Utopolis
Maximilian K. hatte schon immer gewusst, dass er es eines Tages bis nach Utopolis schaffen wollte.
Bereits als Kind hatte er geträumt von jenem so verheißungsvollen Ort, wo sich die Wolkenkratzer in den Himmel reckten und die bunten Schaufenster die Nacht in helles Licht tauchten. Dort, wo so viele Träume wahr geworden waren, wollte auch er sein altes Leben hinter sich lassen und ein neues beginnen. Ein Leben voller Erfolg, Ansehen und Karriere, wie er es in dem Dorf in seiner Heimat niemals hätte erreichen können. Ein Leben, wie er es sich stets vorgestellt und gewünscht hatte – und das schließlich an einem regnerischen Nachmittag im Frühjahr begann.
Als Max’ Zug nach der langen Fahrt endlich in die gläsernen Hallen des Bahnhofs hinein glitt, hingen draußen graue Wolken über der Stadt. Wahrscheinlich tobte ein Sturm, doch in Utopolis, das erkannte er gleich, schienen solche Dinge ihre Bedeutung zu verlieren. Hier deckten mächtige Glasgänge die Boulevards ab und trotzten glänzende Stahlgebäude dem Wind, hatte der Mensch sich die Natur zum Untertan gemacht.
Seinen Koffer in der Hand, stieg Max aus dem Zug und tauchte ein in das wohltuende Gedränge. Hunderte von Menschen waren nun um ihn herum; vor ihm, hinter ihm, neben ihm und wahrscheinlich auch unter ihm, in den Schächten der U-Bahn. Er genoss diesen Moment und atmete tief ein, inhalierte den Geruch von Parfüm, Kunststoff, Aftershave. Den Geruch von Erfolg.
Max schaute umher, ließ das Stimmengewirr und die Lautsprecherdurchsagen auf sich wirken, dann lief er weiter, zum Terminal der S-Bahn. Auch hier herrschte ein angenehmes Menschengewirr, und kaum dass er angekommen war, fuhr schon eine Bahn ein und er konnte hineinschlüpfen. Einen Sitzplatz fand er nicht, aber das machte ihm nichts aus. Es war schließlich nicht weit bis zu seinem Appartement. Hier in Utopolis war alles schnell zu erreichen. Das wollten nur die Leute zuhause in seinem Dorf nicht wahrhaben.
Geh nicht dorthin, die Stadt wird dich verderben, hatten sie gesagt. Dort ist es dreckig und kriminell. Dort wirst du niemals glücklich werden.
Max schmunzelte.
Sie würden noch sehen, wer von ihnen recht behalten sollte.
Seine Wohnung lag in der zwanzigsten Etage eines Hochhauses, hoch über einer der Einkaufsstraßen. Wenn er durch sein Schlafzimmerfenster nach unten blickte, konnte er auf die Menschen hinabblicken, die über die Straßen liefen – und wenn er seinen Blick weiter schweifen ließ, dann sah er die anderen Hochhäuser, die noch höheren, die an diesem Tag tatsächlich bis in die Wolken reichten.
Es war ein Blick, für den er viel bezahlte, doch das machte ihm nichts aus. Morgen hatte er ein Vorstellungsgespräch, und übermorgen saß er dann wahrscheinlich schon in einem der Gebäude, die er nun anschaute. Er, Maximilian K., der Topanwalt von morgen.
Früh am nächsten Mittag betrat Max den Sitz der Kanzlei. Es war ein großes, ein prunkvolles Gebäude, mit glänzenden Marmorboden, einem riesigen Atrium und gläsernen Fahrstühlen. Genau das Richtige für ihn.
Mit selbstsicheren Schritten hielt Max auf einen der Lifte zu, stieg ein und drückte den Knopf für das 38. Stockwerk. Ein Summen ertönte, dazu gab es einen kaum spürbaren Ruck, und bereits wenige Sekunden später schoben sich die Türen wieder auseinander und gaben den Blick frei auf einen Korridor, der vollkommen weiß war. Weiße Fliesen, weiße Wände, weiße Türen – bis auf eine jedenfalls, denn ganz am Ende, wie ein Tor zu einer anderen Welt, befand sich eine Tür ganz in Chrom.
Das Büro von Dr. Robert Braun, dem Leiter der Kanzlei. Anwalt seit über dreißig Jahren, kein einziger verlorener Fall, eine absolute Legende hier in Utopolis.
Max würde alles geben, um ihm zu zeigen, dass er das Zeug hatte, genauso groß zu werden wie er.
