwistern und einem Erbe von jeweils einer halben Million Euro konfrontiert zu werden. Und sicher auch waren sie somit emotional leicht überfordert. Vater hat, wie ich gestern mitbekommen habe, neben Mutter noch fünf weitere Frauen geschwängert, die nichts voneinander wussten und deren Kinder nun neben Marian und……” “Papa, was ist ’geschwängert’?” fällt ihm Florian, der Jüngste, ins Wort. “Du weißt aber auch gar nichts, Du Blödmann!” antwortet Rouven, sein älterer Bruder, ganz wichtig. “Geschwängert bedeutet, dass ein Mann einer Frau Blumen geschenkt und sie ihn dafür geknutscht hat!”

‘Oje’, denkt Hendrik, in dem er sich anstrengen muss, um nicht laut loszulachen, ‘ich werde nicht umhin können, in Anwesenheit meiner Kinder zukünftig etwas mehr auf meine Wortwahl achten zu müssen. Sie haben beide seltsamerweise in solchen Situationen weitaus bessere Ohren als dann, wenn sie gerufen werden und sie mit einer Moralpredigt zu rechnen haben.' 

Sein Blick zu Kirsten zeigt ihm, dass auch sie Schwierigkeiten hat, an sich zu halten. Zwei - drei Tropfen von dem Kaffee, den sie kurz zuvor zu sich genommen hatte, rinnen ihr die Hand hinab, die sie sich krampfhaft vor den Mund hält.

“Mama-ah, stimmt das, was Rouven gesagt hat?”

Da Kirsten noch nicht wieder ganz gefasst ist, nickt sie nur heftig mit dem Kopf, bekommt einen erneuten Lachanfall, den sie nur mit tränenden Augen unterdrücken kann. Dann holt sie einmal tief Luft, besinnt sich auf ihre mütterlichen Pflichten und ist unter größter Willensanstrengung wieder todernst, aber jedes weitere Wort würde diese mühsame Selbstbeherrschung wieder in sich zusammenstürzen lassen.

Nachdem Henrik sein Frühstück beendet hat, entschuldigt er sich und steht mit der Begründung auf, noch etwas Wichtiges erledigen zu müssen, gibt Kirsten noch einen Kuss und will sich gerade umdrehen, da ertönt Florians helle Stimme wieder.
“Mama, wenn Papa Dir jetzt vorher Blumen geschenkt hätte, hätte er Dich dann geschwängert?”


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Wenig später sitzt Henrik vor seinem mit der CD gefütterten Computer, nachdem er eilig den Frühstücksraum verließ und so seiner Frau die nicht sehr leichte Aufgabe zuschanzte, den Kindern eine allgemeingültige und erschöpfende Auskunft zu geben.

Wieder tauchen die drei Dateien auf, obwohl er insgeheim gehofft hatte, auch diese nur geträumt zu haben.

Die Erste las er bereits gestern, deshalb zieht er den Mauspfeil auf die zweite Datei und betätigt die linke Taste. Es erscheint eine lange Liste von etwas mehr als sechzig Decknamen, teilweise mit Alias-Namen, die dazugehörigen echten Identitäten und deren Anschriften, Beruf und auch ihre Kontaktpersonen zu den einzelnen Geheimdiensten.

Einige bekannte Namen wichtiger Politiker, Industriebosse, Gewerkschaftsführer und auch Größen aus dem Showbusiness fallen ihm ins Auge, die zum Teil bereits in Pension geschickt wurden, zum größten Teil aber noch aktiv im Berufs- und somit vermutlich noch im Spionageleben stehen. Auch sind zwei in Rom lebende hohe kirchliche Würdenträger namentlich genannt. Doch die sind bekanntlich bis zu ihrem Tod berufsmäßige Katholiken. Wenn der Papst es so will nach wenigen Jahren Heilige und somit sicherlich außerhalb jeglicher Kritik.

