Cover

Intro

 

 

 

 

 

Yesterday

 

Ruben Schwarz

 

Roman

 

telegonos-publishing

 

 

Über dieses Buch:

Hannah ist anders. Die Gabe, die sie offenbar von ihrer Großmutter geerbt hat, wird ihr selbst erst bewusst, als sie eine geheimnisvolle Botschaft aus der Vergangenheit erhält. Jemand plant, den Verlauf der Geschichte zu verändern, und das hat schlimme Auswirkungen auf ihr Leben und das ihrer Familie. Sie ist der einzige Mensch, der das drohende Unheil verhindern kann. Einziges Problem: Hannah ist erst sechzehn Jahre alt und hat nicht die geringste Ahnung, wer ihr geheimnisvoller Gegner ist, und wann und wo er zuschlagen wird.

Allein auf sich gestellt findet sie sich bald in einer Welt wieder, die sie bisher nur aus alten Dokumentationen kennt: eine Welt ohne Handys und Internet, in der Autos keinen Katalysator haben und das Fernsehprogramm in schwarz-weiß ausgestrahlt wird. In dieser Welt zwischen Chauvinismus und Beatmusik lernt Hannah nicht nur einfache Menschen mit ihren Stärken und Schwächen kennen, sondern sie wird auch zum glühenden Beatles-Fan. Am Ende muss sie sich entscheiden zwischen der Liebe und ihrer Aufgabe, die Zukunft ihrer Eltern und das Leben der kleinen Schwester zu retten.

Ein berührendes und turbulentes Drama voller Spannung und überraschender Wendungen zwischen gestern und heute.

 

Copyright © 2022 Ruben Schwarz – publiziert von telegonos-publishing

www.telegonos.de

(Haftungsausschluss und Verlagsadresse auf der website)

Cover: Kutscherdesign

 

 

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

ISBN der Printversion: 978- 3-946762-76-8

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Rosi

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1

 

Mögen Sie die Beatles? Also, ich wusste bis vor wenigen Jahren nur, dass damals in den Sechzigerjahren die Mädchen in Ohnmacht gefallen sind, wenn die Jungs aus Liverpool irgendwo auftraten, und dass John Lennon später irgendwann in New York ermordet wurde. Wenn man sich die Performance der Band in alten Schwarzweiß-Videos anschaut, dann kommt man schnell zu dem Schluss, dass es schlichtweg keine Performance gab. Die Tatsache, dass zwei von ihnen gleichzeitig in ein Mikrofon sangen, war praktisch schon der optische Höhepunkt eines Konzerts. Und das lag wahrscheinlich an dem sehr überschaubaren Tournee-Equipment der Band, das vermutlich in einem Kleintransporter Platz fand. Es gibt alte Mitschnitte von Auftritten, aber richtige Musikvideos, in denen auch etwas passiert, gibt es nicht.

Meine Favoriten zurzeit sind eher Selena Gomez und Billie Eilish. Von mir aus noch Ed Sheeran oder Zoe Wees. Aber die Beatles? Meine Oma hat tatsächlich jede Langspielplatte von den Jungs besessen, und ich habe die Sammlung quasi von ihr geerbt. Auch wenn wir vor ihrem Tod nie konkret über so etwas wie Nachlass gesprochen hatten, war es doch irgendwie klar gewesen, dass ich die Platten bekomme.

Na ja, ich muss gestehen, dass mir auch nie der Gedanke gekommen ist, dass Granny irgendwann sterben könnte. Ist sie aber. Sehr plötzlich sogar und ohne, dass wir alle zu dem Zeitpunkt auch nur im Traum damit gerechnet hätten. Zumindest Lilly und ich nicht. Sollten Mom und Dad darauf vorbereitet gewesen sein, dann haben sie es zumindest für sich behalten. Wie auch immer, heute weiß ich so ziemlich alles über die sogenannten Fab Four.

 

Aber ich beginne am besten am Anfang. Meine Geschichte fing nämlich vor ziemlich genau einem Jahr an. Oder ein bisschen früher. Es war Juni und der erste Corona-Sommer. Damit ich mit meinen Flip-Flops nicht in die lehmigen Pfützen aus Spülwasser geriet, musste ich auf der Wiese ein paar Sprünge machen. Die beiden Männer von Grundbautechnik Krapp hatten mit ihrem Bohrgerät den Rasen neben dem Wintergarten und das schmale Blumenbeet, das entlang der hinteren Hauswand verlief, in eine Sumpflandschaft verwandelt. Nicht, dass Rasen und Beet vor Beginn der Erkundungsbohrungen besonders gepflegt ausgesehen hätten. Granny hatte schließlich schon viele Jahre allein in dem großen Haus gelebt und war zum Schluss nicht mehr in der Verfassung gewesen, Gartenarbeiten zu verrichten.

Da der Kompressor des Bohrgeräts lief, und sein nagelndes Knattern die Luft erfüllte, konnten die beiden Techniker mein „Hallo“ wahrscheinlich nur von meinen Lippen ablesen. Es war verdammt heiß, und die Männer sahen schon jetzt verschwitzt aus. Am Nachmittag sollte es wieder bis zu sechsunddreißig Grad warm werden. Ich hatte mir meine langen Haare hinter dem Kopf mit einer Spange zu einem Knoten zusammengesteckt.

Der ältere der beiden Männer trug ein olivgrünes Unterhemd, wie es vielleicht beim Bund üblich war. Er sah darin aus, wie der dickere Bruder von Rambo. Bis auf die Haare, von denen bei diesem Mann nicht mehr allzu viele übrig waren. Er nickte mir kurz zu und hantierte dann weiter am Bohrgestänge herum. Der Jüngere mit kurz geschnittenen dunklen Haaren und dem schmalen Kinnbärtchen deutete wie immer, wenn er mich sah, eine leichte Verbeugung an und grinste dabei unverschämt. Er sah ein bisschen aus wie Wincent Weiss, und wenn ein Typ so aussieht, verzeiht man ihm manches, oder? Hätte der Ältere mich so angegrinst, wahrscheinlich hätte ich übertrieben mit den Augen gerollt, oder sogar später Mom davon berichtet, dass sich in unserem Garten ein Lustmolch herumtrieb. Aber in diesem Fall beließ ich es bei einem spöttischen Lächeln. Ein sparsames spöttisches Lächeln natürlich, denn der Typ sollte sich nicht am Ende noch was darauf einbilden.

Ich wandte mich ab und entfernte mich ein Stückchen vom Haus. Weiter hinten brannte die Sonne unbarmherzig auf den verwilderten Rasen, der hier durch die anhaltende Trockenheit schon stellenweise gelb war. Obwohl April und Mai ziemlich verregnet gewesen waren, hatte die zweiwöchige Hitzeperiode offenbar ausgereicht, um den Boden vollständig auszutrocknen.

Ich muss gestehen, nach den ersten paar Tagen in unserer neuen Heimat, die mit Streichen und dem Auspacken von Umzugskartons ausgefüllt gewesen waren, begann ich jetzt so langsam, meine Freundinnen zu vermissen. Vor allem Lamya, mit der ich seit dem ersten Tag in der fünften Klasse befreundet war. Natürlich fehlte mir auch Emre ein bisschen, der Sohn des Gemüsehändlers, der in Oldenburg zwei Straßen von unserem Haus entfernt seinen Laden hat. Das Haus, in dem Dad jetzt allein wohnt. Nehme ich zumindest an. Mom hat da ganz andere Vermutungen.

Emre, der Junge, der mir meine Unschuld geraubt hat. Oder ich seine, ganz wie man will. Auf jeden Fall wäre überhaupt nichts passiert, wenn ich die Sache nicht in die Hand genommen hätte. Buchstäblich. Ich lasse das mal bewusst so eindeutig zweideutig stehen.

Ein bisschen war ich aber auch froh, dass wir jetzt in Essen wohnten. Denn Emre war sehr anhänglich geworden. Anscheinend dachten Typen heutzutage, man würde mit ihnen zusammen Kinder haben und alt werden wollen, nur weil man einmal mit ihnen in die Kiste gesprungen ist. Aber lassen wir das. Wenn man erwachsene Frauen reden hört, muss das früher genau andersherum gewesen sein. Da wollten alle Frauen so schnell wie möglich geheiratet werden, während die Typen nur auf ihren Spaß aus waren.

Die meisten Mädels aus meiner Klasse vermisste ich nicht die Bohne. Das waren Tussis, und ich passte nicht zu ihnen. Oder sie nicht zu mir. Ich war diejenige, die sich nicht den Bachelor oder GNTM im Fernsehen ansah, und ich hatte auch keine Lust, mich über diesen Schwachsinn auf dem Pausenhof zu unterhalten. Natürlich hatte die Tussi-Klicke es mich spüren lassen, dass ich nicht zu ihnen gehörte. Wohlgemerkt ich wollte nicht zu ihnen gehören.

Die Erwachsenen nannten mich altklug. Tun sie heute noch. Tante Martina, die Tochter von Grannys ältestem Bruder hatte das vor Jahren zum ersten Mal aufgebracht. Und von Mom hatte ich es auch schon mal gehört.

„Unsere Hannah ist so altklug.“ So ein Blödsinn. Der Spruch setzt voraus, dass Klugheit etwas mit dem Alter zu tun hat. Ist es so unvorstellbar, dass sich ein Mensch mit sechzehn Jahren für Politik und gesellschaftliche Zusammenhänge interessiert? Dass er, beziehungsweise sie, freiwillig Bücher von Böll, Grass oder Heinrich Mann liest und davon träumt, selbst einmal Schriftstellerin zu werden? Für mich sah es eher so aus, als ob die meisten Erwachsenen sich so selbstzufrieden in ihrem Alltag eingerichtet hatten, dass der eigene Tellerrand zu einem unüberwindlichen Hindernis geworden war. Granny hatte da eine Ausnahme gemacht. Vielleicht auch Onkel Jürgen, der gar nicht mein wirklicher Onkel war. Aber dazu später mehr.

