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Voll gecheckt?

Robert Fischer fühlte schon lange, dass er einem missachteten und geknechteten Berufsstand angehörte. Da schuftete er jeden Tag stundenlang, quälte sich geradezu – und ahnte doch täglich stärker, dass seine Arbeit kaum Früchte tragen würde. Ja, ein elendes Dasein führte er, ungeliebt, ungeachtet und – ganz besonders – unverstanden.
Dabei gab es solche wie ihn schon seit Jahrhunderten. Früher hatte man sie schmeichelhaft als Hofmeister bezeichnet. Der heutige Ausdruck war einfallslos, langweilig und gefiel nur phantasielosen Menschen: Lehrer.
Fischer pflegte daher zu sagen, er sei „diplomierter Raubtierbändiger für juvenile Primaten“.
Seit zwei Jahren dozierte er Geschichte und Latein an einem hübschen, beschaulichen Gymnasium in einer Kleinstadt, in der die Welt noch in Ordnung war.
Oder besser: in Ordnung zu sein schien.
Es war an einem Montagmorgen im Juni, als Robert Fischers persönliche Apokalypse begann. In seiner Klasse traf ein neuer Schüler ein: Jason, ein Sechzehnjähriger aus Berlin, dem man seine Heimatstadt deutlich ansah: weite Schlabberhosen, Adidas-T-Shirt, Turnschuhe und – nicht zu vergessen – die falsch herum sitzende Baseballkappe und der obligatorische Kaugummi im Mund.
Fischer schwante von Anfang an nichts Gutes, denn Jason war genau das, was man in jugendlichen Kreisen als „voll coolen Typen” definierte. Es dauerte nicht lange, da tauchten in den Sitzreihen weitere Baseballkappen auf, und auch die Zahl der unter den Tischen klebenden Kaugummis nahm exponentiell zu.
Zuerst versuchte Fischer diese Entwicklung zu ignorieren, und selbst als sich die Schüler auf ihren Stühlen fläzten und räkelten wie zu Hause auf dem Sofa, schluckte er seine Empörung hinunter. Er bemühte sich sogar, Jason unvoreingenommen gegenüberzutreten und gab ihm Gelegenheiten, mögliches Wissen unter Beweis zu stellen.
So rief er ihn zum Beispiel in einer Geschichtsstunde auf und fragte: „Jason, wärst du so nett, zu explizieren, wer Nike gewesen ist?”
Der Junge schaute ihn genervt an und meinte: „Aber logo. Ne Schuhmarke.”
In der folgenden Woche ging Fischer niedergeschlagen, aber in dem Glauben, dass es nicht schlimmer werden konnte, zum Unterricht.
Diese Illusion verflüchtigte sich schnell.
Als er Jason bat, seine Hausaufgaben vorzulesen, erwiderte der Junge nur: „Hey, sorry, Mister, ich war total weggebeamt, hab’ ich konkret vercheckt. Mach mal nen Turn.”
Da begriff Fischer, dass es um Horrenderes ging als den Einzug teurer Markenkleidung. Eine Revolution war im Gange. Hier hatte er es mit der schlimmstmöglichen Form der Sprachverwirrung zu tun, der Schattenseite der Globalisierung: den berühmt-berüchtigten Anglizismen.
Fischer hatte schon oft davon gehört, doch er hätte nie geglaubt, dass er einmal betroffen sein würde.
Es sollte Kollegen geben, die konnten mit ihren Schülern nicht mehr richtig kommunizieren! Unter schrecklichen Albträumen und Phobien litten sie angeblich – ja, einige begannen unkontrolliert zu zittern, wenn sie nur Wörter wie „Make-up”, „Tatoo” oder „Outfit” hörten.
Drohte ihm auch ein solches Schicksal? Einem unschuldigen Geschichts- und Lateinlehrer, der dem Denglischen nichts entgegenzusetzen hatte?
Fischer beschloss, etwas zu unternehmen, um die Katastrophe abzuwenden - und mit gewohnter Akribie und Präzision machte er sich daran, ein Konzept zu entwickeln.
Als Erstes musste er eruieren, wie weit sich diese Epidemie schon ausgebreitet hatte. Dazu brauchte er Insiderinformationen.
Noch während er das dachte, zuckte Fischer zusammen. Da war es wieder, ein Anglizismus, ein feindliches englisches Wort, das die deutsche Sprache infiltriert hatte!