Nachdem Henrik einige Notizen auf einen Block kritzelte, verlässt er diese Datei und klickt nun auf die Folgende. Es öffnet sich eine Art ausführlicher Bericht mit genauen Querverweisen auf bestimmte Seiten des Internet. Jeder einzelne Verweis ist mit einem dazugehörigen detaillierten Kommentar versehen, der über beteiligte Personen, tatsächlichem Geschehen der betroffenen Vorfälle und dessen Auswirkungen berichtet. Insgesamt sind es siebzehn Schilderungen, bei deren Durchsicht sich ihm die Nackenhaare sträuben.

In allein vier von ihnen werden Personen aus der Administration des vorletzten US-Präsidenten genannt, deren Anhaftungen am Stecken nicht mehr nur mit 'Schmutz' umschrieben werden kann.

Die einzelnen geheimen Aktionen, die hier ausgiebig geschildert werden, sind der Öffentlichkeit nicht bekannt, aber in Verbindung mit den Querverweisen aus dem Internet ergeben sich vollkommen neue Einsichten in die betreffenden neugeschichtlichen und somit im Bewusstsein der Bevölkerung noch immer fest verankerten Ereignisse, die ungeheuerlich sind.

Ein kleiner Absatz ganz am Schluss dieser letzten Datei erregt seine Aufmerksamkeit.
Sie ist in der Schriftgröße geschrieben, wie sie für dubiose AGB’s Verwendung findet - und erscheint ihm zumindest genauso weitreichend:

 

‘Henrik, vor einiger Zeit schenkte ich Dir ein Buch von Dan Brown, ‘Illuminati’. Dies geschah nicht ohne Hintergedanken. Schlage bitte die Seiten 296 - 297 auf. Die Kapitel-Nummern, die Du dort sehen wirst, ergeben zusammengefügt die Geheimnummer für ein Schließfach bei meiner Geschäftsbank. In dem Behälter wirst Du Unterlagen und Dokumente finden, die meine Hinweise auf dieser CD eindeutig belegen.

Wende Dich zuerst an die Bank, in der meine Privatkonten verwaltet werden. Dort dann an meinen guten Freund Bankdirektor Bernd Hofscheuer. Er wird nach der Testamentseröffnung Deine Kontaktaufnahme erwarten und ist im Besitz des nummernlosen und neutralen Schließfachschlüssels, den Du von ihm erhalten und zur Öffnung des Faches in der erstgenannten Bank verwenden wirst. Das Codewort, um an das Fach zu gelangen, lautet Cassandra. Es wird Dir sicher seltsam erscheinen, dass ich diese für Dich verwirrenden Sicherheitsvorkehrungen getroffen habe, aber die Leute, mit denen Du es zu tun bekommen könntest, kennen nicht die geringsten Skrupel. Sei also vorsichtig. Unbedingt erforderlich finde ich es auch, dass Du Kirstens und der Kinder Sicherheit organisieren lässt.

Bitte entschuldige, dass ich Dich und Deine Familie hier mit hineinziehe, aber Deine Ausbildung und Stellung werden es nur Dir ermöglichen, diese Unterlagen den richtigen Empfängern zukommen zu lassen. Ich weiß nicht, wozu Du Dich entscheidest, aber ich bin mir sicher, dass Du das Richtige unternehmen wirst.

Post scriptum: lösche bitte diesen gesamten letzten Absatz unbedingt aus dem Inhalt dieser Datei, nachdem Du ihn gelesen und ihn Dir eingeprägt hast, damit kein Unbefugter an die Angaben zur Erlangung des Schließfachschlüssels kommen kann. Ich habe Jahre gebraucht, um diese Daten zusammen zu tragen. Es darf nicht alles vergeblich gewesen sein.’

 

Lange Zeit noch starrt Henrik auf den Monitor. Nur allmählich begreift er, welch riesiger Schlund sich hier vor ihm auftut, welch ungeheure Aufgabe sein Vater ihm und seiner Familie hier zumutet. 

