Cover

Über dieses Buch:

Über dieses Buch:

Als an einem regnerischen, kalten Frühlingstag auf den Bahngleisen der AKN-Strecke Norderstedt-Neumünster ein männlicher Torso gefunden wird, ist Kriminalhauptkommissar Björn Kaczmarek sich sicher, dass es sich um einen Suizid handelt.

Kommissaranwärterin Chantal Biglinski kniet sich tief in ihren ersten Fall hinein – zu tief für seinen Geschmack.

Nach vielen Stunden und Tagen intensiver Ermittlungsarbeit verschwindet seine Partnerin. Und er ahnt, dass sie dem Täter verdammt nahe gekommen ist. Wie nahe, ahnt er allerdings nicht.

 

«Tatort Norderstedt» aus der Reihe: Kaczmarek ermittelt

Copyright © 2023 Anja Gust

publiziert von telegonos-publishing

Covergestaltung: Kutscherdesign

www.telegonos.de (Haftungsausschluss und Verlagsadresse auf der Website) Kontakt zur Autorin:

https://www.telegonos.de/aboutAnjaGust.htm

 

 

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Der Roman spielt in allseits bekannten Stätten, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

 

ISBN der Printversion: 978-3-946762-74-4

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind abrufbar über http://dnb.d-nb.de

Erklärung

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Erklärung

 

Aufgrund einer gewissen Befangenheit sehe ich mich gezwungen, den nachfolgenden Zeilen etwas voranzustellen. Aber wenn man wie ich als Prozessbeobachter Zeuge einer Sache geworden ist, die so ungeheuerlich erscheint, dass man sie kaum glauben wird, komme ich um diese Erklärung nicht umhin. Dabei hat man mich im Vorfeld bereits gewarnt, ja mir sogar gedroht, sollte ich es wagen, so etwas öffentlich zu machen. Doch ich werde nicht vor Leuten einknicken, die keine Skrupel haben, so etwas unter den Teppich zu kehren – ungeachtet aller Konsequenzen.

Selbst wenn ich kein Schriftsteller bin, wird mich das nicht davon abhalten zu sagen, was gesagt werden muss und das in aller Deutlichkeit. Wenn ich also dafür Frau Gusts Hilfe in Anspruch nehme, meine Gedanken so niederzuschreiben, wie ich sie empfunden habe, geschieht dies aus der Überzeugung heraus, dass sie es kann. Ich kann es leider nicht.

Ein besorgter Zeitzeuge, der nunmehr alles Weitere in die Hände der Autorin legt.

 

 

 

 

 

»Die Wahrheit ist selten rein und niemals einfach.«

 

Oscar Wilde

 

 

Personenregister und Glossar mit Abkürzungen am Ende des Buches

 

Kapitel 1

Kapitel 1

Montag, 5. April 2023, 3.17 Uhr

 

„Habe ich richtig gehört? Chantal Biglinski? Passt ja wie der Sattel zur Kuh!“ Verwundert musterte Hauptkommissar Björn Kaczmarek die ihm zum Schichtbeginn zugeteilte Kriminalkommissaranwärterin.

„Sorry, aber das habe ich mir nicht ausgesucht“, antwortete sie, ohne ihn anzusehen. Für solche Scherze hatte sie im Moment keinen Nerv. Viel zu sehr war sie mit diesem Fall beschäftigt, der so unübersichtlich war, dass sie gar nicht wusste, wo sie anfangen sollte. Nicht genug, dass sie bereits seit zwei Uhr morgens bei Dauerregen in einem Gleisbett stand und sich an einer Tatortskizze versuchte. Jetzt kam ihr Teamführer auch noch mit solchen Sprüchen.

„Hat was von einem Catwalk-Model oder einer Fashiondesignerin.“ Der Hauptkommissar konnte seinen stichelnden Unterton nicht verbergen, während sie mit der Handlampe die Gegend ableuchtete, dabei mit schmerzlicher Anspannung jedes Detail betrachtete, aus Furcht, etwas zu übersehen. „Klingt in jedem Fall besser als Kaczmarek oder Katze, wie man mich überall nennt. Doch das musst du dir erst verdienen. Mal sehen, welcher ‚Spitzname‘ zu dir passt. Bei uns hast du den schneller weg, als du denkst.“

Auch wenn dieses sinnlose Gelaber, irgendwo zwischen plumper Originalität und dümmlicher Anmache, an ihr abperlte, nervte es. Zweifellos hatte er von sich eine höhere Meinung als angebracht. Und wäre nicht dieser ständige Sarkasmus gewesen, hätte man ihn glatt mögen können. Rein optisch war dieser Mittdreißiger mit seinem kurzgeraspelten, grau melierten Haar und dem Seehundbärtchen eine durchaus interessante Erscheinung. So jedoch blieb er der klassische Stiesel, den sie liebend gern gegen ein bequemeres Modell eingetauscht hätte. Dabei hatte sie sich ihre erste Nachtschicht im Kriminaldauerdienst anders vorgestellt, mit ein paar Vernehmungen oder interessanten Recherchen zum Beispiel. Allerdings kam kurz vor Mitternacht der Anruf von der Leitstelle mit einer unmissverständlichen Weisung. Seither befanden sie sich mit einem Dutzend Schutzpolizisten im Dauereinsatz. Und das auf einer freien, zugigen Bahnstrecke zwischen Haslohfurth und Meeschensee, wo ein schneidend kalter Nordwind ständig neue Regenschwaden herantrug.

Nachdem ein Signalmechaniker einen menschlichen Torso im Gleisbett entdeckt hatte, wurde unverzüglich eine Streckensperrung veranlasst. Eine erste Besichtigung ergab, dass der linke Arm und Teile des rechten Fußes samt den dazugehörigen Kleidungsstücken abgetrennt waren. Demnach wurde der Leichnam ein Stück mitgeschleift und verdreht. Um eine exakte Rekonstruktion unter Ausschluss von Fremdeinwirkung ermöglichen zu können, mussten jedoch sämtliche Teile gefunden werden. Obwohl die Gleisstrecke im Fundbereich mehrfach durch Kräfte der Schutzpolizei abgegangen wurde, hatte das bisher – außer dem Fund einer Uhr und eines Schlüsselbundes – noch kein Ergebnis gebracht. Das trug nicht unbedingt zur Verbesserung der Stimmung bei.

„Nun mach schon! Halte die Handlampe etwas höher, am besten über den Kopf. Ich kann keine Schatten gebrauchen!“, ranzte ihr Teamführer sie an. „Schließlich kommt es auf jedes Detail an. Was wir jetzt übersehen, könnte uns später auf die Füße fallen!“

„Besser so?“ Wiederholt starrte die junge Kriminalkommissaranwärterin oder KKA’in, wie es im Fachterminus hieß, auf den zerrissenen Leichnam. Ihre bisherigen Toten – drei an der Zahl – hatte man aus Autowracks geborgen, gesäubert und geordnet auf einen Seziertisch gelegt. Jetzt aber war das anders. Neben Kälte, Dreck und Feuchtigkeit störte sie vor allem der ewig nörgelnde Teamführer.

„Nein, nein. So geht das nicht! Ach, gib her.“ Bevor sie sich’s versah, hatte er ihr die Lampe abgenommen.

„Vielleicht kam es in der Zwischenzeit zu Tierfraß?“, gab sie zu bedenken und trat rasch einen Schritt zur Seite, um nicht umgestoßen zu werden.

„Komm mir jetzt bloß nicht mit einem Problemwolf“, hielt er ihr entgegen. „Das können wir nun wirklich niemandem anbieten. Obendrein wäre das aufgrund der Kürze der Zeit mehr als unwahrscheinlich.“ Weiterhin betrachtete Kaczmarek den Fundort in der Hoffnung auf ein verräterisches Indiz, einen Situationsfehler oder sonstigen Hinweis.

