Wellness
- von Fitness, Folter und Feng Shui -
„In der Ruhe liegt die Kraft. Finden auch Sie zurück zu innerer Entspannung und Gelassenheit.“
Dieser Schriftzug begrüßte mich, als ich auf das Gelände des Kurhotels Lichtenfels-Waldenau einfuhr. Geschwungen waren die Buchstaben auf dem Schild, in einem luftig leichten Hellgrün, darunter eine Lotusblüte – genau wie in der Broschüre. Auch das Gebäude sah aus wie in der Beschreibung: Schneeweiß, mit Marmorsäulen am Eingang und inmitten von sanften, grünen Hügeln.
Mit einem Lächeln schaute ich zu der Reisetasche auf dem Beifahrersitz. Bis vor Kurzem hatte ich gezweifelt, ob ich als viel beschäftigte Geschäftsfrau je wieder Zeit für mich finden würde, und nun das: Ein kostenloses Wellness- Wochenende samt Kosmetik- und Massageanwendungen. „Mitarbeiter-Motivierungsprogramm“, nannte unser Chef diese Maßnahme. Damit ich danach mit noch mehr Freude an die Arbeit ging. Da hatte ich nicht zweimal überlegt, Wellness bedeutete schließlich Entspannung pur.
Zumindest dachte ich das zu diesem Zeitpunkt noch.
„Willkommen im Tempel der Ruhe.“ Die gedämpfte Stimme ließ mich zusammenzucken. Irritiert schaute ich zur Seite – und sah eine blonde Frau, die mir in diesem Moment die Fahrertür öffnete.
„Einen wunderschönen Tag, Frau Saitner“, begrüßte sie mich. „Mein Name ist Sylvie Rosner, ich bin während des Programms Ihre persönliche Betreuerin. Kommen Sie doch mit." Sie trat zur Seite, damit ich aussteigen konnte, dann fügte sie hinzu: „Unsere Mitarbeiter fahren Ihren Wagen weg und bringen das Gepäck in Ihr Zimmer. Für Sie gibt es ab jetzt nur noch Entspannung - und wenn Sie uns wieder verlassen, werden Sie es gar nicht mehr abwarten können, wieder voller Energie an die Arbeit zu gehen.“
Mit diesen Worten ging sie in Richtung des Hotels und zeigte ein Lächeln, das noch weißer strahlte als die Marmorsäulen am Eingang.
Mein Zimmer lag im Ostflügel und wirkte frisch und hell, mit einem plätschernden Rosenquarzbrunnen neben dem Bett und Gardinen aus leichtem, durch-scheinenden Stoff. Alles war nach Feng- Shui eingerichtet - doch für mich zählte, dass es auch einen großen Fernseher gab, denn vielmehr als den Blick zur aufgehenden Sonne brauchte ich beim Aufstehen die Börse am Morgen und einen warmen Kaffee.
Mit einem leisen Seufzen streckte ich mich, sank auf das Bett hinunter – und sank und sank und… begriff, dass es sich um ein Wasserbett handelte.
Fluchend versuchte ich mich aufzusetzen, doch wo immer ich mich aufstützte, gab die Matratze mit einem Gluckern nach. Meine Arme sackten nach unten, und im nächsten Moment lag ich in den drapierten Kissen, umgeben von einer Duftwolke aus Lavendel-Waschmittel, Raumspray und dem Vanille-Aroma der Kerzen auf dem Nachttisch.
