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Über dieses Buch:

Über dieses Buch:

Das Böse ist auf Hoogesand. Vielleicht existiert es dort schon seit langer Zeit im Verborgenen, vielleicht kam es aber auch mit dem Schiff hierher.

Die Gründe, warum eine Handvoll Menschen, die einander nicht kennen, und die unterschiedlicher nicht sein könnten, mit dem ehemaligen Krabbenkutter den abgelegenen Ort weit draußen in der Nordsee aufsuchen, sind vielschichtig. Aber eins haben sie gemeinsam: Sie wollen nicht gefunden werden. Allerdings geschehen schlimme Dinge auf Hoogesand, mit denen niemand rechnen konnte. Und sie alle müssen nach und nach begreifen, dass sie bei der Wahl ihrer Zuflucht einen unheilvollen Fehler begangen haben. Die geplante Auszeit entwickelt sich zu einem Horrortrip und zu einem verzweifelten Kampf, bei dem es nichts zu gewinnen gibt, außer dem nackten Überleben.

 

Copyright © 2023 Ruben Schwarz – publiziert von telegonos-publishing

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(Haftungsausschluss und Verlagsadresse auf der website)

Cover: Kutscherdesign unter Verwendung von Adobe Stock Fotos

 

 

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ISBN der Printversion: 978-3-946762-79-9

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bram und Stephen gewidmet.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1 Christoph Kuhnert

1
Christoph Kuhnert

Die Schranke ist geöffnet. Der Parkplatz wirkt beinahe verlassen. Christoph Kuhnert steuert seinen A3 bis auf wenige Meter an das niedrige Backsteingebäude heran, in dem sich sowohl das Büro der Verwaltung als auch der Parkautomat befinden. Vor Jahren war er schon einmal mit Judith hier gewesen. Damals hatte die Sonne geschienen. Es war Anfang August, Hauptsaison, und sie hatten auf den zweiten, etwas weiter entfernten Parkplatz ausweichen müssen, weil alles überfüllt gewesen war. Zuerst hatten sie ein paar Tage in Neuharlingersiel verbracht und danach waren sie für eine Woche rüber nach Spiekeroog gefahren. Es war ein schöner Urlaub gewesen. Das wird es jetzt wohl eher nicht werden. Die Hauptsaison ist längst vorbei, und dieser Urlaub kommt ihm eher vor wie eine Flucht. Und auch die Sonne scheint nicht. Was allerdings gut ist.

Christoph Kuhnert manövriert den Wagen vorwärts in eine der Parkbuchten des Aschenplatzes, als ein Mann in einer dunklen Windjacke aus dem Bürogebäude geschlendert kommt und lässig den Arm hebt. Christoph zieht den Zündschlüssel, steigt aus und kneift unwillig die Augen zusammen. Es ist zwar bewölkt, aber das Licht ist irgendwie unangenehm grell.

„Moin“, sagt der Mann. Es ist ein ziemlich langer und dünner Kerl, vielleicht Mitte vierzig. Vielleicht ist er auch jünger, aber das graue, schmale Gesicht ist schon ziemlich faltenreich.

„Moin“, sagt Christoph.

„Sie wollen noch rüber auf die Insel?“, fragt der Mann. Er hält ihm einen gelben runden Plastik-Chip hin. Christoph nimmt ihn entgegen und nickt nur. Ihm ist nicht nach Smalltalk zumute.

„Mit dem Ding zahlen Sie dann bei der Abfahrt da drüben am Automaten“, erklärt der Mann und zeigt auf eine Glastür neben dem Büro, aus dem er gekommen ist. „Geht auch mit Karte.“

„Ich weiß, kenne ich“, antwortet Christoph, schiebt seinen Oberkörper in den Wagen und beugt sich über die Mittelkonsole. Den Chip steckt er in einen der für solche Zwecke vorgesehenen Münzschlitze zwischen dem Handbremshebel und dem Ablagefach. Dann nimmt er das Etui mit seiner Sonnenbrille, das Handy und die Brieftasche aus dem Wagen und schlägt die Fahrertür zu. Kurz denkt er über die halbvolle Flasche Johnny Walker nach, die im Handschuhfach liegt. Die kann er jetzt nicht rausnehmen, solange der Kerl in der Nähe ist. In einer Innentasche seines Parkers stecken noch die beiden Probierfläschchen von Jack und Jim, neben Johnny seine anderen zweifelhaften spirituellen Freunde. Aber auch die wird er über Bord werfen, sobald er auf See ist.

„So ganz allein bei dem Wetter, da muss man die Nordsee aber mögen“, sagt der Mann. Christoph antwortet nicht, nimmt seinen Parker vom Rücksitz und zieht ihn über. Es ist kühl und windig. Dann setzt er sich die Sonnenbrille auf die Nase. Die graue Wolkendecke ist lückenlos, aber seit ein paar Wochen sind seine Augen lichtempfindlicher als früher. Wahrscheinlich vom vielen Starren auf den Laptop. Obwohl er in letzter Zeit meistens nur den blinkenden Cursor beobachtet, wenn er vor dem Laptop sitzt.

„Sie scheinen ein Kenner zu sein“, sagt der Mann, der vermutlich Fiete heißt. Oder vielleicht auch Hinnerk. Irgendwie sieht er aus wie Fiete oder Hinnerk, und Christoph wundert sich, warum er so redselig ist. Eigentlich hat er die Nordlichter anders in Erinnerung. „Die Nordsee ist am schönsten, wenn die Herbststürme kommen und man sich so richtig durchpusten lassen kann“, erklärt Fiete oder Hinnerk. Christoph vermutet, dass Fiete oder Hinnerk hier an seinem Arbeitsplatz die meiste Zeit allein verbringt, und in der Herbstsaison wenig Gesprächspartner findet.

„Ich will einfach nur ein bisschen abschalten“, erbarmt sich Christoph. „Mal durchatmen. Den Kopf freikriegen.“

„Jou“, macht Fiete oder Hinnerk, steckt die Hände tief in seine Hosentaschen und nickt. Seine fransige Frisur wird vom Wind verwirbelt. „Dann tut das wohl not. Sie komm` sicher aus der Stadt. Viel Stress, ne?“ Seine nordische Herkunft kann der Mann kaum verleugnen. Will er wohl auch nicht. Er spricht das „St“ aus, wie es im Norden üblich ist.

„Jou“, antwortet Christoph. Den ersten Teil seines Lebens hat er zwar in der Nähe von Frankfurt verbracht, lebt aber seit über fünfzehn Jahren in seiner Wahlheimat …

„Kiel“, sagt er, „ich komm aus Kiel.“ Auch er hat sich den norddeutschen Dialekt längst zu eigen gemacht. Zumindest soweit es möglich ist, wenn man im Hessischen aufgewachsen ist. Er öffnet den Kofferraum seines A3.

„Aber ich muss nu los“, sagt er und hievt seinen grauen Rollenkoffer heraus. Er wirft den Kofferraumdeckel zu und verriegelt den Wagen. Dann verstaut er den Schlüssel in der rechten Außentasche seines Parkers. „Sonst verpass ich noch die Fähre.“

„Ach, da is noch massig Zeit“, winkt der Mann, der vermutlich Fiete oder Hinnerk heißt, ab. Er schaut auf seine Armbanduhr. „Noch über eine Stunde. Das schaffst du spielend.“ Aus welchem Grund er Christoph jetzt plötzlich duzt, bleibt sein Geheimnis. Im Sandkasten haben sie jedenfalls noch nicht zusammen … aber egal.

„Ich weiß“, sagt Christoph. „Aber vielleicht hol ich mir noch `n Fischbrötchen am Hafen.“

„Ouh“, sagt Fiete oder Hinnerk, schaut bedenklich und fährt sich mit der Hand übers Kinn. „Ich glaub, die Fischbude hat auch schon zu. Sobald die Touristen abgereist sind, fällt hier alles in den Winterschlaf.“

„Okay, na gut“, sagt Christoph. „Denn also.“ Er nickt dem Parkwächter zu und packt den Griff seines Rollenkoffers.

„Ne gute Zeit“, sagt Fiete oder Hinnerk und tut so, als würde er lässig mit zwei Fingern salutieren. Christoph zieht seinen Koffer über den Schotterweg bis zur Schranke des Parkplatzes. Ab hier ist der Fahrweg asphaltiert. Tatsächlich befinden sich kaum mehr als zwanzig oder fünfundzwanzig Fahrzeuge auf dem Platz für Dauerparker.

Der Boden ist nass. Heute hat es schon mehrmals geregnet. Genau genommen hat es die ganze Strecke zwischen Bad Oldesloe und Delmenhorst ununterbrochen geschüttet. Hinter Ahrensburg bis Bremen hat es immer wieder nervige Staus gegeben, so dass er beinahe schon befürchtete, es nicht rechtzeitig bis Neuharlingersiel zu schaffen, aber hinter Bremen konnte er dann durchrauschen wie mit Vaseline eingeschmiert.

Christoph schaut nach rechts, wo der Himmel jenseits des begrünten Deiches heller wird. Missmutig kneift er die Augen zusammen. Er ist sich nicht ganz sicher, ob er heute Morgen daran gedacht hat, die Augentropfen in seinen Kulturbeutel zu packen. Er hofft es. Heutzutage wie früher mit Judith im Urlaub nach Griechenland zu fahren, bei täglichem Sonnenschein, bei all dem Licht, wäre im Moment kaum vorstellbar. Aber darüber braucht er sich keine Gedanken zu machen. Judith ist Vergangenheit. Und das ist auch gut so.

