Über dieses Buch:
Etwas Schreckliches ist passiert. Die Familien von Lisa Krafczyk und Pascal Weiss wären sich vermutlich nie begegnet, obwohl sie in derselben Stadt leben. Doch das Geschehene kettet sie unheilvoll aneinander. Es löst nicht nur eine Lawine aus Schuldgefühlen und Rachegedanken aus, sondern reißt die Beteiligten dieser Tragödie, die Täter und Opfer zugleich sind, in einen Strudel aus Verzweiflung und Hass. Das namenlose Böse, das in uns allen steckt, dringt an die Oberfläche und treibt sowohl Lisa und ihre Tochter Nele als auch Pascal und seine Tochter Sarah in einen Abgrund des Horrors, aus dem sie nicht herausfinden.
Eine einzige Unachtsamkeit, ein Moment, der nicht viel länger ist als ein Wimpernschlag, startet ein Karussell des Schreckens, dass sich immer schneller dreht. Ein tiefer und beunruhigender Einblick in die Abgründe der menschlichen Seele, aber auch eine Geschichte über Liebe, Freundschaft und Hoffnung.
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ISBN der Printausgabe: 978-3-946762-72-0
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Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.
Oktober 2019
1
Sehr oft kam es nicht mehr vor, dass Lisa Krafczyk von diesem besonderen Traum heimgesucht wurde, aber wenn er kam, lief er stets gleich ab. Bis in jedes Detail, präzise wie ein Uhrwerk. Auch wenn sie schon zu Beginn des Traums ganz genau um das Ende wusste, fand sie keinen Weg, sich dem Grauen durch Erwachen zu entziehen. Jedes einzelne verfluchte Mal musste sie das Szenario bis zum Ende auskosten. Bis zu einem bestimmten Punkt, an dem sie aufwachte. Immer an derselben Stelle. Und obwohl sie während des Traums genau wusste, dass es sich um einen Traum handelte, dass sie nämlich in Wirklichkeit zu Hause in ihrem Bett lag und nur die Hand ausstrecken musste, um Leo zu berühren, hatten die Bilder in ihrem Kopf nichts von ihrem Schrecken eingebüßt. Denn der Traum war kein reines Trugbild. Er besaß einen realen Kern. Das war das eigentlich Furchtbare daran.
Man sagt, dass Menschen in ihren Träumen die Probleme aus der Realität verarbeiten. Aber es gibt eine Grenze, die man in dem Moment überschreitet, wenn die Träume so belastend sind, dass sie einem in die Realität folgen.
Die Schuld löste sich beim Aufwachen nicht einfach in Luft auf, weil sie sich in ihrem Kopf festgesetzt hatte wie ein quälender Parasit, wie ein Schatten, der hinter den Augen lauerte und die Wirklichkeit verdunkelte.
Es war später Abend. Oder tiefe Nacht, was spielte das für eine Rolle? Der Traum kannte keine Zeit. Die Landstraße war dunkel, und die Xenon-Scheinwerfer überschwemmten nur einen Teilbereich des grauen Asphalts vor dem Fahrzeug mit ihrem künstlichen Licht. Direkt vor ihr verschwanden die weißen Markierungen des Mittelstreifens in rasend schneller Folge unter dem Audi wie eine ununterbrochene Folge von weißen Blitzen. Es musste der A3 sein, Leos Firmenwagen, aber obwohl Lisa schon oft mit ihm gefahren war, fand sie sich nicht zurecht. Sie war zu schnell, sie wollte bremsen. Aber ihre Füße fanden weder Bremspedal noch Kuppelung. Der Drehzahlmesser und das Tachometer zeigten keine Daten, sie waren nur zwei leere dünne Kreise aus weißem Licht.