„Oh, ich weiß, diese Hydrobetten sind wunderbar“, säuselte plötzlich eine bekannte Stimme. „Wir nutzen besonderes Thermalwasser aus den Quellen des Taunusgebirges. Da hat man gleich ein Stück Natur bei sich.“
Sylvie Rosner betrat den Raum, durchschritt ihn leichtfüßig und schob die Gardinen auf. Ich musterte erst die junge Frau, dann die nun offen stehende Zimmertür. Vorsichtig erhob ich mich vom Bett. Die Matratze quappte. „Ich hab’ Sie nicht kommen hören.“
„Oh, dann wissen Sie unseren geräuschaktiven Teppichboden zu schätzen“, flötete Sylvie. „Hier soll schließlich nichts Ihre Ruhe stören.“ Sie glitt wieder zur Tür hinüber. „Darf ich Sie bitten mitzukommen?“
„Mitkommen? Jetzt? Ich habe noch gar nicht ausgepackt"-
„Lassen Sie das unsere Sorge sein – Sie nehmen Ihre Badesachen. Die „Grotte der Aphrodite“ wartet auf Sie…“
Die „Grotte der Aphrodite“ empfing mich mit einem Schwall dicker, Weihrauch geschwängerter Luft, die sich schon beim ersten Atemzug bis in meine Nasennebenhöhlen hoch brannte. Mein Schädel begann schmerzhaft zu pochen, ein Schwindelgefühl überkam mich, und kurz glaubte ich sogar, die Umgebung vor meinen Augen würde verschwimmen. Bis ich erkannte, dass die Dampfschwaden um mich herum keine Halluzination waren, sondern von dem Jakuzzi-Becken in der Ecke herüber waberten.
„Entspannung pur“, seufzte Sylvie. „Hier kann man alle Alltagssorgen vergessen. Legen Sie sich schon mal ins Becken.“ Sie kam auf mich zu, und ehe ich mich versah, zog sie mir den Bademantel von den Schultern und schob mich zum Jakuzzi. Kaum war ich über den Rand gestiegen, schlug mir ein Gasgemisch aus ätherischen Dünsten, Wasserdampf und Weihrauch entgegen. Ich hustete – und wurde von Sylvie unerbitterlich in die flache, fünfunddreißig Grad warme Plörre geschoben.
„So, ich komme wieder, wenn Sie für die nächste Behandlung bereit sind“, sagte sie und rückte mir die Kopfstütze zurecht. „Lassen Sie sich von nichts stören.“ Und so huschte sie davon und ließ mich allein zurück in der „Grotte der Aphrodite“ und ihren Dämpfen.
Das erste, was mir auffiel, war die absolute Stille, die herrschte.
Das zweite der tropfende Wasserkran am anderen Ende des Beckens.
Plopp, machte es.
Und zwei Sekunden später. Plopp. Plopp.
Das Blut in meinen Adern erhitzte sich. Wut kroch in mir hoch, ließ meine Finger zucken – doch statt etwaigen Gewaltphantasien nachzukommen, schloss ich die Augen. Atmete tief ein, dann wieder aus. Entspannung, pure Entspannung. Plopp.
Abschalten vom Stress auf der Arbeit. Einmal nichts tun. Plopp. Plo-
Mit einem Platschen setzte ich mich auf und packte den Wasserhahn. Ich drehte, zog, zerrte, doch das kleine Messing-Ding rührte sich nicht. Mehrmals wiederholte ich die Prozedur erfolglos, dann drehte ich den Hahn einfach vollständig auf. Anstatt des Tropfens erfüllte ein gleichmäßiges, einschläferndes Plätschern den Raum.
Ich lehnte mich entspannt zurück - jedenfalls bis das Volumen des einströmenden Wassers das Fassungs-vermögen des Jakuzzis überschritt und die Kerzen von einer Pfütze umschwappt wurden. Als sich bald darauf erste Kaskaden über den Rand ergossen, musste ich einschreiten: Ich drehte den Wasserhahn zu und tastete auf dem Beckenboden nach dem Abfluss, den ich schließlich unter einem Schaumberg in der rechten, hinteren Ecke ausmachte. Erleichtert zog ich den Stöpsel und setzte mich wieder hin - doch nun sank der Wasserpegel zu schnell. Erneut packte mich Wut, aber auch diesmal beherrschte ich mich: Ich stellte das Wasser wieder an und vertraute darauf, dass das den Pegel im Gleichgewicht halten würde.
Vergeblich. Um meinen Oberkörper herum wurde es immer trockener.
Nun kochte heißer Zorn in meinen Adern auf. Ich schnellte zum Abfluss hin, wollte ihn wieder schließen – und kam dann auf eine andere Idee, die ich da als genial, später allerdings als absolut dämlich empfand.
