Cover

Über dieses Buch:

 

In Dangast herrscht große Aufregung. Nach dem beliebten Osterfeuer mit vielen Teilnehmern werden in der Nacht darauf Zwillinge aus der Klinik Wattengold entführt. Eine sofortige und groß angelegte Suche bleibt ohne Ergebnis.

Die Kommissare Kim und Koller rufen eilig ihr Team zusammen, um die Kinder zu finden und die entsprechenden Hintergründe aufzuklären. Kims Nichte ist über Ostern zu Besuch und trägt unbewusst zur Klärung des Falles bei. Auch Kollers treuer Schäferhund Kobold kommt wieder zum Einsatz und dank seiner bewährten Spürnase fügen sich weitere Puzzlestücke zusammen. Bald darauf erkennt die Polizei, dass es sehr weitreichende Verbindungen ins Kinderhandel- und Drogenmilieu gibt, die von dem Aufklärungsteam wirklich das Äußerste abverlangen.

Eine wilde und so niemals erwartete Abfolge von Ereignissen beginnt.

 

Copyright: © Gitte Jurssen 2023 – publiziert von telegonos-publishing

www.telegonos.de

(Haftungsausschluss und Verlagsadresse auf der Website)

Covergestaltung: Kutscherdesign auf Grundlage einer Fotografie der Autorin

 

 

ISBN der Printversion: 978-3-946762-82-9

 

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Es handelt sich um eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

 

 

 

 

 

Tatort Dangast

 

 

Schmutzige Geschäfte

 

Gitte Jurssen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kriminalroman

 

 

telegonos-publishing

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Schmutzige Geschäfte

 

Die Sonne versank langsam am Horizont des Jadebusens und das Watt vor Dangast schimmerte geheimnisvoll wie dunkler Samt. Die Rinnsale, die die Tide noch nicht aus ihren Betten gezogen hatte, blitzten auf wie Spiegel, die der Dunkelheit trotzten. Der Anblick war fast unwirklich und auch wunderschön, aber er hatte keinen Sinn dafür. Sein Blick haftete an den Zwillingen, die am Rande des Watts mit ihren Plastikeimern, dick eingepackt, voller Eifer mit langstieligen Schaufeln Schlick in ihre bunten Eimer füllten. Es war recht kühl, aber das konnte ihrem emsigen Spieltrieb nichts anhaben. Sie waren fünf Jahre alt, so viel hatte sein Auftraggeber ihm verraten. Er seufzte angestrengt in sich hinein. Warum mussten es unbedingt diese Zwillinge sein? Meistens hieß es immer nur: Zwei Jungen, möglichst blond, nicht älter als fünf, nicht jünger als drei Jahre alt, oder so ähnlich. Bisher hatte er auch immer nur ein Kind besorgen müssen und er war sich noch nicht wirklich sicher, wie er das jetzt mit zwei so überaus quirligen Jungen bewerkstelligen sollte. Aber die Ferien gingen zu Ende und der Mittelsmann würde genau um Mitternacht an dem verabredeten Treffpunkt sein. Also musste es noch heute geschehen.

 

 

Kapitel 1

 

Mittwoch, 05.04.2023

Er hatte einen jungen Spielkreishelfer ausgekundschaftet, der vermutlich knapp bei Kasse war und sich in den Ferien etwas Geld dazuverdienen wollte. Er hatte ihm weisgemacht, er wäre der Vater der Jungen und wollte sie einfach nur mal von weitem sehen. Die Mutter hätte aber etwas dagegen und er würde sich auch definitiv nicht zu erkennen geben. Er hatte ihm ein reichliches Taschengeld in die Hand gedrückt und der Junge hatte ihn daraufhin etwas verlegen und irritiert angesehen. Oder war sogar schon Misstrauen in seinem Blick? Egal, er musste schließlich ein gewisses Risiko eingehen. So war es immer. Er hatte sich den ganzen Tag auf dem Parkplatz der Haut-Klinik Wattengold aufgehalten, um nach seinen Opfern Ausschau zu halten. Er hatte sein Glück kaum fassen können, als ihm schon am ersten Tag die Zwillinge über den Weg gelaufen waren. Am Aufnahmetag liefen die Ankömmlinge meistens wie aufgescheuchte Hühner umher, um sich zu orientieren. Einige Väter hatten es sich nicht nehmen lassen, ihre Familie zu bringen, und deshalb fiel es nicht weiter auf, als er sich zwischen diese mogelte und so das Gelände ungehindert in Augenschein nehmen konnte. Auf dem Spielplatz der Einrichtung entdeckte er dann den jungen Spielkreishelfer, der gerade den Platz säuberte und harkte. Er verwickelte ihn freundlich in ein Gespräch und erfuhr, dass dieser nur in den Osterferien hier arbeiten würde. Das kam ihm sehr entgegen, denn sobald der Helfer weg wäre, würde wahrscheinlich kein Hahn mehr nach diesem krähen. Vorsichtshalber hatte er sorgfältig sein Aussehen verändert, indem er sich einen Vollbart angeklebt, eine dicke Brille aufgesetzt und eine tief in die Stirn gezogene Mütze getragen hatte. Beim Blick in den Spiegel musste er schmunzeln; er erkannte sich fast selber nicht mehr. Der Junge sollte schließlich nichts weiter beitragen, als ihm mitzuteilen, wann die Zwillinge Ausflüge an den Strand unternehmen würden. Dazu hatte er ihm die Nummer seines Prepaid-Handys gegeben, das er beizeiten entsorgen würde. Genauso, wie er es nach Erledigung eines Auftrages immer handhabte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 2