Zu meiner Linken verlief ein Beet, das mit diversen Stauden bepflanzt war. Ich habe mit dem Gärtnern nichts am Hut und kann nur sagen, ob ich Blumen schön finde oder nicht. Während die blauen und orangen Blüten im Sonnenlicht prächtig aussahen, deutete ihr blassgrünes, verschrumpeltes Blattwerk darauf hin, dass auch diese Pflanzen dringend Regen herbeisehnten. Ich nahm mir vor, später im Schuppen nach einer Gießkanne zu suchen und die armen Geschöpfe zu erquicken.

Granny war jetzt schließlich schon seit über zwei Jahren tot, und seitdem war der große Garten vollständig sich selbst überlassen geblieben. Das hatte einigen Pflanzen den Garaus gemacht, während andere sich unkontrolliert hatten ausbreiten können. Nur die Harten kamen eben in den Garten. Mir waren solche verwilderten Gärten ohnehin viel lieber als Anlagen mit frisch geharkten Beeten und Golfrasen. Ich hoffte sehr, dass Mom nicht eines Tages auf die Idee kommen würde, einen Gärtner zu engagieren oder sich selbst grüne Daumen wachsen zu lassen.

In Oldenburg hatte ich Dad oft genug bearbeitet, den schrecklichen Schottergarten vor unserem Haus zu beseitigen und blühende Stauden zu pflanzen. Lilly hatte sich in der Sache entschieden auf meine Seite geschlagen. Aber da war mit ihm nicht zu reden gewesen.

„Hannah“, hatte er erklärt, „wenn du später mal selbst ein Haus hast, kannst du da von mir aus einen Mangrovenwald anlegen und Aligatoren züchten. Aber hier bleibt alles so, wie es ist.“ Er hatte dann auf die drei akkurat in Kugelform getrimmten Buchsbäume verwiesen, die sich aus der grauen Steinwüste erhoben. „Das reicht an Grünzeug“, hatte er gesagt. „Alles andere macht viel zu viel Arbeit. Für so was hab ich keine Zeit.“

Überhaupt kam Dad so gar nicht nach Granny, die doch immerhin seine Mutter gewesen war. So sehr Dad ein Spießer war – und Mom irgendwie auch – so sehr war Granny locker drauf gewesen. Meine Granny war … wie soll ich es erklären? Na ja, nehmen wir Annika aus meiner Parallelklasse. Sie hatte ich unter anderem zu meiner letzten Geburtstagsparty eingeladen. Annika ging ganz offen damit um, dass sie Mädels lieber mochte als Jungs. Wenn ich lesbisch wäre, und mein Dad würde es erfahren, würde er es zwar nicht offen zugeben, aber er hätte ein Problem damit. Wahrscheinlich würde er eine Debatte mit Mom darüber anfangen, wenn ich nicht dabei wäre. In seiner Familie war so etwas nie vorzukommen. Dad tolerierte Leute, die anders waren. Aber doch nicht in der eigenen Familie. Er hatte zwei Töchter, und beide würden studieren, heiraten und Häuser bauen. Klarer Fall.

Für Mom wäre die sexuelle Ausrichtung ihrer Kinder weniger wichtig gewesen, auch wenn es ihr lieber gewesen wäre, alle in ihrer Familie wären normal. Und jetzt kommt Granny - Unter Garantie hätte sie gesagt: Ja und, Kind? Die Hauptsache ist doch, dass du weißt, was du willst und was dich glücklich macht. Wenn ihr wüsstet, was ich in meiner Jugend alles ausprobiert habe … und so weiter. Wahrscheinlich hätte sie auf ihre besondere Art gelächelt, bei der sie immer um viele Jahre jünger ausgesehen hatte.

Wenn ich an Granny dachte, wurde ich immer noch traurig und werde es heute noch. Mom und Dad hatten oft genörgelt, wenn ich meine Oma mit Granny ansprach. Aber die „Betroffene“ selbst, die ansonsten innerhalb der Verwandtschaft meistens Lisbeth oder Lissy gerufen wurde, hatte dann gesagt „Lass doch das Kind. Granny klingt nett.“ Und so hatte ich es schließlich auch gemeint.

Zu Granny hatte ich eine besondere Beziehung. Irgendwie enger als Lilly, meine kleine Schwester, die zwei Jahre jünger ist als ich. Ich kann es schlecht beschreiben. Auf eine besondere Art waren wir uns ähnlich. Wir hatten eine Verbindung, obwohl wir uns in den letzten Jahren ihres Lebens nicht sehr oft sehen konnten. Bestenfalls an Geburtstagen oder zu Weihnachten.

Damals, als wir wegen Dads Arbeit aus Mülheim wegziehen mussten, bin ich noch zur Grundschule gegangen. Ob Lilly damals überhaupt schon in der Schule war, habe ich vergessen. Aber es gab ja Telefon. Und Granny war keine alte Frau gewesen, wie man sich eine alte Frau vorstellt. Sie hatte ein Smartphone besessen und einen Laptop, den ich heute noch zum Schreiben benutze. WhatsApp war für Granny ebenso wenig ein Fremdwort gewesen wie Skype. Und wenn ich allein war oder abends im Bett lag - wenn alles still war und keine Geräusche störten - dann war es manchmal so gewesen, als könnte ich sie sehen und ihre Gedanken hören.

Das Bohrgerät ratterte unablässig und nervte schon seit Tagen nicht nur uns, sondern auch die Nachbarn, die sich bei dem heißen Wetter sicher gern in ihren Gärten und auf ihren Terrassen entspannt hätten. Hier wohnten fast ausschließlich alte Leute, die meistens den ganzen Tag zu Hause waren. Als ich mich den riesigen Rhododendren am hinteren Ende des Grundstücks näherte, gesellte sich zum Lärm des Kompressors ein nervtötendes Rasseln, Schleifen und Quietschen hinzu. Offensichtlich hatten die Männer mit einer weiteren Erkundungsbohrung begonnen.

„Das klingt, als würde ein Marder Schützenpanzer durch den Garten pflügen“, hatte Dad gesagt, als er am letzten Sonntag vorbeigekommen war. Mom hatte ein paar Papiere unterschreiben müssen. Ob es ums Haus ging oder um die Scheidung, hatten sie nicht gesagt. Die beiden behandelten Lilly und mich manchmal, als wären wir Kleinkinder. Dad hatte früher beim Bund mal einen Panzer gefahren, hatte aber bei seinem Vergleich mit dem Bohrgerät sicher übertrieben. Oder auch nicht, denn das knallrote Teil wog nach Aussage der Techniker mehrere Tonnen und besaß immerhin einen Kettenantrieb. War das ein Aufwand gewesen, als das Monstrum vorne an der Straße vom LKW abgeladen wurde, und durch das Gartentor und den schmalen Durchgang neben dem Haus manövriert werden musste. Ein paar steinerne Beet-Umrandungen und Treppenstufen waren unter den Ketten des Apparats zu Bruch gegangen. Warum ich mit beiden Händen Zweige der Rhododendren zur Seite gebogen habe und mich durch das dichte Blattwerk und die wild wuchernden Brombeersträucher zwängte, weiß ich zwar heute; damals wusste ich es nicht. Es geschah unbewusst. Anders kann man es nicht beschreiben. Wegen der Hitze trug ich nur Flip-Flops, Shorts und ein schulterfreies Top (was dem Bohrtechniker Wincent Weiss ganz offensichtlich gefallen hatte) und die trockenen Blätter und Zweige kratzten unangenehm an Armen und Beinen.

Irgendwann bis nach hinten zur Grundstücksgrenze hinter die hohen alten Fichten zu gehen, hatte ich mir schon lange vorgenommen. Warum genau, wusste ich damals auch nicht, aber ich ahnte, dass es mit den geheimnisvollen Erzählungen meiner Oma zusammenhing. Oder mit etwas, das ich in einer stillen Stunde in meinem Zimmer in Oldenburg von ihr empfangen hatte.

Wenn die Familie Dahlke früher die Großmutter in ihrem Haus An der Braut in Heidhausen besuchte, war meistens das Wetter schlecht gewesen, oder Mom hatte Panik geschoben, ihre Mädchen könnten sich die guten Sachen ruinieren, die sie sich für den Besuch der Oma angezogen hatten. Deshalb war es mir bisher nicht gelungen, mein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Und in dem ganzen Trubel zwischen Trennung der Alten und Umzug hatte ich es dann auch vergessen.

Ich duckte mich und machte ein paar Schritte unter den Ästen einer riesigen Fichte hindurch. Dabei trat ich auf eine Mischung aus abgestorbenen Blättern, braunen Fichtennadeln und Zapfen. Das war unangenehm, denn etwas davon geriet zwischen meine nackten Zehen. Als ich mich wieder aufrichtete, durfte ich mir ein paar Spinnweben aus dem Gesicht wischen. Bah, wie ich das hasse! Bestimmt war auch noch etwas davon in den Haaren gelandet.

Zuletzt hatten wir Granny an ihrem fünfundsiebzigsten Geburtstag gesehen. Das war im März 2018 gewesen. Sie war kurz darauf gestorben. Ich hatte ihr vorher nicht das Geringste angemerkt.