Christoph überquert die Straße, die in den Ortskern hineinführt, an einem Zebrastreifen und zieht seinen Koffer dann die Zufahrt zum Hafengelände hinauf, die sanft ansteigt und in einem spitzen Winkel zur Deichkrone verläuft. In großer Höhe segeln Möwen unter den grauen Wolken durch die Windböen. Er kann ihr missgelauntes Kreischen und Klagen bis hier unten hören.

Als er den höchsten Punkt erreicht und über den Deich blicken kann, sieht er den Autoplatz für Kurzparker und Wohnmobile, das Gebäude der Hafenverwaltung mit den Schaltern für den Ticketverkauf, das Hafenbecken und das Meer. Das nicht da ist. Noch herrscht Ebbe, aber es ist auflaufendes Wasser. Das schmutziggraue Watt wird von einzelnen, bereits mit Nordseewasser gefüllten Prielen durchzogen. Auch die Fahrrinne für die Inselfähren nach Spiekeroog führt schon reichlich Wasser. Etwas weiter weg, jenseits Hafenbeckens, liegt der Badestrand, der von hier aus reichlich verlassen aussieht. Ganz weit hinten kann er ein paar Leute sehen, die einen Drachen steigen lassen.

Nein, Christoph will nicht nach Spiekeroog. Aber das geht Fiete nichts an. Und Hinnerk auch nicht. Das geht niemanden etwas an. Auch nicht Gülay, seine Agentin. Von der WhatsApp-Nachricht, die sie ihm heute Vormittag geschickt hat, konnte er nur die ersten paar Wörter lesen, weil er sie nicht öffnen wollte. Gülay braucht nicht zu wissen, ob er die Nachricht überhaupt erhalten hat. Moin, chris, wenn ich die ersten drei kapitel … stand auf dem Display. Den Rest kann er sich denken. … noch diese Woche kriegen könnte … würde da vermutlich stehen. Es brennt!!! So oder so ähnlich. Er kennt ja die Deadline und er kennt auch den geplanten Veröffentlichungstermin.

Auf der Insel wird er es versuchen. Er wird sich vor den Laptop setzen, das Dokument öffnen und den Titel des neuen Simon-Prinz-Krimis in Versalien vorfinden. Simon Prinz ist sein Pseudonym und der Titel des Romans lautet DAS HAFEN-KOMPLOTT. Ein toller Titel, wie Christoph findet, obwohl er nicht mehr genau weiß, wie er darauf gekommen ist. Gülay will die ersten drei Kapitel so schnell wie möglich dem Verlag präsentieren. Die Grafik hat bereits ein feines Cover entworfen: der regennasse Schwedenkai am Westufer der Kieler Förde in der Abenddämmerung. Das spärliche Licht einer Straßenlaterne lässt die dunkle Gestalt nur erahnen, die neben einem wuchtigen Poller direkt an der Kaimauer auf dem nassen Asphalt liegt.

DAS HAFEN-KOMPLOTT soll noch vor dem ersten Advent erscheinen. Jetzt ist Mitte Oktober. Das einzige Problem ist nur, außer dem Titel steht bisher keine weitere Zeile auf Seite 1. Mit dem Anfang hat Christoph sich schwergetan. Mehrere Anläufe hat er verworfen. Und dann ist es passiert. Als er das Dokument öffnete und den blinkenden Cursor unter dem verheißungsvollen Titel sah, begann das Flattern in der Brust, und kalter Schweiß trat ihm ins Gesicht.

Erstmalig ist das vor mehr als zwei Monaten passiert, und bisher hat sich nichts an diesem Zustand geändert. Zu Beginn hatte Christoph es für eine vorübergehende Erscheinung gehalten - schlechte Tage hat jeder mal-, aber inzwischen befürchtet er … nein, er ist gerade fest davon überzeugt, dass er nie wieder ein Buch schreiben wird. Nicht mal eine Kurzgeschichte. Nicht einmal den Vierzeiler auf einer Glückwunschkarte. Alles hat seine Zeit. Und seine als Autor ist vorbei.

Während Christoph mit seinem Gepäck auf der seezugewandten Seite den Deich abwärts geht und den bis auf wenige PKWs verwaisten Parkplatz überquert, denkt er über seine Lage nach. Er hat einen Ort gebraucht, an dem er den letzten Abgabetermin in Ruhe verstreichen lassen kann. Vielleicht wird er ja eines Tages doch wieder schreiben können. Aber bis dahin ist er pleite. Für dieses konkrete Projekt ist der Zug abgefahren. Das vereinbarte Minimum von dreihundert Seiten ist nicht mehr zu schaffen. Inklusive Überarbeitung, Lektorat und allem Drum und Dran vollkommen illusorisch.

Er braucht diesen stillen Ort irgendwo im Grau der Nordsee, um über die Zukunft nachzudenken. Das ist wichtig, denn der Verlag wird den Vorschuss zurückfordern. Auf Heller und Pfennig, und er ist ein wahrer Glückspilz, wenn man ihm nicht noch eine deftige Konventionalstrafe aufbrummt. Obwohl das dann eigentlich auch schon egal ist.

Auf das Schnäppchen der Pension Mathilde ist er durch Zufall im Internet gestoßen. Entscheidend war dabei für ihn gewesen, dass die Inhaberin Barzahlung akzeptiert und von einer Kreditkarte zu keinem Zeitpunkt die Rede war. Er hat nicht online gebucht, sondern die Frau unter der angegebenen Telefonnummer angerufen. Und er hat seinen Nachnamen Kuhnert verheimlicht und sich kurzentschossen als Christoph Prinz ausgegeben, einer Mischung aus Pseudonym und Klarname.

Hoogesand ist nicht sehr bekannt. Christoph erinnert sich daran, über die Insel in einem Reiseführer über Spiekeroog gelesen zu haben - was Jahre her ist -, aber es hat damals nicht einmal ein Bild gegeben. Die Insel hat keinen Sandstrand und ist daher offensichtlich für den Tourismus weitgehend uninteressant.

Christoph erreicht die Kaimauer und blickt auf die weiße Fähre Spiekeroog III, die gerade mit ein paar Aluminium-Containern beladen wird. Der fahrbare Imbiss mit den Fischbrötchen ist tatsächlich nicht da. Infolgedessen sind auch kaum Möwen auf der Suche nach einem schnell geklauten Snack. Auch der Eisstand, wo Judith und er sich im Sommer mit Softeis eingedeckt hatten, ist verschwunden. Und der Souvenir-Shop ist geschlossen. Von ein paar Kuttern, die mit Tauen festgemacht sind, ragen aufgrund des geringen Wasserstandes nur die Masten über die Kaimauer.

Auf einer Bank vor dem Hafengebäude sitzt eine Frau mit einem Kind. Wahrscheinlich ein Mädchen, vielleicht elf oder zwölf Jahre alt. Sie schauen zu ihm herüber. Links von ihm, da wo sich ein paar Geschäfte und Restaurants befinden, gibt es ein paar niedrige Steinstufen. Ein Mann sitzt dort. Kurze Haare, dunkle Hautfarbe, eleganter Stoffmantel, Typ Businessman. Er raucht und blickt zur gegenüberliegenden Seite des Hafenbeckens, wo ein kleines Boot in weiß und hellrot tief unterhalb der Mauer im Wasser liegt. SAR ist in großen Buchstaben aufgemalt. Vermutlich nur das Beiboot eines Seenot-Rettungskreuzers. Der Wind weht Teile einer weggeworfenen Zeitung über den Asphalt. Die Stimmung im Hafen ist trostlos. Sie passt zu seiner eigenen Stimmung.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

2 Luisa Krajewski

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Luisa Krajewski

Irgendwie war sie sich die ganze Zeit über fast sicher, zu spät zu kommen. Sie hat keine Uhr und ihr Handy hat nicht mehr viel Guthaben, aber es zeigt immerhin die genaue Zeit an. Und so stellt Luisa Krajewski erfreut fest, als sie in Neuharlingersiel aus dem Bus steigt, dass sie bis zur geplanten Abfahrt des Boots noch fast zwanzig Minuten Zeit hat. Noch während sie die Stufe der geöffneten Bustür hinunterspringt, wirft sie sich den wuchtigen Bundeswehr-Rucksack mit Schwung über die Schulter. Dabei rempelt sie einen Mann an, der mit einem Stockschirm bewaffnet an der Haltestelle vorbeieilt. Er mag sechzig Jahre alt sein oder noch älter. Obwohl sie sich sofort freundlich entschuldigt und ihm ein süßes Lächeln schenkt - es tut ihr wirklich leid -, bedenkt er sie mit einem Blick, als habe er in seinem Vorgarten ein dubioses Objekt unter einem Stein gefunden, bevor er kopfschüttelnd weitergeht.

Trotz des schweren Rucksacks trabt sie leichtfüßig den Bürgersteig entlang, bis sie nach links einbiegt und seitlich das historische Siel-Tor passiert. Sie läuft über den kleinen gepflasterten Platz und erreicht die niedrige Kaimauer, hinter der sich das Hafenbecken befindet. Luisa war noch nie hier, hat sich aber schon vor der Abfahrt in Bremen über die örtlichen Gegebenheiten im Internet informiert.

Während der mehrstündigen Busfahrt konnte sie sich etwas beruhigen. Die Fahrt selbst war mit neunzehn Euro ein echtes Schnäppchen. Luisa hatte sich zwar in den vergangenen Monaten ein bisschen Geld abzweigen können, aber wer kann schon wissen, wie lange das reichen muss? Benno muss ihr Verschwinden längst bemerkt haben. Wahrscheinlich ist er schon dabei, nach Hinweisen zu suchen, wo sein Lieblingspferdchen abgeblieben sein könnte. Schon um fünf Uhr früh hatte Luisa sich aus dem Zimmer geschlichen, das sie sich seit drei Monaten mit Jalina teilen muss. Seit Jalina im Club Hatschepsut arbeitet, heißt sie Malaika. Das hatte Benno sich ausgedacht. Das sei sicherer wegen der Bullen, hatte er erklärt.