Ostersonntag, 9. April 2023

Hauptkommissarin Christin Kim freute sich über den ersten längeren Besuch ihrer Nichte Rieke, die ihre Osterferien bei ihr verbringen sollte. Der Anlass war, dass Riekes Mutter, die Schwester von Christin, wegen eines Leistenbruchs in die Klinik eingeliefert werden musste und ihr geschiedener Ehemann auf eine bereits lange gebuchte Thailandreise nicht Verzichten wollte. Rieke war inzwischen zehn Jahre alt, ein aufgewecktes und fröhliches Mädchen.


Kim und ihre Schwester Karin besaßen eine Ferienwohnung in Dangast, die sie von ihrer Mutter geerbt hatten, nachdem diese vor neun Jahren gestorben war. Ihre Mutter war überglücklich gewesen, dass sie die Geburt ihrer Enkelin noch mitbekommen hatte. Oft hatte sie ihr Bedauern darüber geäußert, dass Kim kein Kind hatte und sich das wohl offensichtlich auch nicht ändern würde. Seit dem Tod ihrer Mutter vermieteten Kim und ihre Schwester die Wohnung an Feriengäste, aber zu Ostern trafen sie sich seither jedes Jahr dort im größeren Kreis, um gemeinsam das Fest zu verbringen. Dieses Jahr war es anders gekommen.

Am Ostersamstag hatten Kim, ihr Lebensgefährte Michael Kaper und Rieke, wie auch in den Jahren zuvor am Dangaster Osterfeuer teilgenommen. Weil es recht kalt und ungemütlich war, gingen sie schon recht frühzeitig in die Ferienwohnung, was Rieke zunächst gar nicht gefallen wollte. Nachdem sie anschließend aber Riekes Lieblingsspiel „Monopoly“ gespielt hatten, war sie wieder schnell versöhnt und lenkte das Gespräch geschickt auf den Dangaster „Osterwald“, den sie deshalb so getauft hatte, weil Kim und Michael regelmäßig in dem kleinen Geestwald vor dem Kurhaus Ostereier für sie versteckt hatten. Kim hatte etwas süffisant angemerkt, dass der Osterhase wohl eher jüngere Kinder im Sinn hätte, aber das schmunzelte Rieke mit einem gewieften Lächeln weg und erwiderte: „Wir können ja trotzdem mal schauen, ob da noch was zu holen ist“.

Michael und Kim hatten sich zwar etwas erstaunt und amüsiert angesehen, aber dann doch noch schnell ein paar Eier aus dem Schrank geholt, die Michael im Wäldchen versteckte, während Kim ihre Nichte geschickt ablenkte. Das Wetter war glücklicherweise umgeschlagen. Die Sonne schien jetzt wärmer und versöhnlich und hatte, genau wie das Kind, jetzt endlich mitgespielt. Rieke strahlte, nachdem der Osterkorb nach ausgiebiger Suche doch recht gefüllt war. „Seht ihr, ich hatte doch recht“, frohlockte sie. „Auch für Zehnjährige ist noch was drin“.

Nachdem sie jetzt fröhlich voraus gehüpft war, wäre sie beinahe mit einem Mann zusammengestoßen, der wohl hinter einem Baum gestanden hatte. Er drehte sich spontan weg und verschwand rasch und unerkannt im Gebüsch, ohne etwas zu sagen. Da Kim und Michael noch recht weit weg waren und sich angeregt unterhielten, hatten sie es nicht mitbekommen.

Sie hatten den Osterwald gerade verlassen, um einen Gang über den Flohmarkt an der Rennweide zu machen, als Kims Smartphone summte. Erstaunt sah sie auf dem Display, dass ihr Chef Meisner versuchte, sie trotz der Osterfeiertage zu erreichen.

„Hallo Chef! Frohe Ostern“, grüßte sie fröhlich, bevor er zu Wort kam.

„Von wegen frohe Ostern“, bellte er unwirsch. „Aus der Wattengold-Klinik sind Zwillinge verschwunden. Da ist nichts mehr mit Freizeit jetzt. Bitte fahren Sie sofort dort hin und kümmern sich. Die Bereitschaft und die Spusi sind schon vor Ort.“

Kim musste schlucken und war auf einen Schlag hoch konzentriert. „Okay, ich bin eh gerade in Dangast. Ich bin in zehn Minuten dort.“

Michael und Rieke sahen sie aus großen Augen an. „Wir wollten doch gleich ins Krankenhaus zu Mama“, jammerte Rieke.

„Tut mir wirklich leid. Aber aus der Wattengold-Klinik sind Zwillinge verschwunden, das kann und darf ich nicht ignorieren. Das werdet ihr einsehen. Ihr müsst ohne mich fahren.“ Sie gab noch ein paar Anweisungen, was sie ins Krankenhaus mitnehmen sollten und wo sie das finden würden, bevor sie sich verabschiedete. „Tut mir wirklich sehr leid“, erklärte sie noch einmal leise und drückte die schmollende Rieke kurz an sich.


