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Über dieses Buch:

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Der Mord an einer Unbekannten, das Video einer gefolterten Frau und jede Menge rätselhafte Botschaften halten Kripobeamtin Maren Koissen ganz schön in Atem. Im Bonner Studentenviertel begibt sie sich auf Spurensuche. Dabei versinkt sie widerwillig in immer dunklere Abgründe. Die düsteren Geheimnisse und schockierenden Enthüllungen lassen die taffe Protagonistin in eine Spirale aus Mord, Gewalt und Lügen geraten. Je mehr sie dagegen ankämpft, desto tiefer wird sie hineingezogen in ein Netz aus Täuschungen und Intrigen. Dabei verliert sie zunehmend den Glauben an die Wahrheit, die Gerechtigkeit und schließlich auch an die Liebe.

 

© 2023 Maria Zaffarana – publiziert von telegonos-publishing

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(Haftungsausschluss und Verlagsadresse auf der website)

Cover: Kutscherdesign unter Verwendung von Adobe Stock Fotos

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

ISBN der Printversion: 978-3-946762-83-6

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

 

 

 

 

 

Stirb im November!

                                                Stirb im November!

 

 

 

Maria Zaffarana

 

 

Thriller

 

 

 

 

 

 

telegonos-publishing

 

 

 

 

 

Für Teresa

 

Es gibt Blumen, die welken nie.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Der Tag beginnt wie so oft in einem fremden Bett. Das Laken ist zerwühlt. Die Nacht war kurz und stürmisch. Der Morgen schmeckt umso schaler – nach abgestandenem Schweiß.

Sie will raus. Nur raus. Die ersten Sonnenstrahlen werfen ein gedämpftes Licht ins Zimmer. Ein Blick über ihre Schulter zeigt auf ein zerknautschtes, schlafendes Gesicht. Die wulstigen Lippen des Mannes sind leicht geöffnet. Sie sieht seine Zahnlücke. Sie widert sie an.

Diesen ekelerregenden Mund hat sie noch wenige Stunden zuvor lustvoll geküsst – und nicht nur das, schießt es ihr durch den Kopf. Wie konnte sie nur wieder, schon wieder mit ihm?, denkt sie. Der Alkohol und der Frust haben ihr gestern Nacht wohl erneut die Sinne vernebelt. Bei Tageslicht besehen jedenfalls verliert Torben sofort jeglichen erotischen Reiz.

Leise steigt Maren Koissen aus dem Bett. Es ist gerade mal fünf Uhr in der Früh. Wenn sie Glück hat und sich geschickt anstellt, wird er nicht wach werden. Dann kann sie sich unbemerkt hinausschleichen, wie die letzten Male. Kein „Guten Morgen“, keine Fragen, keine unangenehmen Gesprächsfetzen, die zu nichts weiter führen als zu vielen kleinen peinlichen Momenten nach einer völlig sinnentleerten Begegnung.

Von denen hat es in den vergangenen Monaten nach der Trennung so Einige gegeben, nicht nur mit ihm. An die meisten kann sie sich jedoch nicht wirklich erinnern. Sie waren nur flüchtige, bedeutungslose Sex-Geschichten, die meist im Kellerclub Carpe Noctem in der Wesselstraße in unmittelbarer Nähe des Bonner Hauptbahnhofs beginnen und nach einer schnörkellosen 0815-Nummer auch schnell wieder enden. Nur beim zerknautschten Gesicht ist es jetzt bereits das dritte oder vierte Mal in Folge. Das mag vielleicht daran liegen, dass er im Bett statt gewöhnlichen Einerleis schon das ein oder andere Extra mehr drauf hat als seine Artgenossen. So ausgefallen wie mit ihm hat Maren bislang jedenfalls noch mit niemandem gevögelt.

Nahezu geräuschlos verlässt sie das winzige, schäbige Zimmer, in dem noch mehr Chaos herrscht als gerade in ihrem Kopf. Ihre Hose, das Shirt, die Unterwäsche und ihre Schuhe findet sie überall im Flur verstreut wieder. Sie hat sie gestern Nacht im Eifer des Gefechts einfach wahllos irgendwo hingeworfen. Linkisch sammelt sie sie nun auf. Sie friert. Kalt ist es in dieser gottverdammten Wohnung. Gestern Abend ist ihr noch heiß gewesen. Allerdings hat dieses Gefühl nicht lange angehalten. Genauer genommen war es nach dem unbeherrschten Geschlechtsakt sofort erkaltet. Und doch blieb sie über Nacht und ließ sich mit dem zerknautschten Gesicht ein, um es unmittelbar danach sofort zu bereuen. So ergeht es ihr jedes Mal – seit der Trennung von Tara.

Wie lange kann ein Herz trauern?, fragt sich Maren, während sie hastig die Hose über ihren viel zu dünn gewordenen Hintern zieht, auf dem ihre Tätowierung wie verloren wirkt. Zu lange für ihren Geschmack. Taras Abwesenheit hat sie rund zehn Kilo gekostet. Ein Klappergestell ist aus ihr geworden. Na ja, eigentlich hatte sie sowieso abnehmen wollen. Aber eben nicht so! Taras Auszug ist ihr regelrecht auf den Magen geschlagen. Seitdem macht noch nicht einmal mehr Essen Spaß.

Aus dem Schlafzimmer dringt ein gedämpftes Geräusch und unterbricht die Stille, in der Maren allein mit ihren Gedanken gewesen ist. Sie schreckt auf. Das zerknautschte Gesicht hat anscheinend leise im Schlaf aufgestöhnt, glaubt sie. Vielleicht ist er aber auch im Begriff aufzuwachen. Schnell greift Maren deshalb nach ihren Schuhen und der Jacke und läuft barfuß ins Treppenhaus. Es hat keine Fenster und liegt im Halbdunkel. Nur durch den Eingang im Erdgeschoss scheint schwaches Tageslicht durch. Maren knipst das Licht dennoch nicht an. Sie zieht sich die Schuhe an und stürmt eiligst die Stufen hinunter, so wie früher, als sie als blutjunge Polizeibeamtin noch dynamisch wen auch immer gejagt hat. Dieses Mal aber ist sie diejenige, die auf der Flucht ist – obwohl überhaupt niemand hinter ihr her ist.

Für eine Stunde lohnt es sich nicht mehr, nach Hause zu fahren, wägt Maren ab, während sie durch Bad Godesberg kurvt. Von der Koblenzer Straße, in der das zerknautschte Gesicht im dritten Stockwerk eines Altbaus wohnt, sind es normalerweise 15, höchstens 20 Minuten bis zum Polizeipräsidium. Doch Maren kommt nur langsam voran. Auf den Straßen ist wochentags die Hölle los. Mit gerade einmal 20 Stundenkilometern schlängelt sie sich durch das ehemalige Diplomatenviertel. Vom früheren Prunk und Glanz ist nicht wirklich viel übrig geblieben. Seit dem Regierungsumzug hat sich der Stadtteil in erschreckender Weise verändert. Inzwischen ist er gar zum sozialen Brennpunkt geworden, in dem die Welten von Reich und Arm so brutal aufeinanderprallen, dass es hier regelmäßig knallt.