Ihre Sachen hatte Luisa schon am Vortag zusammengepackt. Heimlich, immer dann, wenn sie zwischen zwei Kunden ein bisschen Zeit für sich gehabt hatte, und weder Jalina noch Jenny in der Nähe gewesen waren. Den Rucksack hat sie dann in die Lücke zwischen ihrem Kleiderschrank und dem Kopfende ihres Bettes gezwängt, so dass er nicht besonders auffiel.

Das größte Problem war dann allerdings, unbemerkt mit ihrem Gepäck das Zimmer zu verlassen, ohne Jalina zu wecken. Dann war es aber wider Erwarten leicht. Nicht nur weil Jalina einen gesegneten Schlaf hat, sondern auch, weil sie beide zuvor bis kurz nach halb zwei Uhr nachts gearbeitet hatten. Benno hatte die Preise gesenkt. Das wäre nötig, weil die Konkurrenz aus Polen immer mehr mit Dumpingangeboten arbeitet. So hat es Benno jedenfalls erklärt. Die „Fleischpreise“ sind im freien Fall. Und das gilt nicht nur für polnisches und belarussisches Frischfleisch, sondern auch für solches aus deutschen Landen.

Aber die Preissenkung hatte gewirkt. Jenny, Jalina und Luisa hatten mehr zu tun als je zuvor, verdienten aber kaum mehr Geld dabei. Für Benno ist es egal, denn da er jetzt drei Mädchen hat, lebt er nicht schlecht. Lebte nicht schlecht, muss es heißen. Denn Luisa hat sich … na ja, aus dem Geschäftsleben zurückgezogen, kann man sagen. Zumindest fürs Erste.

Direkt an der Mauer befindet sich eine Metallskulptur, wahrscheinlich Bronze, die vermutlich zwei Fischer darstellen soll. Beide tragen Mützen auf den Köpfen. Davon hat Luisa bereits ein Bild im Internet gesehen. Die Figuren sind in etwa lebensgroß. Einer der Männer sitzt auf der Mauer, der andere hat sich umgedreht und schaut ins Hafenbecken, während er sich mit den Unterarmen auf einem umgedrehten Korb abstützt, und Luisa sein Hinterteil entgegen reckt. Ebenfalls aus Bronze versteht sich. Im Gegensatz zum ganzen Rest der Skulptur ist sein Allerwertester nicht mattgrau, sondern glänzt wie eine Speckschwarte. Vielleicht, weil Touristinnen gern und oft daran reiben, während ihre Begleiter die sexuellen Übergriffe mit dem Handy für die Nachwelt dokumentieren. Viel Wasser ist nicht im Hafenbecken. Es ist wohl noch Ebbe. Links unten liegt eine Art Rettungsboot im Wasser. Direkt unterhalb der Mauer mit den Bronzefischern sind zwei Fischkutter vertäut, einer mit roter, der andere mit grüner Bordwand.

Luisa wendet sich nach rechts und geht an einer Steinmauer entlang in Richtung Fähranleger. Die Restaurants scheinen alle geschlossen zu sein. Überhaupt ist nicht viel los. Ein paar versprengte Passanten in Anoraks oder Friesennerzen kommen ihr entgegen. Alle machen schlechtgelaunte Gesichter. Auf den Steinstufen an der Seite sitzt ein Mann und drückt eine Zigarette auf dem Boden aus. Er sieht nicht übel aus. Der Mann schaut sie an und nickt freundlich. Vielleicht kann sie sogar eine Spur von Interesse in seinem Blick erkennen. Unter anderen Umständen vielleicht ein potentieller Kunde. Wenn, dann auf jeden Fall einer jener Kunden, bei denen sie ihren Job ganz gut findet. Es sei denn es ist einer der Typen, die lieb und freundlich auftreten und dann mit den ekeligsten Sonderwünschen um die Ecke kommen.

Er trägt einen dunkelgrauen Kurzmantel, irgendwie der Typ Businessman. Einer von denen, die nicht lange über Preise lamentieren, wenn es um Französisch oder andere Extraleistungen geht. Einer von denen, die auch noch freundlich sind, wenn der Job erledigt ist. Aber auch da kann man sich sehr täuschen. Das hat sie gelernt. Schon sehr lange. Die schwarzen Haare des Mannes sind kurzgeschoren, die Augen blitzen hell und freundlich in dem ansonsten dunklen Gesicht.

Luisa geht weiter. Der Kutter mit der blauen Bordwand trägt den Namen Althea. Außerdem ist NEU 249 mit weißer Farbe am Bug aufgemalt. Das muss das Boot nach Hoogesand sein. Taue schlagen im Wind knatternd gegen die Masten, die über den Rand des Hafenbeckens ragen. Ein paar Meter tiefer ist ein Mann im gelben Friesennerz auf dem Vorderdeck dabei, ein dickes Tau zusammenzuraffen und zu verstauen.

Ein bisschen Angst hat Luisa schon. Sie ist noch nie mit einem Schiff hinaus aufs Meer gefahren. Mit einer Fähre über die Weser schon, aber von der Nordsee erzählt man sich doch ganz andere Geschichten. Solche von Sturmfluten und Monsterwellen. Was, wenn der Kutter auf den Wellen schaukeln würde? Von Seekrankheit wurde oft geredet. Und sie weiß nicht, ob sie zu den Kandidatinnen gehört, die empfindlich auf Seegang reagieren. Wenn sie allerdings das Wasser im Hafenbecken und draußen in der Fahrrinne betrachtet, kann von Seegang keine Rede sein. Die Oberfläche wird lediglich vom Wind gekräuselt.

Eine laute Männerstimme in einiger Entfernung lässt sie zusammenzucken. Unwillkürlich fährt sie herum und scannt mit ängstlicher Miene die Umgebung. Jetzt lacht der Mann. Es ist einer der Passanten, die ihr eben begegnet sind. Ist es möglich, dass Benno herausfindet, wohin sie geflohen ist? Hat sie Spuren hinterlassen, die auf ihren Aufenthaltsort hindeuten? Bis vor ein paar Tagen hat sie selbst nicht einmal gewusst, dass es Hoogesand überhaupt gibt. Und auch von Neuharlingersiel war im Club nie die Rede gewesen. Sie hatte vor ihrer Abreise mit niemandem über ihr Vorhaben geredet. Benno kann schlichtweg nicht wissen, wo sie ist und wohin sie will.

Luisa hält Ausschau nach dem Hafengebäude. Irgendwo da drinnen muss es doch eine Toilette geben. Und die sollte sie dringend noch aufsuchen, bevor das Boot abfährt. Sie hakt die Daumen unter die Tragegurte ihres Rucksacks und marschiert auf den Eingang zu. Im Vorübergehen mustert sie den Mann, der im offenen Parker und Rollkragenpullover an der Hafenkante entlang bummelt. Nicht weit von ihm entfernt steht ein grauer Rollenkoffer neben einem Betonpoller. Die Hände hat der Mann in seinen Hosentaschen vergraben. Luisa schätzt ihn auf vierzig Jahre. Plusminus. Seine braunen Haare sind leicht gewellt und konsequent nach hinten gekämmt. Im Nacken kräuseln sie sich über den Kragen und sind verhältnismäßig lang. Dazu trägt er einen Schnurrbart und ein kleines Kinnbärtchen, was Luisa ein bisschen an einen Musketier aus einem dieser Mantel-und-Degen-Filme erinnert, d´Artagnan, Artos, Portos oder so. Nur die Tatsache, dass die Haare oberhalb der Stirn schon ein bisschen licht sind, stört das Bild des wackeren, gutaussehenden Degenfechters ein wenig.

Absurderweise trägt d´Artagnan eine dunkle Sonnenbrille. Immerhin ist es nicht nur leicht bewölkt, sondern die düstere Wolkendecke sieht aus, als würde es jeden Moment anfangen zu regnen. Auf einer Bank sitzt eine mollige Frau in einem grünen, etwas schäbig aussehenden Anorak. Der raue Seewind macht mit ihren halblangen Haaren, was er will. Das Mädchen mit den sehr kurzen Haaren, das vor der Bank auf einem Bein auf und ab hüpft, und dabei anscheinend versucht, jeweils eine der Waschbetonplatten zu überspringen, ist vermutlich ihre Tochter. Die Kleine grinst Luisa freundlich an, während sie mit rudernden Armbewegungen versucht, nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Die Glastür des Hafengebäudes gleitet automatisch zur Seite, als Luisa darauf zugeht. Ein warmer Luftstrom weht ihr entgegen. Vor einem Schalter warten ein paar Personen, wahrscheinlich Reisende, die ihr Gepäck aufgeben oder Tickets kaufen wollen. Weiter rechts sind die Toiletten. Luisa geht durch die Tür mit dem D darauf und drückt eine der WC-Boxen auf. Mit dem großen Rucksack kommt sie kaum hindurch. Sie verriegelt die Tür hinter sich und stellt den Rucksack auf dem Teil des gefliesten Bodens ab, der nicht vor zweifelhafter Nässe glänzt.

Später tritt sie im Waschraum vor den Spiegel. Da niemand sonst anwesend ist, zieht sie den Reißverschluss ihrer pinkfarbenen Steppjacke ein Stückchen herunter und weitet mit zwei Fingern den Halsausschnitt ihres Pullis. Die ehemals blauen Flecke an der Stelle, an der Benno sie gewürgt hat, sind inzwischen nur noch hellbraun.

