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Der Eine des Anderen Feind?

 

 

 

Stress! Nur Stress. Ich brauche eine Auszeit aus diesem täglichen Einerlei. Wenn auch nur eine kurze.

Ich denke an meine Kindheit, an die täglichen Streifzüge durch die Wälder meiner Heimat, wenn das Wetter es zuließ. In Gedanken versunken lenke ich mein Fahrzeug auf einen kleinen, versteckten Waldparkplatz, steige aus und nähere mich den ersten großen Eichen. Wenig später breche ich ein in das friedliche Leben einer einsam gelegenen Lichtung. Hier denke ich, die Ruhe und Erholung zu finden, die mir mein Beruf nicht bringt. Und richtig: Die Natur nimmt mich auf, als wäre ich ein Teil von ihr.

Die Strahlen der  nachmittäglichen Sonne zeichnen in der feuchten Luft ein verwirrendes, schräg stehendes Hell-Dunkelmuster, das von unzähligen summenden und brummenden Fluginsekten durchbrochen wird. Sie enden auf dem mit spärlichen Grasflecken, Moos und Fächerfarn bewachsenen Erdboden und formen seltsame Muster auf ihm.

Sofort steuert mich eine Wespe an und umkreist aufgeregt und kriegsbereit meinen Kopf. Erst als ihr aufgeht, in mir weder Gegner noch Opfer gefunden zu haben, fliegt sie weiter zu einer Buche, an der zwischen unterstem Ast und Stamm eine Spinne ihr Netz neu und fast unsichtbar gespannt hat.

Wer ist hier die Jägerin und wer die Gejagte? Ich trete näher an den Baum heran und beobachte interessiert die schicksalhafte Begegnung: entweder indirekt Spinnennetz und Wespe oder direkt Spinne und Raubinsekt? Es ist eine dicke Vierfleckkreuzspinne, die am Ende ihres Leitfadens, der zu ihrem kokonartigen Unterschlupf in einer Nische der Baumrinde gespannt ist, geduldig auf arglose Beute lauert. Das näher kommende Sirren der Wespenflügel allerdings lässt sie sich sehr schnell dort hinein zurückziehen. Zu bedrohlich erscheint ihr der Flügelschlag. Ich denke, sie vertraut nun vollkommen der enormen Elastizität und Reißfestigkeit ihres perfekt gewebten Netzes und der Sicherheit ihres Gespinstes.

Aber dann erleben wir zwei - die Spinne und ich - eine kleine Überraschung, die für mich als interessiertem Beobachter allerdings weniger folgenreich ist als für die Spinne. Statt in das Netz zu fliegen, wie die Natur - und sicher auch die Spinne - es eigentlich vorgesehen hat, wendet sich die Wespe in Richtung Spinnenkokon, landet kurz vor dessen Öffnung und kriecht auf ihren sechs gelb-schwarzen Beinen uneingeladen dort hinein. Ein kurzes Krümmen und einige Zuckungen ihres Hinterleibes genügen, um der Spinne klarzumachen, wer neuer Herr im Hause ist und dass sich ihre persönliche Zukunft mit dem Erscheinen des Fluggastes in ein Nichts gewandelt hat. Mit ihrem nahen Tod erlischt ihr Besitzanspruch auf ihre Behausung und ihren 'Brot'erwerb, dem Netz, somit auch auf ihr Dasein.

Während ich weiter beobachte, wie das fliegende Raubinsekt - oder raubende Fluginsekt - den nun wehrlosen Körper der Araneus quadratus aus dem Kokon zieht und transportgerecht verpackt, spüre ich an meinen strumpflos in Sandalen steckenden Füßen ein leichtes Kribbeln, das sich bei näherer Betrachtung als Waldameisenangriff auf meine unteren Extremitäten herausstellt. Ich stehe auf einem von grauschwarzen Sklavenameisen bevölkerten Waldboden und sehe, wie die kleinen Tierchen aufgeregt gegen meine Beine anrennen. Gulliver im Ameisenland!