Die nächtliche Straße war schnurgerade wie mit dem Lineal gezogen und führte in die schwarze Unendlichkeit. Bäume, fahle graue Stämme mit verkrüppelten grauen Ästen, die sich wie vielfach gebrochene Arme mit dürren Gichtfingern der Straße zuneigten, flogen zu beiden Seiten an ihr vorbei wie ein Ehrenspalier der Unterwelt. Lisa wusste, dass der Junge kommen würde. Und er kam – trat aus dem Schatten zwischen zwei Bäumen hervor und schlurfte schleppend zur Fahrbahnmitte. Der Wagen war unfassbar schnell. Trotzdem kam der Junge, der jetzt abwartend in der Fahrbahnmitte stand, nur quälend langsam näher. Lisa stemmte beide Füße mit aller Kraft an die Stelle, an der sich üblicherweise Kupplung und Bremse befanden. Aber sie wusste, sie war sicher, dass sie nichts ausrichten konnte.
Der Junge mochte elf oder zwölf Jahre alt sein. Er hatte dunkle, lockige Haare, die sich über den Ohren und an der Stirn kräuselten. Oberhalb der linken Schläfe hatte er eine schwarz verkrustete Schürfwunde. Seine Augen waren blicklos und glitzerten wie zerstoßenes Eis. Lisas Hände hatten sich schmerzhaft um das Lenkrad verkrampft, das sich trotz größter Mühe nicht bewegen ließ. Ihr war das alles bekannt. Sie hatte es oft erlebt. Sie wusste, dass der Junge tot war, als sein Gesicht langsam auf sie zuschwebte, als würden seine Füße nicht den Boden berühren. Die Augen, die im Scheinwerferlicht trübe schimmerten, und die schwarzen Lippen sprachen eine eindeutige Sprache.
Was sie nicht wusste, ihre eigene Miene war zu einer Maske des Grauens verzerrt, während der Oberkörper der schmalen Gestalt sich über die Kühlerhaube neigte. Lisas Lippen entfuhr ein kraftloses Stöhnen, das aus dem Traum in die Realität hinüberhallte, und ihre Finger krallten sich in das zerwühlte Laken, auf dem sie schlief. Der Wagen verschmolz mit dem Jungen, der sich dabei tief verbeugte, ohne den starren, toten Blick von Lisa zu wenden. Dann kippte er nach hinten und verschwand aus ihrem Blickfeld.
Der Wagen raste weiter. Panik und Verzweiflung krochen in Lisas Brust empor. Etwas umklammerte ihre Lungen, wollte sie ersticken, denn gleich würde …
„Daran bist du schuld. Ich hasse dich!“
Die helle Mädchenstimme hinter ihr hatte eine harte und unerbittliche Färbung. Es war Mellys Stimme, natürlich. Wie jedes Mal. Aber das bösartige Klirren darin ließ ihr wie jedes Mal das Blut in den Adern gefrieren. Sie wollte sich nicht umdrehen, aber sie konnte nicht anders. Während sie ihren Kopf drehte, geriet der Wagen aus der Spur, legte sich auf die Seite und hob vom Boden ab. Er begann über die dürren, blattlosen Zweige der Bäume zu schweben. Dabei starrte Lisa in das dunkelbraune Gesicht ihrer kleinen Schwester Melanie, die schon so viele Jahre tot war. Die Augen schienen sie zu durchbohren, obwohl die Höhlen längst leer waren. Die faulenden Lippen hatten sich von den kleinen Milchzähnen zurückgezogen, die jetzt grau waren. Aus einem Mundwinkel krabbelte ein rotbrauner Ohrenkneifer hervor, verharrte kurz und huschte dann eilig abwärts über ihr Kinn, um am Hals in den feuchten schmutzigen Lumpen zu verschwinden, die das Mädchen trug. Die nassen Haare klebten strähnig an ihren Wangen.
Melly grinste mit grauen, vom Zahnfleisch befreiten und deshalb viel zu langen Zähnen, und in einer ihrer Augenhöhlen bewegte sich etwas ekliges Weißes. Lisa heulte verzweifelt auf und hieb mit den Fäusten auf ihre Bettdecke.