Benno ist eben ein Arsch. Das ist ihr leider erst nach und nach klargeworden. Selbst Kunden hatten sie auf die Flecke angesprochen und gefragt, ob sie ein Kerl geschlagen hat. Einer hatte sogar gefragt, ob sie darauf steht, wenn man sie dabei würgt, und dämlich gegrinst. Luisa hatte gesagt „Klar, für fünfhundert Euro extra kein Problem, Kleiner.“ Damit war das Thema erledigt gewesen.

Luisa wäscht sich die Hände und hält sie für ein paar Sekunden in den Luftstrom des Handtrockners, der weder warm ist noch die Hände trocknet, dafür aber reichlich Lärm macht. Den Rest wischt sie an ihrer Jeans ab und geht wieder nach draußen. An der Tür stößt sie beinahe mit einem älteren Mann zusammen, der eben das Gebäude betreten will. Das wäre dann schon die zweite Kollision mit einem alten Mann an einem Tag gewesen. Dieser nickt ihr aber, im Gegensatz zu dem Penner an der Bushaltestelle, freundlich zu. Auch er zieht einen Rollenkoffer hinter sich her, allerdings ist der größer als der von d`Artagnan.

3 Heiner Klosjan

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Heiner Klosjan

Es fängt schon gut an, als Heiner Klosjan auf dem Kurzzeit-Parkplatz am Hafen aus dem Taxi steigt. Noch während der Fahrer sein Gepäck aus dem Kofferraum wuchtet, reißt ihm eine Windbö sein Basecap mit dem St. Pauli-Aufdruck vom Kopf und fegt es über den Parkplatz. Ohne den Koffer und den Taxifahrer zu beachten, läuft er der Mütze hinterher, so schnell seine Korpulenz es ihm gestattet. Mehrere Versuche schlagen fehl; der Wind schubst das Teil immer ein Stück weiter, sobald er sich bückt, als wolle er ihn verarschen. Oder, als würde irgendein Bengel die Mütze an einem Faden wegziehen. Schließlich landet das Cap im Wasser des Hafenbeckens.

Schnaufend marschiert Heiner zurück zum Taxi. Der Fahrer steht noch an seiner geöffneten Tür und hebt bedauernd die Schultern, bevor er einsteigt. Heiner hebt den Griff seines Trolleys heraus und zieht das Gepäckstück hinter sich her über den fast leeren Parkplatz zum Hafengebäude. Er kennt sich hier ganz gut aus. Mit Bärbel war er früher viele Male in Neuharlingersiel gewesen, und auch die meisten Inseln hatten sie besucht.

Nur nicht Hoogesand. Das ist ein verhältnismäßig unattraktiver Fleck Erde mitten in der Nordsee. Unattraktiv zumindest für den Tourismus, weil die Insel weder über einen Sandstrand verfügt - wie es der Name eigentlich vermuten ließe -, noch über eine gastronomische Infrastruktur. Bis vor Kurzem jedenfalls. Er selbst hatte im Rahmen einer Redaktionsserie vor ein paar Jahren mal einen kleinen Artikel in der Samstagausgabe über Hoogesand verfasst. Ob irgendeiner der verbliebenen viertausendsechshundert Print-Abonnenten seine Geschichte damals überhaupt noch gelesen hatten, bezweifelt Heiner. Selbst in der Online-Ausgabe war seine Inselgeschichte damals weitgehend untergegangen.

„Du musst Facebook und Twitter aktueller bespielen, Heiner“, hatte Leni ihm erklärt und ihn dabei angesehen, wie jemand, der in einem archäologischen Museum die Reste einer frühgeschichtlichen Tonschale betrachtet. „Dein letzter Tweet ist vom vierten Oktober.“ Sie hatte langsam den Kopf geschüttelt, und ihr schwarzer Pferdeschwanz pendelte dabei wie ein Metronom der Verachtung. Es war der neunte Oktober gewesen, und damit war sein letzter Tweet fünf Tage alt. Zu lange her für diesen verdammten, schnelllebigen Online-Scheiß. Tweet - er muss das Wort nur denken, um sein Magengeschwür damit zu kitzeln. Allein der Umstand, dass der ehemalige, „sogenannte“ US-Präsident das Medium so liebte, reicht schon aus, um seinen Blutdruck trotz Tabletten in ungesunde Sphären zu katapultieren.

Leni hatte damals ihre gesamte journalistische Girl-Power in den niedersächsischen Landtagswahlkampf geworfen und Interviews mit allen Kandidaten geführt, die eine realistische Chance auf Erststimmen hatten. Allen voran mit Wolfgang Sievers, dem FDP-Kandidaten, der zufällig das gleiche Parteibuch wie Lenis Onkel hat. Welcher (ein weiterer Zufall) einer der beiden Herausgeber des Wittmunder Kreisanzeigers ist, dem Heiner erst kürzlich den Rücken gekehrt hat. Weil nämlich Leni Ziegler nach Abschluss ihres Volontariats bei der Rheinischen Post in Düsseldorf als Redakteurin beim Wittmunder Kreisanzeiger eingestiegen ist. Weil nämlich Leni Ziegler, als der Lokalchef Norbert Willner, ein alter Weggenosse von Heiner, ein schlappes halbes Jahr später in den Ruhestand ging, an Heiner Klosjan rechts vorbei, die Redaktionsleitung übernommen hatte, was natürlich nicht das Geringste mit ihrem Verwandtschaftsverhältnis zum Herausgeber, sondern ausschließlich mit ihrer herausragenden fachlichen Kompetenz zu tun hatte. Satiremodus aus. Und weil nämlich Leni Ziegler ein empathieloses, egozentrisches und rücksichtsloses Karriereluder ist, das mit Begriffen wie Loyalität und solider redaktioneller Arbeit überhaupt nichts anfangen kann.

Warum ist er heute hier? Genau, weil er raus will aus diesem Karussell aus Ungerechtigkeit und Enttäuschung. Weil er schon lange davon geträumt hat, auszusteigen. Sich auf einer Insel niederzulassen, vielleicht irgendwo ein ruhiges Plätzchen zu finden, ein kleines Grundstück mit einem alten Fischerhäuschen, das er sich herrichten kann.

Natürlich ist das auf den friesischen Inseln nicht möglich, das weiß Heiner Klosjan sehr gut. Die Grundstückspreise und Lebenshaltungskosten sind dort so hoch, dass selbst die Einheimischen aufs Festland fliehen und ihre Immobilien lieber dem Tourismus zum Fraß vorwerfen. Aber auf Hoogesand – wer weiß – findet er vielleicht eine Möglichkeit. Soweit er recherchiert hat, will da kaum einer hin. Eine Hotelanlage im Nordosten verfällt dort seit Jahren und die Pension Mathilde ist im Moment überhaupt die einzige Unterkunft, in die man sich einmieten kann. Das Eiland scheint tatsächlich bis heute weitgehend unentdeckt zu sein und könnte in den nächsten Jahren vielleicht ein Geheimtipp werden für Leute, denen Abgeschiedenheit und Ruhe wichtiger sind als Komfort, kilometerlanger Sandstrand mit Frittenbuden und Schickimicki-Gastronomie.

Missmutig wuchtet Heiner seinen Koffer den Bordstein hinauf und wendet sich zum Hafengebäude. Er hält Ausschau nach der weißen Spiekeroog-Fähre, die an der Kaimauer liegt. Der blaue, umgebaute Kutter mit Namen Althea liegt noch tief im Hafenbecken. Heiner fragt sich, ob von ihm allen Ernstes erwartet wird, dass er die senkrechte Metallleiter hinabsteigt, um an Bord zu kommen. Laut seiner Armbanduhr müsste es bis zur Abfahrtzeit noch eine gute halbe Stunde dauern. Zweifelhaft, dass die Flut den Wasserstand bis dahin entscheidend anheben wird. Aber zuerst will er noch die Toilette aufsuchen. Die Überfahrt wird laut Internet über zwei Stunden dauern, und er bezweifelt, dass er die Zeit überbrücken kann, bis er dann endlich in der Pension ankommt. Aus den Augenwinkeln beobachtet er zwei Männer und eine Frau mit einem Kind, die sich zögernd der Hafenkante oberhalb der Althea nähern und nach unten spähen. Die Frau redet mit dem Kind (einem ziemlich dünnen Mädchen mit kurzen Haaren) und zuckt dabei ratlos mit den Schultern. Offenbar fragt auch sie sich, wie sie mit ihrem Gepäck auf das Schiff gelangen sollen. Im letzten Moment nimmt Heiner wahr, dass eine junge Frau mit einem Rucksack durch die Glastür gestürmt kommt, auf die er gerade mit großen Schritten zusteuert. Um ein Haar wären sie zusammengeprallt. Sie blickt ihn kurz mit großen Augen an und grinst dann verschmitzt. Das schmale weiße Gesicht lässt vermuten, dass in der dicken pinkfarbenen Steppjacke ein zartes Persönchen steckt. Die dünnen Beine in der engen Röhrenjeans, die unten aus der Jacke herausragen, unterstreichen den Eindruck. Sie hat halblange brünette Haare, die von einigen hellblonden und lilafarbenen Strähnen durchzogen sind. Für seinen Geschmack ein bisschen zu viel Make-up um die Augen, aber das Mädel hat was. Heiner findet sie hübsch. Obwohl ihm kurz der Gedanke durch den Kopf zuckt, dass er sich so oder so ähnlich einen Junkie vorstellt. Er versucht ein freundliches Lächeln, während er sich an ihr vorbei in das Gebäude bewegt. Noch während er seine Blase vor dem Urinal von unnötigem Ballast befreit, fragt er sich, ob das Mädchen auf der Spiekeroog-Fähre einchecken wird, oder ob sie auch nach Hoogesand will. Irgendwie sieht sie eher nach Hoogesand aus, obwohl er keine Ahnung hat, wie er darauf kommt. Vermutlich hat sie auf ihn den Eindruck einer Aussteigerin gemacht.