Bisher war zur Person des Toten nichts weiter bekannt, außer, dass es sich um einen Mann mittleren Alters handelte, geschätzte achtzig Kilo schwer und von mitteleuropäischem Phänotypus. Chantal war klar, was jetzt folgen würde. Selbst wenn sie drei Paar Handschuhe und einen Mundschutz tragen würde – das Berühren eines Leichnams kostete sie jedes Mal Überwindung. Und doch blieb ihr keine Wahl. Also tastete sie den Torso – oder besser gesagt, das was davon übrig geblieben war – von oben nach unten und von rechts nach links ab, während der Hauptkommissar ihr leuchtete.

Mit bebender Stimme präsentierte sie ihre Feststellungen schulmäßig nach den erforderlichen Kriterien: „Kopf- und Nasengerüst fest, Bindehäute klar und frei von Unterblutungen. Der linke Arm wurde unterhalb der Armbeuge glatt abgetrennt, hingegen einige Teile des rechten Fußes herausgeschält wurden. Für Letzteres scheint stumpfe Gewalt ursächlich, was jedoch nur in Verbindung mit den fehlenden Teilen abschließend verifiziert werden kann. Weiterhin ist die Torsion der unteren Extremitäten auffällig. Die Kleidung ist lagegerecht verschmutzt und mehrfach beschädigt. Der Körper selbst fühlt sich kalt an, ist situationsbedingt verschmutzt und weist eine ausgeprägte Starre besonders im Kieferbereich aus. Die Haut ist bleich und im Lippenbereich bläulich unterlaufen.“

Prüfend sah Kaczmarek sie an. „Und was sagt uns das?“

„Dass der Tod unter Berücksichtigung von Temperatur und Witterung vermutlich vor etwa drei bis vier Stunden eingetreten sein muss. Zweifellos wurde der Körper eine gewisse Strecke mitgeschleift. Offenbar ist es dabei zu den beschriebenen Deformationen und Verletzungen gekommen. Selbst wenn es einen vermeintlichen –“

„Mutmaßlichen.“

Chantal schaute kurz auf und rückte ihre Brille zurecht.

„Wenn sich aufgrund bestimmter Indizien herausstellt, dass es sich bei einem Festgenommenen aller Voraussicht nach um den Täter handelt, wäre ‚mutmaßlich‘ treffender“, stellte Kaczmarek nochmals klar, ohne das weiter zu erläutern.

Korinthenkacker, dachte sie und spürte das Adrenalin in sich aufsteigen.

„Was ist mit Hämatomen?“

„Soll das ‘n Witz sein? Der komplette Torso ist ein einziges Hämatom“, entfuhr es ihr spontan. „Nun ja, zumindest könnte man das angesichts dieser Verletzungen annehmen“, schwächte sie ab, nachdem sie sein tiefes Durchatmen bemerkt hatte.

„Irgendwelche anderen Auffälligkeiten wie Stichwunden, Schussverletzungen?“

„Nein. Aber dieser Mann muss starker Raucher gewesen sein. Die dunkelgelben Verfärbungen an seinem rechten Zeige- und Mittelfinger deuten darauf hin.“

„Also Rechtshänder“, kombinierte der Hauptkommissar. „Und einer, der sich seine Kippen selbst stopft.“

„Klingt logisch.“ Sie lächelte matt.

„Ist es auch.“

„Wir sollten die Fingerabdrücke an die KTU weiterleiten“, versuchte Chantal abermals etwas beizutragen.

„Zuerst müssen wir die fehlenden Teile finden“, wies Kaczmarek sie zurecht. „Keinesfalls lasse ich mir später vorwerfen, den zweiten Schritt vor dem ersten getan zu haben. Wir brauchen eine nachvollziehbare, lückenlose Kausalkette oder OFA für operative Fallanalyse, wie es in der Fachliteratur heißt. Nur falls du mal damit glänzen willst. Und das möchtest du doch, oder? … So, und weiter im Text. Was denkst du? Lebte die Person noch, als sie vom Zug erfasst wurde?“

Sie ruckte an ihrem Schal, den sie sich zum Schutz gegen den Wind um den Hals geknotet hatte. „Schwer zu sagen. Dazu wäre eine Blutuntersuchung nötig. Möglicherweise stand er unter Drogen. Eventuell K.-o.-Tropfen oder –“

„Keine voreiligen Schlüsse, Frau Kollegin. Wie wär’s mit ‘ner Rachenschau?“

„Rachenschau? Davon habe ich ja noch nie gehört!“ Ihr Herz pochte wie wild angesichts einer solchen Vorstellung.

„Es könnte zu einer Lungenkontusion mit nachfolgender Insuffizienz gekommen sein. Also eine Lungenquetschung mit Atemstillstand und hellrotem Schaum im Rachen, als Zeichen arteriellen Blutes“, dozierte er eifrig. „Das wäre ein eindeutiges Indiz für einen noch funktionierenden Kreislauf kurz vor dem Erfassen durch den Zug. Wir sollten das überprüfen … Schau mal … Man kann den Mund trotz Starre mit einem Druck auf das Kiefergelenk öffnen. Sooo … und nun leuchte hinein und sag mir, was du siehst.“

„Ni-nichts … I-ich meine nichts Verdächtiges, außer einem Zahnstand, der an einen Steinbruch erinnert. Es muss sich um einen Menschen handeln, der wenig Sinn für Körperpflege hatte.“

„Möglich. Genauso gut könnte es sich um einen verprellten Verliebten, einen überschuldeten Spieler oder einen Sterbenskranken handeln, der vom Schicksal in den Wahnsinn getrieben wurde … Was ist? Du bist ja ganz blass um die Nase.“

Mit einem Mal fühlte Chantal sich mehr oder weniger veralbert.

„Tut mir leid. Aber kann es sein, dass du mich auf den Arm nimmst?“

„Bingo.“ Er beobachtete schmunzelnd, wie sie vor Ärger errötete. „War in der Tat nur ein Gag. Deine Vorgängerinnen haben übrigens länger dafür gebraucht. Eine hat es gar nicht geblickt … Im Fall eines ‚Überrollens‘ wäre ohnehin jeder Blutkreislauf abrupt unterbrochen worden, sodass es keinesfalls zu den beschriebenen Folgen einer Lungenkontusion gekommen wäre.“

Chantals Miene verfinsterte sich. „Machst du so was öfter?“

„Nur ein Test, ob du einen empfindlichen Magen hast“, spöttelte Kaczmarek selbstgefällig. „Das wird hier mit jedem Neuen gemacht, als eine Art Ritterschlag.“

„Und – habe ich bestanden?“

„Das werden wir noch sehen“, entgegnete er knapp. „Auch wenn wir jetzt lediglich eine erste Bestandsaufnahme machen, muss diese trotz allem stichhaltig sein. Dabei ist einzig und allein entscheidend, ob sich der Mann freiwillig auf die Gleise gelegt hat oder nicht. Dementsprechend müssen wir zu einem Urteil kommen, das selbst im Fall eines Irrtums beim jetzigen Erkenntnisstand jeder Anfechtung standhält. Natürlich steht es uns frei, die Mordkommission hinzuzuziehen. Doch wird das schnell als Entscheidungsschwäche gewertet.“ Er machte eine kurze Pause und sah sie eindringlich an, bevor er weitersprach. „Also ein No-Go für alle, die mal ein kleiner Sherlock Holmes werden wollen.“

Sichtlich erregt trat einer der Streckenposten hinzu und teilte mit, dass man unweit des Gleises einen unverschlossenen Pkw aufgefunden habe, der mit der Sache im Zusammenhang stehen könnte. Unverzüglich ließ Kaczmarek alles stehen und liegen und eilte dorthin. Chantal hatte Mühe, Schritt zu halten.

„Fantastisch. Es gibt doch noch etwas wie Gerechtigkeit“, jubelte der Hauptkommissar, als er den Kleinwagen auf einem unbefestigten Weg unter dem Surren einer Hochspannungsleitung vorfand. Die Fahrertür stand offen, die Vorderräder waren stark nach links eingeschlagen, zudem war das Standlicht eingeschaltet. Selbst der Zündschlüssel steckte und der Motor war noch nicht vollständig erkaltet. Kaczmarek konnte sein Glück kaum fassen und schüttelte dem vor Ort zuständigen Schupo freudig die Hand.