Kapitel 3


Als Kim in der Klinik ankam, herrschte dort ein derart hektisches Treiben, wie es sonst wohl nur selten vorkam. Die Mütter und auch die Väter, die anlässlich des Osterfestes ihre Familien besuchen durften, liefen aufgeregt und desorientiert herum. Als sie sich als Hauptkommissarin Kim zu erkennen gab, stürmten etliche Fragen auf sie ein, die sie beim allerbesten Willen nicht beantworten konnte. Sie hob beschwichtigend die Hände und beschwor so souverän wie möglich: „Bitte meine Damen und Herren, lassen Sie mich doch zunächst einmal ein Bild von der Lage bekommen.“

Eine Mitarbeiterin der Klinik trat auf sie zu und schleuste sie durch die Menge in ein Büro, in dem sich wohl gerade, wie Kim vermutete, die Eltern der Zwillinge befanden. Zwei weitere Personen im Raum stellten sich als Klinikleiterin und als eine Psychologin vor. Als Kim sich ebenfalls vorstellte, sprang die Mutter der Vermissten vehement hoch und baute sich vor ihr auf.

„Sie müssen sie finden“, schrie sie hysterisch und griff mit ihren Händen nach Kims Oberarmen, weil sie ihre Fassung jetzt vollends verloren hatte. Ihr Mann stand sofort auf und zog sie behutsam auf den Stuhl zurück.

Die Psychologin ergriff ihre Hand und sprach beruhigend auf sie ein. „Bitte, Frau Degen, die Kommissarin wird tun, was immer sie kann.“ Dabei warf sie Kim einen aufmunternden Blick zu, der das Ganze trotz ihrer Professionalität an die Substanz ging. Sie setzte sich nahe zu den Eheleuten und sagte leise: „Bitte schildern Sie mir doch, was genau passiert ist.“

Erneut sprang die Mutter auf und empörte sich: „Was passiert ist? Meine Jungs sind verschwunden! Einfach weg! Sie sind einfach weg! Genau das ist passiert!“

„Bitte setzten Sie sich doch wieder, Frau Degen. Ich bitte Sie. Ich will Ihnen doch helfen“, insistierte Kim.

„Versprechen Sie mir zuerst, dass Sie sie finden werden.“

Kim atmete tief durch. „Ich kann Ihnen versprechen, dass ich alles mir Mögliche unternehmen werde, um sie zu Ihnen zurückzubringen. Aber erzählen Sie mir doch bitte zunächst, was Sie wissen.“

„Das können Sie nicht! Nicht wahr? Geben Sie es zu, Sie können es nicht versprechen! Geben Sie es wenigstens zu!“

Erneut versuchte die Psychologin, die Mutter zu besänftigen. „Ich würde Ihnen jetzt gerne eine Spritze zur Beruhigung geben. Sind Sie damit einverstanden?“

Kim fragte sich, warum das nicht schon längst geschehen war. Sie wandte sich jetzt an den Vater, der das alles mehr oder weniger teilnahmslos über sich ergehen ließ. Nach außen wirkte er sehr ruhig, was in dieser Situation eher ungewöhnlich war. Er sah starr auf den Tisch und begann dann zunächst etwas stockend.

„Wir waren beim Osterfeuer.“ Er sah zu Kim auf. „Mit wir meine ich alle, also quasi die ganze Klinik. Unsere Jungs sind sehr lebhaft und ich hatte alle Mühe, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Immer wieder versuchten sie, so nahe wie möglich an das Feuer zu gelangen.“ Er machte eine kleine Pause und sah erneut auf den Tisch, als ob er da eine Erklärung für alles finden würde.

„Ich hatte Bedenken, dass Lasse und Emil die Gefahr des Feuers unterschätzen und auch meine Frau war der Meinung, es sei besser zu gehen. Aber die anderen wollten nicht und so blieben wir zunächst auch noch. Es war schon dämmrig, als wir endlich aufbrachen. Mir war das eigentlich schon zu spät. Alle Väter brachten ihre Familien in ihre Unterkünfte in der Klinik. Auch ich tat das. Meine Familie wollte auch direkt zu Bett gehen. Sie war sichtlich müde und sie meinte, es sei gar nicht so einfach, die Jungen ohne mich zu bändigen. Ich musste darüber lächeln, weil ich mich sonst oft außen vor gefühlt habe.“

Herr Degen schmunzelte leicht in sich hinein. Wahrscheinlich hatte er in diesem Moment komplett vergessen, was geschehen war. Kim verstand das.

„Und wie ging es dann weiter?“, versuchte sie, ihn wieder behutsam auf die Spur bringend. Er sah sie aus großen Augen an. „Es ging leider eben nicht weiter. Ich habe mich verabschiedet und bin gegangen. Am nächsten Morgen rief meine Frau dann ganz außer sich an und erklärte, dass die Zwillinge verschwunden seien. Ich stutzte, wollte es zunächst auch gar nicht glauben. Ich versuchte, mehr aus ihr herauszubekommen. Das war aber in der Situation nicht möglich. So habe ich mich direkt wieder auf den Weg hierher gemacht. Glücklicherweise hatte ich mich in Varel im Friesenhof einquartiert, weil wir den ersten Ostertag noch zusammen verbringen wollten. Hier vor Ort hatte ich kein Zimmer mehr bekommen.“ Wieder machte er eine kleine Pause und sah auf den Tisch.