„Im Nachhinein“, hatte Mom später gesagt, „kam sie mir schon irgendwie besonders müde vor an dem Tag.“ Granny war allein gewesen in ihrem großen Haus. Wie immer. Ganz friedlich hatte sie in ihrem Ohrensessel im Obergeschoss gesessen, als man sie fand. Man, das waren zwei Polizisten gewesen. Mom war unruhig geworden, weil Granny nicht ans Telefon ging. Nicht am Abend ihres Geburtstages, nachdem wir wieder zu Hause in Oldenburg angekommen waren, und auch nicht am Morgen danach. Mom hatte dann schließlich bei einem von Grannys Nachbarn angerufen. Der alte Herr Herkenrath, der sicher viel älter war als Granny, hatte bei ihr geklingelt und an die Fenster im Erdgeschoss geklopft. Dann hatte er die Polizei verständigt, die durch einen Schlüsseldienst die Haustür hatte öffnen lassen.

Ein scharfer Schmerz, der durch meinen großen Zeh fuhr wie ein glühender Draht, holte mich brutal in die Gegenwart zurück. Ich weiß noch heute, wie ich die Schneidezähne auf meine Unterlippe drückte und ein inbrünstiges „Fuck“ in die warme Sommerluft gerufen habe. Der Laut hatte keine Chance gegen den Lärm des Bohrgeräts. Mein rechter Fuß war wohl in seinem Flip-Flop zu weit nach vorn gerutscht und gegen einen Ziegelstein gestoßen, der unter Fichtennadeln und wild wucherndem Farnkraut verborgen lag.

Unmittelbar verspürte ich Angst. Zumindest sprach das beunruhigende Flirren in meinem Brustkorb dafür, obwohl es absolut keinen Grund gab sich zu fürchten. Auf dem Boden, durch abgestorbene Blätter und braune Nadeln aus mehreren Jahren kaum zu sehen, lagen noch mehr Ziegelsteine herum. An einer Seite waren sie mit Moss bedeckt. Genauso wie Granny es mir erzählt hatte. Geradeaus konnte ich durch einen alten Maschendrahtzaun, dessen Pfähle zum größten Teil windschief standen, die Rückwand eines Holzschuppens und den frischgemähten Rasen des Nachbargrundstücks sehen, das an der Parallelstraße lag.

Trotz der brütenden Sommerhitze, die sogar im Schatten der hohen Bäume herrschte, zog ein permanenter kühler Luftstrom vom Nachbargrundstück herüber. Für dieses Phänomen gab es keine Erklärung. Obwohl auch die Wiese der Nachbarn im gleißenden Sonnenlicht lag, fühlte es sich an, als stünde ich direkt vor einer offenen Kühlschranktür. Die Empfindung war verstörend. Ich fühlte eine Gänsehaut auf den Armen und war mir sicher, dass mein Zittern nicht allein der frischen Luft zuzuordnen war. Gleichzeitig mit dem kühlen Luftstrom waren auch die Geräusche, die das Bohrgerät verursachte, wesentlich leiser geworden. Es klang, als hätte ich mich sehr weit davon entfernt. Viel weiter als es die Größe des Gartens eigentlich zuließ. Oder als würde ich Kopfhörer tragen. Nicht die kleinen Ohrstöpsel, mit denen ich für gewöhnlich meine Playlist vom Handy hörte, sondern richtige Kopfhörer, die mit gepolsterten Kunststoffmuscheln Geräusche von außen abschirmten.

Es wurde mir irgendwie zu viel, obwohl ich nicht die geringste Ahnung hatte, was mir eigentlich zu viel wurde. Ich wollte einfach nur hier weg. Eilig drehte ich mich um und kämpfte mich durch Blätter, Zweige und Dornengestrüpp zurück auf den sonnigen Rasen. Das Getöse des Bohrgeräts schwoll augenblicklich auf das gewohnte Level an. Warum war mir der Ort hinter den Fichten unheimlich? Das war doch Kinderkram!

Und plötzlich brachen die Bohrgeräusche ab. Von einer Sekunde auf die andere.

 

2

 

„Fahrkarte!“, rief der jüngere Techniker dem älteren zu. Zufällig blickten beide gleichzeitig in meine Richtung. Anscheinend waren sie wieder auf einen Hohlraum gestoßen. Oder besser gesagt eine Lockerzone, wie sie es nannten. Das Problem in diesem Teil von Essen-Heidhausen war dasselbe wie in vielen Regionen des Ruhrgebiets: Es war der oberflächennahe Altbergbau, dessen unzählige Stollen und Wetterschächte damals, vor der Wohnbebauung nur provisorisch verfüllt worden waren und bei der Bergbehörde der Bezirksregierung in Arnsberg nur ungenau dokumentiert werden konnten.

Mom stand in der geöffneten Tür des Wintergartens und winkte mich zu sich heran. Während ich zum Haus ging, streifte ich mir mit den Händen ein paar vertrocknete Blüten ab, die sich in meinem Top verfangen hatten. Wincent Weiss zerrte schwitzend an der Maschine herum, während der ältere Mann etwas auf einem Blatt an einem Klemmbrett notierte. Neben ihnen lagen mehrere Verlängerungsmodule des Bohrgestänges im nassen Gras. Obwohl überall Holzbohlen untergelegt waren, hatten die Gleisketten aus der Wiese zum Teil einen Acker gemacht.

Die armen Schweine. Der Scheiß wird sie ruinieren.

Das war von dem älteren Techniker gekommen. Und er hatte es nicht gesagt, sondern nur gedacht. Aber ich hatte es trotzdem deutlich gehört. Meine Beine fühlten sich plötzlich seltsam weich an, und für einen Moment dachte ich, ich würde hinfallen. So etwas passierte mir selten. Eigentlich hatte ich es seit Jahren nicht mehr erlebt, aber der Gedanke war sonderbar intensiv gewesen, und er hatte ehrliches Mitgefühl ausgedrückt. Während der Bohrpanzer wieder seinen lautstarken Betrieb aufnahm, stieg ich die breite Steintreppe zum Wintergarten hinauf.

„Ich hab die Kaffeemaschine angestellt!“, rief Mom gegen den Lärm an. Sie trug ihren hellgrünen Sommerrock und ein weißes Trägertop, über das sie ihre durchsichtige geblümte Bluse gezogen hatte. Um ihren Hals legte sich die obligatorische Kette aus Zuchtperlen, ohne die sie selten aus dem Haus ging. Bärbel Dahlke, meine Mom, sah immer noch gut aus, vielleicht ein bisschen füllig, aber das war ja wohl bei Frauen ihres Alters normal. Und für meinen Geschmack kleidete sie sich zu damenhaft, was sie meistens ein paar Jahre älter machte als nötig.

„Ich muss noch mal schnell zu REWE fahren. Kannst du den Männern gleich Kaffee anbieten, wenn die Maschine durchgelaufen ist? Milch und Zucker hab ich schon rausgestellt.“

„Klar, Mom.“ Ich erklomm die letzte Stufe und ging mit meiner Mama ins Haus. Der Wintergarten wirkte wie ein Treibhaus, obwohl alle Fenstermodule geöffnet waren. Auch die Markise war ausgefahren. Aber im Wohnzimmer des alten Hauses war es gut auszuhalten.

Die dunklen Schatten um Moms Augen waren kaum zu übersehen. Die Trennung von Dad war noch zu frisch, und die Sorgen mit dem Haus hinterließen auch ihre Spuren. Mom nahm ihre Handtasche vom Haken der Garderobe und den Autoschlüssel aus der Holzschale im Flur. Dann hörte ich, wie die Haustür ins Schloss fiel.

Natürlich vergaß ich die Kaffeemaschine. Die Männer draußen bekamen keinen Kaffee angeboten. Ich setzte mich auf das große Ledersofa im Wohnzimmer, auf dem noch die Schafsfelle von Granny lagen, mit denen sie das empfindliche Leder jahrelang geschützt hatte. Oben in meinem Zimmer war es jetzt wegen der Dachschrägen deutlich wärmer. Mir machte das nichts. Ich liebte den Sommer. Ich nahm mein Handy und steckte mir die Kopfhörer in die Ohren. Während ich die Stimme von Selena Gomez hörte, dachte ich an Grannys alte Beatles-Platten. Lose you to love me sang Selena und übertönte damit direkt in meinen Gehörgängen das Bohrgerät hinter dem Haus.

Oma Lisbeth hatte in ihrer Jugend für die Stones geschwärmt, für Janis Joplin, für Emerson, Lake und Palmer, für die Who und eben auch für die Beatles. Es war interessant, die alten Platten-Cover zu durchstöbern. Ob Abbey Road, Yellow Submarine oder St.Pepper, es waren richtige kleine Kunstwerke dabei. Granny hatte auch spätere Veröffentlichungen besessen. Die von den WINGS beispielsweise, der Band, die Paul McCartney nach der Trennung der Beatles gegründet hatte. Oder Solo-Aufnahmen von George Harrison.

In den Wochen nach Grannys Tod hatte ich mich dafür eingesetzt, dass die Sammlung weder bei Ebay eingestellt noch auf dem Flohmarkt vertickt worden war. Obwohl niemand in der Familie einen intakten Plattenspieler besaß. Selbst Granny hatte keinen mehr gehabt. Aber das meiste war schließlich heute kostenlos auf YouTube verfügbar, oder zur Not bei Spotify. Damals hatte mich das alles noch nicht so sehr interessiert. Später allerdings schon, und das hatte ja auch gute Gründe.