„Gut gemacht, Kollege. Habe gute Kontakte zur Pressestelle. Ich werde mich dafür stark machen, dass dein Einsatz im ›Nordpol‹ entsprechend gewürdigt wird … Was is ‘n das für ‘n Hustendrops auf Rädern?“ Abfällig nahm Kaczmarek den Wagen in Augenschein.

„Ein Fiat Cinquecento.“

„Ein was?“

„Ein Cin-que-cen-to!“, wiederholte der Schupo gedehnt. „Ich denke Baujahr 96.“

„Und so was fährt noch? Wie ich sehe mit Segeberger Kennzeichen. Na, da hat der TÜV sicherlich alle Augen zugedrückt, hahaha.“

„Laut Abfrage bei der Zulassungsstelle und dem Landeseinwohneramt handelt es sich bei dem Halter um einen gewissen Horst-Oliver Sanddorn“, ergänzte der Schupo.

„Und?“, erkundigte Katze sich. „Haben wir schon ein Bild?“

„Ist angefordert.“

„Sind Einträge bekannt?“

„Ein paar kleine Diebstähle und eine Körperverletzung, ausgesetzt auf Bewährung“, antwortete der Schupo. „Sonst nichts.“

„Na ja, wenn das unser Mann ist, wäre das schon mal die halbe Miete …“ Gut gelaunt wandte sich der Hauptkommissar an Chantal und nannte das ‚Ermittlerglück‘. Man dürfe jetzt aber nicht leichtfertig werden, ließ allerdings offen, was er damit meinte.

Nachdem das Fahrzeug vermessen und fotodokumentiert war, erfolgte eine erste Durchsicht. Während Kaczmarek die Fahrerseite übernahm, durchsuchte Chantal die andere Seite. Beim Öffnen des Handschuhfachs fiel ihr ein hastig reingestopft wirkendes Blatt Papier auf. Als sie es geglättet und die ersten Zeilen überflogen hatte, konnte sie ihr Glück kaum fassen. „Hier. Ich hab‘ da was“, rief sie Kaczmarek zu, der noch immer im linken Seitenfach herumkramte. Sie reichte ihm das Stück Papier. Kurz nachdem er einen Blick darauf geworfen hatte, jubelte er: „Jackpot! Der Fall ist mit sofortiger Wirkung als ‚nichtdeliktisch‘ einzustufen. Jetzt geht uns das alles nichts mehr an.“ Dann las er die nachfolgenden, mit zitternder Hand verfassten Zeilen laut vor:

Tja, so ist das nun mal, wenn man ausgespielt hat. Mein Unternehmen ist futsch, über zwei Mille Miese, dazu die Abschreibungen an Kröte und nun noch dieser miese Wolf von Osten. Nach Strich und Faden hat dieser Drecksack mich reingelegt. Von wegen Klausel, die jeden Anspruch auf Rückforderung verweigert. Nichts als Betrug! Ich hab die Schnauze gestrichen voll. Ich kann … Ich will nicht mehr. Leb wohl, du beschissene Welt. Wenigstens muss ich jetzt nicht mehr jeden Tag kotzen! Olli

Kapitel 2

Kapitel 2

8.21 Uhr

 

„Na bitte. Jetzt sieht alles schon viel freundlicher aus“, resümierte Kaczmarek zufrieden und wies Chantal an, entsprechende Anträge für daktyloskopische und grafologische Untersuchungen zu stellen.

Verwundert sah sie ihn an. „Und was ist mit den fehlenden Körperteilen?“

„Tierfraß, was sonst?“ Lapidar zuckte der Hauptkommissar mit den Achseln. „Soll ja vorkommen …“

„Doch kein Blödsinn?“

„Nun sei nicht gleich eingeschnappt! Ein guter Ermittler muss auch mal seine Meinung revidieren können. Im Übrigen solltest du nicht alles so verbissen sehen, gerade wo wir dabei sind, ein schlagkräftiges Team zu werden.“ Verschmitzt zwinkerte er ihr zu.

Nachdem der Leichnam geborgen und das Fahrzeug der Kriminaltechnik überstellt worden war, gab man die Strecke wieder frei. Mit kurzem Nicken verabschiedete Katze sich von den Kollegen und begab sich mit Chantal zum Wagen. Während sie auf der Beifahrerseite einstieg, zog er sein Handy aus der Tasche und tippte sein Passwort ‚Katze 1‘ ein. Er hatte es gern eindeutig. Mit wenigen Worten gab er einen Lagebericht an die Leitstelle durch. Dann steckte er sich eine Zigarette an, zog ein paarmal tief durch und trat die Kippe wieder aus. Nur wenig später quetschte er sich hinters Lenkrad. Die Tür schmatzte satt ins Schloss. Beim Starten des Motors verirrte sich sein Blick auf den Beifahrersitz. Statt im Vorfeld die eine oder andere Information über seine neue Kollegin weiterzugeben, hatte man lediglich ein ‚kleines Mauerblümchen vom Revier 24‘ angekündigt. Dabei war die Kriminalkommissaranwärterin gar nicht so klein – und unscheinbar schon gar nicht. Im Gegenteil. Mit ihrem leicht rötlichen, schulterlangen Haar wirkte die Mitte Zwanzigjährige ungemein attraktiv. Dazu trugen ihre vollen, geschwungenen Lippen und die auffallend große Brille maßgelblich bei. Hinzu kam, dass sie durch ihre hochbeinige Erscheinung eine gewisse feminine Kühle ausstrahlte, was ihr etwas weit Ernsteres verlieh, als man ihr im ersten Moment zutraute. Doch egal wie man es auch drehte, irgendwie hatte sie etwas an sich, das ihn gleichermaßen verstörte wie faszinierte – eine Mischung, die er für gewöhnlich gar nicht so gerne mochte. Am meisten allerdings verwunderte ihn, wie sie es fertiggebracht hatte, nach so kurzer Zeit in die kriminalpolizeiliche Sofortbearbeitung wechseln zu können.

Kaum hatte Katze sich auf der Bundesstraße in den fließenden Verkehr eingefädelt – mittlerweile hatte es zu regnen angefangen –, erklärte er seiner neuen Partnerin, noch jemanden in der Nähe des Herold-Centers ‚einsammeln‘ zu müssen. Da er während der Fahrt keine nähere Erklärung dazu gab und zudem wie der Teufel fuhr, fragte Chantal nicht weiter nach. Sie hatte ohnehin Mühe, ihre Müdigkeit zu unterdrücken – mittlerweile war sie vierzehn Stunden im Dienst. Ihre Augen brannten, ihr Kopf schmerzte und sie fühlte sich völlig zerschlagen. Nichts wünschte sie sich jetzt sehnlicher als ihr Bett und eine Tasse heißen Ingwertee. Nach der ersten Tasse hatte sie immer das Gefühl, dass ihr die Welt nichts anhaben könne. Sie lockerte ihren Schal und gähnte verhalten.

„Wie gesagt, aber ich wiederhole mich jederzeit gerne “, riss Kaczmarek sie aus dem Halbschlaf, worauf sich ihre Haltung peinlich berührt straffte, „unser Seelsorger ist ein alter Fuchs. Nicht nur, dass er ein ausgezeichneter Rhetoriker ist, sondern auch ein einfühlsamer Psychologe. Wie er das macht, ist mir schleierhaft … Einer Frau zu verklickern, dass sie von nun an Witwe ist … Also ich könnte das nicht. Für uns hingegen ist allein die Sache entscheidend. Nur nichts an sich rankommen lassen. Dafür haben wir keine Zeit. Das Wichtigste sind die ersten Momente. Sobald der Angehörige den Grund unseres Erscheinens realisiert hat, macht er erfahrungsgemäß dicht. Deshalb müssen wir alle wesentlichen Daten möglichst schnell erfassen.“

„Und wo bleibt da das Mitgefühl?“

„Dafür haben wir den Pastor“, entgegnete er, sich dabei über den morgendlichen Stau auf der Ulzburger Straße ärgernd. „Unsere Aufgabe beschränkt sich in erster Linie auf die Ermittlungen. In der Anfangszeit sind Zweifel an dieser Arbeitsteilung normal. Wenn du das aber erst ein paar Mal mitgemacht hast, wird sich das schnell geben.“

Nach zehn Minuten hatten beide den Kreisel an der Ochsenzoller Straße / Ecke Tannenhofstraße erreicht, wo der Pastor bereits in einer Parkbucht wartete. Von hier aus war es nicht mehr weit bis zur Ohechaussee, der polizeilichen Meldeadresse des Fahrzeughalters.