Schlagartig wird ihm klar, dass allein schon das Auftauchen seiner Beschatter eine immense Gefahr für sie alle bedeutet, das nun auch den plötzlichen Tod seines nur 59 Jahre alt gewordenen Vaters in ein vollkommen anderes Licht rücken könnte.

Schnell loggt er sich in das Internet ein, um zu sehen, ob bereits eine Nachricht seiner Dienststelle eingetroffen ist. Fehlanzeige.

Auch der Drucker, der mit der Standleitung zu ihr verbunden ist, blieb bisher stumm.

Verflixt, sie hatten bisher einige Stunden Zeit, um die zwei Männer im BMW zu identifizieren. Spielt die Bereitschaft während ihrer Dienstzeit Skat?

Das Telefon liegt neben dem Monitor, die Anruftaste der Standleitungsverbindung ist schnell gedrückt und er hört dreimal den Rufton, bevor sich der diensthabende Beamte meldet. Bevor Henrik etwas sagen kann, plappert der Mann am anderen Ende der Leitung auch schon los.

“Guten Morgen, Herr Doktor Berger. Sie sind mir um Sekunden zuvor gekommen. Ich wollte Sie gerade anrufen. Doch eine Frage vorab: was haben Sie mit den zwei Männern zu tun, dessen Bild Sie uns gestern sandten?”

“Sie beschatten mich seit der gestern stattgefundenen Testamentseröffnung meines Vaters und stehen auch heute Morgen wieder vor meinem Haus. Was ist mit ihnen?”

“Es sind zwei Eurasier, die in Geheimdienstkreisen als Peter und Paul bekannt sind. Arbeiten ständig gemeinsam, nur konnten wir bisher nicht genau ermitteln, für welchen Dienst sie tätig sind. Stark vermutet wird, dass sie vom Ministerium für Staatssicherheit der Volksrepublik China bezahlt werden, da sie lange Zeit erst in der ehemals britischen Kolonie Hongkong, nach deren chinesischer Übernahme dann zwei Jahre in Nanking lebten. Andererseits ist es aber auch möglich, dass ihnen der britische SI6 ihr Salär zahlt. Vielleicht sind sie sogar wechselseitig für beide Geheimdienste tätig. Dass sie aber auf diesem Gebiet arbeiten, steht absolut fest.“ 

„Sind die Zwei auf einen bestimmten Bereich festgelegt?“

„Informations-Beschaffung. Von ihnen gingen niemals irgendwelche Aktionen aus. Sollen wir sie aus dem Verkehr ziehen?“

„Nein. Die Beiden sind mir jetzt bekannt. Wenn sie verschwinden sollten, sind ihre Auftraggeber gewarnt. Außerdem werden sie dann durch andere ersetzt, die vermutlich etwas vorsichtiger zu Werke gehen werden. So habe ich die Möglichkeit, mit ihnen zu spielen, sie vielleicht sogar zu benutzen. Ich bin am Montag um 8.30 Uhr in der Bankfiliale am Markt. Stellen Sie bitte sicher, dass der BMW unsererseits ab diesem Zeitpunkt unauffällig - ich betone: unauffällig! beschattet wird. Peter und Paul dürfen nicht den leisesten Verdacht schöpfen, dass sie entdeckt worden sind. Ich bleibe an diesem Wochenende im Haus, da dürften meine Schatten auch nichts unternehmen können. Interessant wird es erst ab Montag. Legen Sie bitte unserem Stasek eine Notiz auf den Schreibtisch, dass ich gegen 14 Uhr etwas mit ihm zu besprechen habe. Ich werde zu ihm kommen. Danke.“

Nachdenklich legt er den Hörer auf die Gabel.