Bei uns im Büro habe ich viele unbequeme Stühle erlebt, aber geschlagene vierzig Minuten halbseitig auf einem Jakuzzi-Abfluss zu hocken stellte selbst die langwierigsten Konferenzsitzungen in den Schatten. Als Sylvie endlich hereinkam, hatte ich sämtliche Kontrolle über meine linke Gesäßhälfte verloren. Nur ein taubes Kribbeln verspürte ich – und das böse Gefühl, irgendwo einen hässlichen, runden, abflussförmigen Abdruck zu haben.
„Ähm, ich würde mich gerne für das Abendessen fertig machen", log ich. „Könnte ich jetzt gehen?"
Sylvie lächelte. „Aber ja, dafür haben wir vollstes Verständnis“, sagte sie – und setzte dann mit einem strahlend weißen Lächeln hinzu: „Allerdings erst, wenn Sie unsere Thai-Massage genossen haben…“
Einige Minuten später wünschte ich, ich hätte diese Gelegenheit genutzt und die Flucht ergriffen, denn da lag ich bäuchlings auf einem Massagetisch, hatte den Kopf in einer Stützvorrichtung eingeklemmt, die mich makaber an eine Guillotine erinnerte, und ahnte allmählich, welch eine Folterprozedur mir bevorstand.
Dabei hätte ich gleich sehen müssen, dass etwas faul war, denn das Ganze hatte einfach zu harmlos gewirkt: Kein Weihrauch, keine Duftkerzen, stattdessen der Tisch und daneben eine zierliche Asiatin mit unschuldigen Lächeln. Die ersten Massagegriffe entsprachen diesem Bild auch durchaus.
Bis sie mit der echten Thai-Massage anfing, indem sie sich auf den Tisch stemmte, sich hinstellte - und auf meinen Rücken stieg.
Der Schmerz durchzuckte mich von den Fingerspitzen bis in die Zehen. Mein Körper verkrampfte sich, meine Muskeln zogen sich zusammen – und wurden gleich darauf von Händen durchgeknetet, die so gar nicht mehr das Attribut „zierlich“ verdienten. Da wurden Schulterblätter gedrückt, Muskeln mit Fäusten geboxt und die Wirbelsäule mit rhythmischen Trommel-schlägen malträtiert. Nachdem die Asiatin meine Rückenmuskulatur so in eine einzige, weich geklopfte Masse verwandelt hatte, wandte sie sich dem Rest meines Körpers zu: Sie quetschte meine Arme zusammen wie mit einem Schraubstock und imitierte anschließend noch ein Nudelholz, indem sie sich herum drehte und dann mit ihren Armen einmal meine Unter- und Oberschenkel entlang fuhr.
Als die Frau irgendwann von mir abließ, konnte ich mich nicht mehr bewegen. Wie ein schlaffer Fleisch-haufen lag ich da und hätte vermutlich noch länger dagelegen - hätte die Asiatin nicht gefragt, ob ich noch eine Schlammpackung wolle.
Meine Flucht durch die Korridore hatte gewisse Ähnlichkeiten mit den Gehübungen einer Reha-Maßnahme. Nur mit letzter Kraft schleppte ich mich ins Zimmer und aufs Wasserbett. Während ich in den Tiefen der Matratze versank, packte mich totale Erschöpfung. Jetzt gab es nur noch eines, was mir helfen konnte: Ich griff nach der Fernbedienung.
Das vertraute Summen, als das Gerät ansprang, war wie Balsam für meine Muskeln. Ich entspannte mich, vertraute darauf, dass das Fernsehen mich beruhigen würde – und hörte dann mit Schrecken, wie aus den Lautsprechern nicht die Stimmen einer Sendung kamen, sondern sanfte Flötenmusik. Auf dem Bildschirm tauchte ein mintgrüner Hintergrund mit einem Schriftzug auf: „Willkommen in unserem Entspannungskanal Panflöte – Hören Sie zu und lassen Sie die Seele baumeln“.
Die Worte jagten mir einen Schauer über den Rücken. In einer bösen Ahnung drückte ich die anderen Knöpfe – und gelangte nacheinander zu Entspannungskanal Meeresrauschen, Entspannungskanal Vogelgezwitscher, Entspannungskanal asiatische Mönchsgesänge und Entspannungskanal Nächtliche Tierrufe im Regenwald.