„Darf ich vorstellen, Monsignore? KKA’in Biglinski, eine in der Ausbildung befindliche, aber sehr talentierte Praktikantin“, überfiel er den Geistlichen, kaum dass er eingestiegen war.

„Lassen Sie sich nicht täuschen, junge Frau“, entgegnete der Seelsorger in aller Friedfertigkeit und gab Chantal die Hand. „Pastor Hochstetten.“ Er zwinkerte ihr zu. „Herr Pastor reicht auch.“ Und mit einem auf Katze gerichteten Blick ergänzte er: „Unser lieber Freund neigt zuweilen zu Übertreibungen.“

„Aber zum Hochwürden würden Sie es doch noch bringen, oder?“, fragte der Hauptkommissar und deutete eine leichte Verbeugung an.

„Ich schätze, es wäre besser, wenn Sie sich an Ihrem Vorgesetzten kein Beispiel nehmen“, fügte der Pastor an Chantal gewandt hinzu. „Wenngleich ich mir sicher bin, dass er es nicht so gemeint hat. Nicht wahr, Herr Hauptkommissar?“

„Habe ich auch nicht“, gab dieser verschmitzt grinsend zu, kam dann aber umgehend zum Thema und erklärte, wie die Sache stand.

„Mhm.“ Nachdenklich runzelte Pastor Hochstetten die Stirn. „Ein Selbstmord, also.“

„Zumindest sieht es so aus. Das Problem ist …“ Rote Lichter blitzten vor ihnen auf. Kaczmarek bremste ab. „… uns erwarten neben seiner Ehefrau noch seine drei kleinen Kinder. Wird also schwierig werden. Dennoch müssen wir wichtige Informationen abschöpfen, um eine Fremdeinwirkung definitiv auszuschließen … Na, Sie wissen schon.“

„Wichtig ist allein das Seelenheil der Angehörigen.“

„Ja schon. Aber gleich danach kommen wir mit unserem Anliegen.“

Kurz nach neun trafen sie an der Ohechaussee zwischen Ochsenzoller und Ulzburger Straße (dem Teilstück, wo die Konzentration von Stickstoffdioxid deutlich höher war, als es die EU erlaubt) ein. Pünktlich mit Verlassen des Wagens hatte es aufgehört zu regnen. Durch die angelehnte Haustür gelangten die drei ungehindert in den Hausflur. Vor der Wohnungstür in der dritten Etage angekommen, musste Katze klopfen, da die Klingel nicht funktionierte.

Eine junge Frau mit Kippe im Mundwinkel und einem Kleinkind auf dem Arm öffnete. Zwar hatte sie einen Hauch Lippenstift aufgelegt, dennoch war ihr Teint ungesund gelblich weiß. Unter den Augen hatte sie dunkelbräunliche, fast schwarze Ringe. Vor dem Öffnen der Tür hatte sie – dem Anschein nach – ihrem strohblonden Haar einen symbolischen Bürstenstrich verpasst, der allerdings nicht viel geholfen hatte.

„Frau Ellen Sanddorn?“, vergewisserte Kaczmarek sich.

Sie blinzelte ihn misstrauisch an. „Wer will das wissen?“

„Hauptkommissar Kaczmarek.“

Sie sah ihn hilfesuchend an.

„Kripo Norderstedt“, fuhr er fort und wies sich mit seiner Marke und dem Dienstausweis aus. „Das hier sind meine Begleiter: Pastor Hochstetten und Kollegin Biglinski.“

 

Erschrocken drückte sie das Kind fester an sich. „Worum geht’s denn?“

„Dürfen wir nähertreten?“, umging Kaczmarek die Antwort.

„Wenn es sein muss …“ Kurz lugte sie ins Treppenhaus, dann gab sie die Tür frei.

„Sagen Sie, Frau Sanddorn, wann hat denn Ihr Mann die Wohnung verlassen?“, fragte Kaczmarek auf dem Weg in Richtung Küche und bemerkte über ihre Schulter hinweg die heillose Unordnung in den angrenzenden Räumen, während eine unterbeschäftigte Wohnungskatze um seine Beine schlich.

„Was weiß ich?“ Sie drückte die Kippe in einer auf einem Regal stehenden Tasse aus. „Da müssen Sie ihn schon selber fragen. Er ...“ Mit einem Mal fing das Kind an zu plärren. „Mensch, Annelie, nun gib doch mal Ruhe … Ich versteh ja mein eigenes Wort nicht … Von mir aus kann ihn der Teufel holen!“, schimpfte sie und versuchte dabei krampfhaft, die Kleine zu trösten. „Ja, gucken Sie sich nur um.“ Ihr Kinn wies in Richtung eines Stuhls, der unter Kaskaden abgeworfener Kleidungsstücke ertrank. In der Emaillespüle, die in einem früheren Leben einmal weiß gewesen sein musste, stapelte sich benutztes Geschirr. Nicht nur zwischen diversen Werbeprospekten stand ein überquellender Aschenbecher. „Ein Saustall, ich weiß. Aber was soll ich machen? Das bleibt alles an mir hängen. Übrigens hat er noch zwei andere Schnallen. Vielleicht ist er ja bei einen von denen untergekrochen. Fragen Sie da doch mal nach.“

„Frau Sanddorn, bitte.“ Die Stimme des Hauptkommissars bekam eine leicht gereizte Färbung. „Beantworten Sie einfach meine Frage: In welchem Zustand befand sich Ihr Mann, als er die Wohnung verließ?“

„Ist das nicht egal?“ Unwirsch setzte sie das Kind in einen unter dem Fenster stehenden Laufstall, ging zur Kaffeemaschine und schenkte sich eine Tasse ein. „Noch jemand?“

Dankend lehnten die beiden Beamten ab.

„Ich nehme gerne einen Kaffee“, meldete der Pastor sich überraschend zu Wort.

„Wann, sagten Sie“, verschaffte Katze sich schließlich wieder Gehör, „haben Sie Ihren Mann zuletzt gesehen?“

„Schwer zu sagen … Ich schätze so ungefähr vor zwei bis drei Stunden.“

„Zwei bis drei Stunden?“, hakte der Hauptkommissar noch einmal nach. „Sind Sie sich da völlig sicher?“

„Ja, natürlich.“ Sie trank einen Schluck und sah ihn verständnislos an.

„Ihr Mann, Horst Oliver Sanddorn, geboren am 25. September 1969 in Kiel …“

„In Kiel-Mettenhof“, unterbrach sie ihn. „Da legt er nämlich großen Wert drauf. Im Gegensatz zur Erziehung der Kinder hat Hotti –“

„Hotti?“ Irritiert schaute Katze sie an.

„Das ist sein Spitzname. Wie gesagt, Hotti hat –“

„Sagen Sie, Frau Sanddorn, ist Ihr Mann mit einem hellgrauen Fiat Cinquecento mit dem Kennzeichen SE-AG 544 unterwegs?“

„Nein, er fährt ‘nen Astra mit dem Kennzeichen SE-PP 136. Kann aber sein, dass er diesen – wie hieß er noch gleich?“

„Cin-que-cento“, wiederholte der Hauptkommissar gedehnt.