Seine Bewerbungsmappe unter den Arm geklemmt, die Schultern fest durchgedrückt, ging er auf die Tür zu. Kaum dass er vor ihr stand, schwang sie wie von Geisterhand auf. Max schritt in den Raum hinein – und verharrte überrascht.
Er befand sich nicht etwa im Büro von Robert Braun, sondern in einem Wartezimmer voller Leute. Frauen und Männer saßen auf Stühlen oder standen einfach nur da, alle im Anzug und mit Mappen in den Händen.
Max’ Eingeweide verkrampften sich.
„Guten Tag, mein Herr. Ihr Name bitte?“
Max drehte sich irritiert um. Eine blonde Frau mit einer Liste stand vor ihm und musterte ihn eindringlich.
„Äh…Ich bin hier zum Vorstellungsgespräch. Maximilian K“ –
„K reicht schon, danke“, unterbrach die Frau ihn. „Im Moment sind wir noch bei D. Nehmen Sie sich einen Stuhl; Sie werden dann aufgerufen, wenn Sie zu Herrn Braun durch können. Hier.“ Sie drückte ihm ein Kärtchen mit der Aufschrift 42 in die Hand. „Wenn Sie dann dran sind, fassen Sie sich bitte kurz; Herr Braun hat noch viel zu tun heute mit all den Einstellungsgesprächen.“ Und damit drehte sie sich um und wandte sich dem nächsten Mann zu, der gerade herein kam.
Max blieb stehen und starrte auf die Reihen von besetzten Stühlen. Mit einem Mal fühlte er, wie seine Knie zu zittern begannen.
Mittlerweile lag dieser Nachmittag sechs Wochen zurück. Robert Braun hatte er damals nicht mehr zu Gesicht bekommen; nach dem letzten Bewerber mit dem Anfangsbuchstaben H hatte er die Geduld verloren und die restlichen Anwärter seinem Assistenten überlassen. Das Gespräch hatte viereinhalb Minuten gedauert.
Wir melden uns dann bei Ihnen, hatte es geheißen.
Doch bis heute hatte Max nicht eine E-Mail bekommen, genauso wenig wie von den vier anderen Kanzleien, bei denen er sich vorgestellt hatte.
Den Blick starr in die Ferne gerichtet, saß Max auf dem Sofa in seinem Wohnzimmer. Vorgestern war die erste Zahlung für seine Miete fällig gewesen, und auch Essen, U-Bahn und Elektrizität zehrten an seinem Gesparten, hier mehr als auf dem Land. Er konnte den Spott seiner Verwandten regelrecht hören. Wir haben es dir doch gesagt. Die Stadt ist nichts für dich. Wir haben doch immer gesagt, dass du es dort nicht zu Erfolg bringen wirst.
Aber Max hatte nicht vor, aufzugeben. Utopolis war der Ort seiner Träume. Nur hier konnte er ein Leben am Puls der Zeit führen, ein wichtiges Leben. Vermutlich hatte er zu groß angefangen, zu viel gewollt, doch er würde es schaffen. Wenn es sein musste auch von ganz unten.
Wieder einmal mit seiner Bewerbungsmappe in der Hand, stand er auf, verließ sein Appartement und das Gebäude und lief zur nächsten S-Bahn-Station. Dutzende Male war der diesen Weg inzwischen gegangen, doch heute stieg er zum ersten Mal nicht in den Zug mit Nummer 1 – der in das imposante Zentrum fuhr -, sondern in die Nummer 26. Die Waggons waren hier kleiner und älter, mit Stoff als Sitzbezug und nicht teurem Kunststoff, und außerdem brachte der Zug seine Fahrgäste in eine gänzlich andere Richtung. Fort von den Postkartenmotiven der Hochhäuser, hinein in die Randbezirke mit ihren drei- oder vierstöckigen Steingebäuden. Dorthin, wo Utopolis nicht viel anders aussah als alle anderen Städte auch.
Es schmerzte Max, den Ort seiner Träume so normal zu erleben – doch es war besser, als in sein Dorf zurückzukehren und sich dem Hohn seiner Familie auszusetzen.
So stieg er nach etwa einer halben Stunde aus und machte sich auf den Weg zu einem kleinen Anwaltsbüro in der Nähe einer Wohnsiedlung. Es war ein ganzes Stück weit entfernt, denn hier draußen gab es nur wenige Bahnstationen, und zudem schwitzte Max in seinem schwarzen Anzug. Es war heiß geworden über die letzten Wochen, und ohne die kühlenden Klimaanlagen war die Luft erdrückend trocken.