Aber da ich ihnen nicht weiter im Wege stehen und Gelegenheit geben will, ihren groben Fehler einzusehen, denn ich bin eindeutig zu groß, um ihnen als Beute, geschweige denn als Sklave zu dienen, schüttele ich sie vorsichtig ab und gebe ihnen mit einigen Schritten zurück den Vortritt. Dies nutzt ein flinker Baumläufer aus, um den Bestand der kleinen Insekten nach einem kurzen Flug zum Boden etwas zu lichten.

Ha, wenn die Krabbler diesen kleinen Piepmatz nicht einmal schaffen, wieso greifen sie mich dann an!? Eine verrückte Welt! -

Aus den Tiefen des Waldes ertönen die Rufe eines Kuckucks. Ein alter Aberglaube besagt, wenn ein Kuckuck kuckuckt (was? Falscher Ausdruck? Wenn ein Singvogel singt, dann kuckuckt ein Kuckuck eben!) sollte man eine Münze dreimal in der Hosentasche drehen und schon ist die Zukunft finanziell gesichert. Ich beschließe, gleich morgen meinen Job zu kündigen, da ich ja nun ausgesorgt habe.

Ich ziehe die Hand mit der Münze aus meiner Hosentasche und stelle fest, dass es nur ein 10 Euro-Cent-Stück ist,…… vielleicht sollte ich mir das mit der Kündigung doch noch einmal überlegen?!

Etwas Flatterhaftes erweckt meine Aufmerksamkeit. Einige bunte Schmetterlinge gaukeln von Blüte zu Blüte, um ihnen den Nektar zu stehlen, den diese in mühevoller Kleinarbeit angesammelt haben. Wenn also morgen oder in einer Woche irgendwo ein Tornado ausbrechen sollte: dies sind die Übeltäter! Denn gestern erst las ich, dass ein Schmetterling in Brasilien mit seinem Flügelschlag theoretisch in Nordamerika einen Wirbelsturm auslösen könnte - wenn er wollte. Warum sollte das einem seiner Verwandten in Europa nicht auch gelingen? Schön, nicht gerade in Nordamerika, aber wir haben hier in Europa und Umgebung doch auch nette Gegenden, denen ein Tornado gut zu Gesicht stehen würde. Iran, Türkei, Libyen oder Syrien z.B., wobei natürlich immer die Gefahr besteht, dass es ausnahmslos die an den politischen Zuständen meist unschuldige Zivilbevölkerung trifft. Also dann doch lieber nicht! In meine Überlegungen, wie ich diesen Flattermännern dann klarmachen soll, dass sie ihre Wirbelsturmproduktion einstellen sollen, ertönt ein seltsames Geräusch. Es klingt wie ein viel zu schnell laufender Lanz Bulldog-Motor.

Ein Specht trommelt mit seinem spitzen Schnabel gegen den Stamm einer großen Kastanie, so dass die Fetzen fliegen. Er ist sicher auf der Suche nach einer dicken, fetten Made, einer wahren Delikatesse - jedenfalls für ihn. Aber warum nur klopft er an? Denkt er wirklich, die Larve wäre so dumm und würde nachsehen, wer vor dem Eingang steht und einen derartigen Krach veranstaltet? Aber zumindest stelle ich bei dem Vogel eine gewisse Höflichkeit fest, was ich vor wenigen Minuten der Wespe vollkommen absprechen musste. Ein letzter starker Schnabelhieb, ein letzter Holzfetzen, der durch die Luft schleudert - und die Made ist freigelegt. Ich sehe fast ein siegreiches Grinsen, das um den Spechtschnabel spielt, als der Vogel sich genussvoll die Made einverleibt.

Winzige graubraune Kobolde bahnen sich knispernd einen Weg durch das trockene Laub und ziehen so meine Aufmerksamkeit auf sich. Die kleine Rebhuhnfamilie, die sich hierher in den Wald verirrt hat, wird durch einen am Rande der Lichtung schnürenden Fuchs aufgescheucht. Da die kleinen Zweibeiner, die mutierten Nachfolger der Dinos, aber schneller sind als der vierbeinige Rotpelz, blickt dieser in die (leere) Röhre, sinnbildlich gesprochen. Aber nicht lange, denn kurze Zeit später hat er einen one-second-stand mit einem unvorsichtigen Mäuschen, den dieses nicht überlebt. Jaja, diese ungehemmte Leidenschaft!