„… diesen Wagen für einen Kumpel auf seinen Namen angemeldet hat – für ein kleines Trinkgeld, versteht sich.“

„Moment, das geht mir jetzt alles ein wenig zu schnell.“ Katze wurde heiß und kalt zugleich, da er im Eifer des Gefechts ganz vergessen hatte, das angeforderte Bild des Fahrzeughalters zu sichten. „Kann ich mal ein Foto von Ihrem Mann sehen?“

„Äh, ja. Irgendwo hab ich noch so ein altes schwarz-weiß …“ Sie fuhr sich durchs Haar und schüttelte den Kopf, ganz kurz, wie um etwas zu verscheuchen, das ihr lästig war. „Aber wollen Sie ihn nicht lieber persönlich sprechen? Ich kann ihn ja mal eben anrufen.“

„Anrufen? Ja … Ja, natürlich.“

Sie zog ihr Smartphone aus der Hosentasche, entsperrte es und tippte auf eine gespeicherte Telefonnummer. Als sich jemand am anderen Ende meldete, reichte sie ihm das Gerät.

Der Hauptkommissar räusperte sich. Dann nahm er das Gespräch entgegen. „Spreche ich mit Horst-Oliver Sanddorn?“

„Wer will das wissen?“

„Kaczmarek, Kripo Norderstedt. Sind Sie der Halter des PKW Fiat Cinquecento mit dem amtlichen Kennzeichen SE-AG 544?“

Daraufhin trat eine kurze Pause ein, sodass Katze nachhaken musste, ob er noch dran war.

„Ja, bin ich“, antwortete Sanddorn mürrisch.

„Wer ist Nutzer dieses Fahrzeugs?“

Abermals Stille.

„Hallo? Herr Sanddorn? Können Sie mich hören?“

„Ja, ja.“

„Beantworten Sie bitte meine Frage!“

„Wusste ich es doch“, tönte es plötzlich am anderen Ende. „Dieser Idiot hat mal wieder Mist gebaut.“

„Welcher Idiot?“

„Na Olli.“

„Ich dachte, Sie sind Olli.“

„Falsch gedacht. Ich bin Hotti.“

„Und wer ist Olli?“

„Olav Jørgensen, ein Kumpel von mir. Wieso?“ Kurz schwieg Sanddorn, dann fuhr er fort: „Soso. Der Däne fährt also immer noch mit dieser Mühle … Und ich dachte schon, die wäre längst auseinandergefallen.“

Kaczmarek fürchtete, in der nächsten Sekunde könne ihm die Stimme entgleiten und er würde die Beherrschung verlieren. „Sind Sie sich ganz sicher?“

„Halb geht ja wohl schlecht.“

„Sagt Ihnen der Name Wolf von Osten etwas?“

„Wolf Wernochmal …?“

„Wolf von Osten.“

„Wer soll das sein?“

„Das frage ich Sie.“

„Kenne ich nicht. Nie gehört.“

Einen Moment lang wurde dem Hauptkommissar schwarz vor Augen. Beim Himmel. Damit hatte er nicht gerechnet. Von wegen Jackpot! Das war eine Katastrophe. Die Situation musste sofort bereinigt werden, noch vor der nächsten Lagebesprechung. Er wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu führen, würde dieser Fehler bekannt. „Ich fordere Sie hiermit auf, umgehend im Polizeirevier Norderstedt in der Europaallee zu erscheinen. Fragen Sie an der Wache nach Kriminalhauptkommissar Kaczmarek, 1. Stock, Zimmer 23. Dann wird Sie ein Beamter raufbringen. Und vergessen Sie Ihren Ausweis nicht. Es ist dringend!“

„Aber wie stellen Sie sich das vor? Ich bin auf Arbeit!“

„Das ist jetzt unwichtig! Das ist eine Anweisung, keine Einladung zum Kaffeetrinken!“

„Das müssen Sie erst mit meinem Chef klären!“

„Dafür ist keine Zeit! Hier geht es um dringende behördliche Angelegenheiten! Haben Sie das verstanden? Und sollten Sie nicht spätestens in einer Stunde bei mir auf der Matte stehen, lasse ich Sie vorführen!“ Mit hochrotem Kopf beendete er das Gespräch und verließ mit seinem ‚Gefolge‘ die Wohnung.

Nachdem Kaczmarek Pastor Hochstetten zu Hause abgesetzt und sich tausendmal für diese Unannehmlichkeit entschuldigt hatte, fuhr er mit Chantal zur Dienststelle, um zu glätten, was noch zu glätten war, bevor Kriminalrat Wernicke dort aufschlug.

Unterwegs betonte er wiederholt, mit diesem Sanddorn jetzt ordentlich Tacheles reden zu wollen, zweifellos im Bestreben, die eigene Schuld an diesem ‚Versehen‘ zu relativieren. Zugleich musste er sich eingestehen, dass die vergessene Sichtung des Bildes unverzeihlich war. So etwas gehörte zum Standardverfahren und dieser Fehler durfte einem Profi wie ihm nicht unterlaufen. Natürlich äußerte er das nicht laut. Stattdessen verlor er sich in allerlei Nebensächlichkeiten, in der Hoffnung, Chantal damit etwas abzulenken.

„Was ist?“, wollte er nach einer Weile von Chantal wissen. „Du bist ja so schweigsam.“

„Nein, nein. Alles in bester Ordnung.“ Sie fuhr sich mit fünf Fingern durchs Haar.

„Dann bin ich ja beruhigt, Jennifer.“

„Wieso Jennifer?“ Sie sah ihn verwundert an. „Mein Name ist Chantal.“

„Hier heißen alle neuen Kolleginnen so. Und zu einer ordentlichen Jennifer gehören neben Verstand auch Weitsicht und Pflichttreue. Noch Fragen?“

„Na hör mal. Was sind denn das für Methoden?“

„Wieso? Was gefällt dir daran nicht?“

„Wenn du das nicht merkst, kann ich dir nicht helfen.“

„Auch ‘ne Antwort, wenn auch nichtssagend“, erwiderte Katze schmunzelnd.

„Jetzt hör‘ mal zu. Ich kann nichts dafür, dass du dich geirrt hast. Aber du solltest deinen Ärger darüber nicht mir anlasten“, empörte Chantal sich, die gar nicht einsah, seine Launen noch länger zu ertragen.

„Blödsinn! Wie kommst du darauf?“, protestierte er. Aber der Ärger über diesen Fehler machte ihn sehr empfindlich. Wo hatte er nur seine Gedanken? Zweifellos hatte er Chantal durch Routine und Cleverness zu beeindrucken versucht und war dabei leichtsinnig und unkonzentriert geworden. Das ärgerte ihn umso mehr, zumal er eigentlich ein gutes Gefühl hatte und die Sache mit links absolvieren wollte.

Aber so ist das nun mal, wenn man gedanklich bereits zwei Schritte voraus ist, tadelte er sich und gab seiner geschmeichelten Eitelkeit, welche dieses Biest, Gott weiß warum, in ihm geweckt hatte, dafür die Schuld. Dabei war sie doch alles andere als sein Typ. Er stand eher auf reifere, ein wenig egozentrische Frauen, welche er vermittels seiner ihm vielfach bescheinigten Kasuistik zu beeindrucken verstand, um sich dabei in der Rolle des verständigen Erklärers zu gefallen. Die entsprechende Erfahrung hatte er, ebenso die Beredsamkeit. Aber irgendwie wollte ihm das bei Chantal nicht gelingen, wofür er ihre subtile Aufmüpfigkeit verantwortlich machte, die er nicht recht zu parieren verstand. Ein Grund mehr zur Vorsicht.

Freilich wusste er um seine Fehlbarkeit, auch wenn er sich diese nicht offen eingestand. Doch bisher war er damit immer gut zurechtgekommen, jedoch nur, weil er bisher nicht weiter darüber nachdenken musste. Jetzt aber war das anders. Das alles bestärkte ihn in seiner Absicht, sich Chantal gegenüber künftig etwas zurückzunehmen, nicht weil er sie fürchtete, sondern weil er schwächelte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 3

Kapitel 3

Dienstag, 6. April, 7.30 Uhr

 

Ohne weitere Fisimatenten war Kaczmarek entschlossen, einen Brachialangriff zu starten. Für ihn war klar, dass hier etwas stank. Kein normaler Mensch meldete ein Auto auf seinen Namen an und überließ es dann einem anderen trotz eigenen Haftungsrisikos. Entweder war der Typ nicht bei Trost oder es steckten krumme Geschäfte dahinter. Im Nu konnte das der Sache eine andere Färbung geben und er war schon auf die Erklärung gespannt.