„Stasek“ ist eine Verballhornung des Familiennamens des für Henriks Behörde zuständigen Staatssekretärs Stajnek, den ein Abteilungsspaßvogel vom Dienst prägte, als jener nach der Bundestagswahl im Dezember 2005 sein Amt als politischer Vermittler der Behörde antrat, der Henrik vorsteht.

Er ist ein ausnahmsweise fähiger und sehr integrer Mann, zu dem nicht nur er, sondern auch seine anderen Mitarbeiter absolutes Vertrauen haben. Was sie nicht von vielen Politikern behaupten können, mit denen sie zusammen zu arbeiten gezwungen sind.

Die Ellenbogen auf die Arbeitsplatte und den Kopf auf die Hände gestützt sitzt er tief in Gedanken versunken an seinem Schreibtisch.

Den Termin mit dem Staatssekretär hat er vorsorglich eingeplant. Vorher allerdings wird er seines Vaters Aufzeichnungen, die er sich zwischenzeitlich besorgen wird, in seinem Büro durcharbeiten. Um die Angaben zu überprüfen hat Henrik dort sehr viel bessere Möglichkeiten als hier im Haus. Erst dann, wenn er sich ein Bild vom Wahrheitsgehalt und den Ausmaßen der Unterlagen seines Vaters gemacht haben wird, dürfte er entscheiden können, ob hier ein Fall vorliegt, den er mit ihm besprechen kann, vielleicht sogar besprechen muss.’

Er geht noch einmal die genauen Schritte des folgenden Montag Morgens durch und überdenkt die Möglichkeiten, die ihm diese CD bietet.

Mit der Liste der Agenten hat er ein Instrument in der Hand, mit dem er vielen seiner ausländischen Kontrahenten, ausnahmslos Personen, die, wie er jetzt weiß, auch jahrelang Gegner seines Vaters waren, schweren Schaden zufügen kann.

Nach seiner vorläufigen Einschätzung dürften bis auf diese Liste die Vorfälle, die in der dritten Datei dokumentiert wurden, politisch nicht zu lösen sein. Wenn sie wirklich so liegen, wie sie ihm bei der heutigen Schnelldurchsicht erschienen, hält er mit diesen Unterlagen eine Brisanz in Händen, an die selbst die Watergate-Affäre nicht auch nur annähernd heranreicht.

Muss er sich Sorgen machen, was Peter und Paul betrifft? Sind sie ihm von den Geheimdiensten der Staaten auf den Hals gehetzt worden, die mit diesen Unterlagen bloßgestellt werden könnten? Oder geht es ‘nur’ um die Liste der Spione, in der auch einige chinesische Agenten genannt sind?

Aller Voraussicht nach werden sich die Zwei bis Montag ruhig verhalten und abwarten, was er unternehmen wird. Bis dahin fühlt er sich in seinem Haus sicher aufgehoben. Trotz alledem legt er die Pistole, die er im Schreibtisch seines Büros aufbewahrt, griff- und einsatzbereit auf den Standfuß seines LCD-Monitors.


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Fast hatte Henrik Mitleid mit den Beiden. Das Wetter an diesem Wochenende war nicht so, dass man einen Hund hätte vor die Tür schicken mögen. Zwölf Grad am Anfang der dritten Juni-Dekade ist nichts Berauschendes. Dazu Dauerregen und Sturm. Sie waren wirklich zu bedauern. Es fehlte nicht viel und er hätte Kirsten gebeten, ihnen eine Thermoskanne mit heißem Kaffee hinaus zu bringen.

Auch kein schöner Ferienbeginn für Florian und Rouven, denen er geraten hat, im Haus zu bleiben, um sich keine nassen Schuhe zu holen.

Kirsten wurde gestern noch von ihm eingeweiht. Sie nahm es relativ gefasst auf, da sie auf diesem Gebiet schon einiges gewohnt ist. Sie versprach, das Haus heute nicht zu verlassen und die Außensicherungsanlage eingeschaltet zu lassen.