4 Gabriele Whist

4
Gabriele Whist

Ein wenig flau wird ihr im Magen, als sie sich bückt, um den oberen Rand der Metallleiter zu ergreifen. Von unten schauen zwei Augenpaare zu ihr herauf. Das Boot, das früher mal ein Fischkutter gewesen war, jetzt aber als Fähre fungiert, hat sich mit auflaufender Flut noch ein Stückchen im Hafenbecken gehoben, aber es sind noch immer fünf oder sechs Sprossen, die Gabriele Whist an der nicht ganz rostfreien Metallleiter hinabklettern muss, die an der braunen Metall-Spundwand des Hafenbeckens verankert ist.

„Warte, die Mama klettert zuerst, und du kommst direkt hinter mir, ja?“, sagt sie zu ihrer Tochter und setzt vorsichtig einen Fuß auf die Sprosse, während ihre Hände sich krampfhaft um das Metall klammern. Hätte sie diese Umstände vor ihrer Buchung gekannt, sie hätte sich vermutlich für ein anderes Ziel entschieden. Im Gegensatz zum professionellen Tourismus auf den anderen Ostfriesischen Inseln ist das, was im Zusammenhang mit Hoogesand angeboten wird, ganz offensichtlich ein reines Provisorium. Andererseits vergrößert das die Chance darauf, dass Phillip ihren neuen Aufenthaltsort nicht genauso herauskriegen wird, wie die Adresse des Frauenhauses in Seelze, wo sie fast vier Wochen mit Mia gelebt hatte.

Besonders sportlich ist Gabriele Whist schon als Mädchen nicht gewesen, und wann sie zuletzt eine Leiter, noch dazu eine so steile, benutzt hat, daran kann sie sich nicht erinnern.

„Klar, Mama, kein Ding“, antwortet Mia und zuckt mit den Schultern. Ihr scheint das Entern des Kutters im Gegensatz zu ihrer Mutter kein Kopfzerbrechen zu bereiten.

Der eine Mann, der mit dem Schnurr- und Kinnbart, der einen Parker trägt (einen olivgrünen), steht schon neben dem Skipper auf Deck. Oder neben dem Kapitän. Oder Fährmann. Was weiß sie, wie sich einer nennt, der mit einem umgebauten Fischkutter Leute auf eine Insel befördert. Der Mann mit dem Schnurr- und Kinnbart jedenfalls hat zusammen mit dem Kapitän das Gepäck der Reisenden entgegengenommen und auf dem Kutter verstaut, welches der andere Mann, der mit den kurzen schwarzen Haaren, der aussieht wie Herr Kaiser von der Hamburg-Mannheimer, nur in schwarz, nach unten angereicht hat.

Sie muss sich jetzt voll darauf konzentrieren, ihre robusten Schnürschuhe sicher auf den runden Leitersprossen zu platzieren und sich mit den Händen gut festzuhalten, während sie Sprosse für Sprosse nach unten klettert.

„Ganz ruhig“, brummt der Skipper unter ihr in einem Tonfall, als müsse er ein nervöses Pferd beruhigen. „Sie ham´s gleich. Nur noch eine Sprosse.“ Gabriele Whist stammt aus Hannover, und die Sprechweise des Skippers klingt in ihren Ohren wie ein Podcast aus dem Ohnsorg-Theater. Sie fühlt Hände an ihren Hüften, und die Stimme des Mannes mit Schnurr- und Kinnbart sagt hinter ihr: „Keine Sorge, ich hab Sie.“ Sein Griff wirkt zögerlich. Ganz offensichtlich ist er ehrlich bemüht, sie nicht zu weit unten zu berühren.

„Danke“, sagt Gabriele, als ihre Schuhe festen Halt auf dem schwarz lackierten Deck finden, und ringt sich ein schüchternes Lächeln ab. Dann blickt sie hinauf zu ihrer Tochter. „So, Mia, jetzt du. Sei bloß vorsichtig. Mach langsam.“

„Ja, ja, Mama“, sagt das Mädchen. Es schwingt sich geschickt über die Hafenkante und klettert mit beherzten und sicheren Bewegungen nach unten. Oben taucht neben dem Mann von der Hamburg-Mannheimer noch ein weiteres Gesicht auf. Eine junge Frau mit einer für Gabrieles Geschmack etwas zu bunten Frisur. Aber sie ist jung, sie kann es tragen, denkt sie.

„Komm, Mia, wir setzen uns da hin“, sagt Gabriele und deutet auf zwei lang gezogene Holzbänke, die sich unter einer Art Baldachin aus wetterfester Plane gegenüberstehen. Offensichtlich der Passagierbereich des Schiffes.

„Jo, dann nehm Se man Platz, junge Frau“, schnarrt der Skipper. Unter seinem gelben Friesennerz trägt er einen grobgestrickten Wollpullover, dessen Rollkragen ziemlich ausgeleiert aussieht. „Sie ham die freie Platzwahl.“ Er grinst. Die Bänke auf dem Kutter bieten normalerweise einer viel größeren Personenzahl Platz, als sich bisher eingefunden hat. Nachsaison. Gabriele wuchtet ihren Koffer über das Deck bis zum Ende einer der Holzbänke, die dasselbe blau aufweisen wie die Bordwand des Schiffes. Mia, die ihren rosafarbenen Kinderrucksack mit den Motiven aus der Eiskönigin auf dem Rücken trägt, schleppt zusätzlich eine Reisetasche aus silbernem Kunststoff mit beiden Händen zu ihrer Mutter.

Die junge Frau mit den hellblonden und lilafarbenen Haarsträhnen platziert einen großen Rucksack zwischen die beiden Bänke und setzt sich neben Gabriele.

„Hi“, sagt sie und lächelt. Sie hat schöne Zähne. An einem ihrer Nasenflügel blitzt ein kleines Piercing mit einem herzförmigen Strasssteinchen.

„Hi“, sagt Mia fröhlich. Sie beugt sich vor und sieht die junge Frau an ihrer Mutter vorbei an. Sie lächelt verschmitzt. Mia ist eine Kesse. Gabriele beobachtet ihre Tochter von der Seite. Äußerlich wirkt sie entspannt und fröhlich, und es scheint, als würde ihr die Situation nichts ausmachen. Gabriele hofft so sehr, dass sie beide auf der Insel endlich zur Ruhe kommen. In diesem Moment fängt das Boot an zu schaukeln. Ein anderer Kutter ist eben in den Hafen eingelaufen und an ihnen vorbeigefahren.

„Hallo“, begrüßt auch Gabriele die junge Mitreisende und nickt ihr zu. Der Baldachin über ihren Köpfen flattert in einer Windbö. Sie fragt sich, was passieren wird, wenn es Regen gibt. Die Wolken sehen nämlich sehr danach aus. Hier im Freien wären sie unter der Plane wohl kaum vor dem Regen geschützt, denn der Wind würde die Nässe von der Seite unter den Baldachin wehen. Und im Steuerhaus würden im Notfall alle bestenfalls stehend und dicht gedrängt Platz finden.

„Kann mir jemand helfen, bitte?“, fragt eine Männerstimme oberhalb von Gabrieles Kopf. Ein älterer, kräftig gebauter Mann steht oben am Rand der Mauer. Eine Hand liegt auf dem Griff eines Rollenkoffers.

„Jo, na sicher“, gibt der Skipper zurück und vermittelt einmal mehr den Eindruck, als befände man sich im Ohnsorg-Theater. Er greift mit einer Hand den Rand der Metallleiter, stellt einen Fuß auf die unterste Stufe und reckt den freien Arm noch oben. Der ältere Mann beugt sich etwas nach vorn und hält mit einer Hand den Koffer so weit wie möglich nach unten. Zusammen mit dem Skipper nimmt der Mann mit dem Schnurr- und Kinnbart das Gepäckstück entgegen. Inzwischen hat auch der Mann von der Hamburg-Mannheimer Gabriele gegenüber Platz genommen.

„Hi“, sagt er, „ich bin Mike. Mike aus Lübeck.“ Er entblößt zwei Reihen perfekter weißer Zähne.

„Angenehm, Whist“, sagt Gabriele. „Gaby“, fügt sie hinzu. „Das ist meine Tochter.“ Sie deutet auf Mia. Mike strahlt auch Mia an und nickt. Gabriele findet, dass dieser Mann irgendwie nicht hierher passt. Solche Leute arbeiten im fünfzehnten Stock eines Bürotowers und verbringen Luxusurlaube auf den Seychellen. Oder zumindest in einem Sternehotel auf Sylt. Wahrscheinlich ist er nicht bei der Hamburg-Mannheimer, sondern Investment-Banker bei irgendeinem internationalen Bankinstitut. Mia kichert und stößt ihre Mutter mit dem Handrücken an. Sie blickt nach oben zur Metallleiter, wo der ältere Mann mit ungelenken Bewegungen dabei ist, herabzuklettern. Von schräg unten betrachtet sieht der Mann in seinem hellbraunen Popeline-Mantel, der über dem respektablen Gesäß nach oben verrutscht ist, aus, als würde er jeden Moment den Halt verlieren. Gabriele freut sich zwar ein bisschen, dass sie offenbar nicht die unsportlichste an Bord ist, macht aber zu ihrer Tochter „Pscht“ und schüttelt dabei missbilligend den Kopf.