Bis zum Präsidium sind es jetzt noch maximal zehn Minuten. Zu frühstücken vor Dienstbeginn, ein oder zwei Zigaretten zu rauchen, Kaffee zu trinken und vielleicht ein paar nette Worte mit Kollegen zu wechseln, ist allemal besser als in die leere Wohnung zurückzukehren, in der sie ohnehin nur alles an Tara erinnert. Denn die hat nichts mitgenommen. Als ob sie ihr altes Leben ungerührt hinter sich lassen wollte! Sie müsste vielleicht mal renovieren, die alten Möbel entsorgen, ein paar Dinge umstellen, andere Sachen kaufen; vielleicht würde sie dann weniger an Tara denken, überlegt Maren. Aber was ist, wenn sie doch zurückkommt? Wütend über sich selbst, dass sie sich unentwegt damit beschäftigt, schüttelt sie schließlich den Kopf, als könnte sie damit die ständigen zermürbenden Gedanken an Tara abschütteln.

Noch zweimal abbiegen. Der Blinker tickt wieder einmal viel zu schnell. Dabei hat sie ihn doch erst vor ein paar Wochen reparieren lassen.

Kurz vor der Königswinterer Straße, an der das Präsidium mit seiner verglasten Außenfront imposant auftauchen wird, fällt es ihr auf einmal erneut ein. Durch den vielen Alkohol und ihre kapriziösen Liebesspiele mit dem zerknautschen Gesicht hatte sie es für ein paar Stunden völlig vergessen. Und gerade eben hatte sich wieder alles nur um Tara gedreht, sodass es gänzlich aus ihrem Gedächtnis verschwunden war. Aber jetzt war es wieder präsent und glasklar vor ihrem geistigen Auge: das Video!

 

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„Wir hatten es doch abgemacht, dachte ich. Das hast du versprochen, oder?“, poltert Darius gereizt, während Lina den Frühstückstisch deckt.

Trotz klirrender Kälte strahlt die Sonne an diesem Novembertag hell und wirft ein freundliches Licht in die Küche, in der es nach frisch aufgebackenen Croissants duftet. Lina liebt den Herbst. Er hüllt das Haus in eine gemütliche Atmosphäre ein, versprüht ein Gefühl von Geborgenheit. Nicht aber an diesem Morgen. Ein flüchtiger zufälliger Blick durchs Fenster auf die Straße hat genügt, um Lina aus der Fassung zu bringen und ihr Versprechen erneut zu brechen: das kleine Mädchen im blauen Mantel mit der roten Mütze. Diese beiden Farben haben sie so getriggert, dass sie nicht umhinkommt, wieder daran zu denken und somit Dinge heraufzubeschwören, die, ginge es nur nach Darius, lieber im Verborgenen geblieben wären.

Statt ihrem Mann zu antworten, schweigt Lina. Jede Harmonie ist dahin. Eigentlich ein Dauerzustand seit Monaten. Was sollten Worte jetzt und überhaupt noch bringen? Verstummt, aber sichtlich aufgewühlt, holt Lina Marmelade, Butter, Käse, Schinken und Salami aus dem Kühlschrank, breitet alles auf dem Tisch aus und meidet dabei den Blickkontakt mit ihrem Mann. Aus den Augenwinkeln sieht sie jedoch, wie Darius sie anstarrt. Im Hintergrund pfeift die Espresso-Kanne. Lina und Darius haben sie während ihres ersten gemeinsamen Urlaubs auf einem sizilianischen Markt erstanden. 15 Jahre leistet der kleine Aluminiumkocher nun schon gute Dienste. Er ist unverwüstlich, hat etliche Umzüge überstanden und keinen einzigen Tag gestreikt.

„Magst du auch einen Espresso?“, versucht Lina dann doch noch, die Situation zu entschärfen, wohlwissend, dass es dafür zu spät ist. Gleichzeitig ordnet sie erneut akribisch der Reihe nach Marmelade und Co. auf der karierten Tischdecke. Es sieht darauf mittlerweile schon aus wie auf einem Schachbrett.

Darius macht einen Schritt auf sie zu, umklammert Linas Oberarme. Er sieht angespannt aus, ist unrasiert, das Haar zerzaust. Die vier schweren Einsätze in der vergangenen Nacht und die insgesamt zehn Jahre als Notfallsanitäter haben deutliche Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. Alt und verlebt kommt er ihr vor. Seine Augen sind wieder einmal gerötet, sein Mund ist blass. Als er die Lippen fest zusammenpresst, werden sie noch weißer.  

„Lina, verdammt noch mal, reiß dich zusammen! Oder willst du alles kaputt machen?“, zischt er und lässt ihre Arme wieder los.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Er ist wie immer zu spät dran. Abgehetzt packt Arne gerade alles zusammen, um sich zu seiner ersten Kundin heute aufzumachen. Laut schnaufend – seitdem er zehn Kilo zugenommen hat, kommt er leicht aus der Puste – verstaut er Kamera, Ersatzapparat, Belichtungsmesser, Zoomobjektiv und Festbrennweite, verschiedenste Filter und Aufsteckblitz in seinem Trolley. Fast hätte er vor lauter Hektik die Ersatzakkus und die Ersatzspeicherkarte vergessen. Erst vor Kurzem hat er bei einem wichtigen Shooting gerade die zu Hause liegen lassen. Seitdem nimmt Arne lieber zu viel mit.

Wenn er sich jetzt beeilt, könnte er von Hersel über die B9 innerhalb von 15 Minuten in der Unigarage sein, schnell das Auto ausladen, dann die Kundin wie verabredet auf der Hofgartenwiese vor dem Hauptgebäude der Universität treffen – und hoffen, dass ihnen das Wetter keinen Strich durch die Rechnung macht. Denn eigentlich ist für den späten Vormittag Regen angesagt. Sie hätten somit knapp vier Stunden Zeit. Angesetzt ist der Termin für zwei.

Mittlerweile keuchend wie eine alte Dampflok wuchtet Arne den schweren Koffer in den mickrigen Kofferraum seines Autos. Es ist wie er selbst in die Jahre gekommen. Arne flucht leise vor sich hin, weil ihm gerade in solchen Momenten wieder bewusst wird, wie fett er geworden ist. Er müsste dringend abnehmen, sagt er sich. Aber das nimmt er sich bereits seit Jahren vor und er legt trotzdem kontinuierlich weiter zu. Während er sich mit den schweren Sachen abmüht, läuft ihm Pino die ganze Zeit hinterher. Er hechelt, wedelt munter mit dem Schwanz und hofft, gleich Gassi zu gehen.  