An dieser Stelle wachte sie immer auf. Mit der Hand fuhr sie sich über die verschwitzte Stirn und nahm wahr, wie der feine Vorhang sich in einer Windbö sanft nach innen blähte. Leo und sie mochten es beide kühl im Schlafzimmer. Deshalb hatte sie die Tür zur Dachterrasse meistens auf Kipp eingestellt. Jetzt allerdings fror sie. Spärliches Licht der Laterne vor dem Haus drang durch die Fenster. Leos Seite des Bettes war unbenutzt. Sie griff zum Handy, das auf dem Nachttisch lag. Es war erst kurz nach elf. Sie konnte also kaum länger als eine halbe Stunde geschlafen haben.
Dass Leo ein bis zwei Mal in der Woche so spät nach Hause kam, machte ihr kein Kopfzerbrechen. Er und sein Partner Halim saßen häufig abends lange im Büro, arbeiteten Exposés aus, überlegten sich Strategien oder trafen sich mit Bankern und Bauträgern zum Essen. Leo war nicht der Typ fürs Homeoffice. Er vertrat die Auffassung, dass die Arbeit produktiver war, wenn man sie im Büro und nicht in den heimischen vier Wänden verrichtete. Bei Lisa war das etwas anderes. Sie hatte ihr kleines Studio im Souterrain des gemeinsamen Hauses eingerichtet, wo sie die meiste Zeit des Tages verbrachte, wenn sie nicht für Partys, Hochzeiten oder Einschulungen gebucht war. Lisa Krafczyk hatte einen Schwerpunkt ihrer Arbeit auf Aktfotografie gelegt, was ihr am meisten Spaß machte, und sie verstand sich darauf, jede Frau so in Szene zu setzen, dass sie sich wie eine Göttin fühlen konnte.
Viertel nach elf. Zu einer Ehe gehörte schließlich auch Vertrauen. Wenn es daran haperte, war das der Anfang vom Ende. Und Leo und sie vertrauten einander. Sie hatten schon einiges erlebt, und das schweißte zusammen.
Lisa stand auf. Im Spiegel des Kleiderschranks sah sie ihr verrutschtes und verknittertes Schlafshirt und die ziemlich verwüsteten Haare. Dieser Scheiß-Traum! Auf nackten Füßen ging sie die Treppe hinunter und an Neles Zimmertür vorbei zur Küche, wo sie ihren trockenen Mund mit einem halben Glas Wasser aus dem Hahn bekämpfte. Von draußen drang Scheinwerferlicht durchs Fenster. Leo fuhr den A3 in den Carport neben dem Haus.
Sie vertraute ihm doch? Oder war es schon so, dass es ihr inzwischen egal war? Sie hoffte nicht, dass es so war. Sie liebte ihn schließlich. Ja, natürlich tat sie das. Immer noch. Ein bisschen anders als früher vielleicht.
2
„Oh, Gott“, stöhnte Leo Krafczyk und ließ sein Gesicht auf eine von Estelles nackten Brüsten sinken, deren Nippel wagemutig emporstrebten. Sie seufzte und schlang ihre Arme so fest um seinen Hals, dass ihm fast die Luft wegblieb. Sie bewegte ihr Becken ein paar Mal hin und her und kicherte leise. Ihm war, als käme immer noch etwas heraus.
„Das war irre“, sagte Leo und küsste Estelle auf den Hals.
„Absolut“, bestätigte sie und kraulte mit roten Fingernägeln seinen Nacken. Wohlig stöhnend stemmte Leo sich mit einer Hand hoch und zog sich aus ihr zurück, wobei er mit den Fingern der anderen Hand das Kondom festhielt. Estelle drehte ihren zweiundzwanzigjährigen, durch Power-Yoga gestählten Körper zur Seite und fischte umständlich die schwarze Packung John Player Special und ein rotes BIC-Feuerzeug aus ihrer Handtasche, die auf dem kleinen Glastisch neben dem Sofa lag.
„Muss das sein?“, fragte Leo mit einem bittenden Blick auf die Zigaretten. „Du solltest damit aufhören.“ Die junge Immobilienkauffrau drehte die Packung zwischen ihren schlanken Fingern, die vor ein paar Minuten noch so tolle Sachen mit ihm angestellt hatten. Rauchen erhöht das Risiko zu erblinden stand auf der Schachtel.