Der Mann mit dem Schnurr- und Kinnbart setzt sich neben den Mann von der Hamburg-Mannheimer, Gabriele, Mia und der jungen Frau gegenüber. Der ältere Mann hat inzwischen ebenfalls das sichere Deck erreicht und verstaut seinen Koffer schnaufend unter der schmalen Überdachung des Steuerhäuschens, wo auch die beiden anderen Männer ihr Gepäck abgestellt haben. Während er dann ebenfalls auf der Bank Platz nimmt, kassiert der Skipper von allen den vereinbarten Fahrpreis von achtzig Euro in bar. Mia zahlt nur die Hälfte. Don´t pay the ferryman. Gabriele muss an den alten Song von Chris de Burgh denken. Until he gets you to the other side.

„So, meine Herrschaften, nu kann das gleich losgehen“, verkündet der Skipper gutgelaunt. „Bidde sich anzuschnallen und das Rauchen einzustellen.“ Mia blickt ihre Mutter mit großen Augen an.

„War ein Scherz“, flüstert Gabriele ihr zu.

„Und mein Name is übrigens Hinnerk“, stellt der Skipper sich vor. „Ich bin für die nächsten zwei, drei Tage ihr Kapitän. Nur damit Sie wissen, wer für den Fall, dass wir sinken, als Letzter von Bord geht.“ Er grinst über das ganze wettergegerbte Gesicht. Die junge Frau mit den bunten Haaren kichert unsicher. Auch Mike, der Mann von der Hamburg-Mannheimer, lässt ein kurzes humorloses Lachen vernehmen. Offensichtlich ist Hinnerk ein Spaßvogel. Gabriele ist aufgefallen, dass der Mann mit dem Schnurr- und Kinnbart spontan grinste, als Hinnerk seinen Vornamen nannte.

Inzwischen ist der Skipper in seinem Häuschen verschwunden, und kurz danach springt mit einem dumpfen Röhren der Dieselmotor an. Ein leichtes Vibrieren überträgt sich auf den Schiffsrumpf, das Gabriele über die Holzbank und in den Füßen spürt. Als der Kutter sich von der Hafenmauer löst, bemerkt Gabriele, wie die junge Frau mit den bunten Strähnen nach oben schaut und seltsam erleichtert ausatmet.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

5 Michael Walker

5
Michael Walker

Die Althea mit der Kennung NEU 249 gleitet über das spiegelglatte Wasser an der Spiekeroog-Fähre vorbei, die noch immer am Kai liegt und mit Containern beladen wird. Auf dem asphaltierten Hafengelände links und rechts der Kaimauern ist keine Menschenseele zu entdecken. Der Kutter durchquert die Hafenausfahrt und ist dann in der Fahrrinne, die auf der linken Seite von hölzernen Stangen gekennzeichnet ist. Das auflaufende Meerwasser hat inzwischen das zuvor freiliegende Watt beinahe bis zum Ufer geflutet, wo wuchtige, teilweise mit Algen und Schlick überzogene Steinblöcke eine Wehrmauer gegen zu erwartende Sturmfluten bilden. Die Lücken zwischen den Steinblöcken hat man mit Teer versiegelt.

Michael Walker holt sein Handy aus der Manteltasche und schaut nachdenklich auf die Liste der vierzehn Anrufe in Abwesenheit und einige neue eingegangene E-Mails und Nachrichten. Dann schaltet er das Gerät aus und steckt es wieder ein. Das kleine Mädchen, Mia, flüstert ihrer Mutter etwas zu, aber er hört es trotzdem. „Du hast gesagt, es sind auch noch andere Kinder auf der Fähre.“

„Warte doch mal ab“, sagt die Frau, die sich als Gabriele vorgestellt hat. „Drüben in der Pension sind bestimmt noch andere Kinder.“ Michael Walker, der vorsichtshalber unter dem Namen Mike Jones eingecheckt hat, nickt dem Mädchen aufmunternd zu und zwinkert vertraulich mit einem Auge.

„Da wir sechs die einzigen Passagiere sind“, sagt er und lächelt gewinnend, „und uns in nächster Zeit sicher öfter über den Weg laufen, schlage ich vor, dass wir uns bekannt machen. Ich bin Mike. Mike Jones.“ Er blickt aufmunternd in die Runde.

„Gaby“, sagte Gabriele Whist und schaut sich schüchtern um. „Und das ist Mia.“

„Mama, ich kann mich selbst vorstellen“, mault die Kleine vorwurfsvoll. „Echt jetzt.“ Sie rollt mit den Augen.

„Ich bin die Luisa“, sagt das Mädchen mit den bunten Strähnen. „Aber Freunde nennen mich manchmal Biene. So könnt ihr mich auch nennen.“ Sie lächelt und sieht dabei verdammt hübsch aus. Richtig heiß sogar. „Aber keine Angst, ich steche nicht“, fügt sie dann hinzu. Michael hat das Gefühl, dass sie mit ihm flirtet, während sie ihren Blick für einen Augenblick auf ihn richtet.

„Klosjan“, sagt der der ältere Mann im Popeline-Mantel. Er schaut dabei aufs Meer hinaus, bis er merkt, dass alle ihn ansehen. „Heiner“, fügt er dann hinzu. „Angenehm.“

Der Mann mit der Sonnenbrille und den gewellten, nach hinten gekämmten Haaren, die allerdings vom Wind inzwischen ziemlich außer Form geraten sind, scheint einen Moment nachzudenken. „Ich bin Christoph“, sagt er dann. „Ihr könnt einfach Chris sagen.“ Michael kommt es beinahe so vor, als habe er sich den Namen eben erst ausgedacht. Aber für falsche Namen ist er selbst ja schließlich der Spezialist, oder? Wer wirft da den ersten Stein?

Aber an dem Dilemma ist schließlich nicht er schuld. Das sind wohl eher die Finanzvorstände von Fischer-Rochat-Pharma-International und die von LOG Morgan Resources, denen Analysten aus aller Welt zweistellige Zuwächse innerhalb von drei Monaten vorausgesagt haben, während die Kurse stattdessen erbärmlich abgekackt sind. Und wenn nicht gleichzeitig auch noch zwei Aktienfonds, die Michael Walker seit über zwei Jahren betreut, innerhalb von wenigen Wochen auf fünfundsiebzig beziehungsweise zweiundsechzig Prozent in die Tiefe gerauscht wären, wie eine Cessna, die von Fallwinden gepackt wird, er hätte den Verlust womöglich auffangen können. Zumindest zum größten Teil. Mittelfristig hätte sich alles mit etwas Optimismus mehr oder weniger wieder eingependelt, wenn nicht … ja, wenn Anleger einfach mal ihrem Berater vertrauen würden, statt sich selbst mit ihrem laienhaften Wissen auf dem Finanzmarkt herumzutreiben und sich auf ihre dilettantische Google-Recherche stützen würden. Wenn sie dann die Kurseinbrüche bemerken, kalte Füße kriegen, ihre Einlagen zurückfordern und mit ihren Anwälten drohen, sind sie schließlich selbst schuld, wenn Verluste realisiert werden. Michael Walker ist schließlich nichts anderes übriggeblieben, als seine Konten aufzulösen, alles zu verflüssigen, was sich kurzfristig zu Geld machen ließ, und sich in Mike Jones zu verwandeln.

Um die Villa in Falkenfeld ist es natürlich schade. Verdammt schade sogar, aber das wird er schon verschmerzen. Hauptsache, er kann zunächst mal untertauchen und in Ruhe darüber nachdenken, wie er weitermachen wird. Abwarten, bis die Gläubiger damit beginnen, ihre Verluste als das zu akzeptieren, was sie sind, nämlich Lehrgeld, nichts anderes, und bis seine Akte auf dem Stapel der Staatsanwaltschaft etwas weiter nach unten gewandert ist. Die 489.000 Euro Bargeld, die sich, gebündelt in 200- und 100-Euro-Scheinen, verpackt in zwei braunen Tüten unten in seinem Koffer befinden, werden für einige Zeit ungenutzt bleiben. Aber danach werden sie ihm beim Neuanfang helfen.

 

 

 

 

 

 

 

 

6 Ramona Klages

6
Ramona Klages

Den ganzen Tag über sieht es schon nach Regen aus, aber der raue Herbstwind jagt die grauen Wolken ständig weiter Richtung Festland. Zwar wölben sich immer neue Wolkenformationen drohend über der Insel, aber sie behalten ihre Feuchtigkeit für sich.

Ramona Klages hat das Esszimmer für die neuen Gäste vorbereitet. Die beiden lang gezogenen Esstische sind eingedeckt fürs Abendessen. In regelmäßigen Abständen stehen die filigranen Blumenväschen, in denen ein paar kurz geschnittene Stiele der Meersenfpflanze stecken, die es überall auf den Salzwiesen im Süden und Südosten von Hoogesand gibt. Bis weit in den September hatten sie noch die lilafarbenen Blüten getragen, die an vierblättrige Kleeblätter erinnern, aber jetzt ist ihre Blütezeit längst vorbei.

Manuela, die Köchin aus Portugal, ist in der Küche beschäftigt und kümmert sich um den Krabbensalat, der abends zu Pellkartoffeln serviert werden soll. Anders als auf den anderen Ostfriesischen Inseln kommen die Krabben hier aus dem Tiefkühlschrank. Wie alles auf Hoogesand, denn der Fährverkehr zwischen dem Festland und der Insel findet so selten wie unregelmäßig statt. Außerdem rechnet sich der Transport von frischen Lebensmitteln bei der geringen Gäste-Frequenz nicht mal annähernd.