„Als ich ankam, hat die Klinikleiterin mir mitgeteilt, was geschehen war. Aber niemand hatte angeblich etwas gesehen oder bemerkt. Die Betten der Jungen seien morgens leer gewesen. Das war alles, was sie dazu beitragen konnte. Meine Frau war völlig in Panik und schrie immer wieder: 'Sie müssen doch irgendwo sein! Wir müssen sie sofort suchen!' Ein anwesender Mitarbeiter hat behauptet, sie hätten schon die ganze Klinik abgesucht, aber vergeblich. Meine Frau wollte das nicht akzeptieren und wiederholte immer wieder: 'Aber irgendwo müssen sie doch sein.' Leider hat sie sich geweigert, von der diensthabenden Ärztin, die hinzugekommen war, ein Beruhigungsmittel anzunehmen. Sie entschied, sie wolle bei klarem Verstand bleiben.“ Er sah vom Tisch auf und blickte in Kims Augen. „Mehr kann ich im Moment leider auch nicht dazu beitragen.“

Kim nickte empathisch. „Verstehe.“

Sie bat die Klinikleiterin um eine Liste der derzeitigen Patienten mit den entsprechenden Adressen. Außerdem forderte sie eine schnellstmögliche Verstärkung zur Vernehmung aller derzeit Anwesenden an. Niemand dürfe das Gelände ohne ihre Erlaubnis verlassen, erklärte sie. Das würde alles zwar vom Prozedere her sehr lange dauern, aber sie hielt es für die einzig richtige Entscheidung. Anschließend inspizierte sie das Zimmer der Familie Degen, in dem die Spurensicherung inzwischen mit ihrer Arbeit fertig war. Frieder Soltau, der Chef der Vareler Kriminaltechnischen Untersuchung war noch vor Ort. Er sah sichtlich mitgenommen aus, als er sich an Kim wandte: „Meine Enkel sind auch in dem Alter. Wer tut so was?“

Kim fragte, ob er irgendwelche konkreten Hinweise auf einen eventuellen Täter gefunden hätte. Er verneinte. Bis auf eine Menge verschiedener Fingerabdrücke hätte er leider nichts entdecken oder sichern können.

Kim sah sich im Raum um. Im Bett eines der beiden Kinder lag ein ehemals weißer Kuschelhase, der schon reichlich „abgeliebt“ aussah. Sie sah Frieder Soltau an. „War nur ein Hase hier?“, fragte sie.

„Ja, wahrscheinlich hat der Täter einen zweiten mitgenommen. Ich habe es auch schon bemerkt und mir direkt meine Gedanken dazu gemacht.“

„Wo lag der Hase, als Sie angekommen sind?“

„Er lag neben dem einen Kinderbett“, erklärte er. „Nach der Untersuchung habe ich ihn erst einmal ins Bett gelegt.“

„Möglicherweise hat der Täter ihn angefasst. Wir lassen ihn vorsorglich auf Spuren untersuchen. Hat außer Ihnen noch jemand anders den Hasen angefasst?“

„Nein, da bin ich mir ganz sicher.“ Er packte das Stofftier in eine Plastiktüte und nahm es an sich. Nachdem er gegangen war, klopfte Kim an die Türen der Nachbarzimmer, um die Bewohner zu befragen. Aber dort war niemand anwesend. Sie ging zur Rezeption, um sich die Namen geben zu lassen. Auch die anschließende Befragung ergab keine brauchbaren Erkenntnisse. Niemand hatte etwas gehört oder gesehen.



Kapitel 4


Dienstag, 11. April 2023

Die bisher vorherrschende fröhliche Osterstimmung hatte sich in Luft aufgelöst, als die Nachricht über das Verschwinden der Zwillinge das Kommissariat in Varel erreichte. So nach und nach trudelten alle wieder ein, um ihren Dienst aufzunehmen. Nach den Morden vor zwei Jahren war es glücklicherweise recht ruhig zugegangen, wenn man von der außerordentlich mühseligen Arbeit im Dezernat Wirtschaftskriminalität absah, in dem Hauptkommissar Jannek Koller sich mit diversen Drogenvergehen und einem üblen Clan mit miesen Geschäften abmühte. Er hatte sich seinen Kollegen Felix Henrich ins Boot geholt, weil der sich wegen seines zwar abgebrochenen Jurastudiums dennoch sehr gut in rechtlichen Angelegenheiten auskannte.

Felix blühte regelrecht auf, wenn er sich, umgeben von zahlreichen Gesetzbüchern und komplizierten Texten, die niemand so richtig verstand, einigelte. Nach der oft körperlichen Arbeit im Dezernat „Kapitalverbrechen“ machte es ihm mal wieder richtig viel Spaß, die liegen gebliebenen Fälle aufzuarbeiten und sich rein kopfgesteuert zu betätigen.

Koller hingegen machte das überhaupt keinen Spaß. Im Gegenteil. Er sehnte sich nach einer Arbeit, die ihn aus seinem tristen Büro herauslockte. Seine Beziehung zu Oberkommissarin Milla Fuchs, in die er nach wie vor unsterblich verliebt war, hatte sich zu seinem Leidwesen nicht verändert. Sie trafen sich zwar häufig auch privat oder trainierten mit dem Mantrailer Kobold, der Koller gehörte, aber Milla weigerte sich immer noch standhaft, zu ihm in sein Haus in Rallenbüschen einzuziehen. Da sie inzwischen sogar regelrecht wütend wurde, wenn er sie darauf ansprach, vermied er das Thema aktuell, so gut es ging. Er hoffte insgeheim weiter.