Vielleicht würde er diesen Weg bald öfter antreten. Er hatte sich um eine Stelle als Assistent beworben. Unbedeutend in seinen Augen, und auch unterbezahlt, doch er brauchte Geld. Sonst müsste er zurück oder in eine andere Stadt, und das wollte er niemals.
Endlich erreichte er die angegebene Adresse. Das Haus war tatsächlich klein, gerade einmal zwei Stockwerke, und nur ein einfaches Plastikschild wies es als „Kanzlei Blum“ aus.
Bemüht, ein Lächeln aufzusetzen, ging Max auf den Eingang zu – doch noch ehe er die Hand nach der Tür ausstrecken konnte, öffnete die sich. Nicht von selbst, wie bei Robert Braun, sondern weil gerade jemand hinaustrat. Ein älterer Mann im Anzug, dessen Gesicht Max als das von dem Foto auf der Internetseite wieder erkannte.
„Guten Tag, Herr Blum“, begrüßte er den Anwalt voller Freude. „Wir hatten gleich einen Termin. Ich bin Maximilian K“ –
„Ich weiß, aber ich fürchte, da kann ich Ihnen nicht mehr weiterhelfen“, unterbrach der Mann ihn. „Wir haben immer eine große Auswahl von Bewerbern, die es bei den Großen nicht geschafft haben. Wir haben die Stelle gerade besetzt – und jetzt entschuldigen Sie mich, ich habe noch einen Termin. Wenn Sie wollen, können Sie in sechs Monaten wiederkommen, dann wird vielleicht etwas frei.“
Mit diesen Worten wandte er sich ab, ohne eine Antwort abzuwarten und eilte zu seinem Auto hinüber. Im nächsten Moment hatte er den Motor bereits gestartet und fuhr davon.
Max stand vor dem Eingang und rührte sich nicht. Eine eigenartige Leere breitete sich in ihm aus. Es war ihm, als würde etwas zu wanken beginnen. Die Welt um ihn herum. Sein Traum.
Drei Wochen später, Anfang Juli, musste er sein Appartement räumen, weil sein Geld nicht mehr für die Miete reichte. Den Besitzer der Wohnung freute es: er hatte vier neue Interessenten und überließ die Wohnung schließlich dem, der den höchsten Preis bot. Dessen Umzugswagen parkte vor dem Gebäude, noch ehe Max all sein Hab und Gut zusammengepackt hatte. Als er dann am Mittag den Schlüssel abgab und das Gebäude endgültig verließ, waren mehrere Männer bereits damit beschäftigt, Schränke und Stühle in die Fahrstühle zu tragen.
Eine neue Unterkunft hatte Max nicht, denn für den Lohn, den er nun verdiente, gab es in Utopolis nicht einmal ein Zimmer: Zweihundert Dollar im Monat, dafür, dass er in einem Supermarkt Regale einräumte und sich herum kommandieren ließ von Leuten, die es nicht einmal für nötig hielten, ihn mit seinem Namen anzureden.
Seine Eltern wussten nichts von alldem. Ihnen hatte er erzählt, er habe einen tollen Job und würde bald umziehen in ein noch schickeres Appartement. Er würde es nicht aushalten, ihren Hohn zu ertragen.
Aber, das sagte er sich immer wieder und glaubte er, noch war sein Traum nicht zerbrochen. Er war noch immer da, und irgendwann würde er sich erfüllen. Noch ein paar Monate, dann begann das neue Geschäftsjahr und die großen Unternehmen würden wieder nach Leuten suchen.
Er musste nur durchhalten.
Fortan verbrachte er die Nächte im Lagerhaus des Supermarktes, auf einer alten Decke neben Paletten voller Obst, Chipstüten und Küchenpapier. Er wusch sich auf der Kundentoilette, bewahrte seinen Koffer in einem Spind auf, und weil er sein weniges Geld aufsparen wollte, aß er jeden Abend von den Lebensmitteln, die gerade ihr Haltbarkeitsdatum überschritten hatten. Es war ein seltsames Leben, anders als alles vorherige, aber nach einer Zeit gewöhnte er sich an den harten Betonboden der Halle und an das Brummen der Tiefkühltruhen. Ja, nach einem Monat hätte man sogar fast sagen können, dass er sich eingelebt hatte.
Unglücklicherweise passierte es genau da, dass er eines Morgens nicht rechtzeitig aufwachte und sein Arbeitgeber ihn schlafend und mit einem angebrochenen Joghurt neben sich zwischen den Paletten entdeckte. Keine zehn Minuten später fand Max sich mit seinem Koffer auf der Straße wieder – ohne Unterschlupf und ohne Job.