Arne ärgert sich unterdessen nicht nur über sein Übergewicht, sondern vor allem darüber, dass er sich wieder hat breitschlagen lassen, mitten im ungemütlichen Herbst bei äußerst unsicheren Licht- und Wetterverhältnissen ein Outdoor-Shooting angenommen zu haben. Das stinkt ihm gewaltig. Man hätte doch auch bequem im Studio fotografieren und danach die Uni reinmontieren können, überlegt er. Das hatte er sogar vorgeschlagen. Aber davon wollte die Kundin nichts wissen. Sie wolle schließlich die Aufnahmen inklusive kurzem Video für eine Behind-the-scenes-Sequenz oder ein mit Musik untermaltes Kurzvideo, ein sogenanntes Reel, so authentisch wie möglich gestalten. Das hatte sie ihm bei Auftragserteilung am Telefon unmissverständlich klargemacht. Da war Arne eingeknickt – wie so oft.

„Weiber und ihre beschissenen Ideen!“, schimpft er nun, während er das sperrige Dreibeinstativ, das er wahrscheinlich gar nicht benutzen wird, und die zusätzlichen Stativgewichte auf der Rückbank positioniert. Er bräuchte dringend einen größeren Wagen; ein Kombi wäre ideal. Stattdessen plagt er sich mit einer Kiste herum, die verschrottet gehört. Ein neues Auto muss allerdings warten. Denn Arne ist mal wieder blank und so muss er widerwillig auch die verschrobensten Aufträge ausführen. Davon hatte er in den vergangenen Jahren wirklich genügend. So unsinnig oder bizarr auch einige gewesen sind, umgesetzt hat Arne bislang alle.

Früher dagegen, als junger Fotograf, hatte er noch Anspruch. Er verstand sich als Künstler, der Menschen und Objekte niveauvoll in Szene setzte. Was waren das noch für Zeiten, als er Modelle für anspruchsvolle Kunstporträts arrangiert hatte! Die Locations hatte er dafür jedes Mal mit viel Liebe zum Detail ausgestaltet. Elegante Rückwände etwa wurden dafür aufgestellt, spezielle Blitze für die richtige Haarbeleuchtung, Spotblitze für Teilbereiche des Gesichts, seitliche Blitze für die Konturen, jede Menge Abschatter und Aufheller, Reflektoren und Stative platziert. Aber spätestens nach der Scheidung hatte er sich von all seinen exklusiven Ambitionen verabschieden müssen. Seitdem ging es nicht mehr um Kunst, sondern ums nackte Überleben.

Tja, so tief kann man sinken!, dachte er oft. Aber er hatte nun mal keine andere Wahl. Die hatte er noch nicht einmal das eine Mal gehabt! Nur zu gerne hätte er diesen einen Auftrag abgelehnt. Er tat es nicht, er verkaufte sich für ein lächerliches Taschengeld. Und das bereute er bis heute.

Ein flüchtiger Blick auf die Uhr verrät ihm, dass er es jetzt unmöglich noch schaffen kann, pünktlich an der Uni zu sein. Wenn er Glück hat, kommt die Kundin auch zu spät, überlegt er. Völlig durchgeschwitzt setzt er sich in sein Auto. Da klingelt das Handy. Er schaut kurz aufs Display und nimmt das Gespräch an.

„Mach‘s bitte kurz, ich bin wie immer in Eile“, keucht er in den Hörer.

„Okay, okay. Wollte dir nur sagen, dass es bei mir heute spät wird. Ist das okay für dich, wenn ich heute mal aussetze?“

„Ja, ist es.“

Es wundert Arne nicht, dass sie wieder nicht kann. Es hätte ihn eher überrascht, wenn sie mal einen Termin eingehalten hätte. Das mit den ständigen Absagen geht seit Monaten so. Eigentlich kümmert sie sich seit Jahren nicht mehr um Pino.

„Super, dann lass ich dich jetzt wieder in Ruhe. Morgen oder spätestens übermorgen komme ich aber hundertprozentig und löse dich ab. Versprochen.

 

 

 

 

 

 

 

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Es sind diese Augen, von denen Maren nicht den Blick abwenden kann. In Großaufnahme flimmern sie über das kleine Display. Sie sind weit aufgerissen. Die Handykamera schwenkt abwechselnd aufs rechte, dann aufs linke, zoomt kurz darauf beide näher heran. Sekunden später erscheinen sie erneut in Großaufnahme. Die Augenlider sind gerötet und stark angeschwollen, oben hochgezogen, unten angespannt. Über dem dunklen Grün der Iris hat sich ein glänzender Tränenfilm gelegt. Das Weiß ist fast gänzlich hinter einer flächenhaften dunkelroten Einblutung verschwunden. Die Pupillen sind geweitet, starr auf das Objektiv gerichtet. Sie blinzeln kein einziges Mal. Es folgt ein Cut. Danach, wahrscheinlich nicht mehr als ein oder zwei Sekunden später, erneut die Augen in Großaufnahme: Aber dieses Mal blicken sie nicht mehr ins Handyobjektiv, sondern schräg zur Seite. Die Augenbrauen sind nach oben gezogen. Kleine, geschlängelte Fältchen bilden sich auf der Stirnmitte. Die Kamera folgt ihrem Blick und schwenkt kurz zur Seite. Für einen Bruchteil von Sekunden erscheint ein Körper, der am Boden liegt.

Maren stoppt das Video. Auf dem Bild erkennt man, dass es eine Frau ist. Sie liegt auf der Seite, trägt ein bodenlanges helles Kleid, unter dem die Füße verschwinden. Das glatte, blonde Haar fällt über ihre Schulter. Direkt darunter, etwa in der Mitte des Rückens, zeichnet sich auf dem Stoff ein Blutfleck so breit wie eine Hand ab. Neben ihr befindet sich eine große Blutlache, in der ihre ausgestreckte Hand ausgebreitet ist.

Die Kommissarin spult vor.

Die nächste Szene ist verwackelt. Dabei folgt ein weiterer Perspektivenwechsel: Die Kamera richtet sich nun wieder auf die Augen der anderen Frau, deren Lider unmittelbar danach zufallen. Sie sind nun fest aufeinandergepresst. Hier endet das Video abrupt. Minutenlang blickt Maren auf das Standbild. Erst nach einer Weile spielt sie es von vorne ab. Das unscharfe Gesicht von einer Frau blitzt sofort auf. Ihre Konturen sind nicht zu erkennen. Schemenhaft deutet sich langes rotes Haar an und ein blaues Oberteil. Am unteren Bildrand des Videos ist ein kleiner verschwommener Schatten zu erkennen. Erst als das Handy heranzoomt, verschwindet er und die Augen werden gestochen scharf. Aus dem Hintergrund ertönen die ganze Zeit diffuse Geräusche. Sie unterscheiden sich zwar von denen vor dem ersten Cut. Beide aber klingen dumpf und blechern. Sie verstummen erst ganz kurz vor Ende der letzten Szene.

