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Eine Kurzgeschichte irgendwo im Nirgendwo

Mit klammen Fingern halte ich die Laterne fest, während die Kälte durch die Ritzen meiner Kleidung kriecht. Der Wind zerzaust meine ohnehin schon unordentlichen Haare noch mehr, was die Wahrscheinlichkeit, von einem der mich bemüht ignorierenden Autofahrer mitgenommen zu werden, noch weiter senkt. Quälend langsam ziehen sich die Viertelstunden dahin und ich schaukele langsam von einem Bein aufs andere. Im Sekundentakt ziehen die Autos an mir vorbei, die irritierten Blicke sind fast schon körperlich spürbar. Schon scheiße nicht mal in seiner eigenen Stadt mitgenommen zu werden, geht es mir durch den Kopf. Und dabei drängt es allmählich wirklich. Wenn ich alle Zeit der Welt hätte, würde ich die paar Kilometer auch laufen. Aber dein Vater hat nicht mehr alle Zeit der Welt und die trotz des kalten Windes brennende Laterne soll noch bei dir ankommen, bevor er für immer weg sein wird. Ein Licht der Liebe gegen die Schatten, hatte ich noch auf den Zettel dazu geschrieben. Verdammt, warum werd ich immer so scheißsentimental, wenn's um dich geht? Das klingt ja wirklich nach Tröstversuch Marke Kaugummiautomat. Aber du sagst ja selbst immer, der Wille zähle und ich vertraue darauf, dass du und deine Familie es nicht in den falschen Hals bekommen werden. Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich's völlig ungeniert, auch noch so einer von deinen Sprüchen. Unwillkürlich stiehlt sich ein Grinsen auf mein Gesicht, als ich daran denke, wieviel Zeit wir mit Sprücheklopfen verbracht haben. Den ganzen Umschlag des Mathebuchs in einer Stunde vollgekritzelt. Und wie ich in meiner ganzen idiotischen Naivität versucht habe, dich zu beeindrucken. Dich zum Lachen zu bringen, einfach nur um es noch einmal zu hören.

Wie zur Bestätigung, dass die Rückkehr zu den guten alten Zeiten auch nicht mit noch so viel Nostalgie möglich ist, holt mich ein hektisches Blinkersignal in die Wirklichkeit zurück. „Wo willst'n hin?“. Hoffnungsvoll nenne ich den Namen deines Dorfes und auf ein Nicken steige ich in das nach altem Zigarettenqualm stinkende Auto. Eine Weile und eine Unterhaltung über die Schlechtigkeit der Welt, die guten alten Zeiten, wo man noch trampen konnte wie man wollte, später setzt mich der Fahrer an der leeren Hauptstraße ab. Beklommen mache ich mich auf den Weg zu dir, fühle Sehnsucht nach dem so idyllisch wirkenden Frieden, den ein stilles Dorf an einem kalten Novembermorgen abstrahlt, in mir aufsteigen. Reiß dich zusammen, sage ich mir. Vorbei ist vorbei. Jeder geht seinen Weg als ob nicht passiert wäre. Denn es ist nichts passiert. Darauf habe ich immer aufgepasst. Von dem Tag an, als bääääääämmmm, ohne Vorwarnung wie eine Frontalkollision die Erkenntnis da war, dass das, was mich so zu dir hinzog mit normaler Freundschaft nicht allzu viel gemein hatte. Von dem Tag an habe ich aufgepasst. Nicht zu viel trinken, damit ich mich ja nicht verplappere, immer schön Abstand halten, wenn ich bei dir gepennt habe, so tun als ob ich mich für Niko aus dem Training interessierte und zu einer braven Pferdeschwanzfrisur zurückkehren. Damit ja niemand auf irgendwelche Gedanken kommen könnte. Und das ist ja auch keiner, also sei froh und hör auf dich im Hätte-Wäre-Wenn-Paralleluniversum zu verlieren, schleudere ich stumm meinem ängstlichen kapuzenverhüllten Spiegelbild in einem parkenden Auto zu.

Dein Haus habe ich fast erreicht. Da steht der Corsa, in den sich die Clique immer gequetscht hat, in dem wir beide nächtens durch die Gegend gegondelt sind und manchmal auch nur dasaßen und geredet haben. Die Fenster sind glücklicherweise alle verdeckt und so kann ich verstohlen wie ein Dieb die Laterne mit der brennenden Kerze vor deine Tür stellen. Um anschließend wieder stummer Teil des Novembergraus zu werden. November, der Totenmonat, der wohl auch von dir stehlen wird, wie du es selbst gesagt hast, als du mir gestern Abend von dem sich rasant verschlechternden Zustand deines Vaters erzählt hast. Deine wie immer fast schon fröhlich klingende Stimme voller Entschlossenheit ja nicht zu wanken, hatte in mir wieder jäh die alte Bewunderung und den ganzen sonstigen Gefühlskram wie ich es vor mir selbst nannte, aufsteigen lassen. Wenn ich schon nicht da sein und helfen konnte, wollte ich wenigstens im Namen der Clique ein Zeichen der Verbundenheit geben, zeigen, dass du nicht ganz allein dastehst und wir an dich dachten, auch wenn wir alle mittlerweile verstreut waren.

Die SMS kam anderthalb Tage später; die nüchterne Mitteilung, dass es endlich vorbei sei, nehme ich als Erlaubnis, vorbeizukommen. Du scheinst nicht im Mindesten überrascht, als du mir aufmachst und mir stumm in den Arm fällst. Unbeholfen halte ich dich, die Nähe ist ungewohnt und der immer noch gleiche Geruch deiner Haare lässt mich die Zähne zusammenbeißen. Dann habe ich mich wieder im Griff, konzentriere mich auf das Naheliegende und kann glücklicherweise alles ausblenden. Das bin ich dir schuldig.

Und so kann ich zwei Wochen später, als wir am Grab deines Vaters warten bis alle weg sind, auch deine Hand nehmen. Du weißt, dass du von mir nichts außer einem Zeichen der Verbundenheit zu befürchten hast, denn du weißt von nichts. Das bin ich dir schuldig.

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Tag der Veröffentlichung: 23.03.2014

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