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Das Glück

Es war einmal ein Dorf, in dem lebte ein Mann, der immerzu nach dem Glück suchte.
Schon in der Schule war er das fleißigste von allen Kindern, denn er wollte unbedingt sein Glück erreichen, aber obwohl die Lehrer ihn immer fort lobten, fand er es nicht.
So beschloss er, noch härter zu arbeiten, und als er älter war und die Zeit kam, sich einen Beruf zu suchen, begab er sich zu einem Händler, um Verkäufer zu werden.
Er schuftete Tag für Tag, Woche um Woche, und die Kunden liebten ihn. Sie kauften und kauften, und bald hatte er dem Händler solchen Reichtum angehäuft, dass dieser ihm aus Dankbarkeit ein Haus schenkte und ihm einen Teil seines Geschäftes überließ.
Doch trotz des Erfolges war sein Glück nicht zu ihm gekommen, und so dachte sich der Mann, dass er es nur durch eine glückliche Familie finden könne.
Er heiratete die schönste Frau des Dorfes, und sie gebar ihm zwei Kinder, die ebenso schön waren.
Das Glück jedoch wollte noch immer nicht kommen.
Da starb der Händler, bei dem er arbeitete, und vererbte ihm seine gesamte Habe. Der Mann war nun reich; er kaufte seiner Familie das größte Haus des Dorfes, und weil er inzwischen für sein Verkaufsgeschick und seine hochwertige Ware berühmt war, strömten Menschen aus dem ganzen Land zu seinem Geschäft.
Sein Glück jedoch hatte er noch immer nicht gefunden.
In seiner Verzweiflung beschloss der Mann schließlich, den Weisen des Dorfes um Rat zu bitten.
„Was soll ich noch tun?“, fragte er ihn. „Ich habe doch alles, was ich wollte. Alle Welt bewundert mich, aber mein Glück finde ich nicht. Kannst du mir helfen, es zu erreichen?“
Der Weise nickte und schnippte mit dem Finger - und plötzlich fanden sie sich auf einem Weg wieder, der hoch oben im Himmel zwischen den Wolken schwebte. Hinter ihnen befand sich eine Holztür mit einem kleinen Fenster, durch das der Mann in sein Dorf zurückschauen konnte, vor ihnen erstreckte sich ein schier unendlicher, gewundener Pfad, der zu einem Tor führte. Es lag in scheinbar unerreichbarer Ferne und schimmerte in einem wundervollen, hellen Gold.
„Dies ist der Pfad der Prüfung“, erklärte der Weise. „An seinem Ende liegt dein Glück.“
Dann schnippte er erneut mit dem Finger und war verschwunden.
Der Mann zögerte nur einen Augenblick - dann lief er los und machte er sich auf den scheinbar unendlichen Weg zu dem golden schimmernden Tor. Bald schon litt er Hunger und Durst und seine Füße schmerzten - doch das machte ihm nichts aus. Denn er hatte ja immer sein Ziel vor Augen, das Glück.
Eines Tages tat sich vor ihm auf dem Weg ein riesiger Berg auf. Er war so hoch, dass der Mann die Spitze mit seinen Augen nicht ausmachen konnte, aber auch das konnte den Mann nicht entmutigen. Er erklomm die Steilwand, kletterte über Steine, bis hinauf zum Gipfel, trotzte Eis und Kälte, und nach Monaten der Entbehrung kam er schließlich zurück auf den Pfad und wanderte weiter auf dem unendlich langen Weg.
Ein anderes Mal – es mussten inzwischen Jahre vergangen sein - tauchte vor ihm wie aus dem Nichts ein tiefer, blauer See auf, der so groß war, dass er nicht einmal das Ufer erkennen konnte. Der Mann jedoch sprang sofort in das Wasser hinein, und obwohl er vor Erschöpfung kaum Arme und Beine zu bewegen vermochte, schwamm er wochenlang, Tag wie Nacht, bis er den See durchquert hatte.
Als sich irgendwann schließlich ein stinkender, schlammiger See auftat, war der Mann bereits alt geworden. Seine Muskeln waren müde, der Bart reichte ihm bis zur Hüfte - und dennoch verschwendete er nicht einen Gedanken daran, aufzugeben. Mit vernarbten, geschundenen Füßen stapfte er durch den Morast, marschierte durch den Schlamm. Kaum atmen konnte er noch, so erschöpft war sein Körper, doch sein unglaublicher Wille trieb ihn dazu an, durchzuhalten.
Nach der Durchquerung des Sumpfes war aus dem Mann ein Greis geworden. Er konnte kaum einen Fuß vor den anderen setzen, seine Knochen waren brüchig, aber sein eiserner Wille trieb ihn immer weiter vorwärts – und dann, in der Stunde seines Todes, erreichte er das golden schimmernde Tor.
Tränen der Rührung rannen dem Mann über die Wangen. Mit seinen knochigen Fingern griff er nach dem Knauf. Er berührte ihn, drehte ihn herum, riss die Tür auf, rannte durch das Tor – und dahinter war…nichts.
Der Mann erstarrte.
Er schaute sich um, wieder und wieder, suchte nach seinem Glück, doch dort war nichts. Er stand in einem leeren, fensterlosen Raum mit grauen Wänden und einer grauen Decke.
Panik ergriff von dem Mann Besitz. Er rannte umher, hämmerte mit den Fäusten gegen die Mauern, schrie und schluchzte vor Verzweiflung, doch nichts passierte.
Da erschien neben ihm der Weise. Ein trauriges Lächeln umspielte seine Lippen – doch der Mann kannte in diesem Moment nur Hass und Wut.
„Du hast mich betrogen!", schrie er. „Ich habe mein Leben hergegeben, um dieses Tor zu erreichen, aber hier ist nichts! Du hast gesagt, ich würde mein Glück am Ende dieses Pfades finden! Du Lügner!"
Er streckte die Arme nach dem Weisen aus, wollte nach ihm schlagen – doch der lächelte nur. „Ich habe nicht gelogen“, sagte er. „Dein Glück liegt am Ende dieses Pfades. Doch du bist in die falsche Richtung gegangen."
Und zur Erklärung drehte er sich um und deutete zurück auf den unendlichen Pfad mit seinen Windungen und Hindernissen. Doch nicht auf den Sumpf zeigte er, und auch nicht auf den See oder den Berg, sondern viel weiter. Auf die braune, unscheinbare Holztür, durch die der Mann sein Leben verlassen hatte.
„Du hättest dich nur umzudrehen brauchen und hindurch gehen müssen“, seufzte der Weise. „Aber das verstehen sie alle erst, wenn es zu spät ist.“
Mit diesen Worten hob er die Hand, schnippte mit dem Finger und verschwand wieder.
Nur einen Augenblick später hatte der Mann sein Leben ausgehaucht und sein Körper sank in dem leeren, grauen Raum zu Boden, während das Tor davor noch immer verführerisch schimmerte.

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Tag der Veröffentlichung: 15.01.2009

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