„Wann kommt sie?“, will Maren wissen.

„Sie müsste gleich da sein. Ich habe sie für 13 Uhr bestellt“, antwortet ihr junger Kollege Ben Wohltmann und nimmt einen Schluck aus seiner Kaffeetasse. „Gestern ist sie den ganzen Tag nicht ansprechbar gewesen. Der Arzt hat ihr was gegeben. Danach war sie komplett ausgeknockt.“

„Hat sie eine der Frauen auf dem Video erkannt?“

„Ja, die schreiende, obwohl man nur ihre Augen sieht. Sie ist ihre Freundin. Beide studieren gemeinsam Germanistik und Italienisch in Bonn. Ihr Name ist Natascha Giertz. Sie ist 21. Zur Leiche kann sie nichts sagen. Sie weiß nicht, wer das sein könnte“, berichtet der Polizeikommissaranwärter und reicht Maren den Zettel, auf dem er in gestochener Handschrift alles notiert hat. „Oder soll ich das lieber noch einmal abtippen?“, fragt er und ist schon auf dem Sprung zum Computer. Der übertriebene Überschwang ihres Kollegen geht Maren auf den Geist. Seit dem ersten Tag, an dem er bei ihr aufgeschlagen ist, zerrt er an ihren Nerven. Er ist ihr einfach zu ungeschickt, zu unbeholfen und zu kompliziert.

„Gib das an die Vermisstenabteilung. Die sollen alle Vermisstenanzeigen der letzten zwei Wochen überprüfen. Wenn wir hier nichts haben, dann müssen wir bundesweit ermitteln. Sie sollen nach einer Frau mit langen blonden Haaren suchen, die wahrscheinlich maximal 35 Jahre alt ist. Mehr Infos haben wir leider nicht.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Übereifrig kehrt Ben mit einer kleinen hageren Frau zurück. Ihr blondes Haar hat sie streng nach hinten gekämmt und zu einem großen Knoten zusammengebunden. Sie trägt eine viel zu weite Hose, die unvorteilhaft um ihre schlanken Beine flattert. Ohnehin wirkt ihre Kleidung ein wenig altbacken und passt nicht wirklich zu ihrem Alter. Die Studentin sieht dadurch wie Mitte vierzig aus, dabei dürfte sie ja nicht älter als Anfang zwanzig sein.

„Nehmen Sie doch bitte Platz“, fordert Maren sie auf. Ben deutet mit der Hand auf den Stuhl vor Marens Tisch. „Möchten Sie einen Kaffee?“

„Nein, danke“, flüstert Ella Hecker. Kraftlos schüttelt sie den Kopf.

„Vielleicht ein Glas Wasser?“

Ella schüttelt erneut den Kopf.  

„Ich hoffe, Sie haben den Weg hierhin gut gefunden“, setzt Maren fort.

„Ja, meine Mutter hat mich gefahren“, entgegnet sie beinahe lautlos. Sie wispert wie ein kleines eingeschüchtertes Kleinkind. Maren und Ben können sie kaum hören. Nervös knetet die Studentin ihre Hände.

„Obwohl das Präsidium gut zu finden und nicht zu übersehen ist, tun sich manche dennoch manchmal schwer damit“, ergänzt Maren und schenkt Ella Hecker ein freundliches Lächeln. Doch sowohl das Lächeln als auch die Worte prallen bei ihr ab wie Wasser an einer Teflonpfanne. Ella Hecker scheint immer noch ganz benommen zu sein von den Tabletten. Der Schock tut anscheinend sein Übriges. Teilnahmslos sitzt sie da. Sie ist wie in Trance. Ihre Blicke aus müden Augen wandern durchs Zimmer, bis sich ihre und Marens irgendwann treffen. Ella Heckers Augen sind stark gerötet. Hinter dem Weiß schimmern kleine, feine Äderchen durch.

Lange hält Ella Hecker Marens Blick aber nicht stand. Sie wendet den ihren wieder ab und schaut auf ihre feuerroten Sneakers, die sie fest auf die Fliesen presst, als ob sie Angst hätte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Es entsteht eine kleine Pause, in der die Studentin verunsichert abwechselnd zu Maren und dann zu Ben herübersieht.

„Ich musste noch nie zur Polizei – und schon gar nicht wegen so einer …“, bricht es unvermittelt aus ihr heraus. Sie spricht mit leiser, zerbrechlicher Stimme und verfällt anschließend in hemmungsloses Weinen.

„Frau Hecker, nun beruhigen Sie sich doch, bitte.“

Heckers zarter Körper bebt.

„Das überfordert mich alles“, wimmert sie. „Ich halte es kaum aus … das alles. Es ist alles so … ich kann es noch überhaupt nicht einordnen. Es ist schrecklich, entsetzlich!“

Sie ringt nach den richtigen Worten und bricht immer wieder ab, bringt kaum einen Satz zu Ende.  

„Nun beruhigen Sie dich doch, bitte, Frau Hecker“, versucht Maren es erneut. Mit dem Kopf gibt sie Ben dabei ein Zeichen Richtung Tür. „Mein Kollege bringt Ihnen jetzt einen starken Kaffee. Den trinken Sie und danach erzählen Sie uns einfach der Reihe nach, was passiert ist, okay?“

Als Ella Hecker ihre Tasse geleert hat, scheint sie sich ein wenig beruhigt zu haben. Sie atmet noch einmal tief durch.

„Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll“, sagt sie und wischt sich die letzten Tränen aus dem Gesicht.

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich

Ich

 

Sie schreit.

Ich schnurre wie eine Katze, der man gerade über den Buckel streichelt.

Wie Musik hallt der vibrierende Ton in meinen Ohren nach. Ich genieße es, bis er versiegt, und lasse mir Zeit, bis ich den nächsten Akkord anschlage. Währenddessen ergötze ich mich an ihrem schmerzerfülltem Gesicht, beobachte, wie sie sich windet in ihren Fesseln und mich ihr hoffnungsvoller Blick trifft.

Sie schreit ein zweites Mal. Dieses Mal ist es ein intensiverer, ausgeprägterer Schrei von der Art, bei dem die Stimme gegen Ende bricht. Er geht mir unter die Haut und tut so unglaublich gut. Das ist wie ein Orgasmus – nur noch besser!