Ganz anders sah es bei Oberkommissar Andreas Bremer aus. Nach Kollers turbulenter Geburtstagsfeier im August vor zwei Jahren war es zu einer festen Beziehung zwischen Kollers Nachbarin Clara Gosche und Bremer gekommen. Es würde wohl nicht mehr lange dauern, bis die beiden zusammenziehen würden. Das wurmte Koller sehr, obwohl er es seinem Kollegen von Herzen gönnte. Aber es schmerzte ihn, dass die beiden ihm oft wie Turteltauben vor die Füße liefen und so überaus glücklich waren. Auch Claras Tochter Luana nervte das permanente Geschmuse der beiden zusehends. Umso öfter holte sie den Schäferhund Kobold aus seinem Zwinger, der es ihr immer mit hingebungsvoller Liebe dankte.

Beim ersten Briefing nach Ostern war allen mehr als nur klar, dass es sofort hochengagiert wieder losgehen musste. Die Listen der Patienten der Wattengold-Klink waren noch nicht vollends abgearbeitet.

„Zuerst konzentrieren wir uns auf die Aussagen der Personen, die direkt am Osterfeuer teilgenommen haben“, ordnete Kim energisch an. „Möglicherweise hat sich jemand inzwischen an etwas Ungewöhnliches erinnert. Zum Beispiel Personen, die sich auffällig verhalten, oder sich als nicht zugehörig entpuppt haben. Mittlerweile hatten ja alle Zeit, sich detailliertere Gedanken darüber zu machen, und wie ihr wisst, ist es ja schon häufig vorgekommen, dass erste Aussagen ergänzt werden.“

Sie schilderte dann, was sie von dem Vater der Zwillinge erfahren hatte. „Ihn müssen wir ganz besonders im Auge behalten.“ Alle wussten, warum. Bei den meisten Entführungen waren Angehörige involviert.

„So wie es bisher aussieht, sind die Zwillinge wahrscheinlich nachts aus ihrem Zimmer entführt worden. Die unmittelbaren Nachbarn habe ich selbst befragt. Leider haben sie weder etwas gehört noch gesehen“, konstatierte Kim und holte tief Luft, bevor sie fortfuhr.

„Die Zwillinge und ihre Eltern sind, jedenfalls wie es die meisten der bisher Angehörten ausgesagt haben, zusammen mit der Gruppe in die Klinik zurückgegangen.“ Kim sah in die Runde. Alle Kollegen klebten förmlich an ihren Lippen. Sie wirkten zutiefst betroffen und befürchteten wie sie selbst, dass es nicht bei der Entführung bleiben könnte.

„Es wird eine Weile dauern, bis die Fingerabdrücke des gesamten Klinikpersonals sowie aller Patienten und deren Angehörigen, die Ostersamstag vor Ort waren, abgenommen werden. Milla, du kümmerst dich bitte vorrangig um die Überprüfung und recherchierst im Internet, was du über die Personen an Details herausfinden kannst. Bremer kann das Vorstrafenregister übernehmen und ihr arbeitet bitte ab sofort eng synchronisiert zusammen. Die Schutzpolizei hat ja bereits einen großen Teil der Befragungen der Leute übernommen, die nicht mit beim Osterfeuer waren. Aber auch hier geht es vorrangig um die Überprüfung eventueller Vorstrafen und sonstiger Auffälligkeiten und darum, wo die Leute die Nacht verbracht haben. Ich habe schon heute früh mit unserem Chef gesprochen. Meisner hat sich gleich am Ostersonntag mit seinem Vorgesetzten in Wilhelmshaven in Verbindung gesetzt und wir haben für alle Maßnahmen unverzüglich grünes Licht bekommen.“

Kim blickte in die Runde. „Daraus können wir erkennen, wie ernst das Verschwinden der Zwillinge allerseits genommen wird. Unser absoluter Fokus muss jetzt sein, die Jungen so schnell wie möglich lebend zu finden. Die Techniker haben sich schon auf den Weg gemacht, um die Telefonüberwachung in der Klinik und bei dem Vater der Jungen zu organisieren. Ein Kollege aus Wilhelmshaven ist abgeordnet worden, um die Telefonüberwachung in der Klinik zu übernehmen, ein anderer wurde beim Vater positioniert. Wir haben definitiv nicht genug Leute für diesen Fall und können weitere Hilfe gut gebrauchen.“ Sie holte tief Luft, bevor sie weitersprach.

