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Hauptkommissar Klaus Krohn betrat das vierstöckige Wohnhaus aus den Fünfzigerjahren, das zwischen den Stadthäusern aus der Gründerzeit mit ihren gepflegten Vorgärten aussah wie ein Schandfleck. Der Hausflur lag im Dunkeln. Er drückte auf den Lichtschalter an der linken Wand. Über fleckige und zersprungene Bodenfliesen ging er zur Treppe, in den Winkeln der Stufen lag zentimeterdick Staub. Die in einem deprimierenden Braunton gestrichenen Wände trugen Schmutzstreifen und Kerben, die ein- und ausziehende Bewohner hinterlassen hatten. Viel zu schnell stieg er die ausgetretenen Steinstufen hinauf in den vierten Stock. Die Tür der Wohnung, zu der man ihn gerufen hatte, war nur angelehnt. Mit dem Ärmel seines Jacketts wischte er den Schweiß von den Augenbrauen. Dahinter pulsierte ein vertrauter Schmerz. Er nahm den Arm vor die Nase, als er den ekelerregenden süßlichen Gestank wahrnahm, der aus der Wohnung kroch. Drinnen war das Team der Spurensicherung bereits im Einsatz und sein Kollege, Peter Niehaus, kam ihm mit aufgeschlagenem Notizbuch und einem Stift in der Hand entgegen. Sein angespannter Ausdruck und die bleiche Gesichtsfarbe verhießen nichts Gutes.
„Hallo, Peter“, sagte Krohn. „Was ist passiert?“
„Es ist gruselig, Klaus, so was hast du noch nicht gesehen. Komm“, sagte Niehaus.
Er machte auf dem Absatz kehrt und führte Krohn in das Zimmer am Ende des spärlich möblierten Flurs. Wie dieser war das Wohnzimmer mit dunkelgrauem Teppichboden ausgelegt. Ein graues Sofa, ein mit Büchern und Zeitschriften beladener Couchtisch, zwei Bücherregale und ein Rolltisch mit einem Fernsehgerät waren die einzigen Möbel. Über der Couch hing ein Kunstdruck von Kandinsky. Hinter dem Fenster entdeckte er einen Balkon, den man über die Glastür daneben betreten konnte, hätte nicht der Polizeifotograf davor gestanden, um die Leiche der Bewohnerin zu seinen Füßen zu fotografieren. Zumindest vermutete Krohn, dass die Leiche einmal die Bewohnerin gewesen war. Die Szenerie wurde beleuchtet von einer tiefstehenden Mittagssonne, die durch die kahlen Äste eines großen Baums im Innenhof schien. Die Gesichtszüge der Person hatten bereits begonnen zu zerfließen und ließen die Konturen des darunter liegenden Schädels erahnen, die ausdruckslosen Augen, umgeben von blau-violett gefärbter Haut, waren fast in ihren Höhlen verschwunden, helles glanzloses Haar floss in langen Strähnen über den dunklen Teppich. Vor sich sah er die Quelle des bestialischen Gestanks, der bis in den Hausflur gedrungen war. In der Kehle der Toten steckte die Kante einer weiß lackierten metallenen Kehrschaufel. Krohn, der schon viel in seiner beinahe dreißigjährigen Karriere gesehen hatte, drehte es den Magen um. Volkmar Herbst, der Rechtsmediziner, kniete neben der Leiche. Er sah zu Krohn auf und nahm seine Atemmaske vom Gesicht.
„Mann, Mann, Mann“, sagte Herbst. „Das hier sieht echt übel aus. Wer ersticht denn jemanden mit einem Kehrblech, sag mal?“ Er schüttelte den Kopf und sah zu der Frau hinunter.
„Wie lang liegt die denn schon hier, um Himmels Willen?“ fragte Krohn, erschreckt über die Faszination, die der Anblick der Frau mit dem Kehrblech im Hals auf ihn ausübte.