Ein leichtes Rascheln auf der anderen Seite der Lichtung veranlasst mich, vorsichtig meinen Kopf zu wenden, um den Verursacher des Geräusches ausfindig zu machen.

Es ist ein junger Baummarder, der sich durch die spärlichen Büsche am Fuße einer riesigen Stieleiche schlängelt, um dann an deren Stamm hoch zu klettern und somit der Brut eines Amselpärchens gefährlich nahe auf die Eierschale rückt.

Vater und Mutter Vogel verteidigen ihr Nest mit ohrenbetäubendem Lärm und fast suizid sturzgeflogenen Angriffen auf den Eindringling, haben aber nicht die geringsten Chancen gegen den Räuber, der bereits perfekt mit einem weißen Brustlätzchen zum anstehenden Mahl gekleidet ist. Genüsslich macht er sich über das Amselgelege her. Ungeachtet der zeternden Eltern.

Das Eierelternpaar sitzt derweil auf einem höher gelegenen Ast und blickt traurig auf das gefräßige Raubtier, das die kurz vor dem Schlüpfen stehenden wehrlosen Küken aus den Schalen zerrt und gleich an Ort und Stelle vertilgt.

Fast gewinne ich den Eindruck, als umfange in diesem Moment der rechte Flügel des Männchens tröstend die Schultern seines neben ihm sitzenden Weibchens.

Alle Mühen der Vögel sind mit einigen Bissen zunichte gemacht! Die Brut ist getötet, das Nest zerstört. Totalverlust. Ich denke, das nächste Bauwerk wird einige Stockwerke höher im Baum angelegt werden. Mit der Hoffnung auf einen dann nicht ganz schwindelfreien Nesträuber.

Nesträuber!? Woher stammt eigentlich dieser Ausdruck? Ich habe nie bemerkt, dass die Marder, oder ähnliche Raubtiere, es auf Nester abgesehen haben. Eher doch wohl auf deren Inhalt!

Aber bevor ich Gelegenheit finde, diesen hochgeistigen Gedanken weiterzuspinnen, wird einige Schritte weiter fast die letzte ihrer Art (Spinne) auf dieser Lichtung von einer zweiten Maus geschnappt, die sicherlich mit ihr den Leichenschmaus für das vom Fuchs gefressene Familienmitglied bestreiten will.

Während ich gebannt den Vorgängen um mich herum Aufmerksamkeit schenkte, habe ich einige eifrige Anhänger gefunden. Es sind drei große schwarze Stechmücken, die ihre Rüssel bereits tief in meine Haut bohrten, um ihren Hinterleib mit meinem Blut zu füllen.

Also alles wie im normalen menschlichen Umgang miteinander: jede kleinste Schwäche oder Unachtsamkeit wird schamlos ausgenutzt.

Sekunden später habe ich mir meinen Lebenssaft, der für mich nun eigentlich wertlos geworden ist, energisch zurückgeholt und muss ihn mit einem Papiertaschentuch von den Beinen wischen. Aber hier ging es mir nicht um das verschwendete Blut, sondern einzig und allein um das Prinzip. Haben diese Biester denn keine Ahnung von Gottes Geboten Nummer sieben und zehn? 'Du sollst nicht stehlen' und 'Du sollst nicht begehren Deines Nachbarn Hab und Gut'!?!

Aber habe ich nicht selbst gegen das fünfte Gebot verstoßen, obwohl ich in friedlicher Absicht kam? Hat mein Gedanke daran, dass es doch mehr oder weniger Selbstverteidigung war, nicht eine gewisse Alibifunktion? Sicher hätte ich es dabei belassen können, die Mücken mit einer Handbewegung zu verscheuchen. ...... Aber dann hätten sie gewiss ihre Familien zusammengetrommelt und mich erst recht aufs Korn genommen!