Seinen Spionageangriff startete Fischer in der Pause auf dem Schulhof. Als Aufsicht getarnt, schlich er sich von einem Schülergrüppchen zum nächsten.
Er brauchte nicht lange, um zu erkennen, wie akut die Lage war: Die Truppe um Jason, den neuen, unbestrittenen Star – nein, eigentlich Stern - der Schule, redete aufgeregt durcheinander, und was Fischer hörte, entsetzte ihn.
Das mit den Clipcharts, die man downgeloadet hatte, begriff er ja noch. Aber es gab Sätze, bei denen er beim besten Willen nicht wusste, was sie bedeuteten.
So hörte er zum Beispiel, dass Jason mit seinen „friends” nachher ein bisschen „twixen” wollte, damit er „abgechillt” war, wenn er mit seiner „sis” in einen Schuppen „cruiste“, der „incredibly hip” war.
Außerdem redeten sie noch über „strange guys” mit „voll verpeilten Stylings” und einem „ugly haircut”, wobei sie kicherten und zu dem Lehrergrüppchen hinüber schauten, das gerade Pausenaufsicht hatte.
Besonders rätselhaft war Fischer eine – allerdings nicht denglische – Bemerkung über eine „Großmudda mit ihrer behaarten Bifi”. Bei seiner späteren Recherche stellte er fest, dass dies ein Ausdruck für Rauhaardackel war.
Fischer bezweifelte, dass gutes Zureden in diesem Fall noch etwas nützte. Wenn er bei den Schülern konkrete Ergebnisse erzielen wollte, musste er stärkere Geschütze auffahren.
Er musste sie mit ihren eigenen Waffen schlagen.
Am nächsten Tag begann er mit der verschärften Observation.
Mit einem Schreibblock bewaffnet, verbrachte er die Pausen auf dem Schulhof und notierte jedes englische Wort. Auf diese Weise brachte er innerhalb einer Woche eine bemerkenswerte Sammlung an denglischen Wortkreationen zusammen.
Da ging es von fast schon alltäglichen Begriffen wie „give me five” über „brainstorming session” und „checker” bis hin zu außergewöhnlichen Kreationen, wie zum Beispiel den Ausrufen „Ey, die Pussy da fronted mich burnermäßig” – dieses Mädchen nervt mich –, oder „Oh mansen, der Jointmuckel mit der fetten Potte suckt voll” – der reiche Jung ist dumm.
Besonders lange knobeln musste er an dem Begriff „Asitoaster“ - denn in gemeinen Wörterbüchern war kein Hinweis darauf zu finden, dass es sich hier um das handelte, was Normalsterbliche als Sonnenstudio bezeichnet hätten.
So verbrachte Fischer das Wochenende damit, Vokabeln zu pauken - und dazu gehörte auch, diese in authentischen Situationen anzuwenden.
Gut, seine Freunde hatten ihn ziemlich dumm angeguckt, als er nach dem Opernbesuch angemerkt hatte, dass ihn das Stück „voll geflasht” habe, und auch die Verkäuferin im Kiosk hatte nicht sofort begriffen, was er meinte, als er eine „Asischale“ und eine „Hülsenfrucht” bestellte – also Pommes Frites mit Ketchup und Mayo und ein Dosenbier.
Doch Fischer befand seine Vorbereitungen für abgeschlossen und begann am Montag damit, seinen Plan in die Tat umzusetzen.
Schon als er das Klassenzimmer betrat, musste den Schülern klar werden, dass das hier keine Unterrichtsstunde wie jede andere werden würde. Denn – mit Sneakers an den Füßen und einer Baseballmütze auf dem Kopf – schlurfte Fischer betont lässig durch die Tür und legte erst einmal eine Runde durch die Sitzreihen ein.
Als er sah, wie Jason provozierend auf seinem Kaugummi kaute, fragte er mit gestärktem Selbstbewusstsein: „Na, was ist Phase? Hast du deine Hausaufgaben oder hast du’s wieder vercheckt?”
Alle starrten ihn an, und selbst Jason hörte auf, seinen Kaugummi zu bearbeiten.
„Ähm …na klar hab’ ich sie”, stammelte er.
„Geschmeidig, Digger, dann mach dich mal an den Start”, verlangte Fischer und lächelte. „Es ist nämlich very important, bei den alten Römern voll den Durchblick zu haben. All right?”
Der Junge nickte stumm.