Um 8.10 Uhr ließ Henrik den Dienstwagen aus der Garage rollen und fand sogar einen Parkplatz direkt vor seinem Ziel, der Zentrale der Bank am Markt.
Da er gestern Bankdirektor Hofscheuer telefonisch in seinem Haus erreichen konnte und ihm sein Kommen für den heutigen Montag ankündigte, erwartet ihn bereits eine Bankangestellte am Eingang und führt ihn in einen der feudalen Konferenzräume des Instituts. Wenig später hält Henrik den ominösen Schließfachschlüssel in der Hand, den der Bankdirektor in seinem Bürosafe aufbewahrte.

Nach etwa zwanzig Minuten Konversation, während der sie sich über die Umstände unterhalten, die zum Tod Henriks Vaters führten, verlässt er die Bank wieder auf gleichem Wege.

An einer Halskette befestigt spürt er das noch kalte Metall des kleinen Schlüssels auf seiner Brust. Ist dies der Auslöser, der sein zukünftiges Leben in eine andere Bahn lenken wird?

Natürlich waren Peter und Paul während der Fahrt in die Stadt hinter ihm, und ebenso natürlich stehen sie in Sichtweite der Bank und warten der Dinge, die nun geschehen werden. Drei Plätze hinter ihnen erkennt Henrik ein neutrales Fahrzeug, besetzt mit zwei Beamten seiner Behörde.

Zusammen mit seinem Pkw setzen sich die beiden anderen ebenfalls in Bewegung, haben aber an einem dreispurigen Kreisverkehr etwas Pech, als Henrik von der kreisinneren Fahrspur abrupt die zwei äußeren Bahnen quert und die Ausfahrt sehr knapp erreicht. Die Beiden im BMW müssen eine Strafrunde drehen, während sich die Kollegen noch ausfädeln können und kurz hinter der Kreisausfahrt auf Peter und Paul warten, die Henriks Wagen durch diese Aktion aus den Augen verloren haben.

Dass sie nicht misstrauisch werden, dafür hat der Verfolgte durch seinen bisher forschen und manchmal auch risikofreudigen Fahrstil gesorgt, den er auf seinem Weg in die Stadt hingelegt hat, der Peter und Paul aber auch vom vergangenen Freitag noch in Erinnerung sein müsste.

Wenige Minuten später steht der Dienstwagen auf dem Kundenparkplatz der Bank, der sich von der Straße nicht einsehbar hinter dem Geldinstitut versteckt.

Unbeobachtet betritt Henrik kurz darauf das Gebäude, in dem die Geschäftskonten seines Vaters geführt wurden. Nachdem er bei dem zuständigen Bankangestellten vorgesprochen und diesem das Codewort genannt hat, steht er in dem Kellergewölbe vor der großen Wand der Schließfächer. Hier lässt er den ihn bisher begleitenden Mann am Fach Nummer 5758 mit seinem Schlüssel den Vortritt und hält endlich mit gemischten Gefühlen die Kassette mit den Dokumenten in Händen, von denen sein Vater schrieb, sie könnten die Welt erschüttern.

Insgesamt 18 unterschiedlich voluminöse Aktenordner enthält die große Blechkiste, auf deren Deckel akkurat gesetzte Druckbuchstaben zu erkennen sind, die er eindeutig als seines Vaters Handschrift erkennt.

Begriffe wie FALKLAND 1982, GOLFKRIEG IRAN/IRAK 1980 - 1988, GOLFKRIEG IRAK/USA 1990 - 1991, AIDS 1969 - USA/KANADA, GUANTANAMO - USA/GB 1973-2007, GOLDENES DREIECK - BIRMA-USA/GOLDENER HALBMOND - AFGHANISTAN-USA fallen ihm bei einer ersten Durchsicht ins Auge, die ihn nichts Gutes ahnen lassen. Alle Akten sind fortlaufend nummeriert, wobei die Ziffern der 18. Akte in roter Farbe leuchten.