„Unsinn“, erwiderte Estelle, die noch auf dem Sofa lag, und winkelte verführerisch ein Bein an. Sie trug eine dünne Silberkette mit einem winzigen Herzanhänger, der seitlich verrutscht war. Sonst trug sie nichts. „Die drei oder vier Kippen am Tag bringen niemanden um. Und nach so einer Nummer geht´s nun mal nicht ohne.“
„Und Lisa kann es riechen“, fügte Leo hinzu. Er machte einen Knoten ins Kondom und stopfte es geschickt zwischen ein paar zerknüllte Zettel im Papierkorb. Estelle setzte sich auf und legte Zigaretten und Feuerzeug auf den Tisch.
„Wann willst du es ihr sagen?“, fragte sie, und ihre Stimme wirkte merklich ernüchtert.
Leo stieg, auf einem Bein hüpfend, in seine Unterhose, die in den letzten zwanzig Minuten zusammen mit anderen Kleidungsstücken auf der Rückenlehne seines Bürostuhls gelegen hatte, und stellte sich direkt ans Fenster. Die Verglasung reichte fast bis zum Boden und die senkrechten Sichtschutzlamellen waren zur Seite gezogen. Unten glitzerten die Lichter der Essener City, aber Leo brauchte nicht zu befürchten gesehen zu werden. Sein Büro lag im vierten Obergeschoss eines sechsstöckigen Geschäftshauses an der Huyssenallee, und die Bebauung auf der anderen Seite der mehrspurigen Straße war so weit entfernt, dass ein zufälliger Beobachter ein Fernglas benötigt hätte, um Details zu erkennen. Außerdem war es schon nach zehn, und Estelle und er hatten das Licht im Büro gelöscht. Direkt geradeaus blickte Leo auf den RWE-Tower, an dem nur noch wenige beleuchtete Fenster zu sehen waren. Wenn er sich nach rechts wandte, konnte er einen Teil des Hauptbahnhofs überblicken, in dessen Umfeld noch reger Autoverkehr herrschte. Ein wogendes Meer aus Scheinwerfern und Bremslichtern.
„Estelle ...“ Leo drehte sich zu der Frau mit den schwarzen, kurz geschnittenen Haaren um, die noch immer nackt und kerzengerade auf dem Sofa saß, die Hände auf den Oberschenkeln. Im spärlichen kalten Licht, das von draußen hereinschimmerte, wirkte sie wie eine Marmorstatue vor einem Pharaonenpalast. Eine sehr ansehnliche Marmorstatue. Nur der weiße Rauch, der aus der Glut der Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand aufstieg, zeugte davon, dass es sich um ein irdisches Wesen handelte.
„Ich werde es ihr sagen. Sobald der richtige Zeitpunkt gekommen ist, okay? Es ist nicht so einfach wie du denkst. Allein wegen Nele.“
Estelle war aufgestanden und ging langsam auf Leo zu. Oder besser gesagt, sie schritt. Während Leos Blick sich an ihr festsaugte, konnte er sich selbst sehr gut verstehen. Wer bei dieser Frau nicht schwach wurde, war entweder impotent oder schwul.
„Ich bin erwachsen, Chef“, sagte Estelle, legte ihm ihre Arme auf die Schultern und sah in ernst an. „Ich weiß, wie das ist mit euch verheirateten Typen. Ihr wollt Frau, Kind, Haus und einen schicken Wagen. Und gleichzeitig wollt ihr eure Freiheit und rumvögeln, wie es sich ergibt. Ich hab es nicht so mit Einhörnern und Prinzen, weißt du? Aber trotzdem dachte ich, du wärst ein bisschen anders.“ Sie ließ die Arme sinken und ging jetzt ihrerseits ans Fenster. Ihre Silhouette schimmerte im pulsierenden, orangefarbenen Licht einer Warnblinkanlage. Leo trat hinter sie und schlang seine Arme um ihre Schultern.