Als Lilly etwas später ins Wohnzimmer kam, nahm ich sie nur durch Zufall aus den Augenwinkeln wahr. Sie winkte mit der Hand hin und her und rollte dabei mit den Augen. Offenbar hatte sie schon mit mir geredet, ohne dass ich es hören konnte. Ich zog die Ohrhörer heraus und fragte „Was?“

„Boah, mir ist langweilig“, jammerte sie. Ihr schmales Gesicht sah dabei niedlich aus. Lilly trug ihre Haare kürzer als ich, und sie waren etwas dunkler. „Hast du keine Idee, was wir machen können?“, fragte sie. „Hier ist echt der Arsch der Welt.“ Ich konnte sie verstehen. Alle ihre Freundinnen waren in Oldenburg und bisher hatten wir hier noch nicht mal Netflix oder Amazon Prime. Das hier war eine reine Wohngegend mit freistehenden Einfamilienhäusern, und die Bewohner waren überwiegend in einem Status zwischen Koma und Scheintod. Okay, das war böse. Streichen Sie das. Die Nachbarn waren eben beinahe ausnahmslos ältere Herrschaften.

„Hau ab und nerv nicht“, fuhr ich Lilly an. „Ich muss nachdenken.“

„Nachdenken, genau“, maulte Lilly, „das seh ich. Du bist genauso öde wie die ganze Gegend hier.“ Sie drehte sich um und schlurfte zur Tür. Sie tat mir leid.

„Hey, Sis“, rief ich ihr nach. Sie drehte sich um. „Hm?“

„Wir können vielleicht später noch ein bisschen Wii spielen, okay?“ Sie verzog sich die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Ich überlegte, ob ich ein bisschen an meiner Fantasy-Geschichte arbeiten sollte, aber irgendwie ließ mich das Gefühl nicht los, das mich im Garten hinter den Fichten beinahe angefallen hatte, wie ein Raubtier. Das mit dem Tor war doch sicher keine Wirklichkeit. Granny hatte tolle geheimnisvolle Geschichten erzählen können, aber es waren doch schließlich nur Geschichten gewesen, oder?

Ich hörte Moms Schlüssel im Haustürschloss. Sie kam mit zwei Einkaufstüten aus Papier herein und verschwand damit ohne Gruß durch den Flur in der Küche. Das Handy in meiner Hand vibrierte. Emre! Wieder mal. Er ließ nicht locker. he warum antwortest du nicht??? alles ok??? (Mehrere Smileys – ein paar nachdenkliche, ein paar lachende, und drei Herzen) Mir war das irgendwie zu stressig. Ich legte Handy und Kopfhörer auf den Wohnzimmertisch und ging zur Küche.

„Mom, soll ich dir auspacken helfen?“ Die Mama stand mit dem Rücken zur Tür am Fenster und schaute hinaus. Die beiden Tüten hatte sie vor dem Kühlschrank abgestellt.

„Mom, ist was?“, fragte ich.

„Nenn mich nicht Mom.“ In ihrer Stimme lag etwas Beunruhigendes, so als bekäme sie zu wenig Luft. Sie sah weiter aus dem Fenster.

„Mama?“ Ich ließ nicht locker. Wie sollte ich auch? Stattdessen ging ich zu ihr. Sie wandte sich zu mir um und zog Rotz hoch. Ihre Augen waren verheult. Ich legte ihr eine Hand auf den Rücken. „Mama, was ist denn los?“

„Nichts ist los, keine Sorge. Ist nur wegen deinem Vater. Geht schon.“ Sie wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht und ging eilig zum Kühlschrank, wo sie sich nach einer der Tüten bückte. Bei allem Mitleid - ich hasste es, meine Mutter traurig zu sehen - keimte auch ein Schwall Ärger in mir auf.

„Meinst du, ich bin ein Kleinkind?“, sagte ich lauter als geplant. „Du musst mit mir reden. Gerade jetzt. Wir sind eine Familie.“ Mom öffnete den Kühlschrank und stellte zwei Milchpackungen ins Türfach. Danach sah sie mich mit ihren feuchten, von dunklen Schatten gerahmten Augen an. Die Bindehäute waren gerötet. Das war zu viel für mich. Spontan traten auch mir die Tränen in die Augen.

„Rede mit mir“, sagte ich. Und leiser: „Bitte.“ Mom ergriff plötzlich meine Hand und zog mich durch die geöffnete Glastür zum Essbereich des Wohnzimmers. „Setz dich“, sagte sie mit einer Stimme, die ihre Festigkeit weitgehend zurückerlangt hatte. Wir setzten uns beide auf zwei Stühle an den Esstisch.

„Dein Vater hat angerufen“, begann sie und schwieg dann wieder. Ich mochte es nicht, mit welchem Klang in der Stimme sie in letzter Zeit immer dein Vater sagte. Er war mein Dad. Und Dad klang tausend Mal besser als dein Vater. Dein Vater hatte mehr Ähnlichkeit mit Darth Vader als mit dem Mann, der mir Zuckerwatte gekauft und mich auf seinen Schultern über die Cranger Kirmes getragen hatte.

„Und?“

„Der Gutachter hat ihn angerufen. Es wird teurer. Viel teurer. Wir werden das nicht bezahlen können.“ Ich wusste genau, wovon Mom sprach. Es war nicht nur der alte Wetterschacht, den sie immer noch nicht gefunden hatten, der jedoch unter dem Haus vermutet wurde. Es waren auch die vielen Lockerzonen, die Grundbautechnik Krapp ständig bei Ihren Bohrungen vorfand.

„Hätten wir nur nie versucht, das Haus zu verkaufen“, sagte sie und schüttelte ärgerlich den Kopf. Dabei presste sie die Augen so fest zu, als wolle sie die restlichen verfügbaren Tränen nach draußen zwingen. „Wir hätten es weiter mit dem Vermieten versuchen sollen. Oder von Anfang an selbst hier einziehen.“

Mom hatte recht. Ich erinnere mich noch an Dads Satz, den er mal ausgesprochen hatte: „Der alte Kasten steht seit den Fünfzigerjahren, und er wird auch noch weitere fünfzig oder hundert Jahre hier stehen.“

Leider war es anders gelaufen. Ich muss das kurz erzählen: Nachdem Granny gestorben war, hatte Dad versucht, das Haus über ein Onlineportal zu vermieten. Es sei schließlich sein Elternhaus, er sei hier aufgewachsen, und so etwas verkauft man nicht, hatte er gesagt. Selbst einziehen konnten wir hier aber auch nicht, weil die Niederlassung der internationalen Spedition, für die Dad arbeitete, ihren Sitz in einem Gewerbegebiet in Oldenburg hatte. „Als Niederlassungsleiter muss man so nah wie möglich vor Ort sein“, hatte er gesagt.

Und so war das Haus in Essen schließlich doch einem Maklerbüro zum Verkauf angeboten worden. Die komplette Familie war angereist, als der Makler das Objekt besichtigte und Fotos machte. Kraftschek, Krafczyk oder so ähnlich hatte er geheißen. Von Bossmann Immobilien, glaube ich. Müssen Sie nicht kennen. Das war im Sommer 2018 gewesen. Ganz schnell hatte der Makler zwei Kaufinteressenten gefunden, denen aber der Preis zu hoch war. Das sei kein Problem, versicherte der Makler, für diese begehrte Wohnlage gäbe es genug andere Käufer.

Bis eines Tages ein Interessent zur Besichtigung kam, der zwar mit dem Kaufpreis von beinahe einer halben Million Euro kein Problem hatte, aber ein Gutachten verlangte, das die Standsicherheit des Objekts auswies. Es war nämlich bekannt geworden, dass es in dieser Gegend einen weitverzweigten Altbergbau gegeben hatte, und sich direkt unter dem Haus und dem Wintergarten ein oberflächennaher Stollen und sogar ein Wetterschacht befinden sollten. Nachdem sich diese Informationen in der Nachbarschaft herumgesprochen hatten und auch andere Interessenten plötzlich kalte Füße bekamen, kam auch der Makler zu dem Schluss, dass die Immobilie nur noch mit einem entsprechenden Gutachten zu verkaufen sei.

Das beauftragte Ingenieurbüro, welches der Makler empfohlen hatte, beauftragte seinerseits die Firma Grundbautechnik Krapp mit ersten Erkundungsbohrungen. Auf unsere Rechnung versteht sich. Daraufhin hatte der ganze Ärger angefangen. Lilly und ich waren nur selten dabei gewesen, wenn Dad und Mom nach Essen fuhren, um mit den Technikern und dem Gutachter, einem Herrn Kannegießer aus Werden, über den aktuellen Stand zu sprechen, aber bei mir sind trotzdem viele Fachbegriffe hängengeblieben. Eine geologisch-bergbauliche Recherche hatte ergeben, dass sich unter dem Grundstück An der Braut zwei Kohleflöze befanden, in denen bereits im 19. Jahrhundert Bergbau geführt worden war. Dadurch konnte in diesem Bereich eine Tagesbruchgefährdung nicht ausgeschlossen werden.

Lilly hatte sich für diese Dinge überhaupt nicht interessiert, aber mir war vor allem aufgefallen, wie meine Eltern immer reizbarer wurden. Als ich mitbekam, dass die Kosten für dieses Projekt locker fünfstellig werden würden, verstand ich den Grund dafür. Ich wusste, dass wir alles andere als arm waren, aber wir waren jedes Jahr mindestens zwei Mal in Urlaub gefahren und hatten ein schönes Haus. Was meine Eltern auf der hohen Kante hatten, wusste ich allerdings nicht.

Die Bohrungen, die Grundbautechnik Krapp durchführte, gingen teilweise senkrecht in die Tiefe und teilweise schräg unter das Haus. Zwischen vierundzwanzig und dreißig Meter tief schraubte sich das Bohrgestänge in den Untergrund. Unter einer Schicht von Lehm folgte ab einer Tiefe – die Fachleute sprachen von Teufe – von etwa drei Metern verwittertes Tongestein. Darunter gab es unter dünnen Kohleschichten in zwölf bis fünfzehn Metern Tiefe immer wieder Lockerzonen und Hohlräume. Der Gutachter vermutete, dass diese Hohlräume sich nach links und rechts bis unter die Nachbargrundstücke erstreckten.