„Wenn wir Glück haben, meldet sich ein Entführer, um Lösegeld zu erpressen. Soweit ich allerdings bisher heraushören konnte, sind die Eheleute Degen nicht sehr wohlhabend. Daher ist eine Erpressung auch nur eine sehr vage und nur eine erste Vermutung. Milla, am besten du klemmst dich zu allererst mal dahinter und klärst die finanziellen Verhältnisse und Hintergründe der Eheleute Degen genauer, bevor du mit den Klinikbesuchern und dem Personal weitermachst.“

Milla sah sie mit großen Augen an: „Und was ist mit der Hundestaffel? Soll die etwa nicht eingesetzt werden?“

„Doch, aber das übernehmen diesmal die Wilhelmshavener. Das ist schon alles so abgesprochen. Wir brauchen dich unbedingt hier.“

Milla, die während des Vortrags immer nachdenklicher geworden war, schluckte mehrmals. Auch sie war zutiefst betroffen von dem Vorfall, hätte sich aber jetzt lieber um die Hundestaffel gekümmert. „Heißt das, Kobold bleibt außen vor?“

„Ja, es wäre sicher nicht gut, ihn einem anderen Hundeführer anzuvertrauen.“

„Das sehe ich allerdings auch so“, stimmte Milla zu. Sie wollte gerade noch etwas ergänzen, aber sie ließ es bleiben. Sie realisierte, dass Kim ihre Meinung jetzt nicht mehr ändern würde. Daher machten Bremer und sie sich nach Abschluss der Besprechung unverzüglich ans Werk, um ihre Recherchearbeit aufzunehmen.


Koller bat jetzt Kim, ihn in sein Büro zu begleiten. Sie sah seinen Blick und sie realisierte sofort, was ihn umtrieb. Aber was würde Meisner dazu sagen? Sie nickte ihm einvernehmlich zu. Nachdem sich jetzt alle an die Arbeit machten, suchte sie sofort Kollers Büro auf. Sein Arbeitsplatz sah mittlerweile wie ein Archiv mit Asservaten aus vergangenen Zeiten aus. Überall lagen aus dem Keller geholte Akten herum, dazwischen Gesetzbücher und wie Kim mit Blick auf einen Stapel Dokumente erkannte, eine ganze Reihe schriftlicher Urteile, in denen es aller Wahrscheinlichkeit nach um Bandenkriminalität und somit um Mitglieder des so akribisch verfolgten Drogenclans ging. Koller war schon seit Antritt in sein neues Dezernat intensiv damit beschäftigt und somit mehr als reichlich ausgelastet. Der Beginn der unendlichen Clan-Geschichte lag weit vor dem Einzug der Digitalisierung in den Kommissariaten.

Bevor Koller sein Anliegen überhaupt vortragen konnte, kam ihm Kim direkt zuvor:

„Du brauchst gar nichts zu sagen. Ich weiß schon, was du willst. Bei u n s mitmachen. Ist schon klar. Meine Genehmigung brauchst du nicht. Aber wenn ich das hier alles sehe … hast du Meisner schon gefragt?“

„Ich wollte zunächst einmal mit dir sprechen. Ich fürchte, Meisner wird mich direkt abwimmeln. Er weiß ja, wie tief ich in der Clan-Geschichte stecke. Du musst mir helfen, ihn zu überzeugen.“

Kim seufzte. „Wir brauchen ein wirklich stichhaltiges Argument“, erklärte sie und schaute ihn durchdringend an. „Hast du eins? Fällt dir da spontan etwas ein?“

Seine stahlblauen Augen drückten absolute Entschlossenheit aus. „Vielleicht reicht es, wenn Felix sich bereit erklärt, das Dezernat zu übernehmen. Er ist ja regelrecht versessen auf die Arbeit um den Clan. Das Chaos hier ist schließlich sein Werk.“

„Stimmt das wirklich? Er ist doch sonst immer so überaus akkurat. Das sieht gar nicht nach ihm aus.“

„Na ja, immerhin arbeite ich ja auch noch hier. Wir haben uns ständig wegen des Durcheinanders in der Wolle. Wir haben schon konkret überlegt, wie wir das Chaos hier besser in den Griff kriegen.“

„Okay, wenn das so ist?“

„Klar ist das so. Frag ihn gerne selbst. Ich glaube sogar, er wäre grundsätzlich besser für die Wirtschaftskriminalität geeignet als ich. Es geht dabei vorrangig um die Aufarbeitung vieler Versäumnisse und Lücken, für die er immer einen ganz besonderen Blick hat. Ich gebe gerne zu, dass ich ohne ihn nicht auf so viele Ungereimtheiten in den Fällen gestoßen wäre.“

„Na gut. Hast du ihn denn schon einmal direkt gefragt?“

„Nein, bisher noch nicht. Bisher waren auch noch keine Kinder verschwunden und wir hätten hier durchaus ganz gut zusammen weitermachen können.“

„Aber hast du daran gedacht, dass Felix selber Zwillinge hat und vielleicht gerade deshalb sehr motiviert ist, an dem Entführungsfall mitzuarbeiten?“

„Aber gerade darum ist es für ihn besser, sich nicht damit zu belasten oder womöglich sich selbst verrückt zu machen, nur weil er denkt, es hätten auch seine Jungen sein können.“

„Hm. Vielleicht hast du recht. Ruf‘ ihn doch an und bitte ihn, jetzt direkt herzukommen. Wir werden ihn ganz einfach fragen.“

Tatsächlich hatte Felix sich bereits Gedanken darüber gemacht, was wäre, wenn seiner Familie so etwas widerfahren wäre. Als Koller ihn jetzt fragte, ob er nicht das Dezernat Wirtschaftskriminalität übernehmen wolle, lehnte er deshalb auch spontan ab. „Ich will unbedingt dabei sein, wenn wir den Entführer schnappen.“

„Oder die Entführerin“, wand Kim ein. „Wir haben keinerlei Hinweise auf das oder die Geschlechter der Entführer.“

„Ist doch auch völlig egal. Wichtig ist, wir klären den Fall schnellstmöglich auf und finden die vermissten Kinder. Ich will da jedenfalls dabei sein.“

Koller sank in sich zusammen. „Klar, das verstehe ich schon“, erklärte er jetzt fast kleinlaut. „Dann muss ich wohl in den sauren Apfel beißen und mich in der Sache zurücknehmen.“

Felix blickte überrascht und zögerte jetzt. Ihm wurde immer bewusster, wie tief er bereits in der Clan-Geschichte involviert war und er wollte Koller jetzt auch nicht hängen lassen. „Ich werde noch mal darüber nachdenken“, erwiderte er, jetzt sichtlich angespannt.