Voller Wut knallte ich die Fernbedienung auf den Tisch und sprang vom Bett auf - beziehungsweise ich versuchte es, schrie dabei schmerzerfüllt auf und krabbelte dann, erst hinunter vom Bett und dann hin zu meiner Reisetasche und der sich darin befindenden letzten Verbindung zur Außenwelt: meinem Handy. Doch kaum hatte ich es gierig hevor gefischt, wurde meine Hoffnung zu Entsetzen. Das Kästchen oben links auf dem Display war leer. Kein Empfang.
Ich war von der Außenwelt abgeschnitten! Gefangen!
Die Erkenntnis erfüllte mich mit Panik. Ich lief zum Fenster, suchte nach Zeichen einer Ortschaft, doch wo ich auch hinsah, nur Wald und Hügel. Idyllisch, hatte ich auf der Fahrt gedacht. Und nun… Nein, ich durfte nicht durchdrehen. Übermorgen war alles vorbei. Eigentlich konnte ich mir sogar jetzt einen schönen Abend machen. Irgendwo musste ein Dorf sein; ich würde fahren, bis ich eines fand, mich in eine Gaststätte setzen und essen, und vielleicht-
Plötzlich stockten meine Gedanken. Die grausame Gewissheit ließ meinen Körper erstarren.
Der Autoschlüssel.
Diese Schweine hatten immer noch meinen Autoschlüssel!
Das war zu viel. Trotz der Schmerzen stapfte ich in die Eingangshalle und zu dem Mann am Empfangstisch; als ich ihn ansprach, lächelte er.
„Der Schlüssel? Ist ihr Gepäck noch im Auto?"
„Nein, ist es nicht, aber ich möchte meine Schlüssel trotzdem. Ich will ins nächste Dorf fahren."
Das Zucken, das die Worte in dem Gesicht des Mannes auslösten, dauerte nur einen Wimpernschlag, doch ich begriff, dass ich einen Fehler begangen hatte.
„Pardon, Sie möchten was?“, fragte er.
„Ähm…ins nächste Dorf.“
Das Lächeln des Mannes blieb unverändert, aber die Art, wie er mich anstrahlte, machte mir Angst.
„Tut mir Leid, aber das geht nicht“, sagte er. „Haben Sie die Bestimmungen nicht gelesen?“
„Bestimmungen?“
„Aber ja. Wir betreiben hier schließlich im Namen von Firmen ein „Mitarbeiter-Motivierungsprogramm“, und das ist nur möglich, wenn wir diese Mitarbeiter von allen Stressfaktoren und Reizen der normalen Welt fernhalten. Das können Sie gern in der Broschüre und Ihrer Anmeldung nachlesen, die Sie unterschrieben haben. Wobei – wenn Sie die Behandlung abbrechen möchten, haben wir natürlich Verständnis dafür. Wir müssten dann Ihre Vorgesetzten in Kenntnis setzen, und die Verwaltung, wegen der Bezahlung, aber naja…Kann ich Ihnen sonst einen Wunsch erfüllen?“ Er grinste, doch erwiderte nichts. Von Grauen gepackt, taumelte ich nach hinten. Dann lief ich davon – nicht zurück ins Zimmer, sondern nach draußen, in den Park. Wo ich hinwollte, wusste ich nicht, nur eins stand fest: Ich musste weg, weg von diesem Irrenhaus, weg von seinen dauerlächelnden Bewohnern.
Meine Flucht dauerte fünfzig Meter, dann rannte ich in eine Gruppe weiß gekleideter Gestalten hinein, die im Gras saßen und Yoga-Übungen vollführten. Seltsamerweise blieben die Trainerin und die Gäste jedoch ruhig sitzen, so als nähmen sie keine Notiz von mir.
„Wunderbar“, lobte die Frau. „Schön entspannt. Und als nächstes machen wir den Kranich und danach die Kobra, die den Mond grüßt.“ Sie musterte ihre Zuhörerschaft, dann hob sie in einer fließenden Bewegung ihr Bein und klemmte sich lässig den Fuß hinter den Kopf; alles mit einem Lächeln, versteht sich. „Wir nennen diese Position auch das Eka Pada Hasthasana“, erklärte sie. „Es bringt innere Harmonie und Stabilität. Versuchen Sie es doch auch.“ Sie lächelte den Gruppenmitgliedern zu, und diese standen wie hypnotisiert auf, packten ihre Beine und versuchten sie so hoch wie möglich zu ziehen. Die Trainerin hob unterdessen, noch immer verknotet dastehend, zu einem Mantragesang an.
Das gab mir den Rest. Ich drehte mich um und rannte auf die Straße zu, suchte eine Telefonzelle oder ein Taxi, irgendetwas, mit dem ich Kontakt zur Außenwelt aufnehmen konnte, doch da waren nur Bäume und leere Parkplätze. Ich war ausgeliefert, ich war –
„Frau Saitner, wir haben Sie schon vermisst. Wollen Sie gar nichts essen?“ Der Klang der honigsüßen Stimme ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Ganz langsam, stockend, drehte ich mich um. Sylvie Rosner lächelte.
„Sie wollten essen, sind aber nicht gekommen", erklärte sie. „Da dachte ich, ich schaue nach Ihnen. Nicht, dass Sie uns verloren gehen hier draußen…“ Ihre weißen Zähne glänzten unheilvoll im Licht der untergehenden Sonne.
Ich hielt es für besser zu nicken.
Der Speisesaal war ein sehr großer Raum mit einem sehr kleinen Buffet, das im Wesentlichen aus Salat, noch mehr Salat und einem Brotkorb samt Mager-Margarine bestand. „Lebe nicht um zu essen, esse um zu leben“, nannte ein Schildchen diese Kerkermahlzeit, doch ich wusste, dass mehr dahinter steckte. So machten sie die Leute gefügig: Isolation, Mangelernährung, bizarre Entspannungs-Praktiken. Als ich mich an einen der Gruppentische setzte, musste ich feststellen, wie weit diese Gehirnwäsche schon fortgeschritten war: Die Gäste zeigten gleiche Lächeln wie die Angestellten und kauten gelassen auf ihrem Löwenzahnsalat.
„Welch ein wundervoller Ort“, seufzte eine alte Dame. „Kaum einen Tag hier und so entspannt. Ich hätte nie gedacht, dass Schröpfen so wohltuend sein kann.“
„Oh ja“, stimmte ein Herr zu. „Und erst die Behandlung mit den Blutegeln. Am Anfang fand ich es ja seltsam, aber das Resultat hat mich überzeugt. Wobei… der Durchbruch kam natürlich erst nach der Hypnose.“
Eigentlich hatte ich gerade in mein Mager-Margarine-Brot hinein beißen wollen, doch bei den letzten Worten glitt mir die Scheibe aus der Hand. „Hypnose?“, fragte ich. „Wann?“
„Heute Morgen“, entgegnete der Mann. „Herrlich. Es hat nur ein paar Minuten gedauert, aber seitdem fühle ich mich wie ausgewechselt…“
Wie ausgewechselt. Meine Gedanken rasten. Es war schlimmer, als ich gedacht hatte. Ich musste hier weg, bevor es zu spät war. Ich musste jetzt weg.
Mit wild hämmerndem Herzen betrachtete ich meine Umgebung, die Tische, die Gemälde. Wurde ich beobachtet? Saß Sylvie Rosenbaum irgendwo hier und wartete nur darauf, dass ich versuchte zu fliehen?
Angst ergriff von mir Besitz. Ich entschuldigte mich, stand auf und verließ den Saal, während in meinem Kopf ein Fluchtplan Gestalt annahm: Ich würde mein Handy holen, durchs Fenster nach draußen steigen und so lange laufen, bis ich endlich Empfang hatte.
Doch als ich mein Zimmer betrat, war das Handy nicht mehr da. Genauso wie all mein anderes Gepäck.
In meinem Bad ertönte ein Klappern.