„Das muss alles verfüllt werden“, hatte Dad berichtet, als er an einem Samstagabend aus Essen zurück nach Oldenburg gekommen war, und sein Gesicht war dabei blasser als sonst gewesen. Mom hatte uns in unsere Zimmer geschickt, aber die steile Falte auf Dads Stirn, die mir sonst nie so aufgefallen war, hatte ich gesehen. Und ich hatte seine Besorgnis spüren können. Irgendwie. Ich selbst hatte zu dem Zeitpunkt beinahe dreitausend Euro auf meinem Sparkonto gehabt, und was fünfstellig bedeutet, war mir damals nicht ganz klar gewesen. Waren es zehntausend oder neunzigtausend Euro? Aber ich ging, wie selbstverständlich, davon aus, dass Mom und Dad alle Probleme bewältigen würden. Schließlich hatten sie das immer getan. Seit ich sie kannte.

Mom saß am Küchentisch und blickte auf ihre Hände, die sie nebeneinander auf die Tischplatte gelegt hatte. Ich legte meine rechte Hand auf ihre.

„Der Gutachter hat zu deinem Vater gesagt …“

„Dad“, unterbrach ich sie.

„… hat deinem Papa gesagt, dass er nicht weiß, wie weit die Hohlräume sich auf die Nachbargrundstücke erstrecken. Das Füllmaterial ergießt sich wahrscheinlich in diese Hohlräume und fließt in beide Richtungen ab. Das kann …“ Sie unterbrach sich und drehte den Kopf zum Fenster. Von der Seite konnte ich sehen, wie ihre Augen erneut feucht wurden. Als ich nichts erwiderte, sprach sie weiter: „Das kann … das wird noch viel teurer als gedacht. Es kann mehr als hunderttausend Euro kosten. Viel mehr als hunderttausend Euro. Und wir haben das Geld nicht. Wir können einen Kredit aufnehmen. Aber nicht so viel. Die Hypothek auf unser Haus läuft ja auch noch.“ Sie sah mir lange in die Augen.

„Mama“, sagte ich. Meine Hand ließ ich auf ihrer liegen. Wir beide bewegten uns nicht. „ich kann mir einen Ferienjob suchen. Mein Sparbuch kannst du auf jeden Fall haben.“ In diesem Moment war es wir egal, dass ich seit Jahren auf ein Auto sparte und immer gehofft hatte, bis zu meinem achtzehnten Geburtstag genug Geld zu haben. Tränen rollten über Moms Wangen, aber sie lächelte dabei. Fast sah sie glücklich aus. Und schön.

„Kind, mir fällt jetzt erst auf, wie erwachsen du bist“, sagte sie, und es klang, als würde sie sich plötzlich keine Sorgen mehr machen. Was natürlich Unsinn war. „Meine Große.“ Sie lächelte mit geschlossenem Mund, und ich hörte, wie sich ihr Nasenschleim bewegte. „Wir schaffen das, Kind.“ Ich hörte Lillys Flip-Flops im Flur. Sie kam herein und fragte: „Was ist denn hier los?“

Zu Mom sagte ich: „Natürlich tun wir das.“ Ich zog meine Hand zurück. Mom blickte ihre jüngere Tochter an. Ob Lilly bemerkte, dass ihre Mom geweint hatte, weiß ich nicht. „Erwachsenengespräche“, sagte Mom. Lilly rollte mit den Augen und machte „Pfh.“ Sichtlich genervt sagte sie: „Was ist jetzt mit der Wii? Hast du inzwischen genug nachgedacht?“

 

„Klar, komm mit in mein Zimmer.“ Während Mom aufstand und in die Küche ging, folgte ich meiner Schwester durch den Flur, die vor mir die Treppe ins Obergeschoss hinauflief.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

3

 

Am Abend desselben Tages schrieb ich noch ein bisschen auf Grannys abgelegtem Laptop an meiner Fantasy-Story. Dad hatte Lilly und mir fürs Homeschooling jeweils ein nagelneues HP-Notebook besorgt, das ich auch heute noch für Schule und anderes nutze, aber auf Grannys Gerät entstand damals schon seit ein paar Monaten das Königreich Thrylion, wo in seiner Burgfeste auf dem Gipfel des Echoberges der geizige König Kromold mit seinen beiden Söhnen Torgh und Krahl residierte. Krahl, der jüngere der beiden Königssöhne, war aus der Art geschlagen. Er war gütig und sanftmütig, und er half den armen Dorfbewohnern im Tal dabei, die sagenhafte Silberschüssel Miracorum, vor seinem gierigen Vater zu verbergen, die der Zauberer Sandewan vor Jahrhunderten im Zauberwald verloren hatte. Diese Schüssel war stets gefüllt mit den köstlichsten Speisen, die man je im Reich genossen hatte, und sie wurde niemals leer.

Im Zauberwald lebte außerdem die arme, aber wunderschöne Prinzessin Liesebel mit ihrer Mutter, der Königin Asiria. Vor langer Zeit hatten die kriegerischen Steinzwerge Liesebels Vater, den weisen König Chandar in den Wassergraben seines Schlosses gestoßen, wo der Drache Harthok ihn gefressen hatte. Seither musste die verarmte Königin mit ihrer Tochter Liesebel im Wald bei dem mürrischen, aber gutmütigen Köhler Wachsmuth leben.

Eines Tages würde Liesebel auf den Königssohn Krahl treffen und sich in ihn verlieben. Wann und wo das aber geschehen würde, wusste ich noch nicht genau. Auf jeden Fall würde Krahl Liesebel dabei helfen, die Steinzwerge aus dem Schloss ihres Vaters zu vertreiben. Ob es am Ende eine Fantasy-Story für Erwachsene werden würde oder ein Kinderbuch, wusste ich auch noch nicht recht. Bisher war in der Geschichte jedenfalls nichts passiert, was auf Kinder besonders verstörend wirken könnte. Deshalb schrieb ich einfach weiter und war gespannt, wie sich die Sache entwickeln würde.

Dad hatte was mit seiner Sekretärin gehabt. Das war alles, was an Lillys und meine Ohren gelangt war. Die Eltern hatten gestritten. Jeden Abend, wenn auch nicht laut. Was genau abgelaufen war, hatten sie vor uns verborgen. Ob die Sache noch lief, wusste ich ebenfalls nicht. Ich konnte es mir kaum vorstellen, denn das, was Mom und Dad seit Monaten mit dem Haus um die Ohren hatten, ließ bestimmt keine Zeit für Liebschaften.

Wahrscheinlich hatten sich die beiden aber schon vor Dads Ausrutscher auseinandergelebt. Das passierte einfach. Ich machte mir da keine Illusionen. Anders als manche der Tussis aus meiner ehemaligen Klasse, die den ganzen Tag auf TikTok, Insta und Snapchat rumhingen, sich Bilder und Videos von den coolsten Jungs mit den coolsten Bodys anschauten, und daran glaubten, dass sich irgendwann so ein Typ unsterblich in sie verlieben und ihnen bis ans Lebensende treu sein würde. Natürlich würde er in einer weißen Villa wohnen, einen roten Sportwagen fahren und mit ihnen Traumurlaube in der Karibik verbringen. Vielleicht würde er aber auch seit Jahren arbeitslos sein, schon vormittags mit der Fernbedienung in der Hand Bier saufen, eine Wampe kriegen und die Zwei-Zimmer-Wohnung im achten Stock des Plattenbaus nur verlassen, wenn ihm die Kippen ausgingen. Das war wieder böse, aber schauen Sie sich doch in der Welt um.

So gesehen, hatten Mom und Dad eigentlich eine vorbildliche Ehe geführt. Solange wie es eben gedauert hat. Wieso gilt eine Ehe als gescheitert, wenn sie doch viele Jahre lang gut war? Sie ging eben einfach nur zu Ende, mehr nicht. Deshalb war doch nicht plötzlich alles schlecht, was vorher gewesen ist.

Okay, wenn ich ganz ehrlich bin, dann versuche ich nur cool zu sein. In Wahrheit machte mich die Trennung unheimlich traurig. Und Lilly litt noch mehr darunter, wenn ich es richtig einschätzte.

Auf jeden Fall kam irgendwann die Idee auf, Mom und wir würden aus dem Haus in Oldenburg ausziehen. Und was lag näher als Grannys Haus An der Braut, das schließlich noch immer leer stand. Dass unter dem Grundstück Hohlräume verfüllt werden mussten, war damals schon bekannt gewesen. Aber niemand hatte damals wohl geahnt, dass es dicke Bündel von Geldscheinen waren, die in diese Hohlräume gepumpt werden würden.

Lilly und ich hatten aufgrund der besonderen Umstände noch vor dem Beginn der Sommerferien die Schule in Oldenburg verlassen dürfen. Schließlich fand der Unterricht zu der Zeit ohnehin nur online statt. Beide hatten wir bis dahin das Alte Gymnasium am Theaterwall besucht. Lilly hatte viel geweint, als sie erfuhr, dass wir wegziehen würden. Im Gegensatz zu mir hatte sie in Oldenburg einen großen Freundeskreis besessen.

Anfang Juni waren wir in das Haus in Essen eingezogen. Für uns drei Frauen war der Platz mehr als ausreichend. Auch der schöne große Garten half über einiges hinweg, was wir in Oldenburg zurücklassen mussten. Aber dann kroch die große, öde Leere in unser Leben. Ich konnte nicht mehr in meinen Schwimmverein gehen. Lilly hatte in Oldenburg viel freie Zeit auf dem Pferdehof an der Sandkruger Straße bei ihrem geliebten Island-Wallach Ívar verbracht. Hier in Essen gab es außer einigermaßen stabilem W-Lan und Fernsehen nichts. Null. Und vor uns lagen die großen Ferien, die noch nicht einmal angefangen hatten. Und Moms Geldsorgen.