Sofort leuchteten Kollers Augen hoffnungsvoll auf.

„Ich verspreche hier jetzt aber nichts“, reagierte Felix daraufhin unmissverständlich.

„Schon klar“, schluckte Koller. „Wann denkst du, dass du für dich Klarheit hast?“

„Morgen. Ich werde mit Esther darüber reden. Ihre Meinung ist mir immer sehr wichtig.“














Kapitel 5


Die Dinge fügten sich in seine Richtung. Der von ihm angesprochene Junge hielt Wort. Alle derzeitigen Bewohner, alles Gäste und annähernd auch das gesamte Personal der Klinik würden am Osterfeuer teilnehmen. Somit auch die Zwillinge. Sein maskenhaftes Gesicht entspannte sich nach dieser für ihn positiven Botschaft und eine hinterlistige Vorfreude machte sich bei ihm breit. Das war zwar insgeheim seine Hoffnung gewesen, aber dass alles jetzt wirklich so kommen sollte, erleichterte sein Vorhaben ungemein. Nachdem der Freitag sommerlich warm gewesen war, war das Wetter aktuell wieder gekippt und ein unangenehm kalter Wind zog jegliche Wärme aus seinem hageren Körper. Er zog den Reißverschluss seiner dünnen Nylonjacke hoch. Dass er so stark fror, lag aber nicht zuletzt daran, dass es schon eine Weile her war, dass er sich ein paar Benzodiazepin-Tabletten einverleibt hatte. Leider würde er erst heute Nacht, bei hoffentlich erfolgreicher Übergabe der Zwillinge, endlich den ersehnten Nachschub bekommen. Das war Teil seines Lohnes. Wenn es gut lief, zahlte sein Boss auch mal mit Heroin. Obwohl er wusste, dass diese Mischung gefährlich werden konnte, war seine Sucht mittlerweile soweit fortgeschritten, dass er von beiden Rauschmitteln nicht mehr lassen konnte. Nur bei Alkohol zog er mittlerweile konsequent die Reißleine. Diese Verbindung hatte ihm schon mehrfach komaähnliche Zustände beschert.

Beide Arme vor dem Körper verschränkt, stapfte er unruhig auf dem Weg zwischen dem hinteren Zugang zur Klinik und dem Deich hin und her, bis die Klinikgruppe endlich in Sicht kam. Um sein Vorhaben nicht zu gefährden, warf er nun seine vorerst letzten beiden Benzos ein. Sie würden ihn beruhigen, aber nicht mal ansatzweise außer Gefecht setzen. Schleunigst versteckte er sich jetzt hinter einer dicken Pappel, die in der Nähe des Weges stand. Das ganze Areal zwischen Klinik und Deich war in den letzten Jahren erneuert worden und er fand das nunmehr gänzlich renovierte Ensemble sehr gelungen. Er wohnte zwar in Oldenburg, aber das Kurhaus Dangast suchte er gerne und häufig auf. Auch die Entstehung des Nordseeparks hatte er verfolgt und wie die meisten Dangaster war er nicht begeistert davon. Der beschauliche Badeort hatte dadurch seinen anheimelnden Charakter fast gänzlich verloren.

Die langen Halme im Schilf wogten unruhig im Wind hin und her, während die Klinikgruppe gerade auf den Deich fokussiert war, den sie überqueren musste. Niemand achtete auf ihn. Er schloss sich der Gruppe an und beobachtete alles sehr genau, ohne dabei aufzufallen. Es war nicht schwer, die Zwillinge ausfindig zu machen. Sie tobten mit anderen Kindern um die Eltern herum. Einige Mitarbeiter der Klinik erkannte er daran, dass sie die Eltern ermahnten, ihre Kinder nicht aus den Augen zu lassen. Trotz des grauen Himmels und des kalten Windes wirkte die Stimmung sehr gelöst und geradezu beseelt von der Vorfreude auf das Osterfeuer. Wahrscheinlich freuten sich alle auf das bevorstehende Osterfest. Das würde er ihnen gründlich vermiesen. So viel war schon mal sicher.

Er positionierte sich so, dass er die Zwillinge permanent im Blick hatte. Der Vater schimpfte mehrmals mit den Jungen, was diese aber nicht weiter kümmerte. Die Eltern der Beiden berieten sich nun und er befürchtete schon, sie würden das Areal bereits verlassen, bevor das Feuer sich vollends entfalten konnte. Der schwarze Qualm wurde heftig vom Wind in Richtung Meer gedrückt. Das Feuerholz war nach langem Hin und Her ein Stück in Richtung Ufer verlegt worden, weil der Rauch sonst zwangsläufig den Campingplatz in Mitleidenschaft gezogen hätte, auf dem jetzt schon etliche Wohnwagen standen. Weil er sich schon den ganzen Nachmittag hier aufgehalten hatte, war ihm die überaus hitzige Diskussion zwischen Kurverwaltung und Gemeindemitgliedern nicht entgangen.