Mir fallen die Worte meiner Mutter ein, die vor Jahrzehnten behauptete: Junge, wenn Dich eine Mücke anzapft, verlierst Du sofort zehn Prozent Deines Körpergewichtes, so schlank bist Du. Mich haben nun aber drei Mücken gestochen, muss ich jetzt mit dreißig Prozent Gewichtsverlust rechnen? Zwischenzeitlich bin ich zwar um viele Zentimeter gewachsen und habe auch einige wichtige Gramm zugenommen, werde mich aber trotzdem, wenn ich wieder zu Hause bin, sofort auf die Personenwaage stellen!

Die Mückenleichen haben sich klammheimlich die grauschwarzen Sklavenameisen gepackt und in ihr Nest getragen, bevor ich mir meine Jagdtrophäen auch nur ansehen konnte. Aber auch sie kommen zu spät, denn als Sklaven sind die Mücken nun nicht mehr zu gebrauchen.

Leben - und Tod - pur auf dieser kleinen Lichtung, die nur einen verschwindend geringen Teil des gesamten Lebens auf diesem Trabanten unseres Lebensspenders Sonne ausmacht und doch alles beinhaltet, was es zu bieten hat. 

Tief in Gedanken versunken sitze ich noch einige Zeit auf einem Baumstumpf, dessen umgestürzte Fortsetzung langsam verrottend neben mir auf dem Waldboden liegt. Das Holz ist tot und die Pilze, die seinen Körper bevölkern, haben schon mit ihrer zersetzenden Arbeit begonnen. Ebenso die Waldameisen, deren große Hügelbehausung an seiner morschen Flanke lehnt. Sie reißen kleine Holzstückchen aus dem morbiden Leichnam und tragen sie über den kurzen Weg in ihren Bau.

Vermutlich werden sie es als Substrat für eine eigene Pilzzüchtung verwenden, mit denen sie ihren larvigen Nachwuchs füttern werden.

Mein Entschluss steht fest: Ich werde bei meinen folgenden Urlaubsplanungen mehr Streifzüge durch die Natur in Betracht ziehen. Denn allein bereits hier, auf diesem kleinen Fleck inmitten unverfälschter Natur, erkenne ich, dass jedes Leben, ja, selbst jeder Tod seine eigene Daseinsberechtigung entwickelt.

Jede einzelne Existenz kann im Leben wie im Tod soviel Sinnvolles schaffen. Aber auch ebensoviel für Einzelne, nein, sogar für Alle Vernichtendes.

Hier ist mein inneres Augenmerk vor allem auf die bisher unheilvollste Mutation gerichtet, die die Kräfte der Evolution auf diesem Planeten hervorgebracht hat: Die Menschheit hat die Erde, diese einzelne Zelle des unermesslich großen Lebewesens 'Weltall', wie ein Krebsgeschwür befallen und schickt sich an, weitere Teile des vermutlich noch gesunden Körpers zu erobern.

Ich könnte jetzt hier auf dieser Lichtung einen Kanister voller Benzin ausschütten und sie in Sekundenschnelle in Brand setzen - und hätte damit dann das im kleinen Kreis vollzogen, was die Menschheit im Großen praktiziert. Allerdings besteht noch etwas Hoffnung, dass sie sich durch ihr Verhalten und den Umgang mit der Natur, also auch mit der eigenen Lebensform, vorher selbst ins Abseits stellen wird, bevor ihr das mit dem Benzin gelingen kann.

Und so wie die Natur sich nach dem Auslöser für den Untergang der Saurier wieder erholt hat, so wird sie sich auch nach dem Auslöser für den Untergang der Menschheit wieder neu gestalten können. Dessen bin ich mir sicher, denn ihre Kräfte sind weitaus stärker als jede einzelne in noch so großer Zahl auftretende besondere Lebensform. Jeder deren Angriffe wird von ihr zurückgeschlagen werden können, denn einer angreifenden Flut folgt zwangsläufig immer wieder eine flüchtende Ebbe.

Denkt an meine Worte, wenn es soweit ist!

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Impressum

Texte: copyright by: Roland Böhme
Tag der Veröffentlichung: 31.05.2009

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