Ihr Blut schlängelt sich jetzt schneller als vorhin über ihre nackten Beine. Es überdeckt einige ihrer Tätowierungen, versickert in den glatten Wunden, paart sich mit ihnen wie ein liebevoll arrangiertes Gemälde. Es harmoniert perfekt im Kontrast mit der weißen Haut, die unter der grellen Neonbeleuchtung regelrecht schimmert wie bleiches Pergament.

Im Leben gibt es wenige Oasen des Glücks. Dies hier ist eindeutig eine davon. Ich fühle mich wie ein Virtuose, der gerade dabei ist, ein wundervolles Instrument zu stimmen. Nach einigen misslungenen Versuchen weiß ich nun genau, welche Tasten ich anschlagen muss, um aus ihr eben jene Laute herauszukitzeln, die sich zusammenfügen zu einer wundersam betörenden Musik. Das gelingt nur wahren Künstlern und ich bin zweifelsohne einer. Ich würde mich als genialen Dirigenten beschreiben, der das Komponieren beherrscht wie kaum ein anderer. Jahrelanges Üben hat sich heute ausbezahlt. Wenn ich sehe, welche wunderschönen Bahnen das Blut über ihren geschundenen Körper zieht, würde ich sogar so weit gehen, mich als herausragenden Maler zu bezeichnen.

Ich greife zum Handy, mache einige Bilder und ein kurzes Video.

Unsere Blicke treffen sich dabei. Eine wohlige Wärme steigt in diesem Moment in mir auf, umhüllt mich. Fühlt sich so Liebe an?

Von dieser überschäumenden Empfindung überwältigt, lächele ich sie an, während sich heiße Tränen aus ihren Augen pressen. Wie schön sie aussieht, denke ich und lasse von ihr ab.

Mein Tagewerk ist vollbracht. Befriedigt ziehe ich mich zurück, lasse sie allein. Die Vorfreude auf morgen wird mich nun durch die Nacht tragen ebenso wie die Fotos und die Videoaufnahmen, auf denen ich mein Opus bis in die frühen Morgenstunden bewundern kann. Wie im Rausch schaue ich mir den Film an, gebe mich ihren sonoren Jammerlauten hin.

Der Klang des Schmerzes – gibt es eine schönere Musik? Ich jedenfalls kenne keine.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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„Vor vier Tagen, am Freitag, haben wir uns getroffen. Es war so kurz vor acht, da habe ich Natascha im Studentenwohnheim abgeholt.“ Ella Hecker spricht immer noch sehr leise, aber wesentlich gefasster als noch wenige Minuten zuvor. „Anschließend sind wir noch in unsere Stammkneipe gegangen, ins Zebulon direkt neben der Uni. Dort haben wir etwas gequatscht und getrunken. Das machen wir immer so, das ist so ein Ritual, bevor wir zu einer Fete gehen.“ Die Studentin stottert nun nicht mehr wie zu Beginn des Gesprächs, wenngleich sie immer mal wieder kurze Pausen braucht, so als ob sie sich in diesen Momenten Erholung erhoffte von den Anstrengungen der letzten Stunden. Geduldig gewähren ihr Maren und Ben diese kleinen Auszeiten. „Wir sind dort bis kurz 22 Uhr geblieben und anschließend direkt zur Fete gegangen“, fährt sie fort.

„Wo war die Party?“, fragt Maren.

„Bei einer Kommilitonin. Wir studieren gemeinsam Germanistik. Sie heißt Tabea, Tabea Hugenderb, und wohnt bei ihrer Mutter in der Kasernenstraße. Die war übers Wochenende in Hamburg. So hatten wir sturmfreie Bude.“

„Ach, die Kasernenstraße“, funkt Maren dazwischen. „Direkt an der Ecke ist mein indisches Lieblings-Restaurant.“

„Ja, wir hatten an dem Freitag auch kurz überlegt, dorthin statt ins Café zu gehen vor der Fete, weil‘s direkt bei Tabea ist. Aber dann haben wir uns umentschieden, da es nach dem Umbau dort am Wochenende abends besonders voll ist.“

„Erzählen Sie uns von Natascha. Ist an diesem Abend irgendetwas Ungewöhnliches passiert?“

Die Frage bringt Ella Hecker ins Stocken. Ihr Blick wandert zum Fenster, hinter dem der Regen hart auf den Asphalt knallt – so laut, dass es in Marens Büro regelrecht nachhallt. Sie beobachtet Hecker dabei, wie sie in ihren Erinnerungen sucht. Die Studentin lässt den Abend gerade noch einmal Revue passieren.

„Hm“, antwortet sie nach einer Weile. „Natascha und ich sind zuerst etwas rumgegangen, haben dann was gegessen, was getrunken, gequatscht. In der Küche trafen wir eine gute Bekannte, Luisa Rigolone. Die kennen wir aus einem früheren Italienisch-Seminar. Wir haben uns mit ihr unterhalten. Natascha ist aber nur kurz geblieben. Mittendrin hat sie mir ins Ohr geflüstert, dass sie Luisa nicht mag. Also ging sie ins Wohnzimmer. Ich quatschte noch kurz mit Luisa, bis eine weitere gemeinsame Freundin von uns dazukam: Gloria Anhast. Aber wie gesagt nur kurz. Die Fete endete rasch für mich.“

„Warum?“

Der kalte Novemberwind jault wie ein in die Jahre gekommener Wolf und lässt Ella Hecker aufschrecken. In jener Nacht war es ebenso windig, denkt sie. Es sind nur wenige Sekunden, die sich Hecker ablenken lässt, dann allerdings fährt sie fort.

„Mir wurde mitten im Gespräch mit Luisa schlagartig schlecht. Das lag wahrscheinlich daran, dass ich tagsüber nicht so viel gegessen hatte und dann auf der Fete auf nüchternen Magen zwei Gläser Gin getrunken habe. Das ist mir dieses Mal einfach nicht bekommen. Sonst vertrage ich doch so Einiges. Ich habe mich daraufhin von Luisa und Gloria verabschiedet, habe Natascha gesucht und sie gefragt, ob sie mir böse wäre, wenn ich schon nach Hause gehe.“

„Und? War sie böse?“, mischt sich Ben unvermittelt ein. Er hat sich bislang zurückgehalten.

„Nein. Sie hat gefragt, ob ich denn überhaupt allein zurückkönne, weil ich ganz schön wacklig auf den Beinen war. Ich hab ihr versprochen, ein Taxi zu nehmen.“

„Eigentlich gehen Freundinnen doch immer zusammen wieder zurück, insbesondere wenn es der einen nicht so gut geht, oder nicht? Waren sie denn nicht sauer auf Natascha, dass sie sie alleine hat gehen lassen?“, wirft Ben gewohnt ungeschickt ein und merkt sofort, dass seine Frage nicht wirklich gut ankommt. Maren bedenkt ihn mit einem strengen Blick, der Ben in seine Schranken weist.