Mehrere Stunden blieb er daraufhin an einer S-Bahn-Station sitzen und starrte auf die Menschen, die an ihm vorbei liefen, die hektischen, die erfolgreichen Menschen, die ihn keines Blickes würdigten. Fast wäre er in diesem Moment so weit gewesen, seine Eltern um Hilfe zu bitten – bis er bemerkte, dass er ja nicht einmal mehr ein Telefon besaß.
Als es schließlich dunkel wurde, ging er zum Bahnhof, kaufte sich ein Sandwich und setzte sich auf eine Bank in der großen Ankunftshalle. Sein Hemd und seine Hose sahen mittlerweile heruntergekommen und zerschlissen aus, seine Haare waren struppig, aber dennoch nahm niemand Notiz von ihm. Hunderte von Leuten gingen vorbei, ohne ihn anzuschauen; selbst als es Mitternacht war, strömten sie immer noch aus den Zügen, nur darauf bedacht, zu ihren Terminen zu gelangen.
Max dagegen blieb sitzen und tat nichts als zuzuschauen - bis ihm, schon tief in der Nacht, die Augen zufielen und sein Kinn ihm auf die Brust sackte und er in einen unruhigen Schlaf sank.
Als er wieder aufwachte, war sein Koffer nicht mehr da.
Im ersten Moment glaubte Max, er sei ihm hinunter gefallen, doch er lag nicht auf dem Boden und auch nirgendwo anders in seiner Nähe.
Der Koffer war weg.
Max stieß einen Fluch aus. Er sprang auf, schaute umher – und merkte dabei, dass sich die Halle verändert hatte: Knapp vier Uhr nachts war es inzwischen, und nun waren tatsächlich keine Geschäftsleute mehr hier. Stattdessen waren neue Gestalten aufgetaucht: Männer mit dreckigen, verfilzten Haaren, die auf Zeitungen lagen, Jugendliche, die in den Ecken herumlungerten, eine blonde, stark geschminkte Frau, die rauchte. Die Halle schien sich in eine vollkommen andere Welt verwandelt zu haben, eine Welt jenseits von Erfolg und Geschäften, mit Kreaturen, die erst aus ihren Löchern krochen, wenn alle anderen sicher in ihren Wohnungen schliefen.
„Hey du, was schreist du hier so?“
Max zuckte zusammen und drehte sich um. Vor ihm stand ein schmächtiger Mann in einer schwarzen Jacke, über dessen linke Gesichtshälfte sich ein Schlangen-Tatoo zog. Mit zusammengekniffenen Augen beäugte er Max.
„Was macht ein Anzugträger um diese Zeit hier unten? Willst du uns stören?“
„Ich?“ Max Blicke zuckten nervös umher. „Nein. Es ist nur…Jemand hat mir meinen Koffer gestohlen. Das war das Einzige, was ich noch hatte. Ich habe kaum Geld und…“
„So, so, kaum Geld.“ Der Mann hob eine Augenbraue. „Das heißt, du könntest welches gebrauchen?“
„Ich…ähm…ja, aber…“ Max wich unsicher einen Schritt zurück – der Mann jedoch setzte ein Grinsen auf. Die Schlange auf seinem Gesicht schien sich zusammenzuziehen.
„Keine Sorge, Kumpel, ich tu dir schon nichts. Aber wenn du willst, könnten wir vielleicht ins Geschäft kommen. Ich suche nämlich immer nach Leuten, die mir bei meinem „Unternehmen“ helfen.“ Er griff in seine Jackentasche und holte ein Plastikbeutelchen hervor. Feines, weißes Pulver lag dort drin.
„Hundert Dollar für jeden neuen Kunden, den du zu mir bringst. Wie wär’s?“
Er hielt Max das Tütchen direkt vors Gesicht. Der starrte das Pulver für einen Moment lang an – und rannte dann davon, so schnell er nur konnte.
Der Mann lachte.
„Dann eben nicht!“, rief er Max hinterher. „Aber wenn du deine Meinung irgendwann ändern solltest – ich bin um diese Uhrzeit immer hier!“
Diese Begegnung entsetze Max so sehr, dass er die beiden folgenden Nächte in einem heruntergekommenen Hotel schlief, doch danach reichte das Geld von seinem letzten Lohn auch dafür nicht mehr aus. Also begann er durch die Stadt zu wandern, ziellos, vorbei an Schaufenstern, blinkenden Reklameschildern, Kinos und Einkaufszentren, all den Dingen, von denen er nun nur noch träumen konnte.