„Das kann ich dir erst nach der Autopsie genau sagen. Aber drei Wochen sind es bestimmt.“
Krohn wandte sich an Niehaus: „Wer hat sie gefunden?“
Niehaus blätterte in seinem Notizbuch. „Die Nachbarin, eine Frau Schneider, hat die Hausverwaltung angerufen, nachdem Frau Rieger, so heißt die Tote hier, zum zweiten Mal versäumt hatte, das Treppenhaus zu putzen. Die versuchten dann, Frau Rieger telefonisch zu erreichen und als das nicht gelang, hat die Hausverwaltung einen ihrer Mitarbeiter geschickt, um Frau Rieger persönlich an ihre Pflichten zu erinnern. Herr Tarp hat die Wohnung geöffnet, nachdem ihm der Gestank aufgefallen war. Der sitzt übrigens drüben in der Küche.“
„Ist das hier denn eigentlich diese Frau Rieger?“
„Hmm, gute Frage“, sagte Niehaus. „Davon bin ich ausgegangen. Herr Tarp hat nichts dergleichen erwähnt.“
„Gut“, sagte Krohn, „dann rede ich mal mit ihm. Nimm dir einen der uniformierten Kollegen und befrag bitte die Hausbewohner, ob die etwas bemerkt haben. Und zieh die Wohnungstür bei, wenn du raus gehst, sonst stinkt das ganze Treppenhaus.“
„Mach' ich“, sagte Niehaus und verschwand mit einem dankbaren Lächeln.
„Die Todesursache dürfte klar sein, oder?“ Krohn wandte sich wieder der Toten zu, die Herbst gerade von ihrem makabren Halsschmuck befreite.
„Ja“, antwortete Herbst. „Das Kehrblech hat die Halsschlagader durchtrennt. Sie dürfte ziemlich rasch verblutet sein. Auf dem dunklen Teppich kann man die Größe der Blutlache gar nicht erkennen. Wir machen nachher, wenn wir sie weggeschafft haben, noch ein paar Schwarzlichtaufnahmen.“
„Sonst irgendwelche Spuren? Hat es einen Kampf gegeben?“
„Oberflächlich kann ich bei der starken Verwesung nichts mehr finden. Wer weiß, vielleicht bin ich nach der Autopsie schlauer.“
„Gut, danke. Ruf mich an, wenn du was hast. Ich werde mich jetzt mal mit dem Kerl von der Hausverwaltung unterhalten. Mach's gut.“ Krohn winkte zum Abschied und verließ mit erleichtertem Schnauben das Wohnzimmer.


Krohn setzte sich mit einem Becher Kaffee an seinen Schreibtisch, legte die Füße hoch und starrte aus dem Fenster. Auf der gegenüberliegenden Seite des Lichthofs goss eine Schreibkraft ihre Grünlilien. Niehaus, der auf der Besucherseite seines Schreibtischs Platz genommen hatte, informierte ihn über die Aussagen von Frau Riegers Nachbarn. Laut Spurensicherung musste sie ihren Mörder selbst in die Wohnung gelassen haben, es gab keine Hinweise auf einen Einbruch. Also hatten sie die Nachbarn nach möglichen Besuchern gefragt, doch niemand wollte einen Unbekannten im Haus bemerkt haben, niemand konnte sagen, ob Frau Rieger überhaupt jemals Besuch bekam, keiner wusste etwas über ihren Lebenswandel, nur, dass sie zu unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten das Haus verließ oder nach Hause kam. Die direkte Nachbarin hatte angegeben, abends gelegentlich den Fernseher in Frau Riegers Wohnung gehört zu haben. Im Sommer habe die junge Frau oft auf ihrem Balkon gesessen und gelesen. Wo sie arbeitete oder ob sie Familie hatte, wusste keiner der Hausbewohner. Eine Nachbarin war der Überzeugung, Rieger sei eine Prostituierte gewesen, weil sie oft spät in der Nacht das Haus verließ und in den frühen Morgenstunden erst wieder zurückkehrte.
„Wir müssen da noch mal hin“, beendete Niehaus seinen Bericht. „In vier Wohnungen haben wir niemanden angetroffen. Ist ja auch klar, so mitten am Tag. Ich gehe da heute Abend noch mal vorbei.“
„Ja, mach das.“ Krohn stemmte die Füße auf den Boden, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah den Kollegen an. „Was wissen wir über Silke Rieger? Dieser Stefan Tarp von der Hausverwaltung sagte, er habe sie nicht persönlich gekannt. Er war uns bei der Feststellung der Identität also keine Hilfe.“
Niehaus fischte eine Plastiktüte vom Schreibtisch hinter seinem Rücken und warf sie Krohn zu. „Hier ist ihr Personalausweis. Raubmord können wir wohl ausschließen, ihre Handtasche mit dem Portemonnaie darin hing an der Flurgarderobe. Sie war erst 32. Vielleicht kann man sie aufgrund des Fotos identifizieren. Aber warum sollte sie es nicht gewesen sein?“ Niehaus blätterte in seinen Notizblock und kratzte sich am Kinn. „Sie hat für ein Call-Center gearbeitet, in einer Kommode in ihrem Schlafzimmer haben wir ein paar Unterlagen sichergestellt, darunter war auch ihr Arbeitsvertrag. Ich habe vorhin dort angerufen, niemand hat sie vermisst. Es ist wohl schon öfter vorgekommen, dass Mitarbeiter einfach von heute auf morgen nicht mehr zur Arbeit kamen. Also hat man gedacht, Frau Rieger sei auch so ein Fall.“
„Na toll!“ Wütend schlug Krohn mit der flachen Hand auf den Tisch. „Muss man denn erst anfangen zu stinken, bevor irgendjemand kommt und sich um einen kümmert?“
Niehaus verstand sofort, was er meinte. Das war nun schon der dritte Mordfall innerhalb weniger Monate, das dritte Opfer, das offenbar völlig allein auf der Welt war, ohne Freunde oder Familie, ohne jemanden, der die Person vermisst hätte. Wäre die Sache mit der versäumten Hausordnung nicht gewesen, hätte Frau Rieger vermutlich noch wochenlang in ihrer Wohnung gelegen, bis man den Gestank irgendwann nicht mehr hätte ignorieren können.