„Moin“, sagt sie zu Frau Krahnebill, die eingepackt in eine dicke Steppjacke in einem Liegestuhl auf der überdachten und verglasten Veranda liegt und sich ein Taschenbuch vors Gesicht hält. Frau Krahnebill schaut über ihre Lesebrille hinweg und ruft ihrer Wirtin ein fröhliches „Moin“ entgegen. Die Dame ist eine pensionierte Lehrerin und kommt aus dem Ruhrgebiet, oder aus dem Rheinland, so genau erinnert Ramona sich nicht. Jedenfalls freut sich Frau Krahnebill jedes Mal, wenn sie zu einer Tageszeit jenseits der Mittagsstunde den Gruß Moin anwenden kann.

„Geht’s heute nicht ans Meer?“, fragt Ramona.

„Ach, später vielleicht noch. Ist grad so spannend.“ Sie wedelt mit ihrem Buch.

Es ist nichts los auf Hoogesand. Und das ist beinahe noch übertrieben. Außer Frau Krahnebill logiert nur noch ein allein reisender Herr in der Pension Mathilde. Herr Loose war früher Pharmareferent und ist, wie Frau Krahnebill, weit jenseits der Sechzig. Erstaunlicherweise kommen fast nur Singles auf die Insel, oder zumindest Leute, die ohne Begleitung anreisen. Das liegt offensichtlich daran, dass es auf Hoogesand nichts gibt, was Familien anlocken könnte.

Gemeinsam mit Emine hatte Ramona mal geplant, direkt neben der Pension einen Spielplatz anzulegen, aber dazu ist es nie gekommen. Es ist ein einsamer Ort, ein Ort, um Abstand zu gewinnen. Abstand vom beruflichen Alltag oder von unliebsamen Lebensumständen. Vielleicht nach einschneidenden Ereignissen, die nach seelischer Rekonvaleszenz verlangen.

Das Leben auf Hoogesand, die gemeinsame Pension, das ist mal Ramonas und Emines gemeinsamer Traum gewesen. Seit Jahren hatten sie daraufhin gespart, Pläne geschmiedet und von der gemeinsamen Zukunft geträumt. Aufmerksam geworden waren sie auf die Insel während eines Urlaubs, als sie eine Bootstour mitgemacht hatten, die sie zu den Seehund-Populationen am östlichen Ende von Langeoog geführt hatte. Der Skipper damals war sehr mitteilsam gewesen und hatte unter anderem über die Geschichte der friesischen Inseln geredet, über Spiekeroog, Baltrum und vor allem Langeoog, wo es im Mittelalter zur Zeit der Hanse nur eine Siedlung räuberischer Robbenjäger gegeben hatte, die mit falschen Leuchtfeuern Handelsschiffe in seichte Gewässer lockten, die Besatzungen totschlugen und die Frachträume ausräumten.

Das Ausflugsboot war damals nur gerade so weit rausgefahren, bis sie die Umrisse von Hoogesand im Dunst über dem Wasser sehen konnten. Emine und sie hatten später fieberhaft im Internet recherchiert. Viele Einträge darüber hatten sie nicht gefunden. Die Insel war ihnen damals vorgekommen, wie ein verwunschenes Eiland, auf dem sie nur für sich und ihre Liebe hatten leben wollen.

Der Name der Insel ist irreführend, denn Hoogesand besitzt keinen Sandstrand. Früher einmal, viel früher, hatte es einen gegeben. In den Berichten darüber verschwimmen historische Fakten mit uraltem friesischem Seemannsgarn. Die Geschichte geht zurück bis zur Zweiten Marcellusflut im Januar 1362, die auch als „Grote Mandrenke“ bekannt ist. Damals waren an den Küsten Nord- und Ostfrieslands zehntausende Menschen ums Leben gekommen und rund hunderttausend Hektar zum Teil fruchtbares Kulturland von den Fluten verschlungen worden. Auch Rungholt, die damals größte Handelsmetropole an der Küste, ging damals verloren.

Vor dieser Springflut soll sich, vom Nordosten Hoogesands aus, eine breite sandige Landzunge in der Form eines Ochsenhorns weit ins Meer hinaus erstreckt haben. Andere Geschichten besagen jedoch, die Insel habe sich überhaupt erst nach der Grote Mandrenke aus dem Meer erhoben. Was Ramona allerdings bezweifelt, denn Hoogesand ist keine Sandbank, die mal eben so angespült werden konnte, sondern verfügt über einen felsigen Untergrund, der sich an den höchsten Stellen bis zu fünfzehn Meter über die durchschnittliche Hochwassermarke erhebt.

 

Geschichtlich belegt ist nur, dass Hoogesand noch bis zum Februar 1962 im Nordosten über einen respektablen Sandstrand verfügte. Bei der Sturmflut damals waren die ostfriesische Küste und die Inseln im Gegensatz zu Hamburg und anderen Städten an der Elbemündung weniger betroffen gewesen. Hoogesand allerdings, das bis heute ohne jeglichen Deichschutz ist, war bis auf wenige höher gelegene Gebiete vollständig überspült worden, und die bis zu fünf Meter hohen Wellen hatten das Erscheinungsbild der Insel gravierend verändert. Damals hatte es auf Hoogesand noch eine kleine Bauernschaft mit vier oder fünf Höfen gegeben, die Landwirtschaft und Fischfang betrieb. Vierzehn Menschen waren bei der Katastrophe von 1962 ums Leben gekommen.

 

Ramona ist auf den schmalen Trampelpfad getreten, der entlang niedriger und krumm gewachsener Kiefern zwischen dem Hauptgebäude der Pension und den kleinen Holzhütten verläuft, in denen die Gäste untergebracht sind. Sie nähert sich den Hütten. Es sind zehn Unterkünfte, und acht davon stehen im Moment leer. Wenn die neuen Gäste da sind, wird die Pension bis auf drei Hütten ausgebucht sein. Sie kann sich kaum erinnern, wann sie seit ihrer Ankunft auf der Insel und der Übernahme der Pension, sieben Hütten auf einmal vermietet hat. Selbst in der Hauptsaison sind es zuletzt nie mehr als fünf gewesen.

Eine Frau reist mit ihrer kleinen Tochter an, das weiß sie. Kinder bis zum Alter von zwölf Jahren zahlen dreißig Prozent weniger. Die Tochter von Frau Wüst (oder Wist) ist zwölf Jahre alt. Zumindest hat die Frau das behauptet. Vielleicht hat sie aber auch gemogelt, aber das wäre nicht so schlimm. Das macht keinen großen Unterschied.

Ramona Klages steigt die beiden Holzstufen zur ersten Holzhütte, die der Pension am nächsten ist, empor, und steht dann auf der kleinen Veranda. Jede Hütte verfügt über eine Veranda, die gerade so groß ist, dass zwei Campingstühle und ein Liegestuhl darauf Platz finden. Wenn man den Liegestuhl zusammenklappt, kann man an seiner Stelle zusätzlich einen kleinen Beistelltisch aus Rattan aus der Hütte nach draußen stellen.

Sie öffnet die niedrige Tür mit den Butzenscheiben und wirft einen Blick hinein. Die kleinen Fenster an der linken und der rechten Außenwand werden von kurzen, rotweiß karierten Vorhängen geziert. Unter den beiden Fenstern gibt es jeweils ein Bett mit ebenfalls rotweiß karierter Bettwäsche. An der Rückwand steht, wie in jeder Hütte, ein hölzerner Bauernschrank, außerdem befinden sich jeweils an den Fußenden der Betten niedrige Kommoden. Links und rechts des Bauernschranks hängen quadratische Bilder mit Dünenlandschaften, die garantiert keine Motive von Hoogesand darstellen. Die Bilder hatte Emine damals noch besorgt.

Ramona zieht die Tür wieder hinter sich zu. Jetzt, so kurz vor der Ankunft neuer Gäste, verzichtet sie meistens darauf, die unbewohnten Hütten abzuschließen. Allerdings hat sie sich seit dem letzten Winter angewöhnt, das an jedem Abend zu tun. Es hatte Mitte Januar für drei Tage Schnee gegeben. In dieser Zeit war sie für fast fünf Wochen die einzige Bewohnerin der Insel gewesen. Es war manchmal schon ein bisschen gruselig, wenn die Winterstürme an den Fensterläden rüttelten und der Wind in den Dachrinnen heulte. Es war aber auch deshalb gruselig, weil die Sache mit der einzigen Bewohnerin nicht so ganz stimmt. Es war zwar nicht viel Schnee gefallen, er hatte aber ausgereicht, um morgens die Spuren großer Gummistiefel zu offenbaren, die sich überall rund ums Haupthaus und zwischen den Gästehütten befanden.

Natürlich kannte Ramona auch damals schon das uralte, niedrige Steinhaus des alten Johann. Auch den Mann selbst kennt sie, aber er gilt als extrem menschenscheu, und ein bisschen unheimlich ist er auch. Von der alten Frau Hemsing, von der Ramona die Pension übernommen hat - eigentlich haben Emine und Ramona das gemeinsam getan - hatte sie erfahren, dass der alte Johann früher Fischer gewesen war und irgendwann im Suff seine Frau erschlagen haben soll. Johanns Haus steht weniger als drei Kilometer von der Pension entfernt in südlicher Richtung auf einer kleinen Anhöhe, in etwa wie die Warften, auf denen die Häuser auf den Halligen gebaut sind. Von weitem ist das Haus nicht zu sehen, weil die kleine Lichtung rundherum von Krüppelkiefern und Sanddorn eingeschlossen ist. Johann hat einen Hund; man hört ihn manchmal in der Ferne bellen.