 

 

 

 

4

 

Obwohl das Meer, das im Sonnenlicht hellblau schimmerte, weiter draußen beinahe spiegelglatt war, drängte das Wasser, angetrieben durch einen stetigen Nordwestwind, unablässig auf den Strand. Durch die plötzliche Enge im flachen Uferbereich überrascht, hoben sich die Brandungswellen beinahe ärgerlich schäumend empor und warfen sich tosend auf das ihnen vorausgeeilte Wasser. Gischt erfüllte wie feiner Nebel die Luft dicht über der perlenden Flut, die hoffnungsvoll auf den Sand eilte, Muscheln und kleine Krebse mit sich reißend, zögerte und sich dann beinahe schüchtern zurückzog, als hätte sie sich verirrt.

Während meine nackten Füße sich tiefer in den nassen Sand senkten, nahm das ablaufende Wasser einen Teil der mitgebrachten Muscheln wieder mit sich, bevor der nächste Wellenkamm auf den Strand rollte.

Nachdenklich betrachtete ich das unscharfe und durch Lichtbrechung verzerrte Bild, das meine Füße im Wasser direkt am Saum des Meeres abgaben. Ich hatte auf meine Fußnägel wieder den dunklen Nagellack aufgetragen, den Mom nicht mochte. Die Farbe lag irgendwo auf halbem Weg zwischen Mokka und Schwarz.

„Warum nimmst du nicht irgendein helles Rosé“, sagte sie immer. „So eine Farbe ist irgendwie … Das passt doch nicht zu einem jungen Mädchen.“ Ich wusste, dass sie den Nagellack nicht nur zu erwachsen für mich, sondern wahrscheinlich auch ein bisschen nuttig fand. Sie scheute sich aber davor, es auszusprechen. Mich amüsierte das, denn ich war sowieso ganz und gar nicht ihrer Meinung.

Warum ich aufgewacht war, wusste ich nicht. Es war still im Haus. Ein Blick aufs Handy sagte mir, dass es kurz vor vier Uhr morgens war. Um diese Zeit fuhr nicht einmal ein Auto durch unsere Straße. Selbst die Hunde in der Nachbarschaft hielten sich an die Nachtruhe. Ich hatte schon öfter von Spiekeroog geträumt. Wir hatten dort mal Urlaub gemacht. Das war aber schon Jahre her, und die Fußnägel hatte ich mir damals ganz sicher noch nicht lackiert.

Im Traum hatte ich mich umgedreht und hinüber zu den Dünen geschaut, über denen sich dunkle Wolken zusammengebraut hatten. Das war unlogisch, denn der Wind kam vom Meer herüber, während die Dünen im Süden, also auf der Landseite lagen. Die Wolken hatten eine bedrohliche Farbe gehabt, und ich hatte mich plötzlich unwohl gefühlt.

Ich wollte auch das schreiben. Über das Meer, über die Insel und über eine Liebe. So in etwa würde ich die Geschichte anfangen, mit der Brandung, mit dem Sand und den Muscheln. Ein Liebesroman musste nicht zwingend kitschig sein. Vielleicht würde es sogar die Geschichte einer lesbischen Liebe werden, wer weiß. Dadurch ergab sich möglicherweise mehr Konfliktpotenzial im Umfeld der Protagonistinnen. Sobald die Fantasy-Geschichte fertig war, würde ich damit anfangen.

Vielleicht würde ich die Love-Story sogar vorziehen. Sie würde eine blumenreiche Sprache haben. Mit vielen Metaphern. Kennen Sie die Deutschstunde von Siegfried Lenz? Ich habe es gelesen. Granny hatte mir davon erzählt, und daraufhin hatte ich mir das Buch vorgenommen. Freiwillig. Keine leichte Kost – zugegeben. Ich weiß, dass viele in meiner Altersklasse das Buch als Pflichtlektüre in Deutsch hatten. Es ist eins von den vielen Büchern, die Granny in ihrem großen Bücherschrank hatte. Dad hat ihn über Ebay vertickt. Den Schrank.

„Das alte wuchtige Ding erschlägt einen ja, wenn man ins Zimmer kommt“, hatte er gesagt. Unter Grannys alten Möbeln hatte es einige richtig wertvolle Stücke gegeben. Die Bücher selbst hatte ich jetzt in meinem Zimmer. Teilweise waren sie noch in einer Ecke auf dem Boden gestapelt. Aber egal, das ist nicht unser Thema. Ich war aufgewacht, weil sich der Gedanke an das Tor in mein Unterbewusstsein geschlichen hatte, das war mir jetzt auf einmal klar. Das Tor, dass es nur in den Geschichten meiner Granny gab, hinten im Garten jenseits der Fichten. Es hatte mich aus dem schönen Traum vom Strand auf Spiekeroog gerissen. Ich musste es irgendwann tun, das wusste ich. Ich musste der Sache auf den Grund gehen. Granny war hindurchgegangen, das hatte sie mir erzählt. Und ich hatte es in ihren Gedanken gespürt, manchmal wenn ich abends in meinem Bett in Oldenburg gelegen hatte. Was, wenn alles wahr gewesen war? Wenn Granny tatsächlich diese einzigartige Gabe besessen hatte, die ich für ein Märchen hielt und von der sonst niemand wusste. Natürlich hielt ich es für ein Märchen, denn alles, was ich bisher gelernt hatte, sprach dafür. Obwohl sich Grannys Gedanken wahr angefühlt hatten. Ich hätte es gespürt, wenn sie mich angelogen hätte.

Aber ich musste schlafen. Morgen gleich um acht Uhr war der Video-Call mit Doktor Renneberg. Bei ihm hatten wir Geschichte und Französisch. Durch mein geöffnetes Fenster wehte ein angenehmer Luftzug herein. Irgendwo durchbrach nun doch ein Hund in der Nachbarschaft die Nachtruhe. Er bellte aber weit entfernt. Vermutlich wohnte er nicht An der Braut. Ich schob meine Beine unter die Bettdecke (Gestern Abend hatte ich mich aufgrund der Hitze nicht zugedeckt) und schloss die Augen. Und ich sah Granny. Aber nicht wirklich, nicht lebendig, sondern so, als hätte sie jemand in Öl auf Leinwand gemalt, und zwar mit viel Liebe zum Detail. Das Gesicht war unbeweglich, aber es lächelte. Ihre Haare waren so weiß wie das lange Kleid, das sie trug, und es ging ein seltsamer Sog von ihr aus. Fast war mir, als wollte sie mich in das Bild hinein locken. Sie wollte, dass ich irgendetwas unternehme. Nur was, das blieb mir verborgen. Ich lag noch lange wach, aber irgendwann musste ich wohl doch noch eingeschlafen sein, denn als um sieben Uhr mein Handy Don´t start now von Dua Lipa abspielte, holte es mich aus einem tiefen traumlosen Schlaf.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

5

 

„Hannah.“ Mom stand im Türrahmen und hatte sich ihre Schürze umgebunden. Sie machte rudernde Bewegungen mit den Armen. Offenbar bemühte sie sich schon länger um meine Aufmerksamkeit, aber ich saß in einem Sessel im Wohnzimmer am Laptop und hatte Kopfhörer auf. Ich nahm einen Stöpsel heraus. Aus der Küche roch es nach frisch gebackenem Kuchen.

„Schatz, kannst du noch schnell zum Bäcker Siepmann am Heidhauser Markt laufen und Sahne holen?“ Ich machte ein abweisendes Gesicht.

„Mom, ich muss hier ...“ Ich brach ab, als Mom den Kopf schief legte. Sie konnte nicht wissen, dass ich an einem Deutsch-Referat arbeitete. Sicher dachte sie, ich würde wieder … Boah, wie ich das hasste. Hannah sitzt wieder bei ihren Geschichten, pflegte sie zu sagen. Und sie tat das oft mit leicht schief gezogenem Mund. Das klang dann immer so, als würde ich mit dem Finger in der Nase bohren oder Schnecken in einem Schuhkarton sammeln. Hannah sitzt wieder bei ihren Geschichten. Das kam bei mir im Ranking gleich nach Dein Vater.

Weder Mom noch Dad hatten in ihrem Leben jemals viel gelesen. Vielleicht mal einen Schmöker im Urlaub, aber das wars dann auch schon. Ganz im Gegensatz zu Oma Lisbeth. Auch Dad hatte wenig Verständnis dafür, wenn ich davon sprach, Schriftstellerin zu werden. Ich hatte bei beiden sehr dafür geworben, mal einen meiner Texte zu lesen. Mom hatte es auch versucht, aber nach ein paar Seiten abgebrochen und mich damit vertröstet, dass sie im Moment noch etwas zu erledigen hätte und später darauf zurückkäme.

„Liest sich nett“, hatte sie gesagt und freundlich gelächelt. „Ich lese es später weiter, okay?“ In ihrem Lächeln hatte ich so etwas wie verständnisvolles Mitleid gesehen, vielleicht habe ich mich aber auch geirrt. Ich machte mir nicht die Mühe, Mom von meinem Referat zu erzählen, denn ich hatte mir vorgenommen, ihr zu helfen, wo ich konnte. Sie hatte genug Sorgen am Hals. Deshalb klappte ich den Laptop zu und legte ihn auf den Tisch.

„Danke“, sagte sie, „auf der Kommode liegt ein Zwanziger.“ Ich stand auf.

„Wie viel Sahne brauchen wir denn?“, fragte ich.