Zu Martin Steinert, einem 52-jährigen Sachbearbeiter einer Krankenversicherung, hatte man tatsächlich erst zu dem Zeitpunkt versucht, Kontakt aufzunehmen, als die Geruchsbelästigung im Haus so stark wurde, das selbst die Nachbarwohnungen davon beeinträchtigt wurden. Der Verwesungsprozess war bereits so stark fortgeschritten, dass Rechtsmediziner und Spurensicherer durch eine Lache von Leichensekret waten mussten, um ihn aus dem Stuhl zu lösen, an den er gefesselt war. Der Mörder hatte ihm Augen und Nase fest verbunden und ihn gezwungen, Papier zu essen. Offensichtlich hatte sich Steinert mehrmals erbrochen, bevor er an den Papierstücken erstickt war. An seiner Arbeitsstelle hatten alle vermutet, er sei im Urlaub. Auch bei ihm hatte es, wie in Frau Riegers Wohnung, keine Spuren eines Einbruchs gegeben.
Gestank gehörte für Erich Baumann, 47, angestellt bei der Müllabfuhr, zwar zum Arbeitsalltag und an den Gerüchen, die auf der von seiner Firma bedienten Müllhalde herrschte, hätte man vielleicht auch krepieren können. Erstickt war er aber an einer fest um seinen Hals verschnürten Plastiktüte. Er hatte mehrere Tage zwischen Bergen von Hausmüll gelegen, bevor ein Planierer, der die Halde Tag für Tag in fest abgesteckten Bahnen abfuhr, seine Leiche entdeckt hatte. Möwen und Krähen und Füchse hatten seinen Leichnam übel zugerichtet. Bei der Firma gab es keine festen Teams, also fiel niemandem Baumanns Fehlen auf. Die Kollegen wähnten ihn krank oder im Urlaub, die Personalverwaltung der Firma hatte bereits eine Abmahnung formuliert, die man ihm nach Ablauf weiterer vier Tage hätte zustellen wollen.
Krohn sah auf die Uhr. Es war viertel vor vier. Den Bericht der Spurensicherung würde er nicht vor morgen bekommen, also beschloss er, in die Rechtsmedizin zu fahren und anschließend Feierabend zu machen.


Der groteske Anblick der toten Silke Rieger war Krohn auf den Magen geschlagen und der Besuch bei Herbst hatte seinem Appetit den Rest gegeben. Das monatliche Abendessen mit seiner Tochter Claudia wollte er aber dennoch nicht absagen. Sie sahen sich ohnehin viel zu selten. Sie studierte Literaturwissenschaft und Geschichte und lebte seit vier Jahren in ihrer eigenen kleinen Wohnung. Also war er nach dem Besuch in der Rechtsmedizin beim Supermarkt vorbei gefahren und hatte zwei Flaschen Rotwein besorgt. Den konnte er jetzt gut gebrauchen, auch wenn er wusste, dass der Wein Gift war für die Kopfschmerzen, die ihn seit dem Unfall vor sechs Jahren plagten. Seine Frau war dabei ums Leben gekommen. Wie erwartet hatte Herbst noch keine Ergebnisse für ihn gehabt. Der Personalausweis reichte zur Identifizierung nicht aus, also ließ Herbst das Gebiss der Toten durchleuchten und gab Krohn die Röntgenaufnahmen mit, damit sie gleich morgen die Zahnärzte der Stadt abklappern konnten. Nun stand er am Herd in der Küche seiner Tochter und schnitt Tomaten und Paprika. Er hatte das Kochen übernommen, damit Claudia weiter für ihre Hausarbeit recherchieren konnte.