Schon die erste Seite dieser Akte zeigt, dass sie die Beweise für die geheimen doppelten Identitäten einiger hochrangiger Persönlichkeiten enthält, die diesen Herrschaften mit Sicherheit den Kopf kosten werden, wenn sie jemals an die Öffentlichkeit gelangen sollten. Fotos mit den entsprechenden Negativen sind den jeweiligen Berichten angeheftet, die diese Personen mit zum Teil auch den entsprechenden deutschen Behörden bekannten Verbindungsleuten verschiedenster ausländischer Geheimdienste zeigen. Gleichzeitig erscheint eine Aufstellung mit Hinweisen auf verschiedene Geheim-Dokumente, die vermutlich in Kopie bei diesen Treffen weitergereicht wurden.

Um diese Akten durchsehen und überprüfen zu können, wird Henrik sein Büro aufsuchen müssen, denn nur dort hat er die Möglichkeiten, die er dazu benötigt,

Offensichtlich genauso unbeachtet wie er gekommen ist verlässt er das Bankgebäude wieder, sitzt gerade im Fahrzeug und will starten, als sein Handy und gleich darauf die Telefonanlage im Pkw aufleuchtet. Schnell schaltet er die Zündung wieder aus, um das Gespräch nicht über die Bordanlage annehmen zu müssen.
Ein Beamter seiner Dienststelle meldet sich und berichtet, dass der beschattete BMW auf einem Parkplatz an der Landstraße steht, die er benutzen muss, um sein Büro zu erreichen.

‘Sie scheinen ja bestens über mich informiert zu sein, vielleicht kennen sie sogar meinen Aufgabenbereich im Amt’, denkt er mit einem Anflug von Galgenhumor.

Die zwei Beamten in der Funktion als Beschatter seiner Verfolger beordert er zurück, da er vermutlich mit dem BMW im Gefolge in etwa einer halben Stunde auf dem Parkplatz der Dienststelle eintreffen wird und sie ihn dort wieder übernehmen können.

Kurz hinter der Ortsausfahrt passiert er den an der linken Straßenseite gelegenen Waldwanderparkplatz und sieht wie angekündigt dort die Verfolger stehen, die sofort, als er in ihrem Blickfeld auftaucht, eine hektische Aktivität hinter der Frontscheibe des Pkw entwickeln.

Aber sie machen nicht die geringsten Anstalten, ihrer Zielperson zu folgen. Stattdessen ist zu erkennen, dass der Beifahrer aufgeregt in sein Mobiltelefon spricht.

Zwei Kilometer weiter weiß Henrik auch, warum, denn er sieht im Rückspiegel einen sich ihm mit hoher Geschwindigkeit nähernden Motorradfahrer, der Sekunden später in Höhe der Fahrertür auftaucht und dann abrupt die Geschwindigkeit verringert, um auf gleicher Höhe mit dem Verfolgten zu fahren.

Das Visier des komplett schwarzen Sturzhelms wendet sich dem Seitenfenster zu, die linke Hand hebt sich von dem Griff und Henrik erkennt in ihr einen länglichen Gegenstand, der einer Pistole mit Schalldämpfer frappierend ähnlich sieht.

Bevor er den Lauf auf Henrik richten kann, hat dieser den Wagen leicht abgebremst, das Lenkrad sofort nach links herumgerissen und dadurch mit der linken vorderen Kotflügelspitze des Pkw das Hinterrad des Motorrads touchiert, das daraufhin stark ins Schlingern gerät.

Der Kradfahrer kann zwar aufgrund seiner erkennbar großen Routine einen unkontrollierten Sturz soeben noch verhindern, muss sich aber, da er die Spur seines Motorrades nicht mehr stabilisieren kann, auf die Seite fallen lassen, um sich nicht gemeinsam mit ihm zu überschlagen.