„Ich liebe dich“, sagte er, „lass mir noch ein bisschen Zeit, ja?“ Er berührte mit den Lippen ihren Nacken und verharrte in der Position. Estelle ließ es geschehen, rührte sich aber nicht. Sie blickte nach draußen auf die abendliche Stadt.
„Wir müssen los“, sagte Leo und ließ von ihr ab.
„Du musst los“, erwiderte Estelle leise. Wortlos zogen beide sich an und richteten ihre Kleidung. Auch in ihrem körpernahen, dunkelblauen Business-Outfit sah Estelle umwerfend aus, aber Leos Gedanken waren längst bei Lisa, die die Frau seines Lebens war. Es für immer sein sollte. Er hatte sie kennengelernt, etwa ein Jahr, nachdem er an der FOM seinen Bachelor in Jura gemacht hatte. Noch während er mehr oder weniger regelmäßig die Vorlesungen in Wirtschaftswissenschaften bei Professor Taube besuchte, war er bei seinem Kumpel Halim eingestiegen, der sich, damals noch von zu Hause aus, mit Hausverwaltungen und der Vermietung von Wohnungen beschäftigt hatte. Halim hatte zu der Zeit noch laufen können und Leo war seit der Oberstufe mit ihm befreundet.
Estelle drückte den Türöffner zum Flur herunter und ging hinaus. Leo folgte ihr. Die Türen zu Halims Büro und zu dem kleinen Besprechungsraum, der diesem gegenüber lag, standen offen. Ins Treppenhaus gelangte man durch eine schwere, repräsentative Rauchglastür mit der dezenten weißen Aufschrift „Bossmann Immobilien“. Halim und Leo hatten die ursprüngliche, nicht sehr ansehnliche Metalltür mit gelblicher Kunststoffbeschichtung auf eigene Kosten ersetzen lassen. Warum Halim die Firma nach seiner damaligen Freundin und heutigen Ehefrau Vanessa Bossmann benannt hatte? Nach seiner Philosophie entschieden sich mehr potenzielle Kunden für die Dienste eines Unternehmens mit diesem Namen als für eines mit Namen Öskan Immobilien. Und wahrscheinlich hatte er damit recht.
„Wenn du willst, kannst du morgen gerne später anfangen“, schlug Leo vor. „Oder sogar ganz frei machen.“
Er hielt seiner Angestellten die Aufzugtür auf. Beide stiegen in die enge Kabine ein. Die Innenwände sahen etwas ramponiert aus. Der Eigentümer des Altbaus hatte ganz offensichtlich einen Igel in der Tasche, denn investiert hatte er in den alten Kasten seit Jahren keinen Euro.
„Ach wie schön“, bemerkte Estelle, „bezahlst du mich jetzt schon für meine Liebesdienste?“ Ihre Miene drückte eine Mischung aus Trauer und Trotz aus. Leo war erschrocken.
„Nein, um Gottes Willen, jetzt willst du aber alles falsch verstehen, oder? Ich dachte, ich mache dir eine Freude.“
Er machte den Versuch, sie zu küssen, da sie jedoch schnell den Kopf drehte, traf er das Grübchen auf ihrer linken Wange. Estelle drückte auf der abgegriffenen Metalltafel auf „E“. Der Aufzug setzte sich mit einem Ruck in Bewegung.
„Lass mal gut sein, Leo. Für heute ist die Stimmung nun mal im Eimer. Tut mir leid. Wir sehen uns morgen, okay?“
„Okay.“ Er fasste sie unbeholfen an der Schulter an. Im Erdgeschoss angekommen verließen sie die Kabine und gingen durch den gefliesten Hausflur und die Hintertür nach draußen. Bis auf Leos A3 und Estelles Twingo war der kleine Firmenparkplatz hinter dem Haus leer.