Er hatte gerade den Korkenzieher an einer der Rotweinflaschen angesetzt, als er Claudia aus dem Wohnzimmer rufen hörte.
„Ach du lieber Himmel. Papa, komm, das musst du dir ansehen!“
Krohn trat hinter sie. Der Korkenzieher entglitt ihm, als er sah, was Claudia da aufgerufen hatte. Einen Moment lang dachte Krohn, er würde hinter dem Korkenzieher zu Boden gehen, so heftig traf ihn ein unsichtbarer Pfeil aus Schmerz hinter seiner linken Schläfe.
„Was ist das denn? Wer stellt denn so etwas ins Netz? Entweder, da hat einer einen echt perversen Humor oder ...“
„Wo hast du das gefunden, Schatz?“ unterbrach er sie. Vor Entsetzen konnte er kaum sprechen.
„Das ist doch nicht echt, oder? Sag, dass das nicht echt sein kann.“ Ungläubig sah Claudia zu ihm hoch.
„Wo hast du das her?“ fragte Krohn, diesmal lauter.
„Das hab ich bei Twitter gefunden.“
„Und was ist das?“
„Ach, Papa, irgendwann gebe ich dir mal Internetnachhilfe. Twitter ist ein Forum für Kurznachrichten. Jeder kann etwas hineinschreiben und in der ganzen Welt verbreiten.“
„Kann man sehen, wer das geschickt hat?“
„Nein, das kann man meistens nicht, es sei denn, der User benutzt seinen wirklichen Namen. Den Eintrag hier habe ich auch nur gefunden, weil ihn jemand, dessen Nachrichten ich lese, weitergeleitet hat. So geht das nämlich. Du suchst dir Leute aus, die etwas zu deinem Thema schreiben. Dann kriegst du alles angezeigt, was sie hier veröffentlichen. Diejenigen lesen natürlich auch selbst die Nachrichten von anderen und die wieder von anderen und so, quasi im Schneeballeffekt, landet allerhand bei mir. Dieser hier will garantiert nicht erkannt werden. Sieh dir nur mal den Namen des Users an: death-on-disorder. Tod bei Unordnung, wie albern.“ Claudia lachte höhnisch. „Warum ist das so wichtig? Das hat doch bestimmt nur irgend so ein Irrer mit einer kranken Phantasie auf seinem Rechner zusammengebastelt.“
„Kann man sehen, was dieser User noch alles ins Netz gestellt hat?“
„Ja, klar, das geht. Man braucht nur auf den Namen zu klicken. Soll ich das mal anzeigen lassen?“
„Nein, jetzt nicht“, sagte Krohn und strich seiner Tochter sanft über den Rücken. „Wir wollen uns doch nicht den Appetit verderben, oder? Ich habe jedenfalls keine Lust, mir jetzt noch mehr solchen Müll anzusehen.“
„Hast ja recht. Das ist wirklich eklig.“
„Erklär mir nur, wie ich das selbst im Internet finden kann, dann sehe ich mir das morgen mal in aller Ruhe an.“
„Ist ganz einfach. Ich lege dir einen Account an und leite die Nachricht an dich weiter, dann hast du alles sofort auf dem Bildschirm.“
Er tätschelte die Schulter seiner Tochter und bat sie zu Tisch: „Ich mache uns noch den Wein auf und dann lassen wir es uns schmecken.“
„Prima, Papa, lass mich nur noch schnell das Konto einrichten, wo ich schon auf der Seite bin.“
Krohn hörte ihre Finger über die Tastatur fliegen, während er den Korkenzieher aufhob und die Flasche entkorkte. Als er die dampfenden Schüsseln auf den Tisch stellte, hatte Claudia die Weingläser bereits gefüllt.
„Hmm, das sieht ja lecker aus. Danke, dass du das Kochen übernommen hast, das war mir eine echte Hilfe, ich bin richtig gut weitergekommen.“
„Schön, Schatz, das freut mich. Hau rein.“
Claudia verschlang das Rinderfilet und das Ratatouille-Gemüse mit sichtlichem Appetit. Krohns Magen allerdings wollte das Essen nicht recht behagen.