Auf seinem ledernen Hosenboden rutscht er zwei Schritte hinter seinem Fahrzeug über den rauen Asphalt der Landstraße.

Mit seiner Heckler & Koch, die er unerlaubterweise im Handschuhfach seines Wagens liegen hat, in der Rechten stoppt Henrik direkt neben dem Gestürzten, der sich gerade erheben will und befördert ihn durch ein schnelles und hartes Öffnen der Autotür vorerst an den Rand des Straßengrabens, der durch den starken Regen des vergangenen Wochenendes fast vollständig mit Wasser angefüllt ist.
Die Pistole des Angreifers liegt etwas weiter zurück auf der Straße, da er sie während des Sturzes fallen lassen musste, um nach dem Lenker greifen zu können. Er ist also im Augenblick offensichtlich unbewaffnet.

Durch einen leichten Druck auf die in den Fahrzeugschlüssel eingebaute Fernbedienung öffnet sich der Kofferraum des Pkw und Henrik bedeutet dem Vermummten mit dem Lauf der Pistole, dort hinein zu klettern. Erst einer wiederholten Aufforderung, die noch einmal mit der H&K unterstrichen wird, leistet dieser merklich widerstrebend Folge.

Nun liegt er, von Handschellen in eine recht unangenehme Lage gezwungen, wie ein Fragezeichen im Heck des Dienstwagens, dessen Deckel sich über seinen vom Helm befreiten Kopf schließt. Ein stabiler Stahlring um sein rechtes Hand-, den anderen um das Fußgelenk seines linken Beines wird ihn in der nächsten Zeit nur schwerfällig laufen lassen können, falls er doch noch die Möglichkeit zur Flucht finden sollte.

Mit einem kurzen Anruf informiert Henrik seine Dienststelle von den Vorfällen und beauftragt sie, die bisherigen Verfolger im BMW aufzuspüren und festzusetzen. Dann wuchtet er das schwere Krad hoch und rollt es auf ein Stück des trockenen rechten Randstreifens.

Nachdem er die Waffe von der Straße aufgelesen hat, setzt er sich hinter das Steuer und fährt die letzten Kilometer zu seinem Büro.

Es ist ein Ostasiate, wie sich unschwer erkennen ließ, den er in seinem Kofferraum transportiert. Ist dies nun die Verbindung zur Volksrepublik China oder zu den Mohnfeldern im Südosten des Kontinents?

Wenig später erreicht der Wagen unbehelligt den Parkplatz des Dienstgebäudes, auf dem bereits vier Wachbeamte den Fahrzeugschlüssel mit dem Inhalt des Kofferraums in Empfang nehmen und den Gefangenen in das Verhörzimmer führen.

Seltsam, bei dieser Aktion war Henrik sich nicht sicher, ob er in dem Angreifer nun einen Mann oder eine Frau vor sich hatte. Aber das wird sich in wenigen Minuten herausstellen.

Nachdem der Aktenkoffer mit den brisanten Unterlagen einen vorerst sicheren Platz im Stahlschrank seines Büros gefunden hat, geht Henrik mit zwei seiner Mitarbeiter zum “Konferenzraum II”. Auf dem Weg dorthin unterrichtet er sie in groben Zügen über das, was sie wissen müssen, um dem Gefangenen zielgerichtete Fragen stellen zu können.

 

Als sie sich dem Flur nähern, an dem das K II liegt, fällt ihnen eine hektische Betriebsamkeit auf, die um diese Zeit hier eigentlich vollkommen unüblich ist.

Wenig später sehen sie durch die geöffnete Zimmertür des Verhörraums hindurch den Grund. Der verhinderte Attentäter liegt am Boden und aus seinem weit aufgerissenen Mund tritt heller Schaum.

Zyankali! Er macht sich mit Blausäure aus dem Staub, um nicht verraten zu müssen, wer seine Auftraggeber sind.