„Nein“, entgegnet Ella mit weinerlicher Stimme. „Nein, überhaupt nicht. Nur weil mir schlecht wurde, wollte ich ihr doch nicht die Laune verderben.“

In Heckers Haltung mischt sich Verunsicherung. Bens Fragen haben die ohnehin labile Studentin sichtlich eingeschüchtert. Um Ella Hecker wieder versöhnlicher zu stimmen, übernimmt Maren das Verhör erneut und gibt Ben wortlos zu verstehen, sich von nun an zurückzuhalten.

„Sie sind danach also mit dem Taxi nach Hause gefahren?“

„Nein. Ich war zu geizig für ein Taxi. An der frischen Luft ist es mir auch gleich ein wenig besser gegangen, also bin ich zum Hauptbahnhof und habe dort die Bahn nach Buschdorf genommen. Keine halbe Stunde später lag ich in meinem Bett.“

Erschöpft lehnt sich Ella Hecker auf ihrem Stuhl zurück. Ihre Hände klammert sie fest an die Armlehnen. Maren gönnt ihr eine Verschnaufpause.

„Wollen Sie noch was trinken?“, erkundigt sich Ben und macht sich flink, ohne Ellas Antwort abzuwarten, auf den Weg in die Küche, um eine Flasche Sprudelwasser zu besorgen. Schwerfällig schüttelt die junge Frau da den Kopf. Doch das hat Ben schon nicht mehr mitbekommen. Überhaupt hat er sehr oft ein schlechtes Timing. Ihm fehlt es an jedem Feingefühl, geht es Maren durch den Kopf.

„Ist es Ihnen denn schon in der Nacht aufgefallen, dass Sie Ihr Handy verloren haben?“, setzt die Kommissarin nach ein paar Sekunden des Schweigens wieder an.

„Nein“, antwortet Ella Hecker prompt. Ihre Stimme schwächelt wieder. Die Erinnerung an das Handy bringt sie erneut gedanklich ins Wanken. Sie ist kurz davor, in Tränen auszubrechen, das entgeht Maren nicht – ihrem Kollegen dagegen, der mit der Flasche Sprudelwasser gerade wieder ins Zimmer zurückkommt, schon. Übertrieben munter schenkt er Ella Hecker ein, die ja eigentlich gar nichts trinken will. Doch die Studentin nimmt wider Erwarten einen großen Schluck.

„Ich war so unendlich müde und mir war noch ein wenig schlecht, dass ich an gar nichts mehr gedacht habe“, sagt sie. „Ich wollte nur noch schlafen. Als ich mich ins Bett gelegt und die Augen geschlossen habe, hat sich alles gedreht. Danach bin ich sofort eingeschlafen und erst am nächsten Morgen wieder aufgewacht.“ Maren ermuntert sie mit Blicken fortzufahren. „Als ich aufgewacht bin, hatte ich einen Brummschädel. Ich habe eine Kopfschmerztablette nehmen müssen. Und auch danach konnte ich keinen wirklich klaren Gedanken fassen. Als ich dann endlich aus dem Bett gekommen bin, bin ich zu meiner Mutter in die Küche gegangen und habe mit ihr zusammen eine Kleinigkeit gegessen, aber nicht viel. Die zwei Gläser Gin lagen mir irgendwie immer noch schwer im Magen.“

So behutsam wie möglich versucht Maren, das Gespräch wieder auf das Handy zu lenken.

„Wann haben Sie denn dann festgestellt, dass Ihr Handy verschwunden ist?“

„Erst nach dem Frühstück. Da bin ich wieder zurück in mein Zimmer und wollte als Erstes Natascha schreiben und sie fragen, wie denn die Fete noch gewesen ist. Da war es allerdings schon gegen Mittag. Zuerst hab ich in meine Handtasche geschaut. Da liegt es für gewöhnlich, dieses Mal aber nicht. Anschließend habe ich mein ganzes Zimmer durchsucht, meine Klamotten, auch im Haus überall. Aber nichts. Da hab ich gedacht, ich hätte das Handy bestimmt auf der Fete irgendwo liegen lassen oder vielleicht auf dem Weg nach Hause verloren.“

Maren greift nach einem Kugelschreiber auf ihrem Schreibtisch und lässt ihn durch ihre Finger gleiten. Ben sitzt kerzengerade mit durchgedrückten Rücken an seinem Schreibtisch und macht sich Notizen. In diesem Moment ähnelt er Stefan Krudewig, den Klassenstreber aus der sechsten Klasse, den Maren und alle anderen so sehr gehasst haben.

„Können Sie sich denn erinnern, wann Sie das Handy das letzte Mal benutzt beziehungsweise bewusst gesehen haben?“ Ella Hecker muss nicht lange nachdenken.

„Ja, das war vor der Fete, als ich Natascha von vor ihrem Studentenwohnheim aus angerufen habe, damit sie runterkommt. Das machen wir immer so. Sie mag es nicht, jemanden in ihre Bude zu lassen. Als Natascha dann unten war, habe ich das Handy in meiner Handtasche verstaut und den ganzen Abend nicht mehr herausgeholt.“

Wieder verliert sich Heckers Blick für einen kurzen Augenblick nach draußen. Sie beobachtet, wie der Wind die Äste der Bäume durcheinanderwirbelt. In jener Nacht war es sogar windiger, sagt sie sich. Sie hat noch genau vor Augen, wie Nataschas Haare auf dem Weg durch die Innenstadt wild durcheinandergewirbelt worden sind.

„Als Sie festgestellt haben, dass am Samstag das Handy nirgendwo mehr zu finden war – wann haben Sie sich auf die weitere Suche gemacht?“, holt sie Maren aus ihren Gedanken.

„Erst am frühen Abend war ich in der Lage dazu, zu Tabea, also der Gastgeberin der Fete, zu gehen. Doch sie hatte kein Handy gefunden und auch auf dem Weg dorthin war nichts.“

 

„Haben Sie denn nicht versucht, Natascha vom Festnetz aus anzurufen?“

Ella schüttelt den Kopf. Maren beobachtet, wie ihr dicker blonder Haarknoten auf dem Kopf mitschwingt.

„Nein. Ich habe all meine Nummern im Handy abgespeichert und kenne bis auf die von meinen Eltern keine einzige auswendig. Ich habe daher Tabea gebeten, Natascha mit ihrem Handy anrufen zu dürfen.“

„Wann war das?“

„Das war wie gesagt Samstagabend. Es muss so um acht gewesen sein.“

„Konnten Sie Natascha erreichen?“

Der dicke blonde Knoten wackelt unruhig hin und her.