Nachdem die Eltern der Zwillinge sich mit einigen anderen Erwachsenen beraten hatten, blieben sie jetzt doch vor Ort und er musste aushalten, bis es beinahe dunkel war. Er konnte sich unerkannt unter die große Gruppe mischen. Sein Aussehen hatte er, wie schon am vergangenen Freitag, deutlich verändert. In der letzten Zeit hatte er sich etliche Requisiten besorgt, auf die er zugreifen konnte. Heute trug er eine schwarze Basecap, einen schwarzen großen Schnauzbart und eine überdimensionale Brille mit stark abgedunkelten Spiegelgläsern. Er hatte keine Mühe, das Quartier der Zwillinge und ihrer Mutter ausfindig zu machen. Der Vater verabschiedete sich gerade von seiner Familie, bevor sie ihr Appartement betraten. Seine Spannung stieg jetzt deutlich. Die Familie wohnte im Untergeschoss mit einer kleinen Terrasse, die von einer Hecke umrandet wurde. Ideal. Besser konnte es bis hierhin gar nicht laufen. Er wartete bis Mitternacht und kehrte dann zu seinem Zielort zurück.

Er hatte sich beim Beach Cruiser an der Edo-Wiemken-Straße einen großen Bollerwagen mit Gummirädern besorgt, den er neben der Hecke deponierte. Eigentlich hatte sein Kumpel Christian Reger ihm bei der Entführung helfen sollen, aber der arbeitete nicht nur bei diesem Fahrzeugverleih, sondern abends auch noch in einer Kneipe in Oldenburg. Sein dortiger Chef hatte ihm nicht freigeben und mit Entlassung gedroht, wenn er nicht erscheinen würde. Ostern könne er auf niemanden verzichten. Reger war dann auf die Idee mit dem Bollerwagen gekommen und er hatte diesen Vorschlag wohl oder übel aufgenommen und in die Tat umgesetzt.

Der Wind war jetzt unangenehm stark geworden und es fühlte sich an, als würde sich jede Faser seines Körpers in Eis verwandeln und ihn zur Eile drängen. Die Sterne hatten sich über den Wolken versteckt, die wie gehetzte Schafe durch den Himmel jagten. Der Vorteil war, dass sich bei diesem Wetter wirklich keine Menschenseele nach draußen wagte. Das ganze Areal der Klinik schien in einem Tiefschlaf versunken zu sein.

Es gelang ihm ohne jegliche Mühe, die Hecke zu überwinden, da diese nur knapp hüfthoch war. Jetzt aber kam der schwierigere Teil. Terrassentüren aufzuhebeln war mindestens doppelt so schwer wie Fenster. Das würde er aber wohl hinbekommen. Doch die Jungen mussten hindurch getragen werden und das könnte Probleme bereiten. Er versuchte jetzt, mit einem Klemmeisen die Tür zu bezwingen. Tatsächlich gelang es ihm nach mehreren Versuchen, diese beinahe geräuschlos zu öffnen. Er zwang sich zur Ruhe und sammelte sich, bevor er ins Zimmer trat. Wegen des starken Windes drückte die Tür jetzt nach innen und ließ sich nicht mehr richtig schließen. Er nahm den Stuhl, der vor dem kleinen Schreibtisch stand und arretierte so die Tür. Beinahe wäre der Stuhl unmittelbar weggedrückt worden, weil er vom Gewicht her viel zu leicht war. Es dauerte jetzt eine ganze Weile, bis er die Lehne des Stuhls so unter dem Griff der Terrassentür verkanten konnte, dass diese nicht mehr aufgehen konnte. Das dauerte jetzt aber alles viel zu lange und er befürchtete schon die ganze Zeit, die Mutter oder die Zwillinge könnten wach werden. Trotz der Kälte lief ihm mittlerweile vor Anspannung der Schweiß in die Augen. Die Wirkung der Benzos hatte vollends nachgelassen und er wurde jetzt immer unruhiger. Er zwang sich zur Ruhe und griff in die Innentasche seiner Jacke, in der er eine kleine Flasche mit Chloroform bereithielt. Er tränkte ein Tuch und schlich vorsichtig zu den Betten der Jungen. Er sammelte sich erneut, hielt inne und drückte dann den Zwillingen je ein Tuch so lange vor die Nase, bis er sich sicher sein konnte, dass sie nicht mehr so leicht wach wurden. Aus Richtung der Mutter war leises Schnarchen zu vernehmen und sein ursprünglicher Plan war sogar, sie nicht zu betäuben. Aber der Wind machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Wenn er die Tür wieder öffnete, wäre es unmöglich, die Kinder geräuschlos bis zum Bollerwagen zu tragen. So wartete er zunächst, bis das Chloroform nach entsprechender Behandlung auch bei der Mutter wirkte. Nacheinander trug er jetzt die Zwillinge zum Bollerwagen, legte sie umsichtig hinein und deckte sie mit einer mitgebrachten

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Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 29.11.2023
ISBN: 978-3-7554-6238-5

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