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Kevin schreckte aus dem Schlaf, im Augenblick wusste er nicht, wo er sich befand, sein Herz raste, er war nass geschwitzt, auch konnte er sich nicht bewegen, eine tiefsitzende Angst lähmte ihn.

Er schloss für einen Augenblick die Augen, öffnete sie aber schnell wieder und versuchte sich zu orientieren. Wenn doch nur das Herzrasen nachlassen würde.

Langsam kam ihm die Erinnerung, er war in seinem Schlafzimmer, es war draußen noch dunkel und wie so oft in den letzten Wochen hatte dieser Albtraum ihn geweckt.

Ein Alptraum immer mit dem gleichen Ausgang, er lag in einem Krankenhaus auf dem Operationstisch, er konnte sich nicht bewegen, nicht sprechen, aber alles verstehen was gesagt wurde. Gerade meinten die Ärzte, der Fuß ist vermutlich nicht mehr zu retten, wir müssen ihn vielleicht doch absetzen.

"H A L T", schrie er, "nicht absetzen!" Aber kein Ton kam über seine Lippen.

Mühsam setzte er sich aufrecht, gerne wäre er sofort aus dem Bett gesprungen, aber gerade dieses ging nicht, denn sein linkes Bein war in Gips, jetzt schon in der siebten Woche. Ohne diese verdammten Krücken, die neben dem Bett standen, war an ein Aufstehen nicht zu denken. Langsam, wie in Zeitlupe nahm er sie, stützte sich ab und stand endlich aufrecht.

Noch heute konnte er nicht verstehen, wie es zu diesem blöden Unfall gekommen war. Na ja, er hatte es eilig gehabt, er wollte sein neues Fahrrad testen und ein langsamer fahrender Radfahrer war ihm dabei in die Quere gekommen. Er konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen, es gab einen Zusammenstoß und dabei war er wohl mit seinem Fuß in den Speichen hängen geblieben. Das Geräusch der brechenden Knochen, der stechende Schmerz, so schnell würde er es nicht vergessen.

Aber an Schlaf war jetzt auch nicht mehr zu denken, er brauchte dringend einen Kaffee, den er stehend in der Küche trinken musste. Wenn doch die verdammten Krücken nicht wären, keine Hand hatte er frei um irgendwas zu tragen, dabei hatte er sich am Anfang den Umgang mit den Gehhilfen viel einfacher vorgestellt.

Plötzlich fiel ihm wieder der Brief von der Krankenkasse ein. Die Lohnfortzahlung seines Arbeitgebers wäre eingestellt, ab sofort bekäme er Krankengeld. Mit Entsetzen hatte er die Abzüge bemerkt. Und sein Arbeitgeber, oh Gott, er hatte doch nur einen befristeten Arbeitsvertrag und war erst seit kurzem dort beschäftigt.

Konnte man ihm eigentlich wegen Krankheit kündigen? Er wusste es nicht, aber schon alleine bei dem Gedanken kroch die Angst in ihm hoch.

Die Angst um den Arbeitsplatz musste er aber zuerst einmal verdrängen, denn der heutige Tag würde sowieso schon schwierig genug werden. Er musste dringend Waschen, aber die Waschmaschine stand im Keller und zwischen seiner Wohnung und dem Keller lagen 48 Treppenstufen.

Gestern war ihm im Treppenhaus seine Nachbarin begegnet, sie hatte freundlich gegrüßt und er hatte schon den Satz auf den Lippen, können Sie mir nicht, aber sie war schon davon geeilt. Komisch, sonst hatten sie im Treppenhaus immer länger miteinander gesprochen.

Und überhaupt, auch gestern beim Einkaufen, was hatte er sich geärgert. Der Mann, der ebenfalls in die Bäckerei wollte, genau vor ihm hatte er die Eingangstüre zufallen lassen und er stand davor wie ein begossener Pudel und wenn die Hände mit Krücken belegt sind, der Rucksack auf dem Rücken eigentlich auch schon zu schwer ist, dann drückt man nicht mehr so einfach eine Türe auf.

Auch das Telefonat am Abend mit seinem besten Freund kam ihm wieder in den Sinn. Warum hatte sein Freund den geplanten gemeinsamen Kinobesuch am Wochenende abgesagt? Die Begründung, er hätte in den Sitzreihen in dem Kino keine Beinfreiheit stimmte natürlich, aber es hätte ihm doch nichts ausgemacht, sich einen Platz zum Gang hin zu nehmen, dort hätte er das Bein in den Gang legen können. Warum hatte sein Freund ihm nicht die Entscheidung selbst überlassen?

Seine Freunde, im Krankenhaus waren sie immer kurz zu Besuch gekommen, hatten mit ihm geredet und zusammen hatten sie Blödsinn gemacht, ihn dadurch auch auf andere Gedanken gebracht. Seit dem er zu Hause war hatte ihn noch keiner besucht, dabei wohnten sie doch in der Nähe. Auch wenn er sie jetzt auf Handy anrief bekam er zur Antwort, für ein Telefonat hätten sie im Augenblick keine Zeit. Vor dem Unfall war das miteinander telefonieren nie ein Problem gewesen.

Aber heute, wie hatte er diesen Tag herbeigesehnt. Heute musste er noch zur Kontrolle ins Krankenhaus. Er hoffte inständig, dass heute der Gips ab käme, dann könnte er sich endlich wieder etwas besser bewegen.

Ein Blick auf die Uhr ließ ihn erschaudern, um 10 Uhr hatte er den Termin im Krankenhaus. Jetzt musste er sich aber beeilen, denn für das Anziehen brauchte er noch immer so viel Zeit. Auch sein Auto konnte er nicht benutzen, mit dem Gips war das Einsteigen in diesen kleinen Flitzer unmöglich. Vielleicht sollte er sich ein Taxi rufen, aber die Krankenkasse hatte noch keinen Cent von dem Krankengeld überwiesen und wenn doch noch eine Kündigung von seinem Chef kam, nein sein Geld musste er jetzt etwas einteilen.

Sogleich stand er auf der Straße. Bis zur Bushaltestelle war es nicht so weit, aber es regnete und das Kopfsteinpflaster war bei Regen glatt, er musste höllisch aufpassen, dass die Krücken nicht weg rutschten. Aber trotzdem er so darauf achten musste, wie er die Krücken aufsetzte, bemerkte er wieder die Blicke der Passanten. Einige musterten ihn verstohlen, wie er sich so abmühte, andere hatten irgendwie die Schadenfreude im Gesicht stehen und bei vorbeieilenden Kindern wusste er schon aus Erfahrung, besser stehen bleiben und sie vorbeilassen, nicht dass aus Versehen gegen eine der Krücken stießen.

Endlich an der Bushaltestelle angekommen, hatte er noch etwas Zeit zum Verschnaufen. Die Mutter dort mit ihren beiden Kindern, eben waren diese noch sehr lebhaft gewesen, jetzt waren sie verstummt und schauten ihn nur an.

"Du Mama, es regnet doch und der Mann ist ganz nass, Mama warum hat der Mann denn keinen Schirm?" Kam die Frage des größeren Kindes.

"Pst, nicht so laut, er kann keinen Schirm benutzen, wie soll er ihn halten?", kam die Antwort der Mutter.

"Aber Mama, warum hat er denn keine Kapuze an seiner Jacke?"

"Pst, sei leise!"

Endlich der Bus, mein Gott wie voll der war. Kevin konnte keinen freien Sitzplatz entdecken. Der Bus fuhr auch schon an, nur mit Mühe hielt er die Balance. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, wenn er jetzt fällt, was dann?, war sein Gedanke.

"Junger Mann", eine Stimme neben ihm, "möchten Sie sich nicht besser auf meinen Platz setzen? Das Stehen ist für Sie viel zu mühsam". Kevin schaute auf und die Schamröte bedeckte sein Gesicht. Ein älterer Mann mit Gehstock bot ihm seinen Sitzplatz an. Verlegen bedankte er sich und war froh, dass er sich setzen konnte.

Fünf Stunden später, Kevin lag total erschöpft auf seinem Bett. Nur mit sehr viel Mühe hatte er es die Treppenstufen hoch bis zu seiner Wohnung unter dem Dach geschafft. Auch hatte er sich ein Taxi vom Krankenhaus aus nach Hause genommen, denn noch so eine Busfahrt ging über seine Kräfte.

Er wischte sich die nicht endenden Tränen ab. Die Ärzte hatten den Gips nicht entfernt, der Heilungsprozess sei nicht weit genug fortgeschritten, eventuellt stünde eine neue OP an, hatte man ihm gesagt. Die Busfahrt machte ihm ebenfalls noch zu schaffen. Ausgerechnet ein älterer Mann mit Gehstock hatte ihm seinen Platz angeboten, dabei waren doch so viele jüngere Menschen in dem Bus gewesen.

Und was sollte er nur machen, wenn bei ihm auch eine Behinderung blieb? Wenn er nie mehr richtig Laufen könnte, wenn er auf Krücken oder auf einen Gehstock angewiesen wäre? Oder wenn doch noch eine neue OP anstand und der Fuß amputiert werden musste?

Ihm wurde ganz schlecht, dann könnte er nie mehr mit seinem Fahrrad Radtouren machen und mit seinem Mountainbike im Gelände fahren und das Wandern in den Bergen wäre auch nicht mehr möglich. Und was würde aus dem gemütlichen Kegelabenden mit seinen Freunden, konnte man mit einer Behinderung überhaupt noch kegeln? Aber auch seine Freunde enttäuschten ihn, gerade jetzt, wo er sie so dringend brauchte, da hatte keiner Zeit für ihn.

Verdammt, er war mit seinen 25 Jahren noch so jung und er hatte doch sein ganzes Leben vor sich und auch wenn er im Augenblick keine feste Freundin hatte, er wünschte sich auch sehnlichst eine feste Bindung, aber mit einer Behinderung, welche Frau wollte schon einen Mann mit einer Behinderung.

Er war sich nun überhaupt nicht mehr sicher, ob er sich richtig tief in seinem Alpraum befände oder er diese Unerträglichkeit wach erlebte und schlummerte in diesen Gedanken aufs Neue wieder ein.


Impressum

Texte: Be4ugo
Tag der Veröffentlichung: 15.08.2011

Alle Rechte vorbehalten

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