„Nein. Das Telefon war ausgeschaltet. Ich bin dann noch eine Stunde bei Tabea geblieben und hab es noch einige Male versucht. Aber ich bin stets auf ihrer Mailbox gelandet.“

„Wussten Sie vielleicht von irgendeiner Verabredung, wegen der Natascha das Handy ausgeschaltet haben könnte?“

„Nein, sie hat mir nichts erzählt. Meines Wissens hatte sie nichts fürs Wochenende geplant. Aber so genau weiß ich das nicht. Natascha ist ein sehr verschlossener Mensch, sie erklärt sich und ihr Verhalten nie. Manchmal, da taucht sie einfach für Stunden unter. Dann ist sie für niemanden erreichbar. Selbst nicht für mich oder für ihre beste Freundin Marianna. Irgendwann meldet sie sich einfach wieder. Das ist bei ihr völlig normal. Deswegen habe ich mir auch zunächst keine ernsten Sorgen gemacht.“

„Welche Marianna? Auch eine Kommilitonin?“, will Maren wissen.

„Marianna Trappl. Nein, keine Studentin. Marianna ist eine Lehrerin. Sie ist wesentlich älter als Natascha. Die beiden haben sich in irgendeiner Gruppe kennengelernt, sind engste Freundinnen.“

„Können Sie mir ihre Telefonnummer geben?“

„Nein, leider nicht“, antwortet Hecker. „Ich kenne Marianna nicht persönlich, nur aus Nataschas Erzählungen. Aber auch wenn ich die Nummer hätte, würde die ihnen im Moment nichts bringen, weil Marianna vor vier Tagen, an dem Freitagnachmittag, einen schweren Autounfall hatte. Sie liegt zurzeit auf der Intensivstation. Das hat mir Natascha an dem Abend noch erzählt. Sie hat sich dabei aber nichts von ihrem Kummer anmerken lassen.“

„Schreib dir den Namen auf und finde ihre Nummer heraus“, instruiert Maren Ben, der sich dazu mit flinken Handbewegungen ein Memo in seinem Notizblock macht.

In Heckers Augen haben sich derweil wieder Tränen angesammelt. Ihre Körperhaltung verrät, wie sehr sie mit sich selbst kämpft, um nicht wieder weinen zu müssen, und wie sehr sie das Sprechen anstrengt. Sie fühlt sich wie nach einem Marathon: ausgelaugt und kraftlos.

„Heute mache ich mir allerdings schwere Vorwürfe, dass … dass ich … ich da nicht doch mehr hinterher war.“ Es dauert nicht lange, bis sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten kann. Ungestüm brechen sie sich Bahn. Sie weint, laut und ungeniert. Dabei stößt sie fortwährend Worte aus, die weder Maren noch Ben verstehen. Es vergehen mehrere Minuten, bis sie sich wieder gesammelt hat und ihre Sätze deutlicher werden. „Ich hätte … hätte anders reagieren müssen. Ich hätte es ja eigentlich wissen müssen, dass etwas Schreckliches passiert ist.“

Danach schweigt Ella Hecker. Selbst das Weinen ist wie auf Knopfdruck auf einmal versiegt. Es entsteht eine Stille, die sich wie eine unsichtbare Mauer um die Studentin aufbaut. Es ist Maren, die als Erste zu ihrer Sprache zurückfindet und diese Mauer zu durchbrechen versucht.

„Sie haben doch nichts ahnen können zu dem Zeitpunkt. Niemand hätte damit gerechnet, dass etwas Derartiges geschehen sein könnte.“ Doch Hecker scheint sie gar nicht zu hören. Sie sitzt zusammengekauert auf ihrem Stuhl, den Blick erneut auf ihre Sneaker gerichtet.

„Es tut mir leid, dass ich mich hier so aufführe. Ich hätte es wissen müssen“, meldet sie sich schließlich wieder zu Wort. „Aber ich habe so ein schlechtes Gewissen“, sagt sie mehr zu sich selbst als zu den Beamten. Sie flüstert es in den Raum hinein.

„Müssen Sie nicht. Nun sind wir ja hier, um Ihrer Freundin zu helfen. Das sollte Ihnen Auftrieb geben“, erklärt Maren und hofft, der Studentin damit auch wirklich ein wenig Auftrieb geben zu können. Ella Hecker aber sieht mit leerem Blick durch sie hindurch. Mit der einen Hand wischt sie sich eine Träne von der Wange. Mit der anderen kramt sie in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch.

„Erzählen Sie uns doch bitte, wie Sie Ihr Handy zurückgefunden haben“, fordert Maren sie vorsichtig auf. Insgeheim glaubt sie jedoch nicht, dass Hecker heute noch in der Lage sein wird, weitere Fragen zu beantworten. Doch die Studentin überrascht sie.

„Ich habe den ganzen Sonntag damit verbracht, wieder und wieder das Haus zu durchsuchen, bin mit meiner Mutter noch einmal den Weg abgegangen und habe dann beschlossen, am Montag ein neues Handy zu besorgen. Zuerst aber wollte ich Natascha in der Uni fragen, ob sie es vielleicht aus Versehen mit eingepackt hat. Wir haben montags um zwei dieselbe Vorlesung. Doch dazu ist es nicht mehr gekommen.“ Wieder bricht die Studentin kurz ab. Ihre Stimme droht sich zu überschlagen. Sie hält kurz inne und atmet tief durch, bevor sie fortfährt. „Nachdem ich am Montag aufgestanden bin, … ist … ist meine Mutter … mit meinem Handy in der Hand zu mir gekommen. ‚Das lag im Briefkasten‘, hat sie gesagt und war deswegen völlig entgeistert. Ich konnte es kaum glauben und war überglücklich, dass ich es wiederhatte. Dann habe ich versucht, es einzuschalten. Aber meine PIN stimmte nicht mehr. Ich hab es mehrfach probiert. Irgendwann ging gar nichts mehr. Da hab ich dann angefangen, mir Sorgen zu machen wegen meiner ganzen Daten und so. Zum Glück hatte ich das meiste in einer Cloud gespeichert, bin also zu meinem Computer und habe mich da eingeloggt. Es schien alles in Ordnung zu sein.“ Sie atmet tief durch. „Allmählich hat sich dann die Anspannung gelegt und ich war erleichtert – bis ich mir meine Bildergalerie angeschaut habe.“ Ella Hecker holt erneut tief Luft. Sie schnauft. Es wirkt, als ob sie die Fotos gerade in diesem Moment vor ihrem geistigen Auge noch einmal Revue passieren lassen würde. Ihre Ängste, der Schock stehen greifbar im Raum. Umso erstaunter ist Maren, dass Hecker die Kraft findet fortzufahren. „Sechs neue Fotos, die ich nicht kannte … die ich selbst nicht gemacht habe … und dieses Video … und auf einmal diese Großaufnahmen, die meisten unscharf, auf denen … weiße Haut zu sehen ist, eine Wade, ein Arm … mit Schrammen, Wunden, Blut, eine Hand mit … Dreck unter den Fingernägeln. Ein Messer!“ Wie ein Roboter zählt Ella Hecker all das auf, was ihr da auf den Bildern mit brachialer Gewalt entgegengeschlagen ist. „Und als ich wie ferngesteuert auf das Video geklickt habe, wäre ich fast ohnmächtig geworden. Nataschas Augen – sie so zu sehen! Zusammengebrochen bin ich, als ich die Leiche auf dem Boden gesehen … all das Blut … An mehr kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiß nur, dass meine Mutter sofort die Polizei und danach unseren Arzt angerufen hat. Der hat mir irgendwas zur Beruhigung gegeben. Danach habe ich fast 24 Stunden lang durchgeschlafen, bis jetzt sozusagen.“