„Ein Viertelpfund. Oder vielleicht besser ein halbes Pfund. Sonst hält Onkel Jürgen uns noch für knauserig. Siepmann macht um vierzehn Uhr auf.“ Mom verschwand wieder in der Küche. Ich sah auf mein Handy; es war kurz vor vierzehn Uhr. Draußen war es still. Am Wochenende arbeiteten die Leute von Grundbautechnik Krapp nicht. Offenbar war die Sache mit dem Wetterschacht doch nicht so dringend. Die Gefahr, dass wir alle zusammen mit unserem Haus im Untergrund versinken könnten, war offensichtlich geringer, als der Gutachter uns glauben machte.

Da es draußen wieder sehr warm war, tauschte ich nur die Flip-Flops gegen meine Sneakers und ging im ärmellosen Top aus dem Haus. Onkel Jürgen hatte vor ein paar Tagen mit Mom telefoniert. Er hatte verkündet, dass er unbedingt mal sehen wolle, wie es in Grannys Haus aussah, nachdem die neuen Bewohner eingezogen waren. Früher hatte er wohl häufiger Kontakt mit Granny gehabt. Jürgen war kein richtiger Onkel. Sein Bruder hatte früher zusammen mit meinem Opa auf der Zeche gearbeitet.

Jürgen ist ein Lebenskünstler, hatte Granny mal gesagt. Mom hielt ihn für einen Luftikus, und Dad ging einen Schritt weiter. Für ihn war Onkel Jürgen ein Tagedieb und ein Faulpelz. Der in seinem ganzen Leben nicht richtig gearbeitet hat. In der Familie sagte man, dass er sich Schriftsteller nannte. Dabei hat er nie eine vernünftige Zeile aufs Papier gebracht, sagte mein Dad. Als ob ausgerechnet er das beurteilen könnte. Ein einziges Buch hatte Granny jedenfalls von Jürgen Brosig besessen. Jetzt habe ich es. Vielleicht war es ja sein einziges Werk? Jedenfalls habe ich bei Amazon unter dem Autorennamen nichts weiter gefunden. Es handelte sich wohl um eine Liebesgeschichte, irgendwas trauriges Unerfülltes. Der unscheinbare cremefarbene Einband war schon etwas abgegriffen und an den Ecken schmuddelig. Gelesen hatte ich es noch nicht, aber ich nahm mir vor, demnächst mal reinzuschauen, sobald ich den Report der Magd von Margaret Atwood ausgelesen hatte. Sie kennen vielleicht die Netflix-Serie? Ich hatte mir das Buch vor einigen Wochen schon auf meinen Kindle geladen. Eine unglaublich verstörende Dystopie. Blöd zwar, wenn man die Serie vor dem Buch gesehen hat, aber lesen ist immer noch mal etwas anderes.

„Mama, er kommt“, flötete Lilly etwas mehr als eine Stunde später mit Ihrer hellen Stimme durch den Hausflur. Anscheinend hatte sie oben in ihrem Zimmer aus dem Fenster gesehen. Sie hatte zwar dramatisch mit den Augen gerollt, als sie erfuhr, dass ein ihr völlig fremder Onkel, der zudem schon sehr alt war, zu Besuch kommen würde, und sie sich dann ein bisschen benehmen müsse, aber schließlich war ihre Langeweile wohl so groß, dass jede Abwechslung willkommen war. Kurz darauf hörte man ihre schnellen Schritte auf der Holztreppe im Flur poltern.

Mom und ich hatten den Esstisch mit Grannys gutem Geschirr gedeckt, und es standen Platten aus Kristallglas mit zwei selbst gebackene Kuchen auf der weißen Tischdecke. Ein Käsekuchen und ein gedeckter Apfelkuchen mit Streusel. Dazu in einer Kristallschüssel die frische Sahne, die ich von Bäcker Siepmann geholt hatte. Die Kaffeemaschine schnorchelte in der Küche.

„Mama, müssten wir nicht Masken aufsetzen?“, fragte ich, einer spontanen Eingebung folgend.

„Ach so, ja sicher. Danke, Kind“, sagte meine Mutter. Sie öffnete eine Schublade des Garderobenschränkchens und zog zur Feier des Tages drei nagelneue Gesichtsmasken aus der Kunststoffverpackung.

Nachdem ich meine aufgesetzt hatte, spähte ich vorsichtig durch das Flurfenster und sah, dass vor dem Haus zwischen zwei Platanen ein alter weißer Mercedes geparkt hatte. Es war ein wirklich altes Modell. Eben stieg ein älterer Herr aus. Er war für sein Alter erstaunlich schlank und beweglich, und er hatte ein helles Leinenhemd an, das er lose über einer auf den ersten Blick deutlich zu weiten, weißen Hose trug. Er setzte sich einen ebenfalls fast weißen, breitkrempigen Hut auf. Mom stellte sich hinter mich und sagte: „Der sieht immer noch so aus wie früher.“

„Wann hast du ihn zuletzt gesehen?“, fragte ich.

„Das muss zwölf, dreizehn Jahre her sein. Oder sogar fünfzehn. Auf Nicoles Konfirmation.“ Nicole war eine Cousine von mir. Ich konnte mich nicht erinnern, wie sie aussah. Kurz nachdem der Besucher aus unserem Blickfeld verschwunden war, läutete es an der Haustür.

„Nehmt doch um Himmels willen diese Dinger ab“, sagte Onkel Jürgen noch im Hausflur und deutete auf Moms Maske. Es war eine dieser hellblauen OP-Masken, Sie wissen schon. „Wir haben uns so lange nicht gesehen, und wenn ich schon bei drei so hübschen Damen zu Gast bin, will ich doch wenigstens ihre Gesichter sehen.“ Er lächelte wie ein Charmeur aus einem alten Kinofilm. Lilly kicherte.

„Okay, wenn du meinst“, sagte Mom. „Wir können ja ein bisschen Abstand halten. Zur Sicherheit.“ Natürlich galt es, das war mir klar, vor allem ältere Menschen zu schützen. Das Fenster zur Straße und die große Tür zum Wintergarten hielten wir, der Wärme wegen, ohnehin den ganzen Tag geöffnet.

„Meine Güte, was bist du groß geworden“, sagte Onkel Jürgen zu mir, nachdem wir alle, auch Lilly, die bestimmt lieber in ihrem Zimmer geblieben wäre, an der Kaffeetafel Platz genommen hatten. Zwischen Onkel Jürgen und mir hatte ich bewusst einen Stuhl freigelassen. Mindestabstand. Ich lächelte ihn freundlich an.

„Du warst so …“, er hielt seine ausgestreckte Hand etwa in Höhe der Tischkante und ließ sie dann noch etwas tiefer sinken, „… nein, so klein, als ich dich das letzte Mal gesehen habe. Du hast dich immer hinter deiner Mutter versteckt.“ Er sah Mom an, die zustimmend nickte. „Hannah wird drei oder vier Jahre alt gewesen sein“, sagte sie.

„Und du bist …“ Onkel Jürgen sah Lilly an. Als die nicht gleich antwortete, half Mom aus: „Das ist unsere Lilly. Die ist jetzt vierzehn.“

„Lilly, klar. Ich bin nicht mehr der Jüngste, und da ist das mit Namen so eine Sache“, erklärte Onkel Jürgen und schnitt eine leidende Grimasse. „Auf Nicoles Konfirmation hattest du einen Schnupfen und hast fast die ganze Zeit geschlafen. Und wenn du wach warst, hast du geheult.“ Während Lilly nervös auf ihrem Stuhl hin und her rutschte und sich an einem höflichen Lächeln versuchte, lachte Onkel Jürgen herzlich und zwinkerte mir zu. Mom nippte an ihrem heißen Kaffee und unser Besuch tat das Gleiche.

„Onkel Jürgen, möchtest du lieber Apfel- oder Käsekuchen?“, fragte Mom.

„Um Gottes willen, nennt mich bloß nicht Onkel. Ich weiß auch so, dass ich ein alter Sack bin. Das Onkel macht mich gleich noch ein paar Jährchen älter. Danke, Bärbel, ich würd` gern beides versuchen. Die sehen so lecker aus. Gib mir doch von dem Käsekuchen vielleicht nicht so ein großes Stück.“

Denken Sie nicht, dass ich auf alte Männer steh´, aber ich muss zugeben, dass mich dieser Jürgen ein bisschen faszinierte. Er hatte einen relativ dunklen Teint und wirkte mit seinem hageren, zerfurchten Gesicht wie jemand, der von einer griechischen Insel stammte. Als er seinen Hut an die Garderobe gehängt hatte, war ein weißer Haarkranz zutage getreten, der sich über den Ohren kräuselte und im Nacken ziemlich lang war. Seine schmalen braunen Handrücken waren von Pigmentflecken und feinen weißen Härchen übersät. Die beiden oberen Knöpfe seines Leinenhemdes waren offen und ließen den Ansatz einer weißen Brustbehaarung sehen. Seine wachen grünen Augen blickten freundlich und unternehmungslustig. Mom hatte uns erzählt, dass Jürgen fünfundsiebzig oder sechsundsiebzig Jahre alt sei und zusammen mit ein paar anderen Leuten ein altes Bauernhaus mit einer umgebauten Scheune in Velbert bewohnte. Unwillkürlich musste ich an Hemingways Der alte Mann und das Meer denken. So und nicht anders stellte ich mir einen in die Jahre gekommenen Schriftsteller vor. Das war meine Welt. Das wollte ich auch. Zusammen mit anderen künstlerisch ambitionierten Menschen auf einem Bauernhof leben.