„Oh Verzeihung, ich dachte, Sie wären noch länger im Speisesaal“, tönte Sylvie. „Ich habe nur Ihr Gepäck umgestellt.“
Mein Herz hämmerte wild. „Das Gepäck umgestellt?“
„Aber ja. Ich musste es tun. Sie haben die Tasche direkt vor das Fenster gestellt. Das stört den Qi-Fluss und verhindert eine Harmonisierung des Raumes. Deshalb sind Sie auch immer noch so verspannt.“
„Wegen des Qis? Nun…dann ist ja jetzt alles in Ordnung und ich kann mich entspannen. Ich bin sowieso müde und wollte mich gerade hinlegen und“ – Sylvies Augenbrauen zuckten.
„Hinlegen? Aber das geht nicht, nicht mit dem ganzen schlechten Qi, das Sie angesammelt haben. Bevor Sie schlafen, müssen wir erst den Qi-Fluss in Ihren Körpermeridianen wieder ins Gleichgewicht bringen.“ Und noch bevor ich die Chance hatte, etwas zu erwidern, näherten sich von hinten Schritte und ein unheilvoller Schatten legte sich über mich. Als ich mich umdrehte, sah ich vor mir eine zweite, blonde Frau. Auch sie trug einen weißen Blazer und lächelte – und sie hielt etwas in ihrer rechten Hand. Nadeln.
„Sie werden schon sehen“, sagte eine honigsüße Stimme. „Nichts ist so entspannend wie Akupunktur…“
Das war es dann also. Ich war eingekesselt. Vor und hinter mir der Feind, mein Handy im Bad, die Akupunkturnadeln zwischen mir und dem Ausgang. Jetzt gab es nur zwei Möglichkeiten: Kämpfen oder sich ergeben.
Meine Blicke wanderten von Sylvie zu der anderen Frau, taxierten die beiden. Dann sagte Sylvie plötzlich: „Wenn Sie Angst vor den Nadeln haben, können wir das natürlich auch lassen.“
Ich traute meinen Ohren nicht. „Wie bitte?“
„Nun, wenn Sie keine Akupunktur möchten, zwingen wir Sie nicht“, säuselte Sylvie. „Ich bin sicher, Sie werden heute noch ganz entspannt. Ganz entspannt. Wenn Sie aufs Bett sinken, werden Sie entspannt und hören nichts außer Ihrem Atem, Ihrem gleichmäßigen Atem. Ein und aus. Und ein. Und aus. Und ein“ – und auf einmal hielt sie ein Pendel in der Hand.
Ein Pendel?
Mein Körper verkrampfte sich, und obwohl ein Teil meines Bewusstseins womöglich schon in höhere, transzendente Sphären gestiegen war, ergriffen die rudimentärsten Überlebensinstinkte von mir Besitz. Ich schnellte vor, stieß Sylvie zur Seite, rannte ins Badezimmer, schnappte meine Tasche und stürmte gleich darauf an der Frau mit den Nadeln vorbei. Meine malträtierten Muskeln protestierten, aber ich rannte weiter, durch die Eingangshalle, hinaus in den Park, bis zur Straße. Ob man mir folgte, wusste ich nicht, aber ich warf auch keinen Blick zurück. Immer weiter hetzte ich, keuchend, schnaufend, die Straße entlang, bis ich nach vielen Minuten nicht mehr konnte und auf den Boden sank. Mein Puls raste, mein Herz raste. Ich hatte mich noch nie so elend gefühlt.
Entspannung. Von wegen Entspannung. Nie wieder würde ich bei so etwas mitmachen, da saß ich lieber stundenlang in meinem Büro. Ja, mein Büro, dachte ich, wenn ich doch nur da wäre. In meinem schönen, weichen Schreibtischstuhl, bei meinem Computer, mitten drin in der hektischen, lebendigen Welt. Ich konnte es mir richtig vorstellen, das Gefühl der Tastatur unter meinen Fingern, das Klappern beim Tippen. Die Vorstellung war geradezu-
„Paradiesisch, nicht wahr?“, säuselte eine Stimme neben mir. „Genauso wie ich gesagt habe: Wenn Sie uns verlassen haben, können Sie es gar nicht mehr abwarten endlich wieder zu arbeiten…“
Tag der Veröffentlichung: 22.06.2009
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