Am nächsten Morgen rief Krohn am Internetrechner im Büro der Mordkommission die Twitter-Seite nach den Anweisungen auf, die Claudia ihm aufgeschrieben hatte. Es war spät geworden. Gemeinsam hatten sie eineinhalb Flaschen Rotwein geleert und sich bis kurz vor Mitternacht unterhalten. Sie hatte von ihrer Hausarbeit erzählt, die das Verhältnis von gelebter Wirklichkeit und realistischer Literatur am Beispiel der immer häufiger werdenden Klagen gegen Schriftsteller, die angeblich Persönlichkeitsrechte verletzten, untersuchen sollte. Krohn interessierte das Thema und er hatte seiner Tochter, die begeistert darüber sprach, aufmerksam zugehört. Das Foto, das sie gestern Abend aufgerufen hatte, gehörte zweifellos in den Bereich der gelebten Realität, obwohl er keine Ahnung hatte, zu wessen Realität noch, außer der des Opfers. Krohn spürte noch immer den stechenden Schmerz, den der Anblick des weiß lackierten Metalls einer Kehrschaufel auf Claudias Bildschirm in seinem Kopf ausgelöst hatte. Er tippte den Benutzernamen und das Passwort ein und fand die an ihn weitergeleitete Nachricht. Leichte Panik stieg in ihm hoch, als er auf den Namen des Users klickte. Es dauerte keine zwei Sekunden, bis er das komplette Nachrichtenarchiv von death-on-disorder vor sich hatte. Fünf Einträge gab es. Sie waren chronologisch sortiert, der neueste stand an erster Stelle, der erste Eintrag war fast ein Jahr alt. Wie alle anderen enthielt er einen Link. Mit angehaltenem Atem klickte Krohn ihn an. Auf dem Foto, das sich nun öffnete, sah Krohn einen großen Haufen durcheinandergeworfener Bücher. Ein Regal war umgestürzt und hatte seine Fracht im Raum verteilt. Erst bei genauem Hinsehen erkannte er den Ärmel eines Hemdes und die halb unter Büchern verschüttete Hand. Krohn atmete auf. Von einem Mord an einem Buchhändler wusste er nichts. Vielleicht lebte hier doch nur irgend ein Spinner seine etwas sehr makabre Art von Humor aus. Er schloss das Fenster und öffnete den Link in der zweiten Nachricht. Dieses Foto war in einer Küche entstanden, im Mittelpunkt eine Person, die an einen Stuhl gefesselt war. Martin Steinert, schoss es Krohn durch den Kopf. Der Versicherungssachbearbeiter. Hatte einer der Polizeifotografen Bilder verkauft? Nach dem zweiten Blick auf das Foto verwarf Krohn den Gedanken. Steinerts Gesicht sah rund und rosig aus, das Foto musste ganz kurz nach dem Tod des Mannes entstanden sein.
Gerade wollte er die Links zu den Fotos ein zweites Mal aufzurufen, als Niehaus mit einem fröhlichen „Guten Morgen“ das Büro betrat. Ein bisschen beneidete Krohn ihn um diese unerschütterliche Fröhlichkeit, die nichts Aufgesetztes hatte, sondern tief aus seinem Innerem kam.
„Peter, komm her, ich habe hier was“, forderte Krohn den Kollegen auf.
Ohne die Jacke abzulegen trat Niehaus neben den Stuhl des Hauptkommissars. Mit vor Entsetzen offenem Mund sah er das leblose Gesicht einer Frau unter einem Berg von alten Zeitungen und Kleidungsstücken herausschauen.
„Was soll das?“ fragte Niehaus.
„Wart's ab“, antwortete Krohn und klickte auf den Link, der zu dem Bild von Martin Steinert führte.
„Ach du Scheiße“, entfuhr es Niehaus. „Das gibt es doch nicht. Wo hast du die her?“
„Claudia ist gestern im Internet darüber gestolpert.“
„Was … Hat da einer unserer Polizeifotografen Bilder ins Internet gestellt?“
„Nein, das halte ich für ausgeschlossen. Sieh dir das Foto einmal genau an. Steinerts Gesicht sieht fast unversehrt aus. Vielleicht war er zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht tot.“ Krohn rieb sich die Schläfen. Der Schmerz dahinter verlangsamte sein Denken.
„Aber das heißt ja ...“ Niehaus sah Krohn entgeistert an.
„Genau das heißt es“, sagte Krohn. „Wir werden uns die Akten dieser Todesfälle alle genau ansehen und nach Gemeinsamkeiten zwischen den Opfern suchen müssen. Die Datierung der Einträge gibt uns einen ziemlich guten Anhaltspunkt, wann die Personen gestorben sind. Es sind fünf, Peter. Fünf Fälle.“
„Kann man herausfinden, wer die Bilder ins Netz gestellt hat?“
„Keine Ahnung. Ich hoffe, die Kriminaltechnik kann das. Suchst du bitte nach Unterlagen zu den Opfern auf den Fotos, die nicht bei uns in der Mordkommission gelandet sind? Wahrscheinlich ist auf Unfall erkannt worden, aber irgend etwas muss es darüber geben. Und bring mir Steinerts Akte mit.“
Krohn lud die Fotos auf die Festplatte des Rechners herunter. Dann setzte er sich an seinen Schreibtisch und wählte die Nummer der kriminaltechnischen Abteilung.