Es dauert nicht lange, dann hat das Gift seine Arbeit vollendet. Nach einigen konvulsivischen Zuckungen übernimmt der Tod seinen Körper.

‘Verflixt!’ denkt Henrik, ‘ich hätte daran denken müssen! Ich hätte die Mentalität der Asiaten in meine Überlegungen mit einbeziehen müssen!’ Wütend über seine eigene Fahrlässigkeit macht er auf dem Absatz kehrt und verlässt den K II.

“Versuchen Sie herauszubekommen, wer der Tote ist. Ich bin in meinem Büro,” ruft er noch während des Hinausgehens seinen zwei Begleitern zu. "Und wenn die anderen Zwei hier eintreffen, verständigen Sie mich umgehend." Sie nicken nur. Henrik weiß, sie werden alles Nötige für die Untersuchung der Leiche in die Wege leiten.


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Gegen 13.30 Uhr hat Henrik sich durch einen Teil der Akten gekämpft und ist zu dem Schluss gekommen, dem Stasek nur die Akte 18 anbieten zu können.

Was die anderen Fälle betrifft, so ist er sich dessen voll bewusst, dass seine vorgesetzte Behörde sie unter den Teppich kehren wird. Und dass dieses so gründlich geschehen wird, ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Nicht ein Papierfetzen der vorliegenden Beweise über die in der Vergangenheit verübten Sauereien hoher Staatsbediensteter, Militärs und auch Wissenschaftler wird übrig bleiben.

Dies alles sind Vorgänge, die politisch nicht zu lösen sein werden, das ist ihm jetzt in aller Deutlichkeit klar geworden.

Und genau so klar sieht er auch die Notwendigkeit, dass sie trotzdem, oder gerade deshalb, unbedingt publik gemacht werden müssen, um in Zukunft das Bewusstsein der Bevölkerung zu schärfen und somit ähnliche Aktionen unmöglich zu machen.

Henrik beabsichtigt, offiziell die Akte 18 als das einzig brisante Vermächtnis seines Vaters hinzustellen. Vielleicht, so hofft er, könnten mit dieser Aktion die in- und ausländischen Geheimdienste getäuscht werden, die nach Offenlegung dieser Liste kein Interesse mehr an ihm haben sollten.

‘Die Akten 1 bis 17 allerdings’, so beschließt er, ‘biete ich anonym in zeitlich unterschiedlichen Abständen großen ausländischen Medien an, von denen ich weiß, dass sie vor der Veröffentlichung solch heißer Eisen nicht zurückschrecken. Die Kopien meiner Dokumente sende ich ihnen anonym mit einigen Erklärungen und bestimmten Anweisungen. Die Honorare, die für diese Veröffentlichungen gezahlt werden, werde ich an die Opfer der jeweiligen "Vorkommnisse" übermitteln lassen.’

Beginnen will er nach einer leichten zeitlichen Verzögerung zu den heutigen Vorfällen mit der AIDS-Akte, durch die den Medien die eindeutigen Beweise geliefert werden, dass einige US-Politiker und Wissenschaftler vor 31 Jahren vorsätzlich den HI-Virus unter die Menschheit brachten, um das explosionsartige Wachstum der Erdbevölkerung vor allem in Schwarzafrika und Südostasien einzudämmen.

Seine Position wird es ihm ermöglichen, Mittel und Wege finden zu können, um sich - und vor allem auch seine Familie - hier außen vor zu halten.

Es stehen der Welt also in Zukunft einige Enthüllungen bevor, die eine Menge international Prominenter von der öffentlichen Bildfläche verschwinden und auch Regierungen stürzen lassen werden.

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Halali, die Jagd ist eröffnet

Impressum

Texte: copyright by Roland BöhmeCoverbildquelle: Ciucea_castle_-_Octavian_desk-Windows-Fotogalerie
Tag der Veröffentlichung: 10.07.2009

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