Soweit Ramona weiß, versorgt der Einsiedler sich seit Jahrzehnten vollkommen autark, indem er sich eine Ziege hält, Kartoffeln und Roggen anbaut, und in der Gezeitenzone im Süden der Insel Austern sammelt. Allerdings soll er angeblich auch gelegentlich einen Hasen oder eine Ratte fangen. Oder auch die eine oder andere Möwe erschlagen.

Ramona schüttelt sich bei dem Gedanken. Sie blickt in die Richtung, jenseits des Haupthauses, wo irgendwo Johanns Häuschen steht. Dann zieht sie ihr Handy aus der Außentasche ihres kurzen Wollmantels. W-LAN gibt es auf der Insel nicht, und der Mobilfunkempfang ist nur zeitweise einigermaßen stabil. Ein kleiner Mobilfunkmast, der ursprünglich noch vom Betreiber der Hotelanlage im Nordosten errichtet worden ist, steht auf einer kleinen, mit Sauerampfer und Gänsedistel bewachsenen Lichtung in der Nähe des Anlegestegs.

Tideabhängig hatte Emine mal scherzhaft gesagt und damit den Mobilfunk-Empfang auf Hoogesand gemeint. Dabei hatte sie gelacht. Auf ihre unvergleichliche Art. Ramona wird spontan traurig. Es tut immer noch weh. Auch nach fast drei Jahren. Sie tritt wieder auf den Trampelpfad und blickt nach oben. Die Wolken, die durch den Wind relativ schnell über den Himmel geschoben werden, sehen bedrohlich nach Regen aus. Das tun sie aber schon den ganzen Tag und es ist bisher trocken geblieben.

Für die neuen Gäste ist alles vorbereitet. Es gibt nichts mehr zu tun. Manuela kümmert sich grundsätzlich allein ums Essen, und lässt sich auch nur ungern dabei helfen. Sie ist eine richtige Perle, und ohne sie müsste Ramona den Laden sicher bald schließen.

Hinnerk hat vor etwa einer Stunde angerufen und ihr mitgeteilt, dass sie in Neuharlingersiel abgelegt haben. Das bedeutet, sie würden jetzt noch gut zwei Stunden unterwegs sein. Vielleicht sogar ein bisschen länger, wenn man den steifen Nordost berücksichtigt, gegen den die Althea ankämpfen muss. Der Kahn ist schließlich auch nicht mehr ganz taufrisch. Schon lange nicht mehr. Hinnerk kennt sie jetzt schon beinahe vier Jahre. Er ist ein netter Bursche und hat immer einen lustigen Spruch auf den Lippen. Trotzdem hat sie mit ihm nie ein wirklich persönliches Wort gesprochen.

Auf dem Rückweg zur Pension wirft Ramona noch einen Blick auf Hütte Nummer vier. Von Herrn Loose ist weit und breit nichts zu sehen. Wenn er sich nicht im Haus aufhält, was Ramona nicht glaubt, ist er wahrscheinlich wieder auf der Insel unterwegs. Jeden Tag ist der alte Herr im Lodenmantel mindestens vier bis fünf Stunden draußen. Dabei lässt er sich von keiner noch so ungünstigen Witterung abhalten. Da er seit fast drei Wochen hier ist, muss er inzwischen jeden Strauch und jeden Hasen mit Namen kennen.

Als Ramona wieder auf die windgeschützte Veranda der Pension tritt, wird sie von Frau Krahnebill mit einem fröhlichen „Moin“ begrüßt. Ein paar weißgraue Strähnen haben sich aus ihrem Haarknoten gelöst. Ihre Lesebrille sitzt bedenklich weit vorn auf der Nasenspitze. Ramona lässt es dabei bewenden, der alten Dame freundlich zuzunicken. Auf dem Cover des Taschenbuchs, das sie in den Händen hält, ist ein blutjunges, wunderschönes, schlankes Pärchen abgebildet, das sich, sehr leicht bekleidet, leidenschaftlich umarmt. Irgendwie will es äußerlich nicht zur Leserin passen. Ramona verwirft den Gedanken sehr schnell und ist verärgert über sich selbst. Das Herz altert schließlich wesentlich langsamer als der Körper. Eigentlich tut es das nie, das weiß Ramona sehr gut.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

7 Christoph Kuhnert

7
Christoph Kuhnert

Der Kutter tuckert unermüdlich durch die Fahrrinne Richtung Spiekeroog. Hatte es in der ersten Viertelstunde noch Smalltalk unter den Fahrgästen gegeben, hängt jetzt offensichtlich jeder seinen eigenen Gedanken nach. In der Ferne kann man schon die steinerne Mole erkennen, die von der Hafeneinfahrt der Urlaubsinsel hinaus ins Wattenmeer ragt. Der Kutter wird von einer aufgeregt kreischenden Schar Möwen begleitet, die über den Köpfen der Fahrgäste kreisen und teilweise rechts von der Fahrrinne auf dem Schlick neben dem Schiff herlaufen, aufsteigen und wieder landen, anscheinend in der Hoffnung, dass vom Kielwasser schmackhafte Meeresfrüchte aufs Watt gespült werden.

Das Festland ist schon weit entfernt und wird am südlichen Horizont von einer Phalanx aus winzigen Windrädern gekennzeichnet, die bereits durch Wolken und Dunst in der Unschärfe verschwimmen. Während auf der rechten Seite, wo sich die Möwen tummeln, das Watt noch in großen Teilen freiliegt, ist das Wasser links des Schiffes bereits so weit vorgedrungen, dass der Rand der Fahrrinne nicht mehr erkennbar ist.

Wenn er sich unbeobachtet fühlt, mustert Christoph das junge Mädel mit den gefärbten Strähnen. Sie ist zwar keine ausgewiesene Schönheit und für seinen Geschmack ein bisschen zu dünn, aber ihr Blick hat etwas Aufreizendes. Wahrscheinlich hat sie es faustdick hinter den Ohren. Was so eine Frau dazu bewegt, ohne Begleitung mit einem Kutter zu einem Haufen aus Stein und Sand mitten in der Nordsee zu fahren, darüber denkt er nicht weiter nach. Diese Frage könnte man sich bei allen seinen Mitreisenden stellen.

Stattdessen denkt er darüber nach, wie es wohl wäre, wenn sie den Reißverschluss ihrer pinkfarbenen Steppjacke öffnen würde und darunter nackt wäre. Wenn sie langsam auf ihn zukäme, in die Hocke ginge und ihm sein Ding aus der Hose fischen würde, ohne dabei mit ihrem frechen Grinsen den Blickkontakt zu ihm abzubrechen.

Schwachsinn - als hätte er keine anderen Probleme! Mit einer Hand tastet er durch den Stoff seines Parkers nach den beiden Whisky-Fläschchen. Diese unbeobachtet über Bord zu werfen ist im Moment auch eher ungünstig. Ob die schwimmen würden wie Flaschenpost? Ist Whisky schwerer als Wasser oder umgekehrt? Oder hält sich das in etwa die Waage? In dem Fall würde das Gewicht des Glases wohl den Ausschlag geben, und die Muscheln und Wattwürmer könnten darüber nachdenken, was für merkwürdige Objekte in ihre Welt eingedrungen sind und nun im Schlick feststecken.

Christoph überlegt, woran es liegen kann, dass ihn diese junge Frau interessiert. Ist es der kleine Mund, der immer ein bisschen spöttisch schmunzelt? Die wenigen nur schwach erkennbaren Sommersprossen in ihrem hellen Gesicht? Oder das Kinn, dass sie immer keck nach vorn schiebt und dass ihr einen selbstbewussten Ausdruck verleiht? Trotz ihrer Jugend wirkt sie irgendwie reif. Was könnte sie von Beruf sein? Christoph kann sie sich ebenso gut als Laborassistentin in einer Arztpraxis vorstellen, wie als Bedienung in einem Bistro. Wahrscheinlich ist sie aber auch arbeitslos und auf der Flucht vor ihrem trinkfesten und gewalttätigen Freund.

Gabriele, die Mutter des dünnen Mädchens, ist wahrscheinlich Hausfrau. Ihre Haare und ihre Kleidung sehen nicht so aus, als ob sie sich selbst sehr wichtig nimmt. Für sie steht eindeutig Mia im Mittelpunkt. Vielleicht trägt sie nachmittags auf 450-Euro-Basis Anzeigenblättchen aus, oder sie füllt bei einem Discounter die Regale auf. Jedenfalls macht sie nicht den Eindruck, als würde sie eine Mutter-Kind-Kur machen. Viel wahrscheinlicher ist auch sie auf die eine oder andere Art auf der Flucht. Wer weiß, womöglich gibt es auch in ihrem Leben einen Kerl, der familiäre Angelegenheiten gern mit der Faust regelt.

Heiner kann er schlecht einschätzen. Er dürfte Rentner sein, oder er steht kurz davor. Vielleicht ist er geschieden oder Witwer. Zwischen einem Schichtleiter in einem Logistik-Zentrum und einem Buchhalter oder Steuerprüfer ist alles möglich. Der Mann redet nicht viel und schaut sich auch kaum die Leute an, mit denen zusammen er reist. Christoph macht sich Gedanken darüber, ob oder wie er die anwesenden Personen in seinem Roman verwenden könnte. DAS HAFEN-KOMPLOTT soll anders anfangen als die beiden Vorgänger. Weniger der klassische Krimi, sondern mehr in Richtung Thriller. Nicht die übliche Leiche, die im Morgengrauen von einem frühen Jogger am Kai befunden wird. Nicht der unausgeschlafene Kommissar, der mürrisch und unrasiert am

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 27.03.2023
ISBN: 978-3-7554-3708-6

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