„Dann mach dich locker und lies uns deinen Essay vor”, forderte Fischer. „Ich bin schließlich ein straight shooter, jemand der immer real und honest ist, und als solcher sage ich dir, dass ich bei dir noch ‘n paar Noten für die Reports abchecken muss. Ich bin nämlich gerade total on the run.”
Es wurde die herrlichste Stunde, die Fischer je gegeben hatte.
Jason las tatsächlich seine Hausaufgaben vor, die wie erwartet fehlerhaft waren, danach erzählte Fischer der Klasse die Geschichte von Troja - um ein wenig mehr Schwung in die Sache zu bringen, erlaubte er sich allerdings, auch diese ein wenig ins Neudeutsche zu übersetzen.
So redete er zum Beispiel davon, dass die Griechen eine total coole brainwave gehabt und die Trojaner mit einem Holzgaul voll vernatzt hätten, weil der Schmock vom trojanischen Boss voll auf die Braut vom spartanischen Oberchief abgefahren sei und sie extrem korrekt abgecheckt hätte.
Am nächsten Tag hatte keiner der Schüler mehr einen Kaugummi im Mund, und die einzige Person mit Baseballmütze war Fischer selbst.
Auch die Begrüßung fiel unerwartet überschwänglich aus. Statt mit einem gebrummten „Morgen” empfing ihn die Klasse mit einem deutlichen „Ave, Magister”.
„Gleichfalls”, murmelte Fischer, der beschloss, seine Rolle weiter zu spielen. „Dann machen wir uns an die tasks von der letzten Stunde. Irgendwelche volunteers?”
Zu seiner Überraschung meldete sich Jason.
„Du?”, fragte Fischer. „Okay, dann wiederhol’ mal die Storyline von Troja. Du kapierst schon, oder? Den main content.”
„Natürlich verstehe ich”, erwiderte der Junge. „Also, das primäre Motiv für den Krieg Griechenland contra Troja war, dass der Filius des trojanischen Monarchen Helena, die Gattin des Königs von Sparta, entführte. Die Griechen waren höchst indigniert und präsümierten eine Konspiration, weswegen man ein Heer delegierte und nach jahrelanger, ineffektiver Belagerung per Trojanisches Pferd quasi inkognito in die Stadt eindrang, wo ...”
„Hör auf, das ist ja schrecklich!”, schrie Fischer. „Was soll das?”
„Was soll was? Ich referiere lediglich über den trojanischen Krieg.”
„Exakt”, fügte eine Schülerin hinzu. „Er wollte seine schlechte Note von gestern gut machen; ergo musste er eine exzellente Leistung bringen.”
Das „ergo” gab Fischer den Rest. Er schnappte sich seine Tasche und rannte aus dem Klassenzimmer.
Erst im nächsten Korridor kam er wieder zum Stehen und lehnte sich schluchzend gegen die Wand.
Das konnte doch nicht sein! Er hatte so einen tollen Plan gehabt, und jetzt sprachen die Blagen, als hätten sie ein Fremdwörter-Lexikon verschlungen. Er wollte doch bloß, dass sie normales Deutsch sprachen!
„Herr Kollege, was machen Sie denn hier?”, hörte er plötzlich eine Stimme fragen. Als er sich umdrehte, sah er den Direktor.
„Herr Dr. Schulte, wie gut, dass ich Sie treffe!”, keuchte Fischer. „Die Kinder… Sie drehen durch. Sie können kein richtiges Deutsch mehr … Außerdem tun sie immer das Gegenteil von dem, was ich tue!”
Peter Schulte musterte ihn mit einem Lächeln.
„Natürlich tun Sie das”, antwortete er und klopfte Fischer auf die Schulter. „Auf irgendeine Art und Weise müssen Lehrer und Schüler sich doch voneinander abgrenzen. Also, Hals und Beinbruch. Machen Sie weiter.”
Damit wandte er sich zum Gehen und hielt auf den Ausgang zu.
„Was haben Sie denn vor?”, rief Fischer dem Rektor hinterher.
Schulte drehte sich zu ihm um und lächelte, wobei er eine Baseballkappe aus seiner Tasche holte und sie aufsetzte.
„Ich geh gleich zum Bowling und chill da ein bisschen ab. Wie gesagt, irgendwie müssen wir uns ja von den Schülern abheben…”

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 17.12.2008

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
- für alle verzweifelten Geschichts- und Lateinlehrer dieses Landes -

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