Natürlich musste Wernicke davon nichts wissen. Das würde ihn nur unnötig verwirren. Aber da der ‚Alte‘ kaum vor zehn Uhr eintreffen würde, hoffte der Hauptkommissar, bis dahin alles geglättet zu haben.

„Sonderlich intelligent sieht diese Bratze ja nicht aus“, witzelte er, während er Sanddorns Bild sondierte. „Ich hoffe nur, es wird ein kurzes Intermezzo. Denn sobald Wernicke von den Besitzverhältnissen erfährt, wird er die zu schnelle Freigabe des Fundortes kritisieren.“

„Das ist zu befürchten“, pflichtete Chantal ihm bei.

„Vor allen Dingen könnte das die nachfolgenden Ermittlungen gefährden.“

„Du magst den Kriminalrat nicht.“

„Ich sehe keinen Grund, ihn zu lieben, nach allem, was er bisher abgeliefert hat.“

„Du hättest das Bild vom LEA vorher einsehen müssen“, merkte Chantal an. „Dann wäre die Befragung anders verlaufen und du hättest jetzt nicht die Mehrarbeit am Hals.“

„Ja, das war ein Fehler, doch leider nicht zu ändern. Unser Opfer hat mit hoher Wahrscheinlichkeit Suizid begangen. Anderenfalls wird dieser Sanddorn in seiner Erklärung bezüglich seines Verhältnisses zum Opfer rumeiern und lediglich alle unbestreitbaren Fakten zugeben, ihnen aber eine andere Bedeutung verleihen. Das ist ein alter Trick, um sich reinzuwaschen. Das will ich zwar nicht hoffen, kann es aber nicht ausschließen … Nun guck nicht so! Das hat es alles schon gegeben. Immerhin haben wir nur diesen Zettel vorzuweisen, wobei wir nicht mal wissen, ob er wirklich vom Toten stammt. Dessen Fingerabdrücke könnten auch nachträglich auf dem Abschiedsbrief hinterlassen worden sein. So … und nun habe ich zu tun.“

Katze ließ sich auf seinem Schreibtischstuhl nieder und entwarf stichpunktartig einen Fragespiegel.

Nach etwa zwanzig Minuten klingelte das Telefon und die Hauswache kündigte den Vorgeladenen an.

„Herein mit ihm!“, gab Katze zur Antwort und schob die Tischlampe vor. Dann nahm er einen Stift zur Hand, um bei Bedarf leicht auf den Tisch zu klopfen, ein altbekannter Trick, um den Befragten zu verunsichern. „Setz dich neben mich“, wies er Chantal an. „Wenn zwei ihn beobachten, zeigt das mehr Wirkung. Und sieh ihm dabei in die Augen. Wenn er das Flattern bekommt, liegen wir richtig.“

Kurz darauf erschien der Wachpolizist mit Herrn Sanddorn in der Tür, dessen aufgeblähter Bauch in einem ausgebeulten Blaumann steckte, an dem die seitlichen Knöpfe offenstanden. Auf dem Latz prangte der Schriftzug ‚Broderius GmbH‘.

„Kommen Sie ruhig rein, Herr Sanddorn.“ Er schloss die Tür hinter sich. „Mein Name ist Kaczmarek. Und das ist meine Kollegin, Kriminalkommissaranwärterin Biglinski. Bitte setzen Sie sich.“ Katze schob ihm einen Stuhl hin, wobei ihm ein pietätloses: „Sehen Sie, genau das habe ich mir schon fast gedacht. Jemand wie Sie passt in keinen ‚Cinquecento‘!“ rausrutschte.

„Das habe ich doch schon am Telefon gesagt.“

„Gewiss. Doch pflege ich mich von solchen Dingen lieber selbst zu überzeugen. Wir nennen so etwas ‚verifizieren‘, wenn Sie verstehen.“

„Was wird das? ‘ne Lehrstunde für Fremdwörter?“

„Nanu? Warum denn gleich so bissig?“

Sanddorn tippte mit dem Zeigefinger gegen den Latz seiner Hose. „Ich beeile mich herzukommen, habe deswegen tierischen Stress mit meinem Chef, und Sie haben nichts Besseres zu tun, als etwas zu ve-veri… was? Selbst wenn ich zu klein für mein Gewicht bin, heißt das noch lange nicht, dass ich –“

„Nun mal langsam, junger Freund. Ich möchte nur, dass Sie die Zusammenhänge verstehen. Ihr Gewicht ist dabei belanglos.“ Katze legte den Bleistift in die Schale zurück. „Also … Fangen wir doch gleich mal mit Ihrem Fiat an. Haben Sie den Wagen einer anderen Person zur Nutzung überlassen?“

„Nicht ganz“, korrigierte Sanddorn auf der Stelle. „Ich habe ihn vermietet.“

„Das kommt auf das Gleiche raus“, wiegelte Katze ab.

Verwundert hob Sanddorn die Brauen. „Kommt es nicht. ‚Überlassen‘ ist der allgemeinere Begriff und kann schnell missdeutet werden.“

„Seien Sie unbesorgt, hier missdeutet niemand etwas. Verraten Sie mir lieber, warum Sie Ihren Wagen jemand anderem zur Nutzung gegeben haben.“

„Das ist nicht in zwei Worten erklärt.“

„Ich habe Zeit“, sagte Katze fest und ließ sein Gegenüber nicht aus den Augen.

„Na ja.“ Sanddorn rutschte unruhig auf dem Stuhl herum. „Jeder muss halt sehen, wo er bleibt.“

„Hat sicher ‘ne ordentliche Stange Geld gebracht. ’nen Hunni doch mindestens.“

„Nee, nee. Nur ‘nen Fuffi im Monat. Und selbst dafür habe ich lange kämpfen müssen.“

„Natürlich haben Sie die ganze Zeit brav Steuern und Versicherung gezahlt und sind das Risiko einer Schadensregulierung im Fall eines Unfalls eingegangen. Und das aus völliger Selbstlosigkeit“, verfiel Katze in seinen gewohnten Zynismus.

„Ja und? Schließlich ist das nicht verboten.“

„Stimmt“, bestätigte Katze. „Aber ungewöhnlich. Und es gibt nichts Anrüchigeres, wenn in einer Todesermittlung etwas ungewöhnlich ist. Das werden Sie sicherlich verstehen.“ Er ließ seinem Gegenüber Zeit zum Nachdenken.

„Hä?“ Sanddorn riss die Augen auf, wirkte wie erstarrt. „Sie machen wohl Witze!“

„Sehe ich so aus?“

„A-aber das kann gar nicht sein! Nicht der Olli!“ Sanddorn stieß einen tiefen Seufzer aus und bedeckte das Gesicht mit den Händen. „Warum? Ich meine … Wie konnte das passieren?“

„Eine gute Frage“, entgegnete Katze und beobachtete ihn genau. „Können Sie mir etwas zu Olav Jørgensen sagen? So heißt er doch, der Typ, dem Sie Ihren Wagen überlassen haben, nicht wahr?“

„Tut mir leid. Aber … ich kann … ich kann mich gar nicht konzentrieren … Sanddorn rieb sich die Stirn. „Und er ist wirklich … Ich meine, so richtig …?“

„Leider ja … Zur Sache: Was wissen Sie über Herrn Jørgensen?“

Sanddorn überlegte. Stumm bewegte er die Lippen, ohne etwas zu sagen.