Lars Roth, Mitarbeiter der Kriminaltechnik, hatte Krohn jede Hoffnung geraubt, über den Account von death-on-disorder die Herkunft der Fotos ausfindig machen zu können. Vom Anbieter der Twitter-Plattform bekäme man lediglich die E-Mail-Adresse des Inhabers, die zum Anlegen eines Accounts erforderlich war, und selbst das wäre schwierig, weil der Betreiber in Amerika saß. Und weil man inzwischen überall im Internet anonym E-Mail-Konten einrichten konnte, würde sie das auch nicht weiter bringen. Vielleicht könnten sie death-on-disorder aufspüren, wenn er wieder etwas bei Twitter veröffentlichte.
„Aber das würde ja bedeuten, dass zu dem Zeitpunkt ein weiterer Mensch gestorben wäre“, resümierte Krohn. Denn außer Fotos von seinen Opfern hatte der User keine anderen Nachrichten über Twitter verbreitet.
„Ja, das hieße es wohl“, bestätigte Roth.
Krohn bat ihn, die Überwachung in die Wege zu leiten, wenn er das auch als letzten Ausweg betrachtete. Sie mussten den Mistkerl auf andere Weise finden. Er schickte Roth die Fotos, die er aus dem Internet herunter geladen hatte, und bat ihn, sie nach weiteren Spuren auszuwerten. Sollte Niehaus keine Unterlagen über die zwei anderen Todesfälle finden, halfen die Fotos vielleicht, die Identität der Toten zu klären.
Die Morde waren in einem Abstand von etwa zwei Monaten verübt worden. Krohn schlug die Ermittlungsakten der Fälle Baumann und Rieger auf. Den Fall Steinert hatten sie vor zwei Monaten ohne Ergebnis zu den Akten gelegt. Er erinnerte sich noch gut an die Details der Ermittlung. Die drei Personen hatten in den verschiedensten Gegenden der Stadt gewohnt, gehörten unterschiedlichen Gesellschaftsschichten an, besaßen keine gemeinsamen körperlichen Merkmale und gehörten auch keinem Verein an, über den sie ihren Mörder hätten treffen können. Gemeinsam war ihnen nur, dass sie allein und zurückgezogen ohne Freunde oder Familien lebten und in großen Firmen arbeiteten, wo eine gewisse Anonymität unter den Kollegen herrschte, so dass ihre Abwesenheit erst spät oder gar nicht auffiel. In keine der Wohnungen war eingebrochen worden. Der Täter musste also Zugang zu den Wohnungen gehabt haben. Doch auf wen sollte das zutreffen? Krohn hielt einen gemeinsamen Bekannten für ausgeschlossen, dazu waren die Lebenswelten der drei bisher bekannten Opfer zu verschieden. Als mögliche Täter kamen also nur Personen in Betracht, die in den Häusern ein und aus gingen und die man ohne Zögern in seine Wohnung ließ, weil man ihnen vertraute: Heizungsableser, Vertreter, Briefträger, Zeugen Jehovas, Zeitungsboten, die Liste ließ sich beliebig fortsetzen. Der ganze Polizeiapparat wäre nicht in der Lage, die Dienstpläne aller Mitarbeiter dieser Berufsgruppen im vergangenen Jahr zusammenzutragen.
Niehaus kehrte aus dem Archiv zurück und legte Krohn die Akte des Falls Steinert auf den Tisch. Eine weitere Akte hielt er triumphierend in die Höhe.
„Heinrich Windisch, Antiquar“, sagte Niehaus. „Die Fotos vom Fundort passen genau zu dem Bild, das du im Internet gefunden hast.“
„Zeig her.“ Krohn riss ihm die Mappe aus der Hand. Im Rhythmus des Pochens hinter seiner Stirn blätterte er die Seiten um, überflog die Fundortbeschreibung und den Bericht aus der Rechtsmedizin. Auch Windisch schien sozial völlig isoliert gelebt zu haben. Nur der Kunde, der den Toten in seinem Laden gefunden hatte, war befragt worden, auf weitere Ermittlungen hatte man verzichtet, zu deutlich waren die Hinweise auf einen Unfall. Ein übervoll beladenes Bücherregal war ins Wanken geraten und auf den Antiquar gestürzt. Die Schädelverletzung stammte eindeutig von der oberen Kante des Regals.