3
Erleichtert atmete Pascal Weiss hörbar und mit geblähten Wangen aus, während er die Haustür des letzten Kunden für heute hinter sich ins Schloss zog. Zusammen mit Sören, dem Lehrling, verstaute er das Equipment auf der Ladefläche des Kombis. Es war ein alter weißer Renault Kangoo mit über hundertfünfzigtausend Kilometern auf dem Buckel, und wenn man den Rückwärtsgang einlegen wollte, musste man sich mit beiden Händen ins Zeug legen. Pascal hatte es schon damals dem alten Tönnis hundert Mal gesagt, aber der war ein ausgewiesener Sparfuchs gewesen. Gewesen – denn der Chef bei Tönnis und Sohn hieß zwar jetzt immer noch Tönnis, war aber auch gleichzeitig der Sohn, weil den Alten vor einem halben Jahr der Schlag getroffen hatte. Der zweite Hirninfarkt war final gewesen. Allerdings hatte Pascal auch in all den Jahren zuvor niemanden kennengelernt, der dem alten Tönnis beim Konsum von Mettbrötchen und Frikadellen quantitativ annähernd das Wasser hätte reichen können.
Den Sommer über, der ziemlich heiß und ziemlich trocken gewesen war, hatten sie bei Tönnis eine Flaute gehabt. Es hatte zwar ein paar Neubauprojekte gegeben, bei denen sie mit der Heizungs- und Sanitärinstallation betraut waren, aber die privaten Eigenheimbesitzer waren offenbar von der Hitze wie gelähmt gewesen. Da musste einem schon die eigene Scheiße in der Kloschüssel brodeln, bevor man den Klempner rief.
Im Moment allerdings konnten sie sich vor Aufträgen kaum retten.
Pascal ließ sich auf den Fahrersitz fallen, der diese plötzliche Attacke mit einem gequälten Ächzen quittierte, und Sören setzte sich daneben. Das Türschloss auf der Fahrerseite schloss nur widerwillig. Man musste den Bogen schon raushaben, um es wenigstens beim zweiten Versuch zum Einrasten zu bewegen. Pascal klaubte die eingedrückte Packung Pall Mall aus der Ablage im Armaturenbrett, die darauf hinwies, dass möglicherweise seine Fruchtbarkeit darunter leiden konnte, sollte er sich dazu entschließen, das Gemisch aus Nikotin, Formaldehyd, Benzol, Phenol und Kohlenmonoxid wirklich zu inhalieren.
Als er den ersten Qualm von innen gegen die verkratzte Frontscheibe blies, maulte der Lehrling: „Boah, Whitey, dann mach wenigstens das Fenster auf.“ Gleichzeitig drehte er an der Fensterkurbel auf seiner Seite. Man durfte es seit einiger Zeit nur maximal bis zur Hälfte herunterfahren, sonst bekam man es später nicht wieder zu.
„Sei kein Mädchen“, knurrte Pascal, machte aber ein paar Umdrehungen an seinem Fenster. Der Junge war ja in Ordnung. Sören Kamarek war im zweiten Lehrjahr, hatte weizenblonde Haare und war bei der praktischen Arbeit sehr geschickt. Im Grunde war er vor Ort auf der Baustelle ein vollwertiger Kollege, nur in der Berufsschule tat er sich in manchen Fächern schwer.
Die Fahrt von Wulfen nach Dorsten-Holsterhausen, wo die Firma Tönnis und Sohn ihre Werkstatt mit Lager und eine kleine Ausstellung unterhielt, legten die beiden Installateure weitestgehend schweigend zurück. Pascal hatte wie immer WDR 4 laufen, und der Lehrling hatte es mittlerweile aufgegeben, dagegen zu opponieren.
Wat willste denn, hatte Pascal mehrfach gegen die Einwände seines Begleiters argumentiert, die spielen doch inzwischen ganz gute Sachen. Is doch nich mehr der Bügelsender wie früher.
Sören, der mit dieser Siebzigerjahre-Oldiegrütze wenig anfangen konnte, hatte jetzt im Auto fast immer Stöpsel im Ohr und ließ sich Piece of your heart von Meduza ohne Umwege auf die Trommelfelle hämmern, um das Hotel California von den Eagles so gut wie möglich zu neutