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Offiziell tot!

Mein Blick glitt zu dem Automaten, der summend meinen Tod verkündete. Ich sah zu dem Arzt, der auf die Uhr blickte und den Todeszeitpunkt feststellte. Ein anderer blickte mich stirnrunzelnd an, ein anderer wiederrum deaktivierte endlich das Piepsen des Automaten. Sie nahmen alle ihre OP-Masken ab. „Schade, sie war noch recht jung!“, dann verließen sie nach und nach den Raum und merkten nicht, wie meine Lebensgeister wieder erwachten. Nach einer ewigen Totenstille richtete ich mich auf und meine schwarzen Haare fielen mir ins Gesicht. Ich sah zum Automaten, nur die Fragezeichen zeigten, dass mein Herz nicht mehr schlug. Ich musste grinsen, ich war nun offiziell tot! Ich richtete mich langsam auf und entledigte mich der Spritzen und Nadeln. Raus zur Tür lachte ich noch immer leise, der Spaß konnte beginnen.

 

Ich war in einem Krankenhauskittel gekleidet, wie ich diesen Fetzen hasste und sogleich feierte, da er meine Gefangenschaft in diesem Krankenhaus und auch deren Ende bedeuteten. Ich schlich durch die Krankenhausflügel, niemand sah, suchte, erwartete mich, ich war offiziell tot. Draußen, in der frischen Nachtluft, atmete ich zum ersten Mal seit langem wieder frische Luft ein, ich fühlte mich frei, ich fühlte mich prima. Ich verschwendete keinen Blick mehr zum Krankenhaus und lief über die Straße, an der ein Wald grenzte, dort hatte ich seit langem etwas aufbewahrt, es würde ein langer Marsch werden. Schon jetzt fröstelte mir, doch ich war frei, ich war wie betäubt und schlich durch den schwarzen Wald, wo ich ständig auf gruselige Geräusche horchte.
Dennoch war das größte Problem die Kälte, die im Herbst immer stärker zunahm, barfuß wie ich hier war, lief ich durch den kalten, schlammigen Boden des Waldes. Und ständig schnitten mir Äste ins Fleisch, die ich störrisch versuchte, wegzuschlagen.
Ich war nun schon eine Weile gelaufen und ahnte nun, dass es nicht mehr weit zu dem Versteck war, es fing schon an zu dämmern. Ich gähnte, der Schlaf wollte mich schon übermannen, dennoch war es nicht mehr unweit und so ging ich zu dem einem hohlen Baum hin, der meine Tasche bereithielt. Dort holte ich erstmals meinen gefrorenen Pullover und eine Hose und Schuhe heraus. Es war eigentlich nicht lange her, als ich diese Sachen hier hin verfrachtet hatte, dennoch schien es mir wie Jahre. Nun wieder in normalen Klamotten, holte ich den Dolch meines Vaters heraus. Ein sogenanntes „Erbstück“, an dem noch Blut klebte, dennoch war es nicht meines. Ich steckte es weg und starrte in die Dunkelheit des Baumes.

Amanda!“ Mein Vater blickt mich erschrocken und mit einem fremden Ausdruck in den Augen an. „Warum? Warum bedrohst du mich mit einem Messer? Du bist eindeutig dem Wahnsinn verfallen, Amanda!“ Ich blicke ihn eiskalt an, klammere mich an meinem Dolch und versuche die Fassung zu bewahren, die ich schon seit langem verloren habe. „Ich bin dein Vater!“ Er versucht sich aus seinem Sessel zu erheben und mir in die Augen zu blicken, ich dennoch stelle mich vor ihm und streiche über die scharfe Seite des Dolches. „Du bist schon lange nicht mehr mein Vater!“, flüstere ich, nach einer Minute Schweigen, in der nur leise der Fernseher zu vernehmen ist, wo jemand gerade Lottozahlen verliest.
Ich blicke auf den Mann hinab, der mir so viel angetan hat, der mein Leben völlig ruinierte und in mir lodert der Hass, den ich für diesen Mann empfinde, der sich mein Vater schimpft. Ich steche zu, nochmal, und vernehme nur das Ächzen, das von ihm ausgeht. Das warme Blut gleitet über meine Hände, es ist warm und klebrig. Ich bin nicht erschrocken, nein, ich blicke meinem Vater ein letztes Mal in seine erlöschenden Augen, wo das Lebenslicht langsam verschwindet. Ich verstehe nicht mehr, was er sagt, da sich sein Mund mit Blut füllt. Ich trete von ihm weg und sehe mich in dem Raum um, das mal mein qualvolles Zuhause gewesen war. Ein letztes Mal sehe ich zu dem Sessel, der sich langsam rot färbt im Schein des Fernsehers. Nummer eins. Ich sehe zu der Kommode, an der eine Vase mit vertrockneten Blumen steht, ich drehe mich schnell um, renne aus dem Haus und besehe es mir noch einmal aus der Ferne. Ich verlasse es, ich werde dort nie wieder hingehen, in mein persönliches Irrenhaus. Ich drehe mich um, denke an meinen Plan und hake im Kopf die Nummer eins ab und laufe los.

Ich lehnte mich an den Baum, nach dem ich mich fünf Minuten schwer atmend dran geklammert hatte. Nun schloss ich die Augen, versuchte die Kälte, den Hunger und die Stille zu ignorieren. Ich ging im Kopf meinen Plan durch und musste an Nummer zwei denken, Jan Cooper, mein Bruder…
Langsam schlafe ich ein.

Ich erwache durch Hundegebell, nicht unweit von hier, ich fuhr zusammen und springe auf, setze mir den Rucksack auf und bemerke, wie hell es jetzt schon war. Ich sollte weiter gehen, noch immer hörte ich einen Hund kläffen und ich hoffte inständig, dass dieser nicht nach mir suchte. Aber im nächsten Augenblick, kam aus dem Gebüsch schon der Störenfried gesprungen, der mich anknurrte. Ein Schrei entfuhr mir und der Köter kam bedrohlich näher, aber in der nächsten Sekunde sackte er in meinem Schoß zusammen und winselte nur noch jämmerlich. Verabscheut ließ ich ihn fallen und blickte auf mein Dolch, abermals klebte Blut daran, was ich notbedürftig wegwischte. Ich strich über die Augen des Hundes und hinterließ eine blutige Spur darauf. Ich lasse ihn liegen und wende mich ab, sah durch den Wald, der nur noch ein rascheln das vom Wind verursacht wurde, vernehmen ließ. Ich griff mit meinen blutigen Händen in meinen Pullover, in der ein Zettel steckte mit einer Adresse darauf, es war die Adresse meines Bruders, soweit ich wusste und solange sie sich nicht geändert hatte. Mir wird schwer, als ich diesen Zettel anstarre, dann knülle ich ihn zusammen und gehe weiter, weg von der Leiche, weg von dem Mord, der hier vorgefallen ist.

 

In seinem Blick liegt etwas undefinierbares, es ist ein eigenartiger Blick, der mir gilt. Ich habe gerade ein blaues Auge von meinem Vater bekommen, dann noch einen Schlag in die Magengrube und nun stehe ich in der Küche und versuche die Fassung zu bewahren. Mein drei Jahre älterer Bruder kommt näher, immer noch den Blick auf dem Gesicht, eher in seinen Augen und streicht mir über mein Veilchen. Ich glaube zu sehen, wie er die Lippen zusammenpresst, um sich etwas zu verkneifen, dann blickt er kurz zu Seite, dort ist unser Vater gerade hin verschwunden. „Du siehst bezaubernd aus, Schwesterchen!“, sagt er laut genug, dass es jeder in diesem Haus hören kann. „Du bist bald hoch hinaus in Vaters Ansehen, Schwesterchen, keine Sorge! Die Flecken vergehen!“ Er legt den Kopf schief und legt eine Hand in meinen Nacken, wie um meinen Kopf zu stützen, ich werde zornig, so sauer auf ihn, dass er nichts tut, dass er nur zusieht, wie seine kleine Schwester zu Brei geschlagen wird. Er hasst mich, wie alle anderen hier. Darum hasse ich ihn auch. „Ich hasse dich!“, flüstere ich leise und stockend, die Tränen unterdrückend. Doch Jan hat mich gehört. Der Griff in meinem Nacken wird stärker. „Was hast du gesagt?“, fragte er scharf, seine Augen noch immer unergründlich. In ihnen spiegeln sich dennoch Hass und Unglauben wieder. Er zieht mich zu sich, es sieht fast nach einer Umarmung aus, dennoch ist es die Haltung, bevor das Raubtier seine Beute erledigt, nur dass ich seine Beute bin. „Sag es nochmal, Schwesterchen! Für böse Wörter muss bestraft werden!“ Ich versuche meine Tränen zurückzuhalten, sie nicht ausbrechen zu lassen, dann entfährt mir ein Keuchen. Jan boxt mir in den Bauch, ein, zwei, dreimal. Es tut weh und die Tränen brechen aus, wie ein plötzlicher Regenschauer. Jan legt mich geradezu auf den Küchenboden, dann verlässt er den Raum. Ich liege wimmernd auf dem gefliesten Küchenboden, versuche die Fassung zurückzuerlangen, die aus mir entwichen ist, wie einem Luftballon die Luft. Ich sehe ein einziges Mal hoch, weil ich weiß, dass sie da ist, weil ich weiß, dass sie mich so sehen will, weil ich weiß, dass ich es verdient habe. Mum steht an der Tür, weint, ballt die Hände zu Fäusten und sagt nichts, sogar weinen tut sie stumm. Sie hat nichts unternommen, gar nichts! „Wieso?“, flüstere ich immer noch schluchzend und sie schlägt die Augen nieder und verlässt diesen gefliesten Raum, lässt mich allein, ein weiteres Mal.

Hass quoll in mir auf, ich ballte meine Hände zu Fäusten und biss fest auf die Zähne, so dass es knirschte. Sie wäre die Nummer eins gewesen, ihr hatte ich am meisten den Tod gewünscht, am allermeisten, so wie sie ihn mir gewünscht hatte. Aber sie starb schon einige Wochen früher, vielleicht auch Monate, sie starb an Krebs. Sie verschlimmerte mein Leben immer weiter, auch nach ihrem Tode, denn mein Vater versank in einer Depression, aus der er einfach nicht mehr zu retten war und mein Bruder… Er hatte sie geliebt, heiß und innig, so wie sie ihn geliebt hatte und mich nie. Ich war ganz allein gewesen, wie immer und nun durfte meine Familie die Rache zu spüren bekommen. Ich strich mir über die Narben, die meine Arme zierten, wie Tattoos, sie erzählten alle eine Geschichte, die ich noch oft genug durchlebte. Ich verließ langsam den Wald und versuchte ein Lächeln, das eher schief ausfiel, es wurde Zeit, meinem Bruder Hallo zu sagen.

Ich befand mich auf freiem Feld, einem Acker höchstwahrscheinlich und die Sonne verkündete, dass es schon Mittag war. Erschöpft, schwer stöhnend ließ ich mich in dem Acker nieder. Ich brauchte Vorräte, schon jetzt meckerte mein Magen über die gähnende Leere und mein Durst ließ meinen Hals kratzen. Ich war in der Stadt hier in der Nähe aufgewachsen, ich würde dort erst meinen Bruder zur Strecke bringen, dann würde ich für mein weiteres Überleben sorgen, für das der Plan solange sorgte. Ich spiele und streiche wieder über meinen Dolch, es war das Dolch meines Vaters gewesen, aber auch sein Todesurteil, was für eine Ironie.

Ich sitze über einem Blatt Papier gebeugt, den Stift über dieses weiße Stück gleitend. Ich bin dabei, einen Plan zu schmieden, er sollte mein Leben verändern, mich endlich befreien. Ich plane die Rache an meiner Familie, an Mum, an Dad und an Jan, sie sollten mich kennenlernen, doch davor sollte ich mir etwas ausdenken, dass ich nicht sofort gesucht würde, ich musste tot sein! Ich schrieb meine Gedanken zu meinem Tot auf, es war eine eigenartige Sache, als würde man ein Testament schreiben, nur dass man darin Blut und nochmal Blut vererbt oder eher…aufnimmt. Ich lese mir das Blatt nochmal durch, erkenne meinen Plan, der schon seit einigen Wochen in meinem Kopf spuckt, er ist gut! Er ist genial!
Nur ich, Amanda Cooper kenne diesen Plan und halte ihn für einen Geniestreich, wer würde schon daran denken, ein totes Mädchen zu suchen, meine Familie konnte sich auf mich gefasst machen. Ich bin aber nicht mehr Amanda Cooper, so wie sie mich immer nennen, es ist ihr Name, den sie mir gegeben haben, nein, diese Amanda ist schon lange tot, wahrscheinlich zu Brei geschlagen von ihrem Vater und ihrem Bruder und zerstört von ihrer Mutter, kein Wunder, dass sie tot ist. An ihrer statt ist nun Liv Death! Ich werde den Plan befolgen, ich werde machen, was ich kann und werde mich rächen, die Rache ist ganz mein.
Ich werde immer wissen, dass es besser ist, seine Waffe zu ziehen, als sang und klanglos im Kampf unterzugehen oder ganz sich zurückzuziehen. Ich gehe meine Schritte durch.

Ich falte das Blatt zusammen und stehe auf, stelle mich an den Türrahmen und beobachte das Wohnzimmer, wo mein Vater wie so oft im Sessel sitzt und am Bier nippend Fernsehen guckt. Mum kommt gerade ins Wohnzimmer getreten, eine große Vase mit prallen Blumen gefüllt, in der Hand. Die beiden sprechen kurz mit einander und ich sehe zu, wie Mum sie auf die Kommode unter ihrem Lieblingsbild hängt, es zeigt eine Landschaft, es scheint ein Ort zu sein, den nur Mum kennt, denn jedes Mal blickt sie verträumt hinauf und wendet sich dann, als sie die Blumen hübsch drapiert hat, ab. Sie sieht fertig aus, sie sieht alt, ganz faltig und mager aus, sie war nie eine schöne Frau, vielleicht schon, aber so wie sie jetzt aussieht, ähnelt sie eher einem Gespenst, einer sehr, sehr alten Dame, die nun zittrig neben meinem Vater Platz nimmt. Ich schließe die Tür, sehe mich kurz in meinem Raum um, der keinerlei Erinnerungen aus meinem Leben zeigt, es zeigt gar nichts, nur dass jemand hier gewohnt hat, mehr nicht. Ich sehe zu dem kleinen Tisch, auf dem nur ein Blatt Papier liegt, der Plan! Ich seufze, stecke den Zettel ein und fange an, einen kleinen Rucksack zu packen, dort sind Pullover, Hose und einige weitere Sachen, die wichtig sein werden. Unter dem Kopfkissen liegt ein Dolch, den ich vor kurzer Zeit ergattert hatte, mein Vater hatte es achtlos liegen gelassen und dann vergessen. Ich schnalle mir den Rucksack kurz über und eile zu dem arrangierten Versteck, dann kehre ich, mit einem mulmigen Gefühl im Bauch, nach Hause zurück.

Ich schließe und öffne die Augen wieder, länger als ein Blinzeln. Ich richte mich langsam aus dem Acker auf und versuche mich zu orientieren, zu schauen, wie viel Zeit vergangen ist. Ich werde in die Stadt gehen, ich schultere meinen Rucksack und gehe weiter. Beim Laufen konnte ich mich schon immer besser konzentrieren, aber meine Gedanken verweilten im Nirgendwo, es herrschte gähnende Leere, so war es oft, wenn ich mich wieder wie ein Kind fühlte. Es wurde schon wieder dunkel, die Raben krähten und der Nebel legte sich wie einen Teppich über das Acker und der Mond tauchte alles in schauriges, weißes Licht. Ich mochte Nächte, sie waren beruhigender und stiller als die Tage, dennoch machte mir diese Nacht nur Angst, ständig sah ich mich um, ständig schreckte ich zusammen, wenn wieder ein Rabe krähte oder ein anderer Wind ging. Ich fröstelte und versuchte die Wärme in meinem Pullover zu finden, die Atemwolken quellten aus meinem Mund empor und erstreckten sich in den Himmel, als würde ich rauchen. Ich war total sichtbar auf dem Acker, deswegen mir das Herz auch in die Hose rutschte, als ich einen Hubschrauber, ganz in der Nähe vernahm.

Das Geräusch wurde immer lauter und ich duckte mich tief in das Gras und hielt die Augen geschlossen, ich hoffte, sie suchten nicht nach einem toten Mädchen, aber natürlich musste das bald auffallen, dennoch… würden sie mich tatsächlich suchen? „Bitte sucht mich nicht! Bitte findet mich nicht!“, flehe ich das Gras an und wiederhole die Sätze wie ein Mantra. Ich spürte, wie der Wind auffrischte und das Gras erzittern ließ, dann wurde das Geräusch leiser und leiser, es verklang, doch ich traute mich nicht aus meinem Versteck, ich hatte das Gefühl, beobachtet zu werden, es war ein ganz mieses Gefühl! Ich stand nach einer Weile wieder auf, nach dem ich mich wieder gefasst hatte und mein Puls sich beruhigt hatte. Doch als ich mich umdrehen wollte, bemerkte ich etwas Kaltes an meinem Hals und zuckte zusammen, denn einen Meter entfernt von mir, sieht mir ein allzu vertrautes Gesicht entgegen. „So sieht man sich wieder, Schwesterchen!“ Der Schock saß tief, ich hatte nicht gerechnet, dass Jan Cooper mich suchen würde, aber dieses „Schwesterchen“ gab mir den Rest, ich zuckte erneut zusammen und bemerkte immer noch das kalte Messer an meinem Hals, was mich nun kurz geschnitten hatte. „Wie…wie?“, stotterte ich, unfähig, Worte zu einem Satz zusammen zu fügen. „Wie ich hierhergekommen bin? Wie ich dich gefunden habe?“, fragte er, seine Stimme klang komisch, vielleicht hatte ich ihn nur lange nicht mehr gehört, aber sie erscheint mir sehr rau, sehr um Fassung ringend. „Ach, das ist eine lange Geschichte! Nein, eigentlich nicht...Lust auf einen Plausch, liebe Schwester?“, sagt er dann, etwas leiser, er wurde sich sicherer, in dem was er tat, so seiner Schwester entgegen zu treten. Ich starrte ihn dennoch weiter sprachlos und entgeistert an, wenn ich mit einem nicht gerechnet hatte, dann mit so etwas. Er rückte näher, so dass ich seinen Atem auf meiner Wange spürte. „Willst du denn gar nichts sagen?“, fragt er, nun direkt in mein Ohr flüsternd. „Amanda! Spiel mit deinem Bruder!“, drängt er mich und gleich darauf verstärkte sich der Druck an meinem Hals. Seine Worte bereiteten mir eine Gänsehaut, die sich über meine vernarbten Arme ausbreitete. Wir waren Auge an Auge und ich suchte verzweifelt nach einem Plan, bevor er meinen grandiosen ruinieren konnte. „Ok, wenn du willst, Brüderchen?!“, ich hob die Hand, schlage mit der einen Jan ins Gesicht und mit der anderen versuche ich seine andere Hand von meinem Hals zu bekommen, ehe ich mich versah, hatte ich sein Messer in den Händen und hielt auch meinen Dolch hoch. Nun sah er verwirrt und verblüfft aus. „Wie…?“, fragte er nun, wie ich am Anfang. „Tja, ich hatte Lust auf ein kleines Mordspielchen!“, sagte ich gefasster, als ich mich fühlte, irgendwie versuchte ich dabei, das Zittern meiner Hände zu verbergen, in dem ich Jans Messer an seinen Hals lege. Er bleibt ruhig und ich versuche ein Grinsen, während ein Tropfen Blut von seinem Hals gleitet. Gerade wollte ich etwas sagen, da landeten wir in einem Gemetzel, da Jan sich erfolgreich gewehrt hatte und wir beide nun im Boden lagen und ständig unseren gegenseitigen Messerstichen und unseren Hieben auswichen. Mein Dolch und sein Messer, einem Schwert gar nicht so unähnlich klirrten aneinander, es musste laut in der Nacht klingen, untermalt von Rabengekreische.

Die Zeit scheint stehen zu bleiben, als ich ihn anblicke, erkenne ich nicht mehr meinen Bruder, sondern etwas oder jemand anderes. Er war kein wirklicher Mensch mehr, Jan Cooper war zu etwas anderem geworden, er hatte sich verändert, wie wir alle. Er hatte mich wieder ausgenutzt und misshandelt, ich wollte mich an ihm rächen, dass er zu diesem Mann wurde, der mein Vater bereits war. Schon fügen sich kleine Teilchen meines Plans zusammen. Ich lächle in den Spiegel, ertrage die Schmerzen, die Jan mir am Mund verpasst hat, es ist eine Wunde, die zu einer Narbe werden wird. Ich sehe aus wie ein grinsendes Ungeheuer. „Bin ich nicht…schön?“, frage ich mich selbst und sehe zu, wie der Mund sich bewegt, es ist kaum ein Unterschied, doch für mich ist es einer. Mein Lächeln erblasst und verschwindet vollends, dafür rinnt mir das Blut vom Mund, wie bei einem Vampir und tröpfelt ins Waschbecken, Wasser rot wie Blut. Ich schlage in den Spiegel, die Scherben stoben davon und hinterlassen ein grauenvolles, ein grauenvolleres Abbild von mir, in ein zerbrochenes Bild meiner selbst. Ich sehe mir in die zerschlagenen Augen und lache und kann nicht mehr aufhören. Ich habe eine Person geschaffen, gruselig wie der Tod.

Ich erkannte den braunhaarigen, schlaksigen Jan Cooper nicht mehr, sein Gesicht war angestrengt verzerrt und sein Mund zusammengepresst, während er gegen mich kämpfte. Der Schweiß perlte von seiner Stirn und ich hinterließ Kratzer auf dem so schönen Gesicht. Die Zeit schien still zu stehen, als ich ihm in die Augen blickte, die so grün waren, selbst in der Nacht, genau wie meine. Ich erkannte mich selbst in seinen Augen und bekam Angst und erstarrte. Ich ließ mich von ihm runterfallen, konnte dennoch den Blick nicht von ihm abwenden. Ich wollte ihn um Gnade anflehen, ich wollte, dass er mich verstand, ich wollte ihn an meiner Seite, ich wollte ihn als meinen Bruder, ich wollte ihn als meinen Freund, meinen einzigen Freund, ich wollte weinen, wollte das kleine Mädchen sein, dass mal seine Schwester war. In der nächsten Sekunde waren alle Gefühle verpufft und die Leere breitete sich aus, wir beide holten zum letzten Schlag aus, waren bereit füreinander, vielleicht sprangen wir beide in den Tod.
Wir waren wieder auf Augenhöhe und er blickte mich an, ein Keuchen entfuhr ihm, als ihm gewiss wurde, was passiert war, in seinem Blick, in seinen grünen Augen flackert es. Ich klammerte mich an meinen Dolch, der noch immer tief in der Brust meines Bruders steckte und versuchte ihn festzuhalten, damit er nicht unter mir wegfiel. Ich sank zu Boden, bettete Jans Kopf in meinem Schoß und er griff nach meiner Hand, die sich mit seinem Blut versehrte. „Schlaues Spiel, Amanda!“, flüstert er, so leise, während sich sein Mund mit Blut füllt. Er drückte meine Hand und ich sah ihm nur ins Gesicht, erkannte die Träne, die langsam von seiner Wange verschwand. Ich strich ihm eine Strähne aus dem Gesicht und schluckte schwer, nach Worten ringend, während mein ganzer Körper zitterte und die Tränen wieder über mich hereinstürzten. „Es tut mir Leid, Jan! Ich hab dich lieb, es tut mir so Leid!“, stotterte ich, nicht mal sicher, ob er es gehört hatte, aber ich wollte es loswerden, ich wollte ihm meine letzten Worte sagen, mich verabschieden. Ich konnte ganz leise ein: „Ich dich doch auch!“, vernehmen und dann war Stille. Das Herz hörte auf zu schlagen und in einem Bruchteil der Sekunde begriff ich, dass ich meinen Bruder getötet hatte. Ich hatte ihn geliebt und er mich. Wieso hatte ich das getan? Ich hatte meinen zweiten Mord begangen, vorsichtig ließ ich ihn ins Gras sinken und schloss seine toten Augen, die meinen nicht mehr so ähnelten, dennoch konnte ich kurz mein Ebenbild in ihnen erkennen, dann waren sie geschlossen, für immer.
Meine Atemwolken bahnten sich nach oben, während ich neben meinem Bruder zusammenbrach und kläglich weinte. Die Vögel sangen meinen Bruder in den Tod und ich weinte zum ersten Mal aus Trauer, aus Liebe. Nach einer Ewigkeit richtete ich mich auf, verließ ihn und ließ mich an einem weit entfernten Stein nieder und lege den Kopf in den Nacken, die Augen schließend.

Weißt du, was das ist?“, ich schüttele den Kopf und mein großer Bruder blickt mich grinsend an. „Das ist ein Gartenzwerg. Großvater hatte viele davon im Garten stehen, doch Großmutter fand sie einfach nur schrecklich, sie seien hässlich, sagte sie. Sie hatte die Zwerge nach Großvaters Tod verkauft, aber weißt du was? Ich fand diese Zwerge immer schön, ich hätte sie behalten. Gefallen sie dir, Schwesterchen?“ Ich nicke begeistert, was ihn lächeln und mich an die Hand nehmen lässt. „Weißt du, wohin wir gehen, meine Kleine?“, fragt er in einem geheimnisvollen Tonfall. Ich schüttele abermals den Kopf und er beugt sich zu mir herunter: „Wir gehen zu meinem Lieblingsort. Wir verstecken uns eine Weile vor unseren Eltern. Es ist ein kleines Versteckspiel!“ Ich entwinde mich glücklich seiner Hand, um in die Hände zu klatschen und leise zu jauchzen. Dann sehe ich wieder hoch und bemerke den großen Fleck am Oberarm. Doch wage ich es nicht, ihn darauf anzusprechen, aber als wir im Geheimversteck angekommen sind, wo Jan mich auf seinen Schoß pflanzt, traue ich mich. „Das war Vater…“, sagt er und blickt dabei nach unten, sein Blick verrät mir, dass es einen Grund für diesen Schlag gab. „Sag ihm nicht, dass du es weißt, dass er mich gehauen hat! Du könntest Ärger bekommen und das will ich nicht. Du bist doch meine Schwester!“ Er drückt mich an sich und ich glaube zu hören, wie er eine leise Entschuldigung in mein Haar flüstert. Nach der Umarmung sehe ich die gesamte Liebe in seinen Augen, die scheinbar mir gilt.
„Ich hab dich lieb!“, flüstere ich und schmiege mich an ihn. „Ich dich doch auch!“

Und nun war dieser Mensch tot. Durch meine Hand!

 

Ich wurde durch die Sonne geweckt, die mir ins Gesicht schien und mich nun blendete. Ich richtete mich gähnend auf, mein Gesicht fühlte sich gescheuert von den Tränen und dem Stein an. Ich sah mich um und mir wurde die Situation mit einem Schlag bewusst, ich sah hinüber zu Jan, zu dem konnte ich nicht mehr, ich wollte ihn so nicht sehen, nie mehr. Es war vorbei. So beschloss ich, weiter zu wandern, zur Stadt zu gelangen. Dennoch kam ich zu einem kleinen Strand, wo ich erstmal gefühlt ewig auf das Wasser blickte, mich dann der Sachen entledigte und ins kalte Wasser ging. Ich musste mich waschen, das Wasser war eisig, dennoch rief es nach mir, wie immer. Ich genoss die Kälte, tauchte unter, wusch mich und fühlte mich sauberer denn je. Mein Blick streift meine Arme, wo die Narben durch die Kälte noch stärker herausstechen und mich anzuschreien zu scheinen. Ich brauchte ewig, wieder aus dem Wasser zu steigen und zog mir dann meine Sachen wieder an und blickte dann, während ich weiter trocknete, hinaus zum Wasser. Dahinter erstreckte sich die Sonne in den Himmel und verkündete, dass dies ein guter Tag werden sollte.

Bald hatte ich mich wieder aufgerafft und war auch der Stadt schon näher gekommen. Hier an der Stadtgrenze stand ein Häuserblock und schlängelte sich die Straße entlang. Sie alle hatten einen kleinen Garten und alles sah sehr idyllisch aus, meine Gegend von früher sah so ähnlich aus, so als könne dort niemals was passieren und dann tut es doch und niemand spricht darüber. Ich brauchte etwas zu essen oder irgendetwas anderes! Ich beäugte den einen Schuppen, der recht vielversprechend wirkte. Ich duckte mich am Zaun entlang und mein Herz klopfte wie verrückt, dabei verfluchte ich mich selbst, denn ich bekam Herzklopfen von einer dämlichen Untersuchung eines Schuppens. Ich schlich näher, sah kurz zum Haus, sah niemanden und gelang dann recht flink in den Schuppen, der Fahrräder, Schlitten und eine Werkbank beinhaltete. Er war reich ausstaffiert und zeigte, dass hier eine wohlhabende Familie lebte. Ich besah mir die Werkbank, mein Blick blieb an einigen Werkzeugen hängen, die prima zur Verteidigung galten, aber ich ließ sie liegen, hier war auch nichts essbares in der kleinen Hütte, worauf mein Magen ein enttäuschtes Knurren von sich gab. Hier war nichts für mich, aufgebend schloss ich die Tür hinter mir und verließ deren Grundstück wieder. Wieder weiter entfernt vom Wohnblock, ließ ich mich in den kleinen Vorsprung sinken, der mir Sichtschutz bot.

Ich zittere am ganzen Körper, mir ist eisig kalt. Ich stehe im kniehohen Schnee, mit nur wenigen Klamotten am Leib. Ich habe überall blaue Flecken und Blutergüsse. Mein Vater hatte mich wieder in der Mangel, immer wieder und wieder, bis ich ein kleines Häufchen Elend und zusammengebrochen war. Nun stehe ich hier draußen und weine still und hasse meinen Vater. Ich spucke in den Schnee, hinterlasse somit meine blutige Spucke. Ich zucke zusammen und huste, ich werde mir eine dicke Grippe einholen. Ich kann nur noch den Vorgarten unseres Grundstücks erkennen, der Schnee erleuchtet im Schein der Laterne weißer. Ich sehe meine Atemwolken nach oben steigen, sie scheinen abgehackt und unförmig, meinem Atem angepasst. Es ist so dunkel und ich wollte nimmer mehr hinein in dieses Haus. Plötzlich legt mir jemand eine Decke um den Rücken, die ich dankbar entgegen, wenn auch erst erschrocken, nehme. Ich blicke weinend auf und sehe in die Augen meines Bruders, er sieht in diesem Augenblick totunglücklich aus. Er schlingt die Arme um mich und versucht mich zu wärmen, mit seiner Nähe. Ich kann mich nur schwach an ihn schmiegen und weiter schluchzen. Irgendwann bemerke ich, dass auch Jan zittert und drehe mich zu ihm um, da er sich über meinen Rücken gebeugt hatte. Ich versuche zu lächeln und er gibt es mir genauso schief zurück. Er fährt mir noch einmal kurz über meine Haare, dann dreht er sich um und lässt mich, mit der Decke an den Schultern, allein. Ich sehe hinüber zum Haus, wo am vorderen Fenster ein Licht angegangen war, es führte zur Straße hin. Ich erkenne meine Mutter in dem Fenster, sie sieht mich mit einem eigenartigen Blick an, sie hat die Arme verschränkt und scheint etwas machen zu wollen. Ich will nicht näher hinsehen, aber ich kann auch von dieser Entfernung aus, ihren Hass erkennen, der nur mir, ganz allein, gilt. Jan geht ins Haus, ich sehe Mum mit Dad ein paar Worte wechseln, er sieht sie einen Moment an, dann wendet er sich Jan zu, der gerade ins Haus gekommen ist, leise und still. Ich will eine Warnung rufen, da holt mein Vater schon leicht aus und gibt Jan einen Schlag. Ich schreie, doch niemand hört mich, keiner der Blicke gilt nun mehr mir, doch, meine Mutter, sie sieht meine Reaktion und wendet sich dann ab. Ich sinke in den Schnee, die Kälte ist mir nun egal und die Tränen fallen dort hinein. Mein Bruder kassiert Schläge wegen mir, weil er mich liebt, weil er nett zu mir ist, er wird meinetwegen geschlagen. Ich schäme mich und weine.

Ich richtete mich aus der harrenden Position im Gebüsch auf und versuchte mich erstmal wieder zu fassen, mir tat der Kopf weh, ich fühlte mich eigenartig und mir war eisig kalt, als würde ich im Schnee liegen. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich geweint haben musste und wische hastig die Tränen weg. Ich kletterte den Abhang wieder hinunter und widmete mich nun dem Weg zur Stadt.
Hier begegneten mir viel mehr Leute, so dass ich unbehaglich die Kapuze überzog und meinen Blick stets nach unten hielt. Ich wusste nicht, wohin ich lief, aber ich bog scharf nach rechts ab, es war eine Sackgasse. Ich hörte Sirenen und schrak zusammen, die waren doch nicht hinter mir her? Ich sah mich hastig um und mein Blick blieb an dem Gully haften, der hier die einsame Gasse schmückte. Hastig versuchte ich den schweren Deckel zu heben, hatte ich das geschafft, zuckte ich wegen des Gestanks zusammen, der mir entgegenwehte. Ich sah nach unten und verzog angewidert das Gesicht, würde ich das wirklich machen? Und schon kletterte ich die Leiter hinunter, als ich die Sirenen lauter vernahm, sie waren ganz in der Nähe. Ich musste tierisch aufpassen, dass ich nicht an der Leiter ausrutschte, sie war glitschig und schimmelig. Die Luft anhaltend, gelang ich schließlich nach unten und sah mich in der Dunkelheit um. Jetzt fiel mir ein, was ich hätte, aus dem Schuppen nehmen können. Eine Taschenlampe! Ich verfluchte mich für meine eigene Dummheit und schlich tiefer hinein in die Abwasserkanäle, es stank so widerlich. Nun war ich hier unten gefangen. Ich lief auf dem nassen Boden weiter entlang, jeder meiner Schritte hallte glucksend wider und ließ mich immer wieder zusammenschrecken, da ich glaubte, noch etwas anderes zu hören.
Mein Herz rutschte mir endgültig in die Hose, als ich ein Hüsteln hörte.

Ich drückte mich an die dreckige Tunnelwand, doch ich war schon längst entdeckt worden, verstecken war zwecklos. Sie hatte mich längst gesehen. „Komm raus! Ich will dich sehen!“, sagte eine scharfe Stimme, forsch und herausfordernd, ich hörte, dass sie lächelte. Ich schloss fest die Augen, um Fassung ringend und ging dann einen Schritt von der Wand weg. Zwar hatte ich mich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, dennoch sah ich mein Gegenüber kaum. „Amanda, Amanda…“ Sie schnalzte mit der Zunge. „Und ich dachte, ich hab mich geirrt, als ich ein komisches Mädchen in meinem Schuppen sah.“ Wenn mein Herz sich gerade noch in der Hose befunden hatte, dann war es nun endgültig in die Füße gesunken und dort explodiert. Ich griff in meinen Pullover, wo ich mein Dolch immer aufbewahrte und halte es in der einen Hand. Doch sie war schneller, sie zog ihre Waffe, wie bei einem Westernkampf, richtig schnell und hatte somit schon ihren ersten Schuss abgefeuert. Ich vernahm noch ein reißen und konnte zum Glück schnell reagieren und mich ducken. Ich hielt ihr meinen Dolch entgegen und musterte sie mit feindseligen Blick. Ihre Haare waren viel länger und sie hatte elegante Schminke auf ihr Gesicht gesetzt, aber in ihrem Blick lag Kälte und Hass. Ellen. Wir konnten uns nicht leiden, auch wenn wir früher, sehr viel früher beste Freunde waren. Aber nun hassten wir einander.

Wer zuerst bei der Laterne ist!“, ruft Ellen, blickt mich herausfordernd an und sprintet dann los. Ich schnelle ebenfalls nach vorn und hole sie ein und erreiche so zuerst die Laterne. Wenn ich rannte, war ich frei. Ich grinse sie an, sie ist leicht außer Atem. Ich war gerade hierher gezogen und wurde am nächsten Tag von einem Mädchen auf der Schaukel angesprochen, warum ich denn alleine schaukle. Wenn ich konnte, traf ich mich mit ihr, so wie jetzt, immer veranstalten wir kleine Wettrennen und meistens gewinnt sie, weil mir etwas zu sehr weh tut oder weil ich nicht so oft draußen bin. Aber wir verstanden uns halbwegs gut, wir beide verstecken uns vor unseren Familien, aber Ellen ist schwächer als ich. Sie bricht immer wieder in Tränen aus, während ich abseits sitze und sie weinen lasse, während mir nie die Tränen in ihrer Gegenwart flossen. Sie fragte mich oft, ob ich nicht auch weinen müsste, aber ich verneinte jedes Mal und schwieg dann.
Aber heute war es anders, wir starten noch ein Wettrennen, wir beide erklimmen gewagt den Berg und Ellen gewinnt, sie ist zwei Jahre älter als ich, sie ist acht und ich gerade mal sechs. Aber oben auf dem Berg, wo Ellens Haare im Wind wehen und sie lacht, sich aber schließlich umdreht, um mir ins Gesicht blicken zu können, erstarrt sie. Denn ich blicke hinunter, ein kleiner Wald erstreckt sich unter uns und ich fühle mich gerade so traurig, dass ich das alles nicht kenne, dass ich immer allein bin, so dass ich weine. Ich weine still, mir fallen die Tränen von den Wangen und Ellen sieht es genau. Sie kommt näher, zögerlich und bleibt dann stehen und steht dann einfach nur da, genauso wie ich die anderen Male, wo sie geweint hat. Ich kann die Kälte in ihrem Blick lesen und da wird mir alles bewusst, ich erkenne, dass für Ellen die Welt nicht fremd ist, so wie mir, Ellen geht es ums Gewinnen, sie will kämpfen, sie will eine Familie, die sie liebt, wie oft sie mir das schon gesagt hatte, sie will besser sein und durch meine Tränen hab ich bewiesen, dass ich innerlich zerbrochen bin und das Ellen den Anblick heimlich genießt. Ich empfinde Hass, als ich ihr ins schöne junge Gesicht sehe und drehe mich komplett zu ihr um. Ich springe sie an, meine Hände an ihrer Kehle und drücke zu, so fest ich kann. Auch wenn sie zwei Jahre älter ist, bin ich schon recht kräftig, aber auch sehr schwach. Ich drücke weiter zu, versuche ihr die Luft zu stehlen, von der Welt, die sie schon gesehen und eingeatmet hat. Nach einer Weile, wo sie schon ziemlich angeschlagen aussieht, schafft sie es, meinem Griff zu entkommen. Sie richtet sich auf, blickt mich entgeistert an, wie ich am Boden kauere und sie Hass erfüllt anstarre. Sie dreht sich um und sprintet den Berg hinunter und schreit dabei.
Ich hab nie wieder mit ihr geredet.

Es hätte gereicht, wäre sie immer fort gewesen, es hätte gereicht, hätte ich sie nie sehen müssen, nie wieder, aber sie zog erst nach einem Jahr wieder weg, wenn auch sie mir stets aus dem Weg gegangen war, ihr Blick war ängstlich, wenn sie mich sah. Ich wollte sie nie wieder sehen und nun stand sie wieder vor mir, mit einem Schwert in der Hand und böse lächelnd.
„Du hast mich traumatisiert, Amanda! Du warst die einzige Person, die mir den Tod gewünscht hat, du warst es, die wollte, dass ich diese Erde verlasse. Du glaubst nicht, wie viele Therapeuten ich besucht habe! Es waren so viele und sie alle glaubten, du seist imaginär, eine Wahnvorstellung, doch du bist real und der Teufel persönlich! Ich musste meine Eltern anflehen, wegzuziehen, weil ich nicht mehr in deiner Nähe sein konnte, so dolle Angst hast du mir bereitet! Ich bin dem Wahn verfallen und habe keine Freunde mehr gefunden, ich habe sie alle verloren. Nachts tauchtest du in meinen Träumen auf und ich glaubte, du stündest am Fenster mit Blutspuren von mir im Gesicht.“ Sie sah mich an, in ihrem Blick flackerte es, ich erkannte ihre Traumata, sie war zerrissen. Ich hatte sie traumatisiert? Ich? Ich hasste Ellen immer noch, das wurde mir in der Sekunde bewusst. „Dann wird es Zeit, dein Trauma wieder aufzufrischen!“, sagte ich scharf und stach zu. Es klirrte, ihre Reflexe waren gut. Ich holte erneut aus, wurde wieder pariert von ihrer Seite aus. Sie erwischte mich am Gesicht.
„Willst du weinen?“, flüsterte sie. Sie keuchte und presste die Worte nur mit Anstrengung hervor. Ich blickte sie an, nur eine Nanosekunde, in der ich innehielt und sie ansah. Ein Stoß, ein Schrei und ganz viel Blut, zu viel Blut. Ich sah nach unten zu meinem Pullover, der Schmerz quoll langsam auf und der Pullover färbte sich blutrot. Der Schmerz stieg in eine unerträgliche Rate. Mit einer Hand zog ich das Schwert aus meinem Körper und biss mir fest auf den Mund um nicht laut aufzuschreien, diese Schmerzen! Ich sank zu Boden, auf den dreckigen Abwasserboden, ich holte mit meinem Schwert aus und schnitt Ellen unerwartet ins Bein. Ihr Lachen wandelte sich zu einem Schrei und sie sank ebenfalls zu Boden. Noch während sie fiel, holte ich mit dem Schwert erneut aus und traf auf ihren Hals, das Schwert glitt hindurch wie Butter und ich schloss die Augen, konnte nicht mit ansehen, wie ich Ellen den Kopf abschnitt. Ich hörte den dumpfen Aufschlag des Körpers und des Kopfes und ließ das Schwert klirrend zu Boden fallen.
Schreiend krampfte ich mich zusammen, ich versuchte mir die Schmerzen aus dem Leib zu brüllen, doch es half nichts. Es blieb nur der Schmerz und ich presste mir mit der einen Hand auf den Bauch, versuchte irgendwie das Blut zu stoppen, es in mir zu behalten, doch mir wurde schon schwindlig und ich ahnte, dass ich nicht mehr lange durchhalten würde.
Ich würde sterben, neben einer Leiche, deren Kopf nicht mehr dort war wo er sein sollte.
Was bedeutet der Tod überhaupt? Wie ist es zu sterben? Kann ich wirklich behaupten, dass ich sterbe? Sind es nicht nur die Schmerzen, die in mir explodieren und mich dazu zwingen, zu denken, dass ich will, dass es vorbei ist? Wird man für immer weg sein? Nie mehr denken können?
Ein Nichts.
Das Nichts, ich spürte, wie es mich ergriff, mich erfüllte, meine Sinne stahl und mich vergessen ließ. Ich begann zu verschwinden, ins Jenseits abzudriften, ich spürte es. Es war vielleicht Zeit, sich zu verabschieden, von dem jetzigen Dasein, was ich keinesfalls bereuen würde. Aber meine tauben Gedanken glitten zu meinem Plan, der schon recht weit war. Wenn ich tot wär, würde dieser Plan nicht vollendet werden können. Und dieser Plan war mein einziges Ziel in meinem Leben. Niemand würde sich mehr rächen, vor allem nicht ich. Schade aber auch!

Ich stehe im Haus, gerade ist Dad unter meinem beziehungsweise seinem Messer gestorben und ich lasse mir doch im Kopf genug Zeit, mich umzusehen, um mir derer bewusst zu werden, was ich alles nicht vermissen werde.
Ich halte ein Bild von meinen Eltern in der Hand und in mir dämmert etwas, Dad hat mich immer gefoltert, mir wehgetan, dennoch nie getötet, während Mum in einer anderen Liga spielte. Mir wird bewusst, dass ich in Mums Liga spiele, dass der Tod mein Ding ist, ich will Liv Death, der Totenbote sein, der persönliche Totenbote für meine Familie. Ich schmeiße das Bild zu Boden und es zerschellt. Ich sehe mich weiter um, mein Blick gleitet über ein Regal voller unbedeutender Bücher und wandert hin zur Küche, wo auf dem Herd ein Topflappen liegt.
Mein Vater hatte was gekocht, es waren Erbsen und Kartoffelpüree gewesen, ich weiß noch, dass ich Erbsen gehasst hatte und wir am Tisch gesessen haben. An Jan konnte ich sehen, wie er das Gericht ebenfalls verabscheute, sich es dennoch runterzwang. Vater hatte uns herausfordernd angesehen, aber hinter seinem Blick erkannte ich etwas anderes, es war tiefe Trauer, die sogar ich sah, denn dieser Tag war dieser, an dem Mum ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Jan und ich quälten uns mit dem Essen und Vater lachte plötzlich in der scheppernden Stille los und war gar nicht mehr zu beruhigen. „Ihr müsstet mal eure Gesichter sehen!“ Es war ein guter Tag.
Ich sehe hinüber zu einer Vase, in der verwelkte Blumen stehen, die Blumen waren mal schön und bunt, die Mum gekauft hatte. Vater hat sie immer behalten, ich habe ihn manchmal erwischt, wie er auf die Vase gestarrt hatte. Seit dem Tod meiner Mutter waren sie verwelkt, so wie die Erinnerungen an sie.

Mir entfuhr ein lauter Schrei, eine neue Schmerzenswelle schien mich zu übermannen und der Tod war gekommen, ich konnte kein Licht sehen.

Ich war müde und blinzelte in der Dunkelheit, langsam und unter Schmerzen richtete ich mich auf und fasste mir an den Kopf. Er dröhnte, wie nach einer großen Sauftour. Ich sah nach unten, zu meinem von Blut durchtränkten T-Shirt. Ich hob es leicht an und keuchte auf, als ich die tiefe Wunde sah. Sie war zu tief, meine Heilkünste waren hier mehr als überfordert, das hier bedurfte einer ärztlichen Hilfe, die ich nicht zu Rate ziehen konnte. Ich war ratlos, hilflos, die Wunde war zu groß, als das ich mich damit bewegen könnte, geschweige denn, mich wieder an die frische Luft ziehen. Ich steckte in einem dreckigen, stinkenden Abwasserkanal, mit einer Leiche an meiner Seite ohne Kopf, mit Ratten neben mir und ich lag in einer großen Blutlache, die meine Wunde verursachtet hatte. Ich schlief oft, in den Wachphasen kämpfte ich mit den Schmerzen und in meinen Schlafphasen bekam ich eigenartige Halluzinationen, vielleicht war ich dort auch wach. Aber mein Bewusstsein klammerte sich, so gut es ging, ans Leben.
Ich musste meinen Plan beenden! Sonst würde ich nicht sterben können oder wollen. Ich musste meine Wunde reinigen, das hieß, zurück an die Oberfläche, dennoch graute mir davor. Zu viele Leute hatten mich gesehen, zwei wollten schon meinen Tod! Das war Fehler Nummer eins im Plan und meine Wunde war Nummer zwei. Ich konnte mir in dieser Situation keine Fehler leisten, ich wollte morden, wollte Rache.
Ich wusste nicht, wie lange ich dort unten verweilte, ich kämpfte immer noch, doch irgendwann wagte ich sehr, sehr langsam den Aufstieg, die Leiter war noch immer glitschig und ich brauchte nach jeder Sprosse eine Pause. Wenn ich mir das anstrengend vorgestellt hatte, dann war die Realität noch tausendmal schlimmer. Ich brauchte ewig um nach oben zu gelangen, aber ich schaffte es. Ich drückte mich gegen den Deckel, der sich leichter wegschieben ließ.
Draußen atmete ich hastig die frische Luft ein, sie war das willkommenste Geschenk. Ich brach direkt neben den Gully wieder zusammen, sah, dass Eiter die Oberhand bei meiner Wunde gewann und schloss die Augen, ich wurde ohnmächtig.

Ich träumte. Ich lag tot auf der Straße und sagte die ganze Zeit, das ich ein Genie sei, dass der Plan mein Meisterstreich war, mein Siegeszug. Aber neben all dem weinte ich, weinte darüber, dass ich meine alte Freundin und meinen Vater und meinen Bruder getötet hatte. Ich sah nach oben, wie die Menschen einfach um mich herum liefen, mich eiskalt ignorierten, obwohl ein totes Mädchen auf der Straße lag.
Ich übergab mich, ständig wurde ich wieder wach und wieder ohnmächtig, ich wollte schreien, aufstehen, aber für alles hatte ich keine Kraft mehr. Der Schmerz regierte in mir. Es wurde wieder schwarz, bevor ich weiter handeln konnte.

Ich fühlte mich besser, als ich wieder erwachte, ich war schweißgebadet, aber ich konnte mich ganz zögerlich aufrichten, bis mir dann aber auffiel, wo ich mich befand. Das hier war keine Straße, keine Nebengasse, nein, ich war nicht mal draußen, ich lag in einem Bett! Erschrocken ließ ich mich zurückfallen und versuchte meine Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Mir fiel die Wunde ein und sofort strampelte ich die Decke weg und hob das, mir viel zu große und leider auch fremde T-Shirt an. Ein Verband umschloss meinen gesamten Bauch, es tat noch immer höllisch weh, aber es war auszuhalten. Es war nur ein kleiner Blutfleck daran zu erkennen, sonst war es sauber. Ich konnte nicht aufhören, darauf zu starren. Ich hatte überlebt! Als ich wieder klare Gedanken fassen konnte, sah ich mich um, besah mir das Bett genau und das Zimmer, in dem es stand. Direkt gegenüber prangte ein großer Kleiderschrank, das Zimmer war in einem himmelblau gehalten und neben mir stand ein kleiner Nachttisch, die Lampe war an und verbreitete warmes Licht. Und neben dem großen Schrank war ein kleiner Tisch, auf dem eine Menge merkwürdiger Ansammlungen stand. Einmachgläser thronten auf dem Tisch und dem Regal darüber, aber deren Inhalt konnte ich nicht entziffern.
Wie lange hatte ich geschlafen? Wo war ich hier? Wer hatte mich gefunden und…gerettet? Ich blickte auf meine Hände hinab, zählte nach, ob ich zehn Finger hatte und versuchte mich zu beruhigen, aber das fiel mir schwer, diese Situation war für mich zu fremd.
Ich biss mir auf die Unterlippe, jemand hatte mir das Leben gerettet! Mich verarztet und mir einen Platz zum Schlafen gegeben. Ich wollte niemandem was schuldig sein! Mein Blick glitt erneut zum Bauch, da ich es immer noch nicht fassen konnte.
„Das war eine schlimme Wunde!“ Ich schrak auf und fiel prompt vom Bett und fand mich nun auf dem Boden wieder. Starke Hände streckten sich mir entgegen, um mir hoch zu helfen. Ich sah hoch zu dem Mann. „Wie…?“, brachte ich nur erstaunt aus. Der Mann zog mich zögernd hoch und blieb dann direkt vor mir stehen, noch immer die Hand festhaltend, als hätte er Angst, loszulassen, als würde ich nochmal umkippen. Es war ein junger Mann, er hatte braunes Haar, was durcheinander auf seinem Kopf lag und schelmisch blaue Augen, die mich nun sorgenvoll ansahen. Seinen drei-Tage-Bart ließ ihn sympathischer und wenn auch etwas schläfrig aussehen. Ich erkannte Augenringe unter den blauen Augen und er schob die Brauen zusammen, weil ich nichts sagte, sondern damit beschäftigt war…ihn anzustarren. Als ich das begriff, zuckte ich weg und ließ ihn los.
„Wer bist du?“, fragte ich, meine Stimme war heiser und klang sehr rau. Er setzte sich an den Rand des Bettes und bedeutete mir, es ihm nachzutun. Langsam und mit sicherem Abstand, setzte ich mich dazu, dann erst fing er an zu reden. „Mein Name ist Noah und ich bin 23 Jahre alt. Freut mich, dich endlich im wachen Zustand zu sehen, du hast mir echt Sorgen gemacht. Also darf ich auch fragen, wer du bist?“, er versuchte gleichgültig, ganz lässig zu klingen, aber sein Stottern am Anfang verriet ihn und am Ende stockte er. Ich schwieg einen Moment, nicht sicher, wie viel ich ihm anvertrauen konnte oder sollte. „Ich bin Liv…“, es war mir unangenehm, ihm nicht meinen richtigen Namen genannt zu haben, aber Amanda war tot, auch wenn sie noch immer irgendwo in mir ruhte und mich nun anschrie. „Okay, Liv, ich will dir nicht zu nahe treten, aber woher…hast du diese Wunde? Sie war so tief und du hast eine Menge Blut verloren, außerdem hab ich dich in einer Gasse gefunden, da war niemand oder nichts, nur du.“ Ich sah weg, wollte das nicht hören, wollte seinen Fragen ausweichen. „Was ist mit dir geschehen, Liv?“, hakte Noah nach. Er machte sich Sorgen, schön und gut, aber er rückte mir zu sehr auf die Pelle damit, ich wollte nicht bedrängt werden. Ich fand einen guten Blickpunkt, das Fenster, es versprach Freiheit, im Lichtschein tänzelten Staubkörnchen und ich merkte Noahs Blick auf mir ruhen.

„Wieso tust du das, Mutter? Wieso willst du mich verletzen? Mum! Tu mir nicht weh! Bitte!“ Ich schrie meine Mutter an, die mich anblickt, als sei ich Dreck unter ihrem Schuh, aus ihren Augen spricht Kälte, keinerlei Liebe zu mir war zu erkennen. Ich weine hoffnungslos. Meine Mutter wollte mir wehtun, so wie mein Vater, aber was sie tat, war noch viel schlimmer, es tat mir im Herzen weh. Sie hatte sich ein Küchenmesser geschnappt und hat mich dann ins Badezimmer gezerrt, wo sie nun meine Arme aufschneiden wollte. Ich sehe nichts mehr außer Blut und noch mehr Blut und dazwischen meine Mutter, die nicht lächelt, die keinerlei Reaktion in ihrem Gesicht vernehmen lässt. Ich flehe sie an, aufzuhören, sie soll aufhören, aufhören mich zu zerstören, Stück für Stück. Haut für Haut. Wunde um Wunde. Mutter schweigt und niemand hört meine Schreie, Jan und Dad sind nicht zuhause, nur wir beide, in einem Horrorfilm, meine Schreie hallen im kleinen Badezimmer, während ich nackt vor meiner Mutter liege und sie mich aufschneidet. Sie hasst mich! Sie hasst mich so sehr und sie wird es immer tun. „Bitte, Mum! Tu mir nicht weh!“
Wie die Zeit vor meinen Augen gerinnt, wie ich die Wunden öffne, mich erinnere und alles erneut durchlebe. Mum…

Ein Rütteln brachte mich in die Realität zurück. Verwundert und zu Tode geängstigt schaute ich in blaue Augen, die mich verwirrt und verzweifelt anblickten. „Liv!“, ich hörte seine tiefe Stimme, die mich nun komplett zurück brachte. Noah strich über meine Wange, da registrierte ich, dass ich geweint hatte. Ich hatte Angst. „Noah…“, flüstere ich schluchzend und versuche nach Fassung zu ringen. Noah nahm mich in den Arm und ließ mich lange nicht mehr los, aber ich fühlte mich zum ersten Mal sicher, ich fühlte mich sicher in seinen Armen. Dabei kannte ich ihn nicht und Fremden sollte man nie vertrauen. Ich weinte noch immer und hörte Noah neben mir atmen, er pustete mir in die Haare. Er war mir plötzlich zu nah, er hatte meine Wunden gesehen, niemand sollte davon wissen, es war mein Geheimnis. Mein Problem. Mein familiäres Problem.
Wütend schubste ich den Mann von mir weg und sah ihn zornig an. Er war verwundert, eindeutig, aber bevor er eine Frage formulieren konnte, war ich schon aufgesprungen und aus dem Raum gesprintet, ich knalle gegen Türen und stolpere über eine Tasche und will wahllos eine Tür aufreißen, da kam Noah hinterher gesprintet und ergriff meine Arme. „Liv!“, versucht er. Ich entwand mich dem Griff, der zu seinem Pech zu locker war. Ich sprang in den Raum, deren Tür ich gerade geöffnet hatte. Es war ein Badezimmer und direkt vor mir befand sich auf Augenhöhe ein Spiegel. Ich starrte mich an, mein Spiegelbild und wollte es nicht glauben. Mir starrte eine fremde Person entgegen.
Meine Haare waren pechschwarz, sie waren früher mal dunkelbraun, nun waren sie länger, denn je, reichten mir weit über den Rücken. Aber mein Gesicht war die größte Veränderung, meine Gesichtszüge waren kantiger, schärfer, Kratzer prangten auf meinem Gesicht und ließen mich gefährlicher und geschändeter aussehen. Still betrachtete ich die Narbe an meinem Mund, die mir Jan mal verpasst hatte. All diese Kratzer und Wunden verliehen mir etwas Schauderhaftes.
Ich vernahm ein leises Hüsteln und drehte mich zu Noah um, der im Türrahmen stand. Er kam ganz langsam und zögernd näher, wie ein Jäger seiner Beute um sie keinesfalls aufzuschrecken, ich tat es dennoch doch und wich vor ihm zurück. „Du hast mich entführt! Du willst mich tot sehen! Du willst mir die Arme aufschneiden! Du willst…“, schreie ich ihn an, sehe aber gar nicht mehr Noah vor mir, sondern ein Mischmasch aus Mum, Dad, Jan und Ellen. Dieses schüttelte nun den Kopf und kam immer noch näher auf mich zu, die Arme ausgestreckt. Ich klammerte mich an das Waschbecken, was sich mir in den Rücken bohrte und wollte nicht den toten Seelen ausgesetzt werden. Noah ergriff mich, schüttelte mich und zerrte mich aus dem Raum, er war überfüllt mit Blut, meinem Blut. Ich blinzelte, da war nichts mehr zu sehen. Noah hockte sich vor mich hin, während ich mich auf einem Stuhl sinken ließ.
„Liv?“, fragte er vorsichtig und ich sah ihn an, eher gesagt durch ihn hindurch, der Schock saß noch immer zu tief. „Ich möchte dir helfen!“ „Mir helfen? Ist das dein Ernst?“, hakte ich entsetzt nach. „Ich kann dir nicht glauben, tut mir Leid. Du hast schon viel zu viel gesehen und mir schon zu viel geholfen! Ich muss jetzt gehen!“ Ich schüttelte den Kopf und stand auf. „Wo ist die Tür?“, meine Stimme klang schon wieder zittrig, als wäre ich abermals davor, in Tränen auszubrechen, ich biss die Zähne zusammen und funkelte Noah energisch an. Es war zwecklos, das erkannte auch er. Er begleitete mich zur Tür, ich hob meinen Rucksack, der dort an der Schwelle stand, auf und drehte mich noch ein letztes Mal zu ihm um. „Danke!“

Wie bescheuert war ich denn eigentlich? Danke? Er hatte mir das Leben gerettet! Ich hasste es, wenn ich jemanden etwas schuldete, es war so ein abartiges Gefühl, ich hasste es. Aber danke?

Du bist mir etwas schuldig, Kind! Ich habe dich am Leben gelassen, dafür stehst du in meiner Schuld, ich habe dich gebärt, habe dir ein Zuhause gegeben und ich muss mich die ganze Zeit, diese endlosen Jahre mit dir rumschlagen, du Schlampe! Begleiche deine Schulden endlich! Ich warte.“
„Aber wie, Mutter? Wie kann ich die Schulden begleichen? Ich habe Angst!“ Ich sehe sie angsterfüllt an, sie sieht so groß aus, wie sie mir gegenüber steht und mich anfunkelt, sie sieht so zornig aus. „Deine Angst interessiert mich nicht, mich interessiert rein gar nichts von dir! Du bist nur ein Kind, ein hässliches, nerviges Kind. Wieso hab ich dich überhaupt auf die Welt gebracht? Ich wollte dich nie haben.“ Sie wendet den Blick ab, als könne sie es nicht mehr ertragen, mich anzusehen, ihre kleine Missgeburt. Ich schlucke schwer und bringe endlich das raus, was ich schon immer mal sagen wollte.
„Mutter! Ich bin dein Kind, trotz allem. Dadurch bin ich wie du. Also wenn du mich als Schlampe bezeichnest, dann bist du genauso! Ich bin genauso grausam wie du, ich schäme mich, dich als meine Mutter bezeichnen zu müssen. Ich bin wie du.“
Ich bekomme einen Schlag ins Gesicht, es ist eine saftige Ohrfeige. „Die Zeiten mit Mama sind wohl endlich vorbei! Diese Schreie waren so schlecht für meine Migräne. Und du hast gar nichts von mir! Gar nichts! Du bist die Ausgeburt der Hölle.“ Meine Wangen brennen, aber ich muss nicht weinen. „Du hast dich gerade selbst als Teufel bezeichnet und dem kann ich nur zustimmen! Ich kenne niemanden, der mehr Hass empfindet als du. Ich bin das Kind des Teufels, sagst du, dann bist du der Teufel! Du hast mich noch nie geliebt, oder...Mutter?“ Ich spreche das letzte Wort verächtlich aus und kassiere drei weitere Schläge. Sie schweigt kurz, starrt mich nur entsetzt an.
„Du fängst nun auch damit an? Machst es wie Vater? Verhaust, verprügelst dein Kind so lange, bis es nicht mal mehr auf allen vieren kriechen kann? Versuchst dich an der Gewalt, berauschend, nicht? Aber diese Wut verschwindet zwar vielleicht, aber sie kommt immer und immer wieder… Willst du mich wirklich nun so hassen?“ Ich weiß nicht, woher ich den Mut aufbringe, ihr das alles ins Gesicht zu sagen, ich sehe ihr die ganze Zeit in die Augen, wende den Blick nicht ab. Ich stelle mich ihr und ziehe den Schwanz nicht ein. Aber sie sieht weg. „Ich könnte dich niemals lieben!“ „Dann respektiere mich, Mutter! Respektiere mich als Kind!“ Sie sieht mich wieder an. „Nein, du bist mir was schuldig, also…“

Stirb! Hau ab! Ich versuchte erfolgreich die Tränen zurückzuhalten und fragte mich, wohin ich nun gehen sollte. Überlegend blieb ich stehen und besah mir die neuen Anziehsachen und prompt wurde ich rot, hatte Noah mich angezogen? Ich trug eine lange, lässige Hose mit einer Menge Taschen, in denen ich sofort nachsah und Glück hatte. Noah bewahrte Geld in seinen Taschen auf! Es waren 63 Euro. Sollte ich zurückgehen und Noah das Geld zurückgeben? Schließlich war ich keine Diebin und ich schuldete ihm schon so genug. Aber wenn ich schon in den Klamotten steckte, könnte ich es auch behalten, vielleicht bemerkte Noah es ja nicht mal, aber wenn doch… Dann würde er mich der Polizei verpfeifen und dann wär ich endgültig ausgeliefert, schließlich hatte er mich gesehen. Hastig blickte ich umher, er hatte doch nicht die Polizei gerufen, oder? Warum hatte er mich eigentlich nichts ins Krankenhaus gebracht? Dieser Mann gab mir mehr Rätsel auf, als ich gedacht hatte. Ratlos stand ich auf der Straße und starrte ins Leere, dann drehte ich um.
Noah blickte nicht schlecht aus der Wäsche, als ich wieder den Garten betrat und ihn rief und stürmisch die Klingel drückte. Mir blieben drei Optionen, wie ich diesen Mann umgehen sollte. Entweder, ich würde ihn einfach umbringen, in den Keller packen und vergessen, dann war ich ihm nichts mehr schuldig, aber diese Option missfiel mir, so dann gab es noch Option zwei, so tun, als ob nie was gewesen wäre und abhauen! Weit weg, wo Noah mich nie mehr finden würde und Option drei hatte leider gar nichts mit Noah „umgehen“ zu tun, nein, genau das Gegenteil, es hing damit zusammen, sich herzlich bei ihm zu bedanken, zu entschuldigen und ihm alle Fragen zu beantworten. Mir gefielen alle drei Optionen nicht! Ich verabscheute den Gedanken, ganz freundlich zu Noah zu sein, aber auch den Gedanken, abartig böse zu Noah zu sein. Verdammt!
Nun stand er an der Tür, sah mich verwundert an und wartete darauf, was ich sagte. Ich verdrehte müde die Augen. „Ich habe Geld gefunden…“, sagte ich etwas aus der Puste und zwängte mich an ihm vorbei hinein in den ersten Raum, es war eine Werkstatt, wie ich überrascht feststellte. „Geld?“, Noah tauchte neben mir auf und musterte mich sehr verwundert, er wusste nicht recht, was er jetzt machen sollte und setzte sich ungelenk auf einen der Hocker an der Werkbank. Ich blieb stehen. „Ich weiß, dass du Fragen hast, die mich betreffen, aber sollte ich dir davon erzählen, möchte ich erstmal wissen, wer du bist und was du so machst, wie ist deine Familie und wie kommt es, dass du keinen Krankenwagen gerufen hast!“
Schweigen. Dann öffnete er endlich den Mund.
„Wie gesagt, ich bin Noah, bin unter meinen Eltern großgeworden, so wie mit einem Bruder und einer Schwester. Bin gut aufgewachsen, kann man so sagen?!“ Schon jetzt bereute ich die Frage gestellt zu haben, das klang zu schön und die Eifersucht wuchs kräftig in mir. „Und ich studiere gerade Medizin, habe deshalb auch sehr gut deine Wunde versorgen können. Ich widme mich aber auch einzelnen Forschungen, mich interessiert die Biologie sehr“, er deutete auf sein Mikroskop. „Und weshalb ich keinen Krankenwagen gerufen hab… Ich musste dich so schnell versorgen wie es ging, ich brachte dich hier her, das Krankenhaus ist auf der anderen Seite der Stadt, da hätte es länger gedauert, hätte ich die gerufen.“ Ich runzelte die Stirn. „Und weshalb hast du danach noch immer keine gerufen, nach dem du mich gepflegt hattest?“ „Ich wollte mit dir dahin gehen, wenn du bei wachem Zustand bist, ich weiß ja nicht, wer dir das angetan hat, ich weiß nicht, ob es nicht dann noch gefährlicher für dich ausgeht, wenn man Akten über dich liest, die daraus schließen lassen, dass du hier in der Stadt in einem Krankenhaus bist… Ich dachte, vielleicht ist dir das nicht aus einem guten Grund passiert.“ Ich war baff, der Kerl war schlauer als gedacht. „Wow…danke?!“, sagte ich dann, klang aber so, als wäre es eine Frage, aber ich war ihm echt dankbar. Ich biss mir auf die Unterlippe, was sollte ich ihm über mich erzählen? Ich konnte ihm doch nicht meine Lebensgeschichte erzählen, was hatte ich mir nur gedacht? Ja, tut mir Leid, Noah, ich bin eine Mörderin, ich wurde oft geschlagen in der Kindheit, meine Mutter hat mich gehasst und der Rest hat sich gegen mich verschworen, ja, dann schwor ich halt Rache und legte sie um, mein Bruder und eine Freundin wollten mich auch umbringen. Wenn das so einfach wäre… Ich musste lachen, wahrscheinlich der Absurdität wegen, die in meinen Gedanken herrschte und doch die eiskalte Realität war.
„Ich habe…hatte einen Bruder und Eltern, es ist viel passiert, ich lebte in einem kleinem Dorf, gleich nebenan von hier, ich bin irgendwann abgehauen“, ich rang mit den Händen und sah zum Fenster hinüber. „Wieso?“, hakte Noah nach einer Weile nach, ich registrierte ihn erst kurz später und sah auch nicht zu ihm, ich sah zu den Staubpartikeln, die im Fenster erkennbar waren. „Ich bin abgehauen, weil ich es zuhause nicht mehr ausgehalten habe, ich bin abgehauen, weil mein Leben scheiße ist, weil alles an diesem Drecksleben scheiße ist und ich immer alleine war, also weshalb sollte ich noch weiter bei diesen Irren bleiben? Ich hasse das Leben! Ich würde am liebsten alles beenden, nicht mehr nach meinem Vorsatz handeln und alles vergessen! Aus, Schluss, vorbei! Ein Ende! Doch was hätte ich davon, wenn ich einfach ginge? Was wäre dann? Was wäre anders, wenn ich meinen Vorsatz beende oder nicht? Es würde keinen interessieren, ob ich nun unter der Erde liege oder nicht, ich bin eiskalt, ich bin krank. Ich bin…“ Ein Mörder. Ich weinte nicht, hatte mich daran überzeugt, als ich mir über die Wangen wischte. Ich sah langsam wieder zu Noah und erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich all das laut gesagt haben musste. Ich stockte und er sah schockiert aus.
„Was ist mit dir geschehen, Liv? Was ist in diesem kleinem Dorf mit dir passiert, wo du aufgewachsen bist? Wurdest du krank?“ Der Kerl war doch dümmer als ich gedacht hatte, dabei hatte er mich vorhin so positiv überrascht. Er hatte doch all meine Narben und Blutergüsse gesehen! All meine blauen Flecken, die mich nie wieder verlassen zu wollen schienen. Ich schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht krank…vielleicht doch, aber das tut hier gar nichts zur Sache. Ich frage dich, was fängst du mit diesen Informationen an, wenn ich sie dir gegeben hab? Du wirst mich doch der Polizei verpfeifen! Du willst das zu Ende bringen, was meine Eltern angefangen haben? Willst mich auch schlagen? Komm Noah, Hass mich! Hass ist das einzige Gefühl, was ich zu lieben gelernt hab, komm Noah, bring mich um! Willst du mich hassen, so wie ich mich hasse? Willst du?“, meine Stimme erhob sich immer weiter und ich kramte in der Hosentasche, wo sich das Geld befand und schmiss es auf den Boden. Erhitzt und zornig funkelte ich ihn an und wollte aus dem Raum stürmen, aber irgendetwas in Noahs Blick hielt mich zurück. „Liv…“, er klang hilflos, er hob ratlos die rechte Hand und ließ sie kurz darauf wieder sinken. Keine Worte brachte er mehr hervor, er sah aus wie ein begossener Pudel und ich merkte, wie die Hitze in mir hochkroch, wie mein Magen mich anknurren zu schien, weiter zu machen, weiter auszuflippen, damit ich auch noch das ruinieren würde.
„Ich hasse dich nicht! Ich werde dich nicht der Polizei aushändigen. Ich weiß, deine Eltern haben dich misshandelt, oder? Dann bist du abgehauen?“ Diese blauen Augen hielten mich gefangen. Kam drauf an, wie er misshandelt definierte, aber ich nickte. „Ja!“

Abermals wachte ich in einem fremden Bett auf, doch heute erinnerte ich mich, was passiert war. Noah hatte gesagt, ich solle hierbleiben, so sehr ich mich auch gewehrt hatte. Ich konnte ihn nicht leiden! Leise schlug ich die Decke zur Seite und tapste barfüßig aus dem Raum, in das große Zimmer, wo ich auf dem Tisch einen Zettel entdeckte.

Bin in der Uni, Brot gibt’s in der Küche.
Noah

Ich zerknüllte den Zettel, schnitt eine Scheibe Brot ab und ging zurück in das Zimmer, aus dem ich gerade gekommen war. Ich suchte meine Tasche und fand sie vor dem Bett, klaute mir ein Laken, als Decke und dann ging ich zurück in die Küche, schnappte mir einige Äpfel und Birnen, die in einer Obstschale thronten. Ich sah das Geld zusammengekratzt auf der Theke liegen und nahm mir die Hälfte doch mit, mit schlechten Gewissen. Auf der Suche nach einem leeren Zettel, untersuchte ich auch die Wohnung genauer, schließlich stieß ich auf einen Stapel kleiner Zettel und schrieb nur ein Wort auf einen ausgewählten Zettel. „Sorry.“ Dann verließ ich das Haus, zog mir wieder mal die Kapuze tief ins Gesicht und aß gehend mein Brot auf.

Lautes, schallendes Gelächter. Er führte mich in einen großen Saal und tanzt nun mit einer unsichtbaren Begleiterin, bis er schließlich mich um einen Tanz bittet. Unsicher reiche ich ihm meine Hand und stelle mich auf seine Füße. Er fegt mich durch den ganzen Tanzsaal und lacht. Er schafft es, mich ebenfalls zum Kichern zu bringen und tänzelt mich zum großen Flügelpiano, der auf der Bühne thront. Er setzt sich auf den Hocker davor und haut in die Tasten, lässt betörende Musik erklingen. Er spielt so schön, so atemberaubend, so ruhig und ausgeglichen. Er ist zauberhaft, wie ein Mann aus einer anderen Welt. Sprachlos sehe ich ihm zu und lasse mich von der Musik einlullen. In diesem Augenblick bin ich so glücklich, wie noch nie. Ich habe alles um mich herum vergessen und nur noch er zählt und die Musik. Ich kann die Schmerzen vergessen und mit meinem Freund lachen.

Schwer japsend rang ich nach Atem. Ich ging schneller, denn ich wusste jetzt genau, wohin ich wollte. Ich wollte sofort da sein, ich wollte hin sprinten und sofort bei ihm sein. Aber es lief die Gefahr, dass ich erkannt würde, sofort fiel ich in einen lässigeren Gang zurück. Ich war in der Nähe eines Supermarktes, bei dem scheinbar viel los war, ständig rempelten mich Leute an und ein Penner saß vor dem Laden und bettelte um Geld. Ich wollte gerade in den Laden hineingehen, meinem Hunger folgend, als dieser mein Bein packte und mich zurückzerrte. „Hey!“, rief ich aus. Seine Augen waren groß und zeigten deutliche Augenringe, er fror und ich konnte ihm nichts geben. „Tut mir Leid, ich hab nichts für dich!“ Ich wollte mein Bein wegziehen, doch er hielt zu gut fest. Manche Menschen musterten uns beide mit einem entweder leicht pikierten, angeekelten oder verwunderten Blick, gingen dann aber weiter. „Hilf mir!“, wisperte der Mann unter mir. Diese zwei Worte ließen meine Nackenhaare aufrichten. Was sollte ich tun? Ich konnte ihm nicht helfen. „Sorry, man!“ Ich schüttelte ihn ab und betrat den Laden, bei der Obstabteilung zitterte ich noch immer. Ich wusste nicht mal, weshalb dieser Mann mir so Herzrasen verpasste, war es vielleicht, weil er mich an meinen Vater erinnerte? An meinen Onkel? Ich wusste es nicht. Plötzlich wurde ich von hinten auf die Schulter getippt und ich fuhr vor Schreck zusammen. „Entschuldigung, Madam? Sie haben etwas fallen lassen.“

Ich konnte mich nicht umdrehen, denn hinter mir stand mein Vater, er würde mir ins Gesicht sehen wollen und mich dann schlagen, weil seine verhasste Tochter vor ihm stand. Ich durfte mich einfach nicht umdrehen, der Horror suchte mich heim und ich begann erneut zu zittern. Dieses Tippen auf der Schulter bereitete mir Gänsehaut, sagte, dass er darauf wartete, dass ich mich zu ihm umdrehte. Jemand berührte mich an weiter am Rücken, schüttelte mich an den Schultern, ich nahm kaum wahr, wie sich jemand vor mich stellte. Ich hatte die Augen fest geschlossen, jemand sagte etwas zu mir, dann öffnete ich sie. Ich sah meinem Vater in die Augen, die milchig weiß waren, tot. Ich schrie auf.

Zwei Hände hatten mich ergriffen und geschüttelt. Ich starrte den fremden Mann vor mir an, ich hatte ihm ins Gesicht geschrien, in der Annahme, er sei mein toter Vater, dabei sah er ihm nicht mal annähernd ähnlich. Er war gedrungen, hatte blondes Haar und trug eine runde Hornbrille. Mein Vater trug nie Brillen. Dieser Fremde vor mir bewegte den Mund, die Worte kamen hallend bei mir an. Was wollte er von mir? „Alles in Ordnung?“, fragte er jetzt verwirrt und ich verstand ihn endlich. Ich schüttelte den Kopf, er drückte mir noch etwas in die Hand, dann verließ ich rennend den Laden, ließ diesen komischen Mann hinter mir, den komischen Penner, der mir noch hinterherschrie und rannte so weit, bis ich den Laden nicht mehr sehen konnte. Mir war speiübel und ich zwängte mich in eine Nische von einem Häuserblock und entfaltete den Zettel, eher gesagt, das Foto, den der Mann mir noch in die Hand gedrückt hatte. Er musste mir aus dem Rucksack gefallen sein, ich hatte es so lange verdrängt, ich hatte alles vergessen wollen, nun starrte ich baff auf das Bild, mein Atem fehlte plötzlich und ich wollte zusammenbrechen. Er war es…

Nein, nein, nein! Er war es! Als ich mich wieder gefasst hatte und der Schock nun darin überging, mich aufspringen zu lassen, wollte ich das Bild zerreißen, damit ich es nie wieder sehen musste, aber ich hinterließ nur einen langen Riss, bis ich mich eines besseren besann. Meine Lider flatterten und ich zwängte mich aus der Nische. Was sollte ich tun? War er eigentlich in meinen Plan eingeweiht? Oder war er gar der Fehler im Plan? Der einzig große Fehler? Sollte mit ihm alles vorbei sein? Mit mir? Wie konnte ich ihn nur vergessen? Ich lief ohne Ziel los, ich musste mich bewegen, meine Gedanken irgendwie ordnen. Doch bald verdunkelte sich der Himmel und es fing an zu schütten, so dass ich mich unter einer Brücke unterstellte. Mir fror und ich bekam Angst. Insgeheim begann ich alles aufzugeben, alles zu zerreißen, so wie ich dieses Foto hatte zerreißen wollen, ich gab auf mit allem. Die Dunkelheit rückte immer näher und umschloss mich, flüsterte mir zu und fesselte mich in der Kälte, nicht eine Laterne schenkte mir Licht. Ich sank an der Mauer hinab und zog meine Beine an meinen Körper, um meinen Kopf drauf zu stützen, ich versank in Selbstmitleid. Allein, einsam, verlassen und erfroren. Ich vergoss keine Tränen, dennoch wuchs in mir ein großes, schwarzes und tiefes Loch, was eigentlich schon immer da war, mich nun aber endgültig aufzufressen zu schien. Noah hatte ich bestohlen und verlassen, meine Eltern sind gestorben, mein Bruder ist tot und ich war gerade dabei, mich selbst zu töten, um mich endlich nicht mehr ertragen zu müssen.

Ich wusste nicht, wie lange ich da lag, zusammengekauert, wie ein Häufchen Elend, es dämmerte bereits und der Wolkenguss war einem leichten Nieseln gewichen. Ich spreizte meine eingefrorenen Knochen und streckte mich, alles tat weh. Wohin sollte ich gehen? Ich blieb noch einmal kurz stehen, um mir die Brücke anzusehen und deren Fluss, der hier leise verlief. Es war eine sehr kalte Nacht, mein Atem war deutlich als Wolke erkennbar und Frost lag auf dem Fluss.

 

Ich versuchte mich außerhalb der Stadt zu halten, nur ab und zu essen zu kaufen. Ich sollte abhauen, so weit wie möglich weg von hier, da würde ich vielleicht leben können, ein neues Leben anfangen können, aber ich blieb Tag für Tag in der Nähe der Stadt. Nur das Viertel, in dem ich früher gelebt hatte, mied ich. Ich war ein Nomade, ohne Ziel, einsam umherstreichend. Die Einsamkeit tat weh.
Eines Tages suchte ich einen Strand auf, setzte mich in den Sand, inzwischen war es schon zu kühl für einen Spaziergang oder eine Runde Schwimmen, so war ich alleine hier, nur weit entfernt war das Bellen eines Hundes zu vernehmen. Ich starrte hinaus, aufs Wasser, zeichnete Muster in den Sand und versuchte mir einen Kopf zu machen, über meine Lage, über mein Leben.

Ich mochte den Strand, das Wellenrauschen schien immerzu nach mir zu rufen, das Wasser erschien mir wie ein ruhiger Ort, wie eine andere Welt, wo ich meine Gedanken einfach vom Strom treiben lassen konnte. Ich schwamm, so oft es ging, in meinem Leben, also recht selten. Manchmal kam Jan mit an den Strand, passte auf mich auf, spielte den bösen Hai, während ich panisch und lachend versuchte, vor ihm zu fliehen. Es war immer so schön am Strand.

Ich tauche tief unter, halte den Atem an und schließe die Augen. Um mich herum ist nichts mehr von Bedeutung, das Meer lässt mich alles vergessen. Ich merke, wie Blasen nach oben treiben und die Oberfläche durchbrechen. Ich bleibe hier, in der wunderbaren Stille, hier gehöre ich hin. Niemand kann mir etwas antun, kein Vater, keine Mutter und auch keine anderen. Alle Welt hasst mich, aber das Meer liebt mich, umarmt mich, wie einen Freund. Es ist mein bester Freund, meine Tarnung. Die Luft entweicht mir, wie aus einem Ballon. Ich könnte einfach hier bleiben, für immer und ewig, bei meinem Freund. Hier bin ich zuhause. Ich schnappe nach Luft, bekomme aber nur Wasser in den Mund und drohe zu ersticken. „Schließe die Augen und bleib bei mir“, scheint mein Freund mir zuzuflüstern. Hier sei es besser, als bei meiner Familie und er hatte mich schon längst, ich wollte hier nicht mehr weg. Ich lasse mich weiter sinken und kann schon den Sand unter meinen Händen spüren, ich sehe nach oben, zu dem Licht, was bis hier herunter dringt, es ist schön. Auf einmal wird es dunkel, eine Tür schließt sich und Hände greifen nach mir. Ich will mich wehren, ein Sturm scheint aufzuziehen und mich durchzuschütteln, ich bin hilflos ausgeliefert. Das Wasser scheint zu schreien, jedoch bleibt mir nichts mehr, ich werde rausgezogen. Die Hände ziehen mich zu dem Licht hin, dass ich nie wieder sehen will. Oben an der Oberfläche schlägt die harte Realität auf mich ein, kaum an Land, beginne ich zu weinen.
Ein Schlag noch einer. Ich wollte mich nicht umbringen, ich wollte nur weg von hier. Schläge, tausend Schläge, erschrockenes Lachen und das Rauschen der Wellen, die meinen Namen rufen, noch immer auf mich warten zu scheint.

Langsam begann ich, Pullover und Hose auszuziehen und ins Wasser zu steigen. Es war eisig kalt, kalt wie der Nordpol, kalt wie das Herz meiner Mutter. Ich wich nicht zurück und ließ mich von den Wellen umspielen, berühren. Sie flüsterten meinen Namen und ich fühle mich wieder wie ein Kind, voller Angst, voller Schmerzen, voller Pein. Ich schwamm weiter hinaus und konnte schon bald nicht mehr stehen. Ich schwamm alleine in diesem Ozean, der Wellengang war hier stärker und ich gewöhnte mich nur langsam an die Kälte. Eisig. Ich ließ mich sinken, ließ die Augen offen und spürte schon bald den Sand an meinen Händen. Hier war es so dunkel und ich war bereit, bereit endlich loszulassen. Ich will endlich ein Ende. Einsamkeit legte sich über mich, ließ mich schütteln und still und stumm weinen, meine Tränen vermischten sich mit dem Ozean. Diesmal würde mich keiner retten können, Niemand! Ich war bereit. Ich schloss die Augen.

Mein Leben zieht an mir vorbei, ich sehe mir selbst beim Wachsen zu, doch auch von Sekunde zu Sekunde entmutigter werden. Ich sehe meine Mutter, die über mich gebeugt da steht und mich anblickt, ihre Tränen kullern ihre Wange hinunter und ihre Hand zittert. „Du bist das Kind, was ich nie wollte! Ich wollte doch nur meinen Sohn, doch jetzt muss ich ihn auch noch mit dir teilen, du kleines Dreckskind. Du bist nicht meine Tochter!“ Ich beiße mir fest auf die Lippe, um nicht gleich los zu weinen, doch kann ich kaum an mich halten. Meine Mutter sagt mir, dass ich es nicht verdient habe zu leben. Ich hasse sie, meinen Vater, der meine Mutter liebt und mich auch deshalb hasst und Jan hasse ich auch. Er ist der Liebling, er wurde geliebt, er wurde immer geliebt, hat immer alles bekommen, was ich nie bekommen habe. Er ist mein Bruder, doch auch mein Feind.

Eine Atemblase hebt sich leise nach oben.

Mein Vater schubst mich hinaus und ich lande hart im Rasen. Ich drehe mich zu ihm um und sehe seinen Blick. Der Blick sagt mir alles, was er nicht ausspricht, es ist aus und vorbei. Mutter ist gerade gestorben und in ihm ist alles leer, so wie bei mir, doch bei mir ist es die Erleichterung, dass das eine Problem beseitigt ist. Er starrt mich eine Weile an, dann kehrt er mir den Rücken und geht zurück ins Haus, schlägt dabei die Tür zu und lässt mich im Rasen sitzen. Mir wird langsam kalt, doch ich bleibe sitzen und versuche mich zu ordnen, bis ich aufhorche und zu Jan blicke, der die Tür leicht ins Schloss fallen lässt. Sein Gesicht ist ausdruckslos und zeigt, dass etwas nicht stimmt. Er nimmt mich in den Arm und das ist dieser Moment, in dem ich vollkommen zusammenbreche. Jan, mein Bruder, liebt mich und ich ihn. Und es tut weh, weil Mum mich nie geliebt hat, ihn jedoch immer, heiß und innig. „Mum hat immer nur dich geliebt. Nur dich!“, flüstere ich schluchzend in Jans Haare. „Sie wollte mich umbringen!“, hauche ich dann nur noch. Jan erstarrt, hält den Atem an und ich kann sein Herz klopfen hören in dem Schweigen. „Ist das wahr, Amanda?“ Ich nicke kärglich, deute auf meine Arme, wo Narben diese zieren. Ich sehe ihm in die Augen, sie sind glasklar, als könnte ich in seine Seele schauen. „Ich habe es bei Dad gesehen, aber bei Mum? Sie hat immer nur geschwiegen, Amanda! Sie hat ihre Liebe sicherlich nur verborgen!“ Ich werde wütend. „Würde sie mir dann so etwas antun?“ Jan schüttelt leise den Kopf, er sieht bedrückt und mager aus. „Aber Dad zeigt sich doch auch nur durch Wunden und Schmerzen, Amanda, was ist bei ihm anders? Sie wollen nur, dass du sie als Respektperson anerkennst!“ Er kann es wahrscheinlich nicht anders, er muss sie in Schutz nehmen, aber in diesem Augenblick sehe ich meinen Vater vor mir und schubse Jan weg, ich muss weg von diesem Horror, niemand scheint mich verstehen zu wollen. Ich kann nicht zurückblicken, aber ich weiß, dass ich dorthin zurück muss, damit alles ein Ende hat, aber noch nicht.
Ich spaziere durch unser Viertel und versuche mich abzuregen.

Die Blasen fliegen sichtlich nach oben und platzen an der Oberfläche. Plopp…plopp.

Tetrodotoxin.

Mein Leben zieht an mir vorbei und die Luft entschwindet meinen Lungen. Ich bin nicht mehr. Ich bin eins mit dem Meer. Ich bin tot.

 

Als meine letzte Atemblase an die Oberfläche treffen sollte, zerplatzte sie durch eine Hand, die in das Wasser schlug, verzweifelt. Sie schien nach mir zu greifen und ich wollte mich wehren, doch meine Sicht wurde verschwommen und es war hoffnungslos. Ich wollte nichts mehr sehen, doch immerzu diese Hand, die durch das Wasser glitt, dann auch ein Gesicht, das vor meinem erschien. In Zeitlupe ergriff mich irgendwer und zog mich durch das Wasser, die Stille blieb. Dann durchbrach dieser Jemand die Ruhe, die Stille und Lärm trat mit voller Wucht ein. Ich wollte mich wehren, schreien, um mich treten, irgendwie handeln, aber ich war eine Puppe, die krampfhaft festgehalten wurde. Das Wasser schrie nach mir und ich hasste meinen Peiniger.
Plötzlich knalle ich auf etwas Hartes und mein Peiniger hieb auf mich ein, drückte auf meinen Brustkorb und steckte mir seine Zunge in den Hals. Mein Vater, der Perversling! Ich wollte ihn anschreien, in von mich stoßen, ihn töten. Er rüttelte an mir.

Wir haben dich nie geliebt. Du warst eine Missgeburt.“

Das war der Moment, an dem ich die Augen öffnete, da ich es nicht mehr aushielt. Ich spuckte Wasser aus und drehte mich zur Seite, das Gesicht war über mir und wartete nun, bis ich mir das ganze Waser aus dem Leib gehustet hatte. Ich sehe ihm in die Augen, aber es sind nicht die Augen meines Vaters, er ist tot. Ich fing an zu weinen und konnte nicht mehr aufhören. Eine Hand berührte meine Schulter, die ich wütend wegschlug. Neben dem Wasser war nur mein Geheule zu vernehmen, ich konnte nicht mehr. War fertig mit allem. Nach einer Weile wurde ich eingefangen von einem Netz aus Armen. Wer war das? Eine Stimme raunte mir ins Ohr, sie war tief und erweckte ein erkennendes Gefühl in mir, ich richtete mich auf und blickte ihm ins Gesicht. Noah war wieder da. Ein schriller Schrei ertönte und es dauerte, bis ich begriff, dass es mein eigener ist.
Es dauerte lang, bis ich mich beruhigte, ich hieb so doll es ging auf Noah ein, war so zornig auf ihn, dass er mich dort herausgeholt hatte und irgendwann verfielen wir in ein Schweigen, ich stand mit den Füßen im Wasser, die Anziehsachen inzwischen wieder am Leib und starrte dort hinaus, wo ich gerade noch drin war, bereit zu gehen. Noah saß hinter mir und ich spürte seinen Blick in meinem Rücken. Wieso war er hier? Wieso hatte er mich gefunden und mich dort herausgezerrt? Wieso? Zu viele Fragen, die alle nur um Noah zu kreisen schienen.
Irgendwann wagte Noah es, mich anzusprechen, ich bedachte ihm mit einem zornigen Blick, aber er ließ sich nicht beirren und fragte mich, ob ich mitkommen wolle. Er würde mir gern alles erklären und außerdem sei ihm kalt. Auch ich fröstelte, ließ es mir aber nicht anmerken, ich wollte nicht wieder mit zu Noah, aber es war zu kalt und ich fühlte mich so müde. Ich würde seinen Fragen schon ausweichen können, irgendwie…
So brachte er mich zurück zum Auto, das achtlos in der Nähe vom Strand geparkt worden war, daran konnte ich erkennen, dass Noah es eilig hatte, hier her zu kommen. Kaum im Auto, schaltete er die Heizung bis zum Anschlag auf und fuhr dann langsam los, führte mich durch eine immer dunkler werdende Stadt, die Lichter zogen nur so an mir vorbei, ich sah zu, wie die ersten Regentropfen Platz auf dem Fenster fanden. Wir schwiegen, aber ich konnte deutlich seine Blicke auf mir spüren, ich wusste, dass er etwas sagen wollte, ich wusste, dass ich ihm Rätsel aufgab. Aber auch ich wollte ihn so viel fragen, was sagen, aber auch ich wusste, dass es warten musste. Ich nickte langsam, geblendet von Autoscheinwerfern, ein.
Ich erwachte in einem Bett wieder, es war stockdunkel und im Bett es kuschlig warm. Es war so still und ich versuchte etwas in der Dunkelheit zu entziffern. Hier war nichts Auffälliges und ich richtete mich leise auf. Ich knipste den Lichtschalter ein und fand die Ursache für die Dunkelheit, es waren Vorhänge vor dem Fenster. Langsam verließ ich den Raum und linste in den nächsten, dass die Werkstatt war. Ich entdeckte Noah am Werkeln an seinem Tisch und besah mir seinen Rücken eine Weile, dann den Rest des Zimmers. Hier hatte sich nichts verändert. Selbst die Staubpartikel waren noch die gleichen. Noah blickte nicht auf, hörte mich aber anscheinend und schob mir einen weiteren verfügbaren Hocker hin. „Setz dich“, forderte er mich abwesend auf. Ich ließ mich zögerlich sinken und sah ihm dabei zu, wie er in das Mikroskop spähte. „Was ist das?“, fragte ich, das Mikroskopierte und seine Skizze meinend. „Ein Blatt, eigentlich nicht großartiges, aber wenn man es sich mal genauer ansieht, ist es voller Leben. Ich brauche das Zellenmuster für die Uni.“ Schweigend nickte ich und ging seiner stummen Aufforderung nach, selbst in das Mikroskop zu sehen. Es war unglaublich, aus wie viel kleinen Teilchen dieses Blatt bestand, jede Zelle war erkennbar, jede Faser. Es war beeindruckend, ich fand es überraschend, wie das Leben aus den kleinsten Einzelteilen besteht und dadurch funktioniert. Ich sah auf und erkenne Noahs halbes Grinsen und halb gerunzeltes Gesicht, als wüsste er nicht, was er sagen sollte. Er widmete sich unkonzentriert der Skizze, er war ein guter Künstler, die Bilder lagen überall verstreut und ich bewunderte sie.
„Wieso hast du mich rausgeholt?“, fing ich dann an. Ich wollte endlich Antworten. Noah legte den Stift beiseite und musterte mich mit schiefgelegtem Kopf.
„Ich wusste, dass du da warst. Ich wollte dich nicht sterben lassen. Ich kann keinen Menschen sterben lassen. Ich will später Arzt werden, da ist man daraus aus, Leben zu retten und das will ich tun. Niemanden sterben lassen.“ Er verstummte und seine Lippen wurden ganz dünn. „Bitte wirf mir nicht vor, dass das, dich aus dem Wasser zu ziehen, falsch war. Ich weiß, dass es richtig war.“
„Das habe ich doch auch gar nicht gesagt. Oder?“, warf ich kalt ein und er wand den Blick ab. „Aber so gemeint.“
„Wieso wolltest du dir das Leben nehmen, Liv?“ Nun starrte er mich an, wollte darauf eine Antwort, die ich ihm nicht geben wollte oder konnte.
„Ich habe dir schon gesagt, dass mein Leben scheiße ist“, wisperte ich dann, ich konnte seinem Blick nicht standhalten.
„Liv, ich habe mich im Studium schon mit einigen physischen Problemen gewidmet, daher muss ich davon ausgehen, dass du traumatisiert wurdest, in deiner Kindheit. Bitte sag mir, was wirklich passiert ist. Ich kann dir helfen!“ Ich starrte noch immer auf den Boden, auf die Dielen.
„Du willst also alles hören? Du willst die ganze Geschichte? Du willst alles wissen, was in meinem Leben vorgefallen ist? Willst du das wirklich?“ Ich sah hoch, um seine Antwort zu sehen und sie erschreckte mich trotz allem. Es war ein Nicken.
Mein Herz klopfte schneller und ich versuchte das Zittern meiner Hände zu unterdrücken, in dem ich sie zu Fäusten ballte.

„Ich bin Amanda Cooper, aufgezogen worden von Katherine und George Cooper, ich hatte einen Bruder namens Jan. Ich gehörte seit ich lebte, nicht in diese Familie, ich war das Opfer der Familie Cooper. Meine Mutter hatte mich nie gebären wollen, sie sagte mir jeden Tag, wie sehr sie mich hasste, wie sie es nicht ertragen könne, in meiner Nähe sein zu können, das ich eine Mistgeburt sei, dass ich in die Hölle gehöre und so weiter. Meine Mutter hat mich aufgeschnitten“, ich zeigte meine Arme. „Sie wollte mich umbringen, an der Pulsader aufschneiden, ich konnte mich wehren, vielleicht war auch gerade in diesem Augenblick jemand nach Hause gekommen. Mutter wollte mich tot sehen, sie wollte nicht, dass ich ihr Kind sei. Mein Vater, der liebte meine Mutter heiß und innig, weshalb er mich zu seinem Opfer machte. Er musste das machen, damit Mutter ihn respektierte, ich glaube, er hat mich auch gehasst. So wie ich sie alle gehasst habe. Mein Vater schlug mich, immer wieder, ich bekam Blutergüsse und andere Wunden. Mutter stand oft daneben und hatte geweint, wenn ich auf dem Boden, zusammengekrümmt lag, sie weinte nur, weil es nicht reichte. Weil sie mich nicht mehr sehen wollte, weil sie nicht wollte, dass die Familie auch nur einen Gedanken an mich verschwendete. Wenn ich sie fragte, wieso das alles, dann wand sie sich ab und ließ mich allein mit den Schmerzen.“ Ich atmete tief ein und schloss für einen Moment die Augen, das alles zu durchleben war grauenvoll, es aber vor Noah auszusprechen war unglaublich, es fühlte sich komisch an, dennoch auf eine eklige Art befreiend, als würde man Kaugummi aus den Haaren ziehen wollen.
„Meine Mutter starb und auf einmal war die ganze Familie tot, mein Vater war leer innendrin, er war zornig und wollte jemanden dafür verantwortlich machen, dass Mutter gestorben ist. Es war Krebs, was sie umbrachte, also nicht ich, auch wenn ich sie hatte umbringen wollen. Ich wollte dieses Miststück tot sehen und deshalb war ich auch so erleichtert, als sie endlich fort war, aber der Rest der Familie war kaputt. Mein Vater blieb sauer auf mich und irgendwann interessierte ihn nichts mehr, Jan, mein Bruder, der trauerte auch, leise und still, versuchte für mich da zu sein, aber gleichzeitig verstand er mich nicht. Jan haute ab, versuchte ein neues Leben zu beginnen und das Haus wurde immer leerer, mein Vater redete nicht mehr, bis ich eines Abends hinausging und ihn umbrachte. Er war schockiert, aber dennoch hatte in seinem Blick auch Erkenntnis gelegen. Ich weiß bis heute nicht, weshalb. Ich verließ mein Zuhause, dass für mich nie eines gewesen war. Jahre voller Hass ließ ich hinter mir und ich saß auf der Straße, ließ mich ins Krankenhaus beordern. Ich wurde als wahnsinnig abgestempelt, als krank, aber während all dieser Zeit arbeitete ich an meinem Plan und führte ihn aus. Noah, ich hatte mir einen Plan aufgestellt, der dafür dienen sollte, dass ich mich an meiner Familie rächen konnte, der Plan war das einzige, weshalb ich mich noch am Leben klammerte.
Ich war also im Krankenhaus, wurde so gut es ging behandelt, aber ich war nur eine Patientin, ich wollte endlich weiterarbeiten, weg von hier, diese Zeit war schlimm. Denn niemand der Ärzte nahm mich Ernst. Ich war krank.“ Ich nahm einen Zettel und einen Stift zur Hand und listete die Dinge auf, die ich Noah nannte. „Schizophrenie der besonderen Art, im Sinne von Realitätsstörungen oder Erstarrungen, posttraumatische Belastungsstörung, was ich am meisten schätze. Das alles sind Sachen, die darauf hindeuten, dass ich krank bin, aber so will ich mich nicht bezeichnen, das Leben hat aus mir diesen Menschen gemacht, ich konnte nicht anders. Und zu meiner Vergangenheit hab ich zum Beispiel einen Krankheitstyp namens Intrusionen, das eigentlich nur ein Unterbegriff ist, aber dies ist, wenn man immer wieder in die Vergangenheit zurückfällt. Ich sehe immer wieder mein Leben an mir vorbeiziehen, erinnere mich immer wieder aufs Neue daran, wie meine Familie war. Ich bin traumatisiert oder wie man auch sagt, posttraumatisch belastet.“ Ich unterstrich den Begriff.
„Es wurde mir gesagt, Leute versuchten ihre Vergangenheit zu vergessen, um mit ihrem Trauma besser klar zu kommen, aber ich konnte nicht vergessen, alles erinnerte mich an das Leben, was ich führen musste. Ich erinnere mich an Blumen, die vertrocknet in einer Vase stehen, an Staub, der langsam hinabrieselte, während ich auf dem Boden lag und an so viel Blut.“ Ich besah mir kurz die Liste. „Ich selbst füge Suizid hinzu, ich wollte sterben! Ich weiß nicht, ob die Ärzte nichts gemerkt haben oder nichts unternommen haben.“ Ich schob Noah den Zettel hin, auf der nun all die Krankheitstypen aufgelistet waren. „Das ist recht viel. Ich muss sagen, ich bin eine Mutation meiner Fantasie, meiner Gedanken, meines Körpers, vielleicht bilde ich mir das alles auch nur ein. Aber jeder ist eine Mutation, mehr oder weniger. Das Leben bietet so viele Möglichkeiten und gibt auch Hinweise, aber nur die wenigsten sind im Begriff zu reagieren. Ich weiß, dass ich falsch reagiert hab und immer falsch reagieren werde, aber für mich wird es das richtige sein, denn wer weiß schon, was richtig und was falsch ist. Definiere diese beiden Begriffe.
Suizidgefährdet und die Ärzte achteten nicht auf mich, bis ich ihnen einmal wegstarb. Ich hatte ein Gift zu mir genommen, was ich die ganze Zeit dort im Krankenhaus versteckt hatte. Es nennt sich Tetrodoxin! Es ist Kugelfischgift, was den Körper so beeinflusst, als wär man tot, nichts regt sich. Ich habe noch eine winzige Dosis genommen, so dass ich auch die Maschine überlisten konnte. Diese dummen Ärzte fielen drauf ein, zu meinem Glück. Die Ärzte erklärten mich für tot und ich floh aus dem Krankenhaus. Niemand würde ein totes Mädchen suchen, was nun endlich ihren Bruder zur Strecke bringen wollte.“ Ich schluchzte auf, klammerte mich an den Hocker, um nicht vornüber zu sacken.
„Jan Cooper fand mich zuerst, als ich auf der Flucht war, ich weiß nicht, wie er mich fand, aber er tat es. Er war sauer, verändert, anders als ich ihn kannte. Er war sauer auf mich, er hatte erfahren, dass Vater gestorben war, das musste es sein. Wir kämpften, Jan und ich, wir beide vergaßen alles und wollten alle ein Ende. Aber nur er bekam sein Ende.“ Nun weinte ich endgültig.
„Ich habe meinen Bruder getötet! Ich habe meinen besten Freund getötet, der einzige, der von all dem wusste und nichts tun konnte, aber stets versuchte, an meiner Seite zu sein. Er hatte mich verlassen, er ist tot durch meine Hand. Schon da begriff ich eigentlich tief im Innern, dass der Plan das dümmste war, was ich je getan hatte. Aber ich hatte nur deswegen überlebt, weswegen ich mich auch weiter daran klammerte, auch wenn der Plan dort schon vorbei war. Ich hatte meine Todesliste durchgeführt, mein Vater und mein Bruder sind wegen mir gestorben, das war meine Vorstellung von Rache. Mutter… Ja, ich wünschte, sie wär durch mich gestorben, aber das Leben geht auch mal andere Züge und setzt mich ins Schach, aber bin ich der König und bin noch nicht im Schachmatt, kann ich immer weiterspielen. Ich kam in die Stadt und wurde von einer alten Freundin heimgesucht, Ellen, ich war es zwar, die traumatisiert ist, aber ich habe es auch geschafft, andere Leute zu traumatisieren. Ich habe, als ich sehr jung war, versucht Ellen umzubringen, sie bekam Angst vor mir und handelte genau wie ich, sie wollte mich suchen und mir ein Ende bereiten, was sie beinahe geschafft hätte, du hast die Wunde gesehen, Noah. Das war sie. Dafür schlug ich ihr den Kopf ab. Du hast mich danach gefunden, du hast mein Leben nun gefühlt oft gerettet und ich weiß noch immer nicht, ob ich dir dankbar sein kann. Ich danke dir! Aber dennoch ist mir das alles zu fremd und ich hasse es, jemanden etwas schuldig zu sein. Und nun wollte ich mich erneut umbringen, weil alles vorbei war und keinen Sinn mehr hatte, vor einer Woche oder länger hatte ich einen Hoffnungsschimmer, ich hatte noch eine letzte Idee, einen letzten Wunsch, aber ich hab sie ausgeschlagen, die Idee. Darum wollte ich endlich Abschied nehmen, bis du wieder auftauchtest. Wie hast du mich gefunden?“
Ich verfiel in ein Schweigen, aber Noah bekam auch kein Wort heraus, er war zu baff, hatte immer schockierter meiner Geschichte gelauscht und jetzt war er einfach nur baff. „Ich bin eine Mörderin!“, sagte ich mit zittriger Stimme. „Da hast du deine Geschichte.“ Ich drehte mich um und atmete tief ein. Ich hatte Angst vor Noahs Reaktion, Antwort und Fragen. Ich sah auf die Uhr, fünf Minuten vergingen, dann hörte ich ein leises Schnaufen. „Wow!“, ächzte Noah und ich drehte mich langsam zu ihm um. Er schien noch immer nicht bereit, mehr zu sagen, was ich vollkommen nachvollziehen konnte, aber ich wollte etwas hören, wollte, dass er nicht schreiend vor mir wegrannte. „Noah?“, fragte ich also zögerlich. „Tut mir Leid, aber das ist zu viel!“, sagte er nach einem kurzen Stöhnen. Ich nickte. „Das ist unglaublich. Tut mir echt Leid für alles! Das muss hart sein!“
Ich legte den Kopf schief. „Noah, vor dir sitzt eine Mörderin und du sagst, wie Leid dir das tut? Du willst nicht wegrennen? Hast du keine Angst vor mir?“, rief ich erschrocken aus. Er schien zu überlegen, dann schüttelte er den Kopf und knetete die Hände. „Hör zu…Liv oder Aman…da?“ „Nenn mich Amanda…“, sagte ich. „Okay, Amanda, ich bin dir jetzt häufiger über den Weg gelaufen und ich denke, dass du mir nichts tun wirst. Und was ich gehört hab, klang doch sehr danach, dass du alles bereust, oder nicht?“
„Noah, ich bereue vieles aber meinen Vater getötet zu haben, gehört nicht dazu.“ Ich versuchte fest zu klingen, doch die Stimme versagte mir kläglich. Noah richtete sich auf und ich dachte schon, er wolle nun abhauen, seine Ausrede klang ganz danach. „Ich brauch kurz Zeit.“ Ich bejahte und sank in meinem Hocker zusammen. Was hatte ich erwartet? Eigentlich hatte ich mir bei all dem nichts gedacht. Noah verließ den Raum, er ging ins Badezimmer. Ich wanderte zurück in das Gästezimmer und legte mich auf das Bett.
Was sollte ich machen? Ich starrte die Decke an, die leere, weiße Fläche, die mir nichts zeigte und Platz räumte für meine Gedanken.

So viele wollen oder wollten meinen tot!

Noah setzte sich nach einer Stunde zu mich, an die Bettkante und sah mich lange an. Ich richtete mich auf, um ihm richtig ins Gesicht sehen zu können und sah ihn fragend an. „Sucht die Polizei dich?“, fragte er, er sah an mir vorbei, schien sich unwohl zu fühlen und ich biss mir auf die Lippe. Er hatte das Vertrauen verloren und das machte mir Angst, wie er sich jetzt mir gegenüber verhielt. Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, gut möglich, andererseits gelte ich als tot…“ Er nickte langsam. „Was hast du mir noch nicht verraten, Amanda? Da war noch irgendwas, ständig leere Lücken!“ Überrascht starrte ich ihn an, ihm war aufgefallen, dass ich ihm noch immer etwas verheimlicht hatte? Wieso hatte er keine weiteren Fragen? Er verwirrte mich mehr, als gewollt.

Gegenüber ist eine neue Familie eingezogen!“, Jan blickt aus dem Fenster und sieht zu, wie der Inhalt des LKWs in das Haus geladen wird. Ich komme zu ihm ans Fenster und stütze mich an ihm ab. „Wer sind sie?“ Jan lacht. „Nachbarn, das sind unsere Nachbarn, Amanda!“
Der Junge spielte oft draußen, während ich mich im Zimmer versteckte oder auf dem Baum hockte und ihm zusah. Er ist oft draußen, sitzt auf der Schaukel oder beschäftigt sich mit anderen Dingen. Er fasziniert mich, wie er so zufrieden im Garten sitzt, eins ist. Er wirkt so selbstsicher, während ich meine Familie ertragen muss. Ich stand oft am Fenster und wartete auf ihn. Nach einigen Jahren kommt er später raus, geht spazieren mit dem Hund oder starrt einfach nur auf die Straße. Ich bin 16 Jahre alt und wage endlich den ersten Schritt. Es gießt aus Eimern und ich gehe barfuß über die Straße und tippe ihm auf die Schulter. Er sieht mich verwirrt an. „Wer bist du denn?“, fragte er und ich freue mich über seine Stimme, sie klingt angenehm, nicht so rau wie die von meinem Vater und auch tiefer als Jans. „Ich bin die Nachbarin von gegenüber, Amanda Cooper“, ich deute auf das Haus, das von außen so scheinheilig aussieht. Er blinzelt und gibt mir dann schief lächelnd die Hand. „Cool, ich bin Pablo. Hast du kurz Zeit?“ Überrascht sehe ich ihn an und er hält meine Hand weiter fest und zieht mich mit sich ohne eine Antwort abzuwarten. Er führt mich die Straße runter, tiefer in den Wald hinein, in den ich nie war. Es erscheint mir wie eine andere Welt, die mir Pablo zeigt. Er hält mich weiter fest und lächelt mich schief an. Er schiebt mich unter einem dichten Blätterdach hindurch, auf einen kleinen Platz, wo Steine ordentlich formatiert sind, als wären sie dazu da, um sich auf sie zu setzen. „Das ist mein kleiner Seeblick“, er sieht mich von der Seite an und ich kann nur auf das Wasser starren, leise prasselt der Regen auf die Oberfläche und ich kann Pablo neben mir atmen hören. „Es ist wunderschön“, flüstere ich und sein Grinsen vertieft sich. „Warum zeigst du mir das?“, frage ich nach. Er zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung, ich wollte es jemanden zeigen, vielleicht kannst du ja öfters vorbeikommen, zum Reden oder so. Manchmal angle ich sogar hier, ich kann dir zeigen, wie man angelt!“ Ich sehe ihn mit großen Augen an. „Gerne, so oft es geht…“ Ich beende den Satz nicht, lasse ihn in der Luft, in der Hoffnung, dieser schale Nachgeschmack verfliegt. Ich mag Pablo auf Anhieb.
Ständig treffen wir uns und mein Leben wird besser, wir gehen im See schwimmen, er zeigt mir, wie man angelt und wir sehen der Sonne zu, wie sie hinter dem See unterzugehen zu scheint.
Ich erzähle ihm niemals von meinen Eltern, von meinem Plan, von meinen Vorhaben, von meinem Leben, ich höre nur zu und hoffe, er wird nicht eindringlicher fragen, zwar reden wir über vieles, aber das familiäre Geheimnis bewahre ich stets. Er bringt mich oft zum Lachen und führt mich zu fremden Orten, in ein Theater, er ist drei Jahre älter als ich, aber manchmal kommt er mir vor wie ein Kleinkind, was sich über alles freut, während ich die Erwachsene bin.

Eines Tages klingelt Pablo an der Tür, während mein Vater auf mich einschlägt. Er lässt mich links leben und wischt sich die Hände an dem T-Shirt ab, dann öffnet er die Tür und sieht Pablo mit einem eigenartigen Gesichtsausdruck an. „Ich bin Pablo Brosse, ein Freund von Amanda. Ich habe eine Frage an sie! Was tun sie diesem Mädchen an? Wieso sehe ich sie immer mit neuen Flecken und Blutergüssen?“ Mein Vater dreht sich sehr langsam zu mir um und öffnet die Tür noch ein Stück, so dass Pablo mich sehen kann, wie ich auf dem Boden liege, kaum in der Lage mich zu bewegen. Pablo sieht mich erschrocken an und mein Vater wendet sich wieder ihm zu. Pablo kassiert den Schlag ein, der unerwartet kommt. „Pablo“, schreie ich und er sprintet in den Raum hinein, während ich mich halb erhebe. Er packt mich bei der Hand und schubst meinen Vater beiseite und wir beide verlassen das Haus und flüchten zum See. Er nimmt mich in den Arm und streichelt mir über die Haare und versucht auf mich einzureden, leise, flüsternd, doch ich bin nicht in der Lage, mich zu beruhigen. Er hat mein Geheimnis entdeckt und er wusste es schon die ganze Zeit. Ich will Pablo alles erzählen, aber nicht heute, ich bekomme nichts aus mir raus. Ich bin ausgelaugt.

Hätte ich etwas gesagt, hätte ich ihm alles erzählt, hätte er nicht an der Tür geklingelt, hätte ich doch reagiert, doch es war zu spät, am nächsten Tag war er weg. Verschwand…

 

Ich erzählte Noah von Pablo, erzählte ihm davon, wie ich mich Stück für Stück mehr in ihn verliebte, weil er mich zum Lachen brachte. Weil er als einziger für mich da war. Er war mein bester Freund, bis er dann urplötzlich verschwand. Noah seufzte und bedachte mich noch immer mit diesem komischen Ausdruck in den Augen. Als er dann den Mund öffnete, wurde mir bewusst, was er versuchte. „Ich will für dich diesen Pablo finden, damit ihr euch aussprechen könnt.“ Mein Herz rutscht mir in die Magengrube, ganz nach unten und ich blickte Noah blinzelnd an. „Ist das dein Ernst?“, fragte ich sicherheitshalber nach. Er nickte. „Du hast so viel erlebt, ich will dir etwas Gutes geben.“ Ich fing an zu weinen und wand mich ab, damit er die Tränen vor Rührung nicht sehen konnte. „Warum willst du das für mich tun? Nach der Geschichte?“, fragte ich, nachdem ich mich überzeugt hatte, das meine Stimme nicht abscheulich klang. „Weil… Weil du auch jemanden brauchst, der dir mal etwas Gutes will und das bin ich. Ich finde dein Leben unmöglich, aber ich bekenne nicht dich als schuldig sondern deine Familie… Ich glaube, wär ich du, hätte ich genauso gehandelt.“ Ich drehte mich um, ich wusste, er hätte niemals so gehandelt wie ich. Aber ich dankte ihm und er machte sich daran, die Adresse zu suchen, während ich wieder die Decke anstarrte und versuchte, das alles zu verstehen. Der Tag neigte sich dem Abend zu und Noah verkündete, er habe die Adresse gefunden, er musste gewitzt sein mit dem Computer, wenn er die Adresse von ihm gefunden hatte.

Noah war schon ins Bett gegangen und ich lag noch immer wach, mich hatte ein Alptraum gequält und ich war noch immer zu tief in dem Gedankendilemma gefangen. Noah, Pablo, ich. Wir wollten morgen ernsthaft zu Pablo fahren, inzwischen waren zwei, drei Jahre vergangen, ob er mich wiedererkennen würde? Oder ich ihn? Ich stand auf und schlich mich zu Noah ins Zimmer, ich wollte nicht alleine schlafen. Vorsichtig tippte ich ihm auf die Wange und er bewegte sich kurz, dann war es wieder ruhig. „Noah?“, flüsterte ich. Ein dumpfes „was ist?“ konnte ich vernehmen und ich fragte: „Kann ich zu dir kommen?“ Murmeln. Das deutete ich als Ja. Ich legte mich auf die andere Bettseite und versuchte etwas von der Bettdecke zu bekommen. Noah war schon wieder eingeschlafen und ich auch bald.
Als ich wieder erwachte, war die andere Seite wieder leer und ich registrierte erst nach einer Minute, dass es gar nicht mein Bett war. Ich wurde rot und Noah kam in den Raum. „Guten Morgen, wollte dich gerade wecken.“ „Ich bin wach…“, erwiderte ich. Er entriss mir die Decke. „Das sehe ich“, sagte er und verließ den Raum leicht lächelnd. „Gleich nach dem Frühstück geht’s los“, rief er aus der Küche. Wir aßen und meine Hände zitterten, während ich das Brot aß, ich war aufgeregt, Pablo wiederzusehen. Es erschien mir viel länger als drei Jahre.
Kaum hatten wir uns frisch in das Auto gesetzt, wollte ich wieder raus. „Noah, ich kann das nicht! Hätte Pablo etwas von mir gewollt, dann hätte er sich bei mir gemeldet oder hätte mir gesagt, dass er weg geht!“, ich klang verzweifelt und Noah schaltete die Kindersicherung ein, so dass nicht aus dem Auto sprinten konnte. „Nein, Amanda! Du schaffst das!“ Er fuhr los, es würde eine lange Fahrt werden und öfters nickte ich kurz ein.

Wir standen vor einem schönen Reihenhaus, mit rotem Dach und weißen Wänden, reichlich Fenster dekorierten das gesamte Gebäude. „Was ist, wenn er nicht da ist?“, wisperte ich, als könne Pablo uns hören, wenn ich lauter spräche. Noah zuckte mit den Schultern. „Dann warten wir hier.“ „Aber, was ist, wenn er mich gar nicht sehen will? Was soll ich ihm sagen?“ Noah legte eine Hand auf meine Schulter. „Sieh mich an, Amanda. Alles wird wieder gut, ja? Pablo wird mit dir reden wollen, ganz bestimmt. Und wenn er nicht da ist, dann fahren wir ein wenig in der Stadt herum und versuchen es später noch einmal. Es wird alles gut laufen, Amanda, keine Sorge!“ Ich zögerte, dann entsicherte Noah die Türen und zog mich aus dem Auto. Gemeinsam gingen wir zur Tür, ich eher widerstrebend. „Ich bin die ganze Zeit bei dir!“, flüsterte Noah irgendwo in meine Haare. Ich wollte zurück zum Auto, als Noah die Klingel betätigte. Eine Minute lang passierte nichts und ich wollte schon dankbar verschwinden, als die Tür sich langsam öffnete und ein junger Mann hinausschaute. Mein Herz rutschte mir in die Hose und alles strömte auf mich ein.

Willst du mir denn nicht erzählen, was bei dir los ist? Ich meine, ich sehe doch, dass du etwas hast!“ Ich schüttele den Kopf. „Nein, Pablo, lass mich. Du hast mich so kennengelernt und so bin ich halt. Bitte akzeptier es doch einfach. Mehr ist da nicht.“ Ich streiche mir über meine Narben und hoffe, Pablo bemerkt es nicht. „Na gut, Amanda. Hast du Lust auf einen kleinen Ausflug?“ Ich nicke. Und er führt mich in das Theater und zeigt mir, wie dieser menschenleere Saal aussieht. Zeigt mir, wie gut er Klavier spielen kann.
„Amanda, sie sind ausgezogen, beziehungsweise dieser komische Junge!“ Jan sieht mich ernst an und ich weiche seinem Blick aus, damit er die Tränen nicht sieht.
Weg…

Irgendetwas schubste mich und raunte mir ins Ohr. Noah. Gegenüber von mir stand Pablo. Groß, blond, graue Augen, der mich daraus nun eingehend musterte. „Was wollen Sie?“, fragte er und seine Stimme klang etwas tiefer, als damals, aber noch immer melodisch. Ich brachte kein Wort heraus, er erkannte mich nicht. Er musterte mich erneut und nun blitzte in seinen Augen die Erkenntnis auf. „A…Amanda?“, er ging einen Schritt auf mich zu und dann wieder zurück, als er meinen Gesichtsausdruck ansah. „Bist du es wirklich, Amanda?“ Ich nickte langsam und wurde umarmt, aber ich entriss mich der Klammerung und wich drei Schritte zurück und ballte meine Hände zu Fäusten. „Du!“ Noah und Pablo schenkten mir verwirrte und schockierte Blicke. Ich nagelte Pablo mit meinen Augen fest. Noah kam auf mich zu und versuchte mich fest zu halten, ich schlug ihn ins Gesicht. „Zwing mich nicht, dir wehzutun!“, schrie ich. „Dieser Mann dort hat mich einfach verlassen! Ich habe die ganze Zeit an ihn gedacht, wollte, dass er wiederkommt. Er war mein bester Freund, ich habe…ich habe ihn geliebt! Und jetzt dauert es bei ihm schon, bis er mich erkennt! Er erkennt mich nicht mehr. Dieser Bastard!“ Ich wollte auf Pablo zu sprinten, der, wenn möglich, noch schockierter drein blickte. Noah konnte mich zurückhalten.
Schweigen, so wie ich es hasste. „Wieso bist du einfach gegangen? Ohne ein einziges Wort?“ Ich war so zornig, so wütend, ich konnte Pablo kaum ansehen. Noah schob mich ins Haus und Pablo hielt uns die Tür auf, während ich versuchte, mich zu wehren. Ich trat um mich, bis Pablo sich wieder vor mich hinstellte. „Ich wollte dir schon die ganze Woche sagen, dass ich ein Stipendium bekommen hatte, hier zu studieren! Ich wollte es dir die ganze Zeit sagen…“ Ich sah weg. „Und wieso hast du es dann nicht?“ Er setzte sich hin und seufzte. „Ich habe mich nicht getraut, ich wollte dich nicht sehen, wenn ich es dir sage, wenn ich dir dein Herz breche.“ Ich schnaubte. „Hast du ganz toll hinbekommen! Und wieso hast du dich danach nicht mehr gemeldet?“ Noah entfernte sich einige Schritte und setzte sich an den Tisch und starrte auf seine Hände. Pablo saß auf einer roten Couch und ich stand in der Mitte des Raumes. „Ich habe dir tausende Briefe geschrieben! Sag mir bitte nicht, dass die nicht bei dir angekommen sind!“ Ich schüttelte den Kopf. „Das muss ich dir aber sagen, ich habe kein einziges Wort mehr von dir gehört, seit du weg bist!“ „Ja und ich dachte, du wärst tot!“
„War sie ja auch“, mischte sich Noah ein, ich brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen.
„Ich habe meinen Tot vorgetäuscht…“ Er sprang auf. „Wow…“, er ging in die Küche und machte uns allen Kaffee, während ich ihn weiter ansah und nicht glauben konnte, dass nun echt Pablo vor mir stand. "Du bist es wirklich…“ Er lachte auf, was mich wieder zusammenfahren ließ.

Fröhliches Klaviergeklimper in einem großen Saal. Sein Lachen, was mich wieder lächeln lässt.

„Dieses Lachen würde ich überall wiedererkennen“, sagte ich leise und er kam auf mich zu, aber ich bemerkte, wie er streng darum versucht war, doch einen gewissen Abstand einzuhalten. „Warum sind meine Briefe nicht bei dir angekommen?“, fragte er. Ich zuckte mit den Schultern. „Vielleicht hat dein Vater sie an sich genommen?“, warf Noah ein. Gut möglich und mein Zorn auf meinen Vater wuchs. Er hatte mich mehr hintergangen, als ich gedacht hatte. Pablo setzte sich wieder auf die Couch, ich gesellte mich dazu, wir beide eine Tasse Kaffee in der Hand. Ich hasste das Gebräu.
„Du hast dich verändert, was ist bei dir so passiert?“, fragte Pablo und ich sah, wie Noah das Haus verlassen wollte. „Kommst du wieder?“, fragte ich ängstlich und er nickte nur.
„Sagen wir mal so, es ist ziemlich viel passiert“, kurz gab ich ihm eine Zusammenfassung, die leicht abgewandelte Version, wo weniger Morde passierten und wo weniger Köpfe rollten, das hieß: „Ich bin von zuhause abgehauen, meine Mutter starb an Krebs und ich habe Noah kennengelernt.“
Pablo nickte, stellte viele Fragen, die er früher sich verkneifen musste und ich fühlte mich in die Zeit zurückversetzt, als wir beide am See saßen und wie sehr er sich freute, als wir tatsächlich mal einen Fisch an der Leine hatten.
Mein Blick glitt zu dem einem Foto, das neben der Couch hing. Es war ein See abgebildet und mir blieb das Herz stehen. „Ist das der See?“, fragte ich leise. Pablo nickte. „Ja, ich habe ihn nie vergessen.“ Irgendwann kam Pablo zurück zu meinem Tod. „Du warst also nicht tot, hast ihn aber vorgetäuscht?“ Ich wiegte den Kopf hin und her und trank den letzten Rest des Kaffees aus. „Ja genau, aber es war nicht so, dass ich nicht wirklich sterben wollte!“ Seine Augen wurden groß.
„Ich habe dich so vermisst, ich hatte mich in dich verliebt, du warst der einzige, der mir das Leben zurückgegeben hat, der mir Hoffnung und Lachen wiedergegeben hat. Aber du bist meine Vergangenheit und mit der will ich abschließen, weshalb ich wohl deshalb jetzt auch hier bin. Ich habe meinen Tot vorgetäuscht, aber bei meinem Leben, bei meiner Vergangenheit, wollte ich eh gehen. Jetzt schließe ich endlich mit ihr ab und kann vielleicht nach vorne blicken. Vielleicht bleiben wir gute Freunde, so wie damals. Du hast mir so viel gezeigt und ich danke dir für alles. Ich will auch nicht die Zeit zurückdrehen, um nochmal dir dort alles zu erzählen, dir mehr von mir zu erzählen, dir für alles jeden Tag zu danken und mich zu entschuldigen, ich würde die Zeit nicht zurückdrehen. Du hast mir echt einen Schlag ins Gesicht verpasst, als du gegangen bist, aber dennoch konnte ich auch so mit dir abschließen. Ich habe meine Vergangenheit so satt! Vollkommen! Ich komme noch immer nicht mit ihr klar, weil sie mich immer wieder einholt, aber es wird besser, das spüre ich.“ Es war das erste Mal, dass ich ihm so viel sagte, ich hatte bis jetzt ihm immer zugehört, doch jetzt musste er auch mal wissen, was ich dachte.
Er dankte mir, gab verlegen zurück, dass er gewisse Gefühle für mich gehegt hatte, die ich aber jetzt nicht mehr erwidern konnte, er erzählte von seinem normalen Leben. Erzählte von dem Stipendium, von seinem Beruf als Tierpfleger, von dem Erbe, dass er angetreten hatte, was auch dieses große Haus erklärte. Wieder höre ich ihm zu. Wieder sah ich zum Bild und ich erkannte eine leichte Gestalt darauf. „Bin das ich?“, flüsterte ich. Pablo nickte. „Ja, wir wollten uns treffen und ich war recht spät, so dass du schon da warst, du saßest da ganz allein und ich fand es zu schön. Ich brauchte diese Erinnerung und sehe es mir immer noch so gerne an.“
Irgendwann schlenderte Noah wieder ins Haus und sah uns an. Er bedeutete mir mit einem Blick auf die Uhr, dass es Zeit war.
„Ich danke dir, Pablo. Es war sehr schön, dass ich dich nochmal sehen durfte und es sich nun geklärt hat mit deinem Verschwinden. Danke! Ich werde dir einen Brief schreiben! Wir sollten dann auch los fahren…“ Ich lächelte zaghaft und erhob mich. Noah wartete am Wagen und ich verabschiedete mich lange und tränenreich von Pablo, wir umarmten uns und er sagte mir, wie schön es gewesen war. Und irgendwie lösten wir uns dann voneinander und wir wussten, dass wir wahrscheinlich kaum noch Kontakt haben würden. Aber es war okay.
Im Auto schwiegen wir beide, während ich die Tränen wegwischte und Pablo noch zuwinkte, bis wir die Einfahrt verließen und wieder gen Hause fuhren. Noah drückte meine Hand und ich versuchte ein Lächeln. Einen großen Dank musste ich ihm noch geben. „Danke Noah!“, sagte ich innbrünstig und er drückte die Hand fester. „Bereit, nach Hause zu fahren?“ „Bereit, dorthin zurückzukehren.“

Noah stellte mir keine Fragen, damit ich Pablo so im Kopf behalten konnte, wie er war. Er war erwachsen geworden, ein netter Mann, aber ich kam mir noch immer wie die Erwachsene von uns beiden vor, er war noch immer glücklich, während ich nur ein schwarzer Schatten meiner selbst war.
Es wurde wieder morgen, als wir dann bei Noah zuhaue ankamen, wir beide fielen sofort in die Betten, aber ich konnte nicht einschlafen, meine Gedanken ließen es wieder nicht zu. So setzte ich mich an den Tisch und schrieb alles auf, was ich noch zu sagen hatte. Alles, was mir durch den Kopf ging. Ich saß im Licht der kahlen Glühbirne, der einzigen Lichtquelle des Raumes und ich schrieb mehrere Seiten voll. Der Morgen war schon längst angebrochen, als ich den Stift beiseitelegte und aufstand, um ins Bett zu gehen. Die Briefe versteckte ich in meiner Tasche. Noah sollte sie nicht lesen. Sofort schlief ich ein.

Am nächsten Tag musste Noah arbeiten und ich war alleine zuhause. Mittags erwachte ich dumpf und holte sofort die Briefe heraus, um sie mir noch einmal durchzulesen. Ich wollte mich aufmachen, zu einem alten, allzu bekannten Haus. Ich würde überall Pablos Briefe suchen, ich wollte sie unbedingt lesen. Ich schnappte mir eine Briefmarke, klebte sie auf einen der Zettel und den anderen legte ich auf den Tisch, wo Noah ihn recht schnell finden würde. Ich schloss die Tür hinter mir und verließ das kleine Häuschen.

Kaum angekommen in dem Viertel, in dem ich einst lebte, klopfte mein Herz schneller. Ich fürchtete mich davor, dort wieder hinein zu gehen. Das Haus schien gefüllt mit Blut und Tränen, ich stand am Zaun, klammerte mich daran fest und schloss für einen Moment die Augen, um mich zu beruhigen. Trotz der Haltehilfe zitterte ich und verlor fast das Gleichgewicht. Niemand neues war hier eingezogen, zu meinem Glück, der winzige Garten war vermodert, heruntergekommen, so wie das Haus selbst. Es erinnerte mich an ein Spukschloss. Ich betrat das Haus, dachte zurück, als ich mir geschworen hatte, es nie wieder zu betreten. Mein Herz setzte aus, als ich merkte, dass hier Totenstille herrschte. Alles sah irgendwie gleich aus, niemand hatte es geräumt… Ich versuchte, nicht weiter drüber nach zu denken und machte mich auf die Suche der Briefe. Ich suchte im Schrank, in den Kommoden, in den Regalen, in den Bettritzen und Matratzen und auch in einigen Büchern. Nichts und währenddessen versuchte ich, den Geruch aus der Nase zu bekommen, der auf diesem Haus lastete. Es war der Geruch meiner Familie, der Geist von ihnen, der noch immer hier lebte. Ich konnte ihre Präsenz fast spüren. Ich wurde endlich fündig, als ich in den Medizinschrank blickte, der im Schlafzimmer meiner Eltern hing. Als ich ihn öffnete, fielen zig Briefe heraus und mir drehte sich der Magen um. Die waren alle an mich adressiert! Ich übergab mich in die Ecke des Zimmers und nahm dann mit ungutem Gefühl auf dem Bett meiner Eltern Platz. Die Briefe neben mir gestapelt. Wahllos öffnete ich den ersten, es war kein Datum vermerkt.

Amanda,
wieso schreibst du nicht zurück? Ist alles in Ordnung zu dir? Hat dein Vater dich erwischt? Es tut mir Leid, hörst du? Tut mir Leid! Für alles, ich wollte dich nicht so Hals über Kopf verlassen!
Bitte melde dich, ich mache mir Sorgen, wenn etwas ist, musst du es mir doch sagen, dann komme ich zurück und rede nochmal mit deinem Vater oder so, aber bestrafe mich doch nicht mit Schweigen!
Denk an unseren See! Ich vermisse ihn so schmerzlich. Und dich auch.
Ich habe auch irgendwie den Eindruck, dass du mir noch nicht die ganze Wahrheit erzählt hast, was deine Familie betrifft. Du hast mir eh nie was erzählt, aber ich weiß warum, ich verstehe das.
Aber das du sogar dein Lachen verloren hast… Ich habe so oft gesehen, wie schwer es dir fällt, zu lachen! Du musst lachen, Amanda!
Lächle für mich!
Ich bin gestern 20 geworden, wenn du es nicht weißt, ich habe eine Kamera bekommen, ich hätte schon vorher Fotos machen sollen, so viele Fotos mit dir, so viele Erinnerungen, damit wir uns zusammen erinnern können und jetzt ist es zu spät, meine Schuld. Es tut mir Leid.
Bitte komm ins Leben zurück! Schreib mir.
Pablo.

Tränen fielen auf das Papier, ich las noch weitere, aber Pablos Briefe wurden kürzer und kürzer.
Bitte komm ins Leben zurück!
Ich zerriss die anderen Briefe, nur den ersten nicht, den wollte ich behalten, mich an seine Entschuldigungen erinnern. Ich konnte es nicht fassen, dass mein Vater mir auch noch meinen einzigen Freund genommen hat, alle Briefe waren geöffnet und gelesen. Ich weiß, dass es nur mein Vater war, denn meine Mutter hatte es nicht interessiert und Jan war doch nicht so teuflisch böse. Nur mein Vater, den es genug interessierte, sich in mein Leben einzumischen.
Er hatte mir meinen Freund gestohlen und mich auch noch aller Hoffnungen beraubt! Er hatte kein Herz! Ich wollte gerade den nächsten Brief zerreißen, als mir auffiel, dass dieser geschlossen war und dass die Schrift darauf anders war. Ich erkannte ein leicht geschwungenes „L“ darauf, das jedoch wieder durchgestrichen war und „Amanda“ drüber geschrieben war. Ich öffnete ihn langsam.

Interessanter Plan, Amanda! Du willst, dass wir sterben? Das ich, dein Bruder und deine Mutter sterben? Du bist ein Psychopath! Ich würde dich fragen, wie du auf den Gedanken gekommen bist, aber wenn ich darüber nachdenke, ergibt das alles schon Sinn, denn wir waren ja nie wirklich herzlich oder nett zu dir… Das weiß ich! Ich werde niemals von Angesicht zu Angesicht mit dir reden, aber ich weiß, dass du mich umbringen willst und vielleicht erfährst du ja auf einen Weg von den Briefen und liest sie tatsächlich irgendwann. Momentan sitzt du in deinem Zimmer, schweigend, auf der Bettkante sitzend, wie immer. Ach Amanda, deine Mutter ist gestorben und alles regt dazu an, dir die Schuld zu geben, dabei bist du sowas von unschuldig. Du warst immer das Opfer dieser Familie, als ich den Plan gesehen habe, wurde mir klar, wie sehr du uns eigentlich hasst. Ich wusste nicht, dass dieser so umfangreich, so gigantisch ist, aber nun sehe ich, dass in deinem Herzen nicht mehr Platz für was anderes ist. Es tut mir Leid, dass ich dir diesen Hass eingeflößt hab. Das deine Mutter dich nie gewollt hat.
Du warst schon immer zerbrochen, nicht? Nie ganz, hätte ich mich anders verhalten, hätt ich dich wahrscheinlich wieder zusammenkleben können und es tut mir Leid, wie das alles so gekommen ist.
Ich würde dir so viel sagen wollen, aber ich kann nicht.
Ich weiß, dass deine Mutter dich wirklich abgrundtief gehasst hat, aber ich war es, der sie angefleht hat, dich zu behalten, dich nicht abzutreiben, ich wollte immer eine Tochter! Ich wollte eine gute Schwester für Jan haben, ich wollte mit dir im Garten spielen, aber meine Katherine musste mir dieses Gefühl vermitteln, dass wir alle nichts wert wären. Ich habe alles an dir herausgelassen, meistens musste ich dazu nur etwas trinken oder deine Mutter musste daneben stehen, dann ging das klar, weil ich dich nie ansah. Und ich denke, mit der Zeit hat sich unser Hass einfach verstärkt, wir haben uns nur noch mit diesen Ausdruck anblicken können.
Ich habe dich geschlagen, beleidigt, gequält, gehasst, ja! Ich stimme dem zu, ich würde es heute nicht mehr abstreiten, ich würde auch vor Gericht gehen, aber ich weiß, dass du das nicht willst. Ich weiß, dass du selbst kommen willst. Ich weiß, dass du dich danach verzehrst, mein Leben zu beenden. Aber genau in diesem Augenblick spricht wieder der alte Vater aus mir, ich lasse zu, dass du mich töten wirst! Damit werde ich dich für immer traumatisieren, aber vielleicht warst du das schon, wie gesagt, nicht ganz da, eher zerbrochen. Aber ich kann verstehen, dass du diese Art von Rache wählst. Ich würde es vielleicht genauso tun. Ich wollte schließlich auch Rache für den Tod deiner Mutter, aber ich konnte mich zurückhalten und dich nicht umbringen.
Denn Amanda, du warst immer meine Tochter! Ich habe dich immer geliebt, wenn auch gehasst. Ich habe nicht viele Erinnerungen, nicht gute, mit dir und es tut mir ausdrücklich leid, was ich dir in diesem Leben geboten habe.
Ich werde sterben, durch deine Hand. Aber bitte, Amanda, ich bitte dich, tue bitte nicht deinem Bruder etwas. Ich weiß, dass er mit in den Plan eingeweiht ist, aber Amanda, ich akzeptiere dass du mich umbringst, aber bitte nicht Jan, bitte lass ihn leben. Er kann ein großer Mann werden, besser als wir alle zusammen, nicht?
Ich könnte mich jetzt für alles entschuldigen, was ich dir jemals angetan habe, aber ich weiß, damit ist es lange nicht getan. Es tut mir Leid, dass ich dir deinen Freund genommen habe, dass ich alle Briefe genommen und einkassiert habe, aber sie sind bei mir. Ich bin ein schlechter Mensch, aber ich habe eines aus den Briefen lesen können! Er hat dich geliebt! Er hat dich als einziger einzig richtig geliebt, nämlich wie einen Menschen, wenn man von Jan absieht.
Ich werde meinen Tod ins Auge blicken.
Es tut mir Leid, Amanda!

Dein Vater.

 

Ich konnte nicht aufhören zu schreien, die Stille in diesem Haus zerfiel auf einmal in sich zusammen und ich schrie mir die Seele aus dem Leib, wollte alles loswerden. Ich konnte diesen Brief in meinen Händen nicht mehr ansehen, es waren die Worte meines Vaters, die mich nun komplett haben zusammenbrechen lassen. Ich hasste ihn! Meine Hände zitterten und ich war am Rande der Selbstbeherrschung, ich wollte ausflippen, schreien, brüllen, jemanden schlagen, etwas zertreten. Ich sprang auf und ließ den Brief auf den Boden fallen, nicht mehr Beachtung schenkend. Ich sah in den Spiegel, wo mir das fremde Mädchen wieder in die Augen sah. Amanda Cooper.
Zerbrochen.
Ich schlug auf den Spiegel mit meiner Faust, der Spiegel zerfiel in alle Einzelteile und ich sah mich an, das verzerrte Gesicht meines Selbst.
Zerbrochen.
Ich rannte zu dem einem Schrank und suchte hastig nach dem einen Gegenstand, von dem ich wusste, dass er hier irgendwo sein musste. Ich fand es unter einem Stapel Wäsche meines Vaters.

Mein Leben ist vollkommen zerbrochen. Ich sprang aus dem Haus, aus dem ersten Stock und entfernte eilig die Glasscherben um mich herum. Ich war hart gelandet und sprintete nun weiter. Weg von diesem Viertel, weg von diesem Ort, an dem doch alles nur Lug und Trug war. Ich rannte an all den Häusern vorbei, in denen so viel Leben herrschte, während in mir selbst das Adrenalin pumpte und das Herz schneller klopfte. Die Landschaft verwischte zu einer einzigen Masse, während ich Entfernung suchte, während ich meinen einzigen Ort aufsuchte, den ich nun sehen wollte. Ich hielt nicht an, weinte nebenbei, wollte noch immer schreien und gelangte dann endlich zum Strand. Zerbrochen.
Alles strömt auf mich ein, mein gesamtes Leben, meine gesamte Vergangenheit und ich atme tief ein. und nun stehe ich hier.
Es ist später Nachmittag, dennoch zu frisch um am Strand zu sein, ich bin allein. Außer Atem wische ich die Tränen fort und versuche mich zu beruhigen. Ich sehe hinaus zum Meer, es schreit wieder nach mir, ruft mich zu sich, es ist wunderschön.
Ich habe Noah und Pablo nochmal danke gesagt, habe ihnen gesagt, dass sie für mich die wichtigsten Personen in meinem Leben waren, dass sie an meiner Seite waren. Das ich Pablo liebte und dasselbe nun für Noah empfinde. Ich sehe auf das Meer und lasse Pablos Brief los, der sofort über die Wellen fliegt, sich vom Wind tragen lässt und die Worte weg trägt. Weg von mir. Ich gehe mit meinen Anziehsachen ins Wasser. Ich sehe kurz zurück und begreife, was ich hinter mir lasse, Amanda Coopers Leben. Als ich mich dann wieder dem Meer zuwende, zücke ich den Gegenstand, den ich eingesteckt hatte und blicke in den Gewehrlauf einer Pistole.
Zerbrochen.
Ich lade die Pistole und halte sie mir an die Schläfe. Ich höre das Meer nach mir rufen. Amanda Cooper. Meine Hand zittert stark und ich schließe die Augen. Schwarz.

 

 

 

Mein Blick gleitet zu dem Automaten, der summend meinen Tot verkündet. Es ist endlich vorbei.
Ende

 

Impressum

Texte: Hanndragggon / Hannah P.
Bildmaterialien: Pixabay.com / Picmonkey.com
Tag der Veröffentlichung: 23.08.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Danke an die eine Freundin, die das Buch für mich drei....ach TAUSEND mal gelesen hat und mich immer wieder ermuntert hat, es zu verbessern, weiter zu schreiben! Danke Mara! :)

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