„Und zu der älteren Frau unter dem Zeitungsberg hast du nichts gefunden?“
„Nein, tut mir leid. Bei uns ist zum fraglichen Zeitpunkt nichts hereingekommen, dass sich auch nur annähernd mit dem Foto in einen Zusammenhang bringen ließe“, sagte Niehaus.
Krohn fluchte und stützte die Stirn in die offenen Hände. „Wie sollen wir den nur finden, Peter? Das ist doch schlimmer als die Suche nach einer Nadel im Heuhaufen.“


In den nächsten Wochen klapperten Krohn und Niehaus alle Personen in der Umgebung der Toten noch einmal ab. Akribisch trugen sie die Einzelheiten aus den Akten und Befragungen zusammen: Arbeitsstelle, Wohnort, Nachbarschaft, Einkaufsgewohnheiten, kein noch so unbedeutend erscheinendes Details ließen sie aus. Sie fanden einfach keine Gemeinsamkeit, außer dass sie offensichtlich allein auf der Welt gewesen waren. Krohn befürchtete, dass sie den Täter wohl nie fassen würden. Immerhin hatten sie die Identität der Frau unter dem Zeitungsstapel geklärt. Der Hausarzt von Hildegard Höller, einer Renterin und krankhaften Müllsammlerin, hatte die Tote anhand des Fotos erkannt, mit dem die uniformierten Kollegen von Praxis zu Praxis gegangen waren.
Die Ausweglosigkeit der Ermittlungen setzte Krohn so zu, dass der Kopfschmerz seine Wahrnehmung zu trüben begann. Einzig die Abendessen bei seiner Tochter brachten Licht in seinen tristen Alltag. Danach kehrte er jedes Mal so entspannt und zufrieden in die Einsamkeit seiner Wohnung zurück wie nach einem Wochenende am Meer.
Am Vormittag nach einem dieser Abende klingelte Krohns Telefon. Lars Roths Stimme klang aufgeregt.
„Hallo, Klaus. Kannst du ganz schnell runter kommen? death-on-disorder ist online.“
„Was? Sag, dass das nicht wahr ist!“ rief Krohn, knallte den Hörer auf die Gabel und sprang so schnell aus seinem Stuhl, dass dieser umfiel. „Komm mit, Peter, los, schnell!“
Außer Atem starrte Krohn auf die beiden Bildschirme vor Roth. Rechts sah man den neuen Eintrag von death-on-disorder auf Twitter, links zeichnete eine Visualisierungssoftware die Internetverbindungen vom Server des Twitter-Betreibers über die in der ganzen Welt verteilten Netzwerkknoten nach. Sekündlich baute sich vor Krohns Augen eine neue Verbindungslinie auf.
„Wir haben die amerikanischen Kollegen um Amtshilfe gebeten. Die haben bei Twitter die Zustimmung erreicht, ihren Server zu überwachen und unsere Tracking-Software folgt den Datenströmen jetzt bis zu deren Ursprung.“
In diesem Moment öffnete sich ein Fenster im linken Bildschirm und zeigte eine in vier Blöcke unterteilte Nummer an.
„Was ist das?“ fragte Krohn.
„Das, lieber Klaus“, antwortete Roth mit breitem Grinsen, „ist die Internetadresse von death-on-disorder. Alles, was wir jetzt noch tun müssen, ist, die Nummer bei den Internet-Providern abzufragen. Den Gerichtsbeschluss dafür hast du binnen Minuten. Dann haben wir den Scheißkerl!“
Eine Welle der Hoffnung durchströmte Krohn. Endlich. Endlich konnten sie die Ermittlungen zu einem Ende führen und einen Serienmörder hinter Schloss und Riegel bringen. Doch die Freude über diesen Erfolg versiegte so schnell, wie sie aufgekeimt war.
„Was“, fragte Krohn leise, „hat er diesmal geschickt?“
„Scheiße, ja“, sagte Roth. „Daran habe ich ja überhaupt nicht gedacht.“
Er klickte auf den Link in der Nachricht. Das neue Foto zeigte eine Ligusterhecke, eine Klappleiter und zu deren Füßen einen Menschen in einer eigentümlichen seitlichen Lage, die daher rührte, dass der lange Griff einer Heckenschere den Brustkorb stützte. Die Klinge der Schere zwischen den Schulterblättern zeigte in den strahlend blauen Himmel.