„Das mit Lisbeth tut mir unheimlich leid“, sagte Jürgen unvermittelt, nachdem wir schweigend ein paar Bissen Kuchen gegessen hatten. „Sie war eine besondere Frau. Ganz außergewöhnlich. Ich habe sie sehr gemocht.“ Mom und ich wechselten kurze Blicke, und unwillkürlich traten mir Tränen in die Augen. Das passierte mir immer noch manchmal, wenn ich an Granny dachte. Mom und Lilly saßen Jürgen und mir gegenüber. Jürgen bemerkte meine Tränen.

„Du hast sie liebgehabt, deine Oma, stimmt´s?“, fragte er mich. Ich hatte ein seltsames Gefühl, als ich ihn ansah. Es war, als wollten seine Augen in meine eindringen.

„Ja“, sagte ich leise und nickte.

„Unsere Hannah hat sehr an ihrer Oma gehangen“, erklärte Mom. Ich glaube, für sie war es besonders schlimm. Noch Kaffee, Onkel Jür … Verzeihung, Jürgen?“

Der nickte eifrig. „Gerne, Bärbel.“ Er hielt ihr seine Tasse hin. Ich schaufelte ein Stückchen von Moms selbstgebackenem Apfelkuchen in meinen Mund. Der schmeckte wirklich irre gut. Lilly fiel ihre Gabel vom Teller und landete klirrend auf den Fliesen. Mit vollem Mund bückte sie sich und murmelte beim Hochkommen eine Entschuldigung. Nicht ganz ohne Schadenfreude sah ich, wie sie rot anlief.

„Hannah, was willst du denn nach der Schule werden?“, fragte Jürgen. Ich schluckte einen Bissen herunter, aber bevor ich Luft holen konnte, antwortete Mom: „Wir hoffen, dass Hannah Medizin studiert. Sie hat sehr gute Noten, und wenn sich daran bis zum Ende der Oberstufe nichts gravierend ändert, hat sie gute Chancen.“

Jürgen nickte anerkennend und blickte mich von der Seite an. Ich warf Mom einen verärgerten Blick zu.

„Hannah will Schriftstellerin werden“, plärrte Lilly vorlaut über den Kaffeetisch und sah mich dabei triumphierend an. Mom rollte mit den Augen.

„Na ja, Hannah denkt sich gerne Geschichten aus“, sagte sie. „Sie hatte schon immer eine blühende Fantasie.“ Der Blick, um den ich mich bemühte, hätte eigentlich auf der weißen Bluse meiner Mutter, die sie zu Ehren des Gastes angezogen hatte, hässliche Brandflecke hinterlassen müssen. Lilly kicherte dümmlich. Jürgen allerdings war plötzlich ernst geworden und sah mich für ein paar Sekunden mit seinen grünen Augen an.

„Das ist schön“, sagte er dann, „allerdings kein Beruf, von dem man leben kann. Schreib nur weiter gute Noten in der Schule. Aber Geschichten erfinden ist schön. In deinem Kopf hast du das ganze Universum. Du kannst Welten zum Leben erwecken.“ Ich sah, wie Lilly mir in einem unbeobachteten Augenblick die Zunge herausstreckte, und ich bin sicher, wenn sie mir statt Mom direkt gegenübergesessen hätte, das kleine Luder hätte mich unter dem Tisch getreten. Jürgen hob seine Tasse und wandte sich an meine Mutter. „Dein Kaffee ist köstlich, Bärbel.“ Er nahm einen Schluck und stellte die Tasse ab. „Lisbeth hätte es gefreut, dass ihre Enkelin fantasiebegabt ist.“ Dann fiel sein Blick auf Lilly. „Sie war sicher stolz auf zwei so hübsche Enkelinnen.“

„Sie hatte Hannah und Lilly immer gerne um sich“, sagte Mom, und in ihren Augen zeigte sich ein trauriger Schimmer. „Wir haben sie viel zu selten besucht.“

„Das denkt man hinterher immer“, erwiderte Jürgen. „Aber Ihr habt euer eigenes Leben. Mach dir keine Gedanken, Bärbel. Lisbeth hat das verstanden. Sicher schaut sie euch von oben zu und ist glücklich, dass ihr jetzt in ihrem Haus lebt. Das mit dir und Hans-Werner tut mir natürlich leid.“

„Ach.“ Mom winkte ab und lächelte schief. „Wir kommen schon klar. Aber erzähl doch mal, wie es dir so geht?“

„Hm“, machte Jürgen und rührte in seiner Tasse. „Du weißt doch, wie das ist. Die rote Tablette hierfür, die gelbe Tablette dafür. Und wenn man morgens ohne Schmerzen aufwacht, ist man vermutlich tot.“ Er lachte kurz auf. „Wir haben eine tolle Gemeinschaft auf dem Hof. Und wir kommen klar. Im Herbst bringen ein Kumpel und ich zusammen einen Lyrikband im Selbstverlag heraus. Das bringt kein Geld, aber es erfreut das Herz.“

 

Ich konnte nicht umhin, aber ich mochte diesen alten Mann. Mir war nicht entgangen, dass er mich immer wieder von der Seite ansah, wenn er glaubte, ich würde es nicht bemerken. Warum er das tat, wusste ich nicht, aber vielleicht war es einfach so, dass er mich ebenfalls mochte. Jürgen hatte noch meinen Opa gekannt. Der war so früh gestorben, dass nicht einmal Mom ihn kennengelernt hatte. Opa war ein Direktor auf der Zeche gewesen. Ein richtig hohes Tier. Und der Stress bei der Arbeit hatte ihn wahrscheinlich umgebracht. Arme Granny, sie war sehr früh allein gewesen.

„Bärbel, sag mal, das ganze Theater da draußen …“ Jürgen deutete zuerst mit dem Zeigefinger auf das der Straße zugewandte Fenster, wo sich der Silo von Grundbautechnik Krapp erhob, und dann mit dem Daumen in Richtung Garten. „Zahlt das die Bergbehörde oder die Ruhrkohle AG? Oder müsst ihr für das Ganze selbst aufkommen?“ Mom schob ihren leeren Kuchenteller von sich und atmete tief ein.

„Frag nicht, Jürgen. Frag nicht“, sagte sie und winkte mit beiden Händen ab.

„Wenn ihr Hilfe braucht“, warf Jürgen zögerlich ein“, sagt jederzeit Bescheid, okay?“ Mom blickte ihm ins Gesicht und versuchte ein freudloses Lächeln. Hinter ihrer Stirn konnte ich förmlich hören Ach Jürgen, du bist doch selbst ein armer Schlucker. Wie willst du uns denn helfen? Für die Dauer eines Augenblicks hatte ich das Gefühl, als hätte ich ihren Gedanken tatsächlich gehört, aber wahrscheinlich kannte ich Mom einfach zu gut. Sie nickte nur kurz und sagte: „Jürgen, nimm doch ein bisschen Sahne auf deinen Apfelkuchen.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

6


„Habt ihr eigentlich das Bild noch?“ Das hatte Jürgen gefragt, nachdem er schon im Flur seinen Hut aufgesetzt hatte.

„Welches Bild“, hatte Mom gefragt, während ich komischerweise sofort wusste, was er meinte.

„Dieses Familienporträt, das Lisbeth so geliebt hat“, sagte Jürgen. „Es muss so um Ende des neunzehnten Jahrhunderts gemalt worden sein oder Anfang des zwanzigsten.“

Meine Mutter dachte nach. „Ich glaub` schon. Das muss noch bei den anderen Sachen im Keller sein. Hans-Werner hatte vor, den alten Kram bei Ebay einzustellen, aber es ist bisher bei dem Plan geblieben. Hannah, du kennst das Bild, oder?“ Sie sah mich dabei an. Ich nickte.

„Nur, wenn ihr keine Verwendung dafür findet“, sagte Jürgen, „also, wenn es wirklich sonst keiner haben will, ich würde es dann gerne nehmen. Eine schöne Erinnerung an Lisbeth. Bevor es auf dem Müll landet.“ Lilly versuchte, über die Treppe im Flur hinauf in ihr Zimmer zu gelangen.

„Lilly“, rief meine Mutter, „du willst dich doch noch von Onkel Jürgen verabschieden, oder?“ Sie machte ein strenges Gesicht. Zurecht, wie ich fand.

„Ciao, Onkel Jürgen“, sagte sie artig von der vierten oder fünften Stufe herab.

„Nur Jürgen, bitte“, sagte Jürgen und zwinkerte ihr zu.

„Okay“, flötete Lilly und verschwand nach oben.

„Entschuldige, Jürgen“, sagte meine Mutter und schüttelte den Kopf. „Ach so, das Bild. Na klar, das kannst du gerne haben. Viel würden wir bestimmt nicht für den alten Schinken kriegen. Wir suchen das mal raus und sagen dir Bescheid, ja? Bestimmt ist es ganz staubig.“

„Danke für alles.“ Jürgen hielt meiner Mutter seine rechte Hand hin, aber sie hob entschuldigend beide Hände und sagte: „Ich glaub` wir sollten das besser so machen. Du weißt schon.“

„Ach ja, na klar“, sagte er und zog die Hand zurück. „Hoffen wir, dass der Mist bald vorbei ist.“ Den Blick, den er mir danach zuwarf, vergaß ich für lange Zeit nicht. Es lag eine Vertrautheit darin, die ich mir nicht erklären konnte, die ich aber durchaus als angenehm empfand. Dann legte Jürgen einen Zeigefinger an die Krempe seines Hutes wie ein wohlmeinender Offizier, der lässig seine Leute grüßte, und öffnete die Haustür.

Den Rest des Nachmittages verbrachte ich damit, eine lange E-Mail an Emre zu verfassen.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 30.10.2022
ISBN: 978-3-7554-2431-4

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