Am Abend suchte er Unterschlupf in einem Hauseingang, wo er sich gegen die Wand drückte und versuche zu schlafen. Jetzt, wo er hier so saß, nur mit seiner Kleidung am Leib und auf dem harten Beton, direkt neben der Straße, merkte er, wie laut es in der Stadt war. Von überall drangen das Hupen der Autos und das Rattern der S-Bahnen zu ihm herüber. Fast kam es ihm vor, als würde der Boden beben, womöglich wegen der U-Bahn-Schächte, die den Boden von Utopolis hier überall durchzogen. In Utopolis gab es keine Stille.
Es wurde eine unruhige Nacht. Mehrmals wachte Max auf, vielleicht von Albträumen, vielleicht von Geräuschen, vielleicht weil er sich beobachtet fühlte. Am frühen Morgen, es war noch nicht einmal fünf, musste er fort, weil die ersten Leute aus dem Haus kamen. Leute im Anzug, Leute mit Aktentaschen – all die, die es geschafft hatten und zur Arbeit gingen.
Max dagegen irrte durch die Straßen. Am Mittag kaufte er sich ein Brötchen. Es war sein letzter Dollar, den er dafür ausgab.
Die Tage, die diesem folgten, erlebte Maximilian K. nicht mehr wie sein eigenes Leben. Er lief wahllos umher, schlief auf Parkbänken, begann zu stehlen und sich sein Essen in Mülltonnen zusammen zu suchen. Seine Hände verdreckten, seine Kleidung zerriss, seine Haare verfilzten. Doch das Seltsame war, dass es ihn nicht störte. Es kam ihm nicht vor, als wäre er es, der da ziellos umher wandelte, sondern ein völlig Fremder. Ein Fremder, der Hunger hatte und überleben wollte und dennoch aus unerfindlichen Gründen nicht einmal daran dachte sich Hilfe zu holen – und der tief in sich immer noch diesen Drang verspürte, hier in Utopolis zu leben. Um jeden Preis und vielleicht auch nur um der Gewissheit willen, eben hier zu leben, am Ort der Träume, und nirgendwo anders.
Mitte Oktober, als die Nächte kalt geworden waren und Max’ hungrig und kraftlos und hager, kehrte er zurück in die Halle des Bahnhofs und suchte den Mann mit dem Schlangen-Tatoo. Er fand ihn genau dort, wo er ihn das letzte Mal getroffen hatte – und genau wie letztes Mal grinste der Mann, als er ihn sah.
„Du hast dich wohl doch noch umentschieden?“
Max antwortete nicht, doch sein schwaches Nicken genügte, um das Grinsen des Mannes breiter werden zu lassen.
„Alles klar, dann kommen wir ins Geschäft. Nicht wahr, …?“
„Max“, stellte er sich vor, ohne es wirklich mitzubekommen. „Maximilian K“ –
„Hey, keine Sorge, der Vorname reicht mir schon“, lachte der Mann. „In unseren Kreisen hier halten wir uns mit Wichtigerem auf. Zum Beispiel, wie man hieraus“ – er zückte ein Tütchen mit dem weißen Pulver – „das hier machen kann.“ Und er holte einen Hundert-Dollar-Schein hervor. „Denn eins verrate ich dir: Wenn man sich anstrengt, kann man es damit in Utopolis zu einem ganz Großen schaffen.“
Da begannen Max’ Augen zu leuchten.
Nur wenige Monate später, an einem Wintertag, an dem es draußen in den Straßen klirrend kalt war, fanden zwei Passanten neben den Müllcontainern eines Supermarktes die Leiche eines jungen Mannes. Die Kleidung des Toten, einst ein teurer Anzug, war verdreckt, die Haut eingefallen und bleich. Neben ihm lagen Spritzen und Plastiktüten – und ein Blick auf den bläulich verfärbten Arm genügte, um zu erahnen, dass der Mann an einer tödlichen Mixtur aus Kälte und Überdosis gestorben war.
Geld oder gar einen Ausweis fand man nicht; ein Mitarbeiter des Supermarkts glaubte den Mann jedoch als einen früheren Angestellten zu erkennen. An den kompletten Namen erinnern konnte er sich allerdings nicht.
Und so blieb der junge tote Mann einfach nur Maximilian K., eine von vielen gesicht- und namenlosen Gestalten, die hier, im legendären Utopolis, untergegangen und gleich wieder vergessen worden waren.
Denn eines stand fest: Utopolis war ein Ort der Träume – aber keiner, an dem sie sich auch erfüllten.
Tag der Veröffentlichung: 18.03.2009
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