„Wie bitte? Ich kann Sie nicht verstehen.“

„Na was soll ich schon über ihn wissen! Man kann einem anderen eh nicht hinter die Stirn gucken …“

„Das sollen Sie auch nicht, Herr Sanddorn. Ein Grund mehr, alles infrage zu stellen.“

„Das verstehe ich ja. Aber Sie müssen mich ebenfalls verstehen!“, maulte dieser ungehalten. „Olli war halt Geschäftsmann. Jedenfalls hielt er sich dafür. Ob er beliebt war? Keine Ahnung. Aber wer ist das schon? Ich weiß nur, dass er eine Schwäche für schöne Frauen hatte … Mhm, ansonsten …“

Katze wartete mit schief gelegtem Kopf auf eine Antwort. „Nun, das Wesentliche haben Sie vergessen“, ergänzte er schließlich. „Wie liefen seine Geschäfte?“

„Ich denke, anfangs ganz gut. Er hatte eine kleine Firma gegründet. Dazu nahm er auf Anraten eines Unternehmensberaters einen größeren Kredit auf, den er aber, wie sich bald zeigte, nicht zurückzahlen konnte. Die Firma warf nicht genug ab. Anstatt gegenzusteuern und notfalls Konkurs anzumelden, begann er, sich von verschiedenen Leuten Geld zu borgen, fuhr weiterhin dicke Autos und leistete sich teure Frauen …“ Sanddorn stockte.

„Und weiter?“

„Was weiter?“

„Sie wollen mir doch wohl nicht weismachen, dass das schon alles war.“

„Nun ja.“ Verlegen nagte Sanddorn an der Lippe. „Irgendwann begann der Unternehmensberater Druck zu machen, da er merkte, dass Olli die Kiste gegen die Wand fuhr. Doch statt darauf zu reagieren, spielte Olli auf Zeit.“

„Eine dumme Strategie, nicht wahr?“

„Kann man wohl laut sagen. Aber ich habe mich da rausgehalten, da ich mittlerweile das Gefühl hatte, er lief nicht mehr so ganz rund … Mehr weiß ich nicht. Wirklich. Ich schwöre es!“

„Das würde in der Tat einiges erklären", resümierte Kaczmarek nachdenklich. „Lassen Sie mich raten: Dieser Berater ist ein gewisser Wolf von Osten, nicht wahr?“, mutmaßte er, ungeachtet der damit verbundenen Suggestion.

„Wer soll das sein?“

„Na, sein Kredithai, Halsabschneider oder wie immer Sie es nennen wollen.“

„Möglich. Jedenfalls habe ich diesen Namen vorher noch nie in meinem Leben gehört. Im Übrigen hat mich auch noch nie interessiert, was Olli den ganzen Tag so getrieben hat. Falls Sie das Gespräch hinterher protokollieren, bestehe ich auf diesen Zusatz. Ich lasse mir nämlich nichts unterjubeln. Und Sie, junge Frau, sind meine Zeugin.“

„Hier wird niemandem etwas untergejubelt!“

„Ach, hören Sie doch auf. Ich kenne Ihre Methoden!“, polterte Sanddorn unverhofft los. „Sie wollen mir etwas einreden und dazu ist Ihnen jedes Mittel recht. Und am Ende drehen Sie es so, wie es Ihnen am besten passt! Meinen Sie, ich merke das nicht? Aber nicht mit mir! Ich kenne meine Rechte!“

„Ich glaube, Sie lesen zu viele Schauergeschichten“, bügelte Katze ihn kaltblütig ab. „Sollte sich allerdings herausstellen, dass Sie uns wissentlich etwas vorenthalten oder eine Falschaussage gemacht haben, muss ich Sie nicht auf die Konsequenzen hinweisen.“

„Ist das jetzt ‘ne Drohung?“

„Besser eine Warnung. Wir wollen doch nicht, dass Ihre Ellen längere Zeit auf Sie verzichten muss! So, und nun, nachdem das auch geklärt ist, möchte ich von Ihnen den Rest wissen.“

„Welchen Rest?“

„Ach, kommen Sie! Ich brauche Namen. Namen von den Personen, bei denen Olli ebenfalls in der Kreide stand.“

Schweratmend zog Sanddorn sich den Hemdkragen hoch. „Sie bringen mich da in eine schwierige Situation.“

„Das tut mir leid, wirklich.“

„Es gibt da tatsächlich jemanden … Aber kann das unter uns bleiben?“

„Kein Wort wird aus diesem Raum dringen“, versicherte der Hauptkommissar, wohlwissend, dass es Unsinn war.

„Der Typ heißt Frank Rötelkamp – eine Mistmade durch und durch. Soviel ich weiß, hatte Olli bei ihm auch ‘ne Menge Schulden aus einer anderen Sache. Keine Ahnung, in welcher Höhe. Das müssten Sie ihn dann schon selber fragen. Er betreibt hier in der Nähe eine Werkstatt.“

„Und das ist sicher?“

„Absolut.“

„Na, das ist doch schon mal was“, merkte der Hauptkommissar daraufhin an. „Und wenn das stimmt, wird Sie niemand mehr in dieser Sache belästigen.“

Nachdem alles protokolliert und unterzeichnet war, wurde Sanddorn mit Dank entlassen. Kaum war der Zeuge fort, zeigte Katze sich merklich erfreut, dass ihm der Zufall ein solches Pfund in die Hand gespielt hatte.

Chantal verstand kein Wort.

„Was guckst du so? Frank Rötelkamp ist ein alter Kunde von uns. Er schuldet mir noch einiges. Übrigens wird er in Insiderkreisen auch ‚Kröte‘ genannt, wegen seiner Narbe am linken Mundwinkel. Na, der kann was erleben.“

Kurz darauf machte Katze sich daran, dieses Ergebnis in seinen Sachstandsbericht einzufügen. Parallel dazu trug er Chantal auf, mal rasch diesen von Osten in der zentralen Datenbank abzufragen.

Als sie ihm wenig später das Fazit ihrer Recherche vorlegte, traf ihn der Schlag. Demnach war dieser Mann nicht nur Unternehmensberater, sondern auch eine höhergestellte Persönlichkeit, die hauptberuflich als persönlicher Referent für den ultrakonservativen Politiker Martin Düsterhöft-Kleebe tätig war.

Das war derart schockierend, sodass Katze die Abfrage höchstselbst wiederholte. Doch es bestand kein Zweifel – es gab nur diesen einen Datensatz. Damit entstand ein neues Problem.

Mit diesen Erkenntnissen empfing er dann auch Kriminalrat Wernicke, der an diesem Vormittag schon etwas früher auf der Wache erschienen war. Wie so oft hatte er mal wieder eine Stinklaune, denn man hatte ihn bereits vorab über die Geschehnisse in der Nacht informiert.

Kaum im Zimmer, knallte er seine Tasche auf den Tisch und erwartete eine sofortige Meldung. Der Kriminalrat gehörte übrigens zu jener Kategorie von Aufsteigern, die von Schule zu Schule gesprungen waren und später dann von Posten zu Posten durchgereicht wurden, da man sie nirgendwo gebrauchen konnte. Solche Leute verstanden sich darauf, Entscheidungen zu delegieren und verhielten sich selbst stets abwartend. Und je nachdem, wie das Pendel ausschlug, legten sie sich fest. Das hatte ihm im Kollegenkreis den Spitznamen ‚Aal‘ eingebracht und es gab nichts Schlimmeres, als ausgerechnet ihn mit einer solchen brisanten Lage zu konfrontieren.

„Wie jetzt, der persönliche Referent eines Staatssekretärs? Sind Sie sich sicher?“, reagierte er erwartungsgemäß, als er von dem neuen Problem erfuhr.

„Absolut. Nun weiß ich nicht, wie wir weiter vorgehen sollen, ohne Porzellan zu zerschlagen, denn wir werden ihn aufsuchen müssen. Vorladen geht ja nicht.“

Prompt folgte die Frage, ob das überhaupt nötig sei. Immerhin sollte er, Kaczmarek, doch Manns genug sein, so etwas ermittlungstaktisch zu umgehen.