Heckers Schultern sind vornübergebeugt. Ihre Augen verlieren sich kurz im Nichts. „Und wissen Sie was? Wissen Sie, was mich wirklich fertigmacht? Während wir hier sitzen, kämpft Natascha um ihr Leben und wir können ihr einfach nicht helfen. In diesem Moment geht sie durch die Hölle … und mir wird es bald ähnlich ergehen, fürchte ich jetzt. Denn derjenige, der ihr und dem anderen Mädchen das antut, hat mir schließlich heute Morgen mein Handy in den Briefkasten geworfen. Er weiß also, wer ich bin und wo ich wohne.“

Die Angst, die Ella Hecker hat, ist zu großen dunklen Wolken über ihr geworden. Mit krummem Rücken sitzt sie nun da und gibt den Beamten wortlos zu verstehen, dass sie kurz vor einem weiteren Zusammenbruch steht.

„Wir werden Ihre Freundin finden und Ihnen wird nichts passieren. Denn wenn er sie hätte töten wollen, hätte er das längst getan“, versucht Maren sie zu trösten.

Doch ihre Worte erreichen die Studentin nicht wirklich.

„Er hat bereits eine Frau getötet. Also warum sollte er sich scheuen, Natascha umzubringen und dann mich?“

Ihre Frage bleibt unbeantwortet im Raum stehen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

7

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Nachdem Ella Hecker das Präsidium verlassen hat, lehnt sich Maren auf ihrem Stuhl zurück. Sie greift wieder zum Stift auf dem Schreibtisch und kaut darauf herum.

„Was ist los?“, fragt Ben mit aufgesetztem Lächeln, das alsbald zu einer albernen Maske gefriert. Maren empfindet es als falsch. In solchen Momenten mag Maren ihn noch viel weniger als sonst.

„Nichts“, murmelt sie genervt, ohne den Kugelschreiber aus dem Mund zu nehmen. Ben hat für sie etwas Anbiederndes an sich, das Maren regelrecht abstößt.

„Nun sag schon, bitte! Immer wenn du an dem Stift nuckelst, gehen dir bestimmte Dinge durch den Kopf.“

Statt zu antworten, nimmt sich Maren Heckers Handy vor. Die Kollegen hatten es gleich sichergestellt, als sie gestern Morgen zu ihr gefahren waren. Ein Spezialist hatte es ziemlich schnell wieder zum Laufen gebracht. Die Kommissarin betrachtet es eine ganze Weile lang nachdenklich.

„Ich weiß nicht so recht. Aber mein Gefühl sagt mir, dass Ella Hecker uns etwas verschweigt. Hast du gehört, was sie vorhin gesagt hat? ‚Ich hätte es wissen müssen!‘“

Mit leicht geneigtem Haupt hört Ben ihr aufmerksam zu. Ihm ist dieser Satz natürlich nicht aufgefallen.

Während er noch überlegt, was Maren an Heckers Aussage stört, macht sie sich bereits daran, Ellas Handy genauer zu inspizieren. Sie wischt so lange übers Display, bis die Bildergalerie auftaucht. Sofort sind alle Fotos im Kleinformat zu sehen. Das Video und die letzten sechs Bilder tragen das Datum von Sonntag. Maren klickt zuerst die Fotos an. Das erste, auf dem nur weiße Haut zu erkennen ist, zoomt sie heran. Bei diesem Bildausschnitt ist schwer zu erkennen, um welchen Körperteil es sich handelt. Es kann genauso gut ein Bein sein wie ein Arm. Mitten auf der hellen Fläche zeichnen sich unscharf Schrammen, Wunden und ein winziger dunkler Fleck ab. Maren kann nicht bestimmen, was sie zu bedeuten haben. Auf dem zweiten und dritten Bild sind eine Wade und ein Arm deutlich auszumachen. Auf dem einen identifiziert sie blutende Schrammen. Auf dem anderen sind die Verletzungen kaum zuzuordnen. Das vierte und das fünfte Bild sind überbelichtet, als ob sie mit Blitzlicht fotografiert worden wäre. Auf dem einen ist eine Frauenhand mit langen Nägeln zu erkennen. Auf dem Handrücken befindet sich – soweit es jedenfalls die schlechte Aufnahme überhaupt zulässt zu vermuten – eine klaffende Wunde, groß wie ein Centstück. Das vorletzte Bild zeigt die Innenseite einer Hand. Die Finger sind nach innen geknickt, sodass man auf die stark verschmutzten Fingernägel sehen kann. Erst als Maren diese Aufnahme vergrößert, fällt ihr auf, dass der Nagel des Zeigefingers abgebrochen zu sein scheint. Nur das letzte Bild ist gestochen scharf. Darauf blitzt ein etwa 30 Zentimeter langes Brotmesser mit Wellenschliff und schwarz poliertem Kunststoffgriff auf. Ob die Fotos nun von der noch lebenden Frau oder von der Leiche sind, kann sie nicht beurteilen.

Nachdem Maren alle sechs Bilder der Reihe nach mit Sorgfalt betrachtet hat, klickt sie ein weiteres Mal auf das Video.                                                 Natascha Giertz

Jetzt, seit das Opfer einen Namen hat, scheinen Nataschas Augen Maren direkt anzuschauen; so jedenfalls kommt es ihr vor. Blutunterlaufen, angsterfüllt durchbohren sie ihre Blicke. Auch nach zehn Jahren im Dienst lassen sie solche Bilder nicht kalt.

Natascha Giertz, Studentin, 21 Jahre alt.

Maren stellt sie sich gerade vor, wie sie exakt in diesem Moment um ihr Leben bangt – wenn sie denn noch eins hat. Sie spielt das Video von vorne ab. Aufmerksam konzentriert sie sich

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 04.12.2023
ISBN: 978-3-7554-6272-9

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