„Nicht zu fassen“, rief Krohn. Wut verdrängte die Übelkeit, die sich in seinem Magen ausgebreitet hatte wie ein schlechter Geschmack. „Schreib mir diese verdammte Internetadresse auf, den Kerl schnappen wir uns jetzt.“


Der Mann, der ihm am Vernehmungstisch gegenüber saß, widerte Krohn an. Gleichzeitig konnte er nicht glauben, dass dieser unscheinbare Mann der Täter sein sollte. Der 46-jährige Postangestellte saß aufrecht, die Hände in den Schoß gelegt, den Kopf gerade, Blickrichtung nach vorn. Er trug eine graue Wollhose mit Bundfalten und ein weißes Hemd, das von grauen Strähnen durchzogene Haar war mit Brillantine streng nach hinten gekämmt. Der Mann hatte sich am Morgen, als sie von einem Netzanbieter die Daten des zu der Internetadresse gehörenden Nutzers bekommen hatten, ohne Widerstand zum Präsidium bringen lassen. Seine Wohnung hatten sie in penibler Ordnung vorgefunden. Die Lebensmittel im Kühlschrank waren akkurat nebeneinander gestapelt, die Etiketten der Gemüsedosen im Vorratsschrank zeigten nach vorn und die Handtücher im Bad hingen in exakt der gleichen Länge vom Handtuchhalter. Hinweise auf seine Taten hatten sie vergeblich gesucht, bis sie auf dem Laptop des Mannes zahllose Fotos gefunden hatten, darunter diejenigen, die der Mann ins Internet gestellt hatte. Er musste seine Opfer wochenlang beobachtet haben.
„Sie sind also death-on-disorder?“ fragte Krohn.
„Ja“, antwortete der Mann ohne erkennbare Regung.
„Warum haben Sie all diese Menschen umgebracht?“
„Ich habe sie befreit!“
„Wie meinen Sie das?“
„Diese Leute hatten doch gar kein Leben, nicht einmal ein halbes. Keine Familie, keine Freunde, die einzige Post, die sie bekamen, waren Kontoauszüge oder Rechnungen oder Werbung. Und dann diese Unordnung. Sie konnten überhaupt keine Ordnung halten. All dieser Müll und dieser Dreck, den sie hinterlassen haben, und diese Schlamperei, mit der sie ihre Berufe ausgeübt haben. Ordnung ist das halbe Leben. Und Familie und Freunde die andere Hälfte. Diese Leute hatten doch gar kein Leben, und davon habe ich sie befreit.“
„Wollen Sie damit sagen, Sie haben Silke Rieger nur getötet, weil sie allein gelebt und ein oder zwei Mal die Treppe nicht geputzt hat?“ Fassungslos sah Krohn den Mann an.
„Die ist ihrer Pflicht zur Ordnung auf Kosten der Allgemeinheit nicht nachgekommen, deshalb musste sie weg.“
„Und Reinhold Wiese? Was hat er getan, um mit einer Heckenschere in der Brust zu enden?“
„Sie hätten das Gerümpel in seinem Garten sehen sollen. Außerdem hat er seine Hecke viel höher wachsen lassen als erlaubt.“ Krohn sah, wie der Mann die Oberlippe verzog.
„Und die anderen?“
Er hörte nur mit halbem Ohr hin, während der Mann über die Unordentlichkeit der anderen Opfer wetterte, über aus den Tonnen gefallenen Müll, über vollgestopfte Wohnungen, über verloren gegangene Beihilfeanträge.
„Und Sie? Sie leben doch auch allein und ohne Angehörige, wenn ich das richtig sehe. Was würde passieren, wenn Sie einmal nicht mehr in der Lage wären, in ihrer eigenen Wohnung diese Ordnung zu halten, auf die Sie so schwören? Würden Sie sich dann auch töten?“
Der Mann zögerte keine Sekunde mit seiner Antwort: „Natürlich. Ordnung ist das halbe Leben.“
In diesem Moment flog die Tür des Vernehmungsraums auf und ein blonder, etwa 35-jähriger Mann stürmte herein. Er schrie: "Was ist mit Silke passiert? Was haben Sie getan?" Sein Gesicht war eine Grimasse aus Wut und Trauer und Verzweiflung.
"Sorry, Klaus, ich konnte ihn nicht aufhalten", sagte Niehaus, der hinter dem Mann in den Raum getreten war. "Das", erklärte er, "ist Werner Uhl, Silke Riegers Freund."

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Tag der Veröffentlichung: 22.11.2009

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