„In diesem Fall leider nicht, Herr Kriminalrat“, bemerkte Katze nicht ohne ein gewisses Vergnügen. „Wie Ihnen bekannt sein dürfte, haben wir nach dem Legalitätsprinzip die Pflicht –“

„Kommen Sie mir doch jetzt nicht mit Ihren Pflichten! Kriminalistische Ermittlungen erfordern in erster Linie ein taktisches Geschick – und genau das erwarte ich von Ihnen. Solange keine eindeutige Verbindung zwischen diesem von Osten und der Sache besteht, ist Vorsicht geboten. Sie werden sich also bis dahin zurückhalten.“

„Wie soll ich weitere Recherchen anstellen, wenn ich nicht mit ihm reden darf?“

„Tut mir leid. Aber das ist sehr brisant.“ Wernicke sah auf die Uhr. „Ich bin nur ein unbedeutender Kriminalrat. Wenn sich der Mann wirklich in einer solchen Position befindet, müssten Sie sich schon an den Referatsleiter Oberrat Dr. Adam wenden.“

„Das habe ich bereits getan“, log der Hauptkommissar dreist, der das Gejammer nicht mehr hören konnte. „Doch er hat mich an Sie als zuständigen Leiter verwiesen.“

„Nun ja. Was soll ich noch groß dazu sagen. Wenn Adam das gesagt hat, wird er seine Gründe dafür haben. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Angelegenheit eindeutig in Ihrer Verantwortung liegt, oder etwa nicht?“, begann Wernicke sich abermals zu winden. „Also lassen Sie sich tunlichst was einfallen. Wozu sind Sie Hauptkommissar?“

„Dann bitte ich um die Erlaubnis, diesen Herrn von Osten aufsuchen zu dürfen …“

„Das entscheiden Sie gefälligst selbst!“, geiferte Wernicke, krebsrot vor Wut. „Ich kann mich schließlich nicht um alles kümmern. Der Staatsschutz wird jedenfalls nicht informiert und eine Vorladung kommt erst recht nicht infrage. Also werden Sie ihn wohl oder übel doch aufsuchen müssen – und dabei sollten Sie ein Vorbild sein, Herr Hauptkommissar. Was soll denn sonst Ihre neue Kollegin von Ihnen denken?“ Mit einem geringschätzigen „Guten Morgen“ wandte er sich ab und verließ das Zimmer.

Kaum klappte die Tür, trat Katze wütend gegen den Stuhl.

 

Kapitel 4

Kapitel 4

 

Noch am selben Abend waren die Würfel gefallen. Nach langem Ringen hatte Katze sich für die „heißere Kartoffel“ entschieden. Kröte, dieser Gauner, konnte warten. Dieser Politikreferent hingegen war ein anderes Kaliber. Da war Fingerspitzengefühl gefragt, vor allem aber Raffinesse.

Seine Vorsicht kam nicht von ungefähr. Vor Jahren hatte er in einer ähnlichen Sache bittere Erfahrungen gemacht. Nie und nimmer hatte er damit gerechnet, dass sein ‚Kandidat der ersten Stunde‘ über einen bevorrechtigen Status verfügte und dessen Beschwerde über das Auswärtige Amt beim Leiter des LKA landete. Seither ließ Kaczmarek in solchen Dingen stets Achtsamkeit walten.

Obwohl die Zeiger der Uhr stark auf Mitternacht zugingen, stattete er zur Akteneinsicht noch rasch dem Dezernat VI einen Besuch ab, wo relevante Daten zu priorisierten Personen unter Angabe der dienstlichen Kennung und des Aktenzeichens abgefragt wurden.

Dabei bestätigte sich seine Vorahnung. Dieser Wolf von Osten war in der Tat persönlicher Referent des Staatssekretärs Martin Düsterhöft-Kleebe von der Partei namens Bündnis Zukunft Deutschland, kurz BZD genannt. Auch wenn solche Leute nur in der zweiten Reihe standen, waren sie nicht zu unterschätzen.

Genau genommen gab es Berufe, die konnte man nicht erlernen. Türsteher etwa, Influencer oder eben persönlicher Referent. Erfahrungsgemäß verfügte Letzterer über ein sehr feinsinniges Gespür, sich nicht nur zum richtigen Zeitpunkt einzubringen, sondern auch den passenden Ton zu treffen, sodass einem keinesfalls der Gedanke eines geschickten Taktierers käme. Gleichwohl blieb rätselhaft, wieso von Osten sich als Unternehmensberater verdingte. Dafür gab es nur eine Erklärung: Entweder sorgte der Zweitjob für einen inneren Ausgleich oder es steckten windige Geschäfte dahinter. Nachdem der Hauptkommissar weitere Einträge ausgewertet hatte, ergab sich für ihn das Bild eines klassischen Aufsteigers: Verheirateter Mittfünfziger, dessen Frau als freie Journalistin um die Welt düste. Zwei erwachsene Kinder, großes Einfamilienhaus im Gräflingsweg mit Blick auf das 1,5 Hektar große Privatgelände des ehemaligen Norderstedter Privatzoos sowie ein respektables Sommeranwesen in Wiemerskamp in Randlage des Duvenstedter Brooks. War das ein Mann, der auch mal fünfe gerade sein ließ?

Trotz der späten Stunde griff Katze zum Telefonhörer …

Zwei Minuten und sechs Klingeltöne später …

„Hör zu, Jenny. Ich –“

„Weißt du eigentlich, wie spät es ist?“, bremste sie ihn aus.

„Ich habe mir noch mal das Profil dieses von Osten reingezogen“, fuhr er ungerührt fort. „Und bin zu der Überzeugung gekommen, dass wir hier etwas tiefer graben müssen. Der Mann ist mit Vorsicht zu genießen, weshalb wir uns keine Schlappe leisten können. Wäre es zu viel verlangt, wenn du dich beim nächsten Dienstantritt ein klein wenig herausputzt? Ein wenig Charme …“

„Hallö-chen!“, rief sie empört durch den Hörer. „Was soll das denn jetzt werden?“

„Himmelherrgott. Nun stell dich doch nicht so an … Ich meine, versteh doch bitte, wir stehen unter Erfolgsdruck und dürfen ihn nicht verstimmen. Dafür steht zu viel auf dem Spiel! Außerdem könntest du bei dieser Gelegenheit deine empathischen Fähigkeiten schulen. Das ist immer von Vorteil – auch für spätere Fälle.“

Am anderen Ende der Leitung blieb es still. Dafür hörte er unklare Geräusche im Hintergrund. Kurz darauf murmelte Chantal etwas Unverständliches.

„Hallo?! Sprich lauter. Ich kann dich nicht verstehen.“

„Tut mir leid. Aber ich dachte, wir führen neutrale Ermittlungen unabhängig vom Status der Person durch, wie es das Gesetz verlangt.“

„Das tun wir doch auch“, ruderte Katze auf der Stelle zurück. „Ich wollte lediglich zum Ausdruck bringen, dass wir die Rahmenbedingungen etwas präzisieren sollten …“ Doch da hatte sie bereits aufgelegt.

Als Chantal am nächsten Morgen in einem lappigen T-Shirt und ausgewaschenen Jeans zum Dienst erschien, tat Katze so, als wäre nichts gewesen und ging zur Tagesordnung über.

Obwohl bis zum vereinbarten Termin noch fast eine Stunde Zeit war, fuhren sie kurz darauf mit dem Dienstwagen los. Hinzu kam, dass sich von Ostens Büro in einem der Sternhäuser Appartements in Norderstedt-Mitte befand, was wiederum eine Fahrtzeit von allenfalls fünfzehn Minuten erforderte. Aber Kaczmarek meinte, es könne nicht schaden, sich in der Umgebung etwas zu ‚verorten‘, ohne das näher auszuführen. Während der Fahrt instruierte er Chantal über die weitere Vorgehensweise. Plötzlich sagte er, völlig aus dem Zusammenhang gerissen: „Ich hoffe, du bist mir nicht böse, wegen meines Anrufs.“

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 14.08.2023
ISBN: 978-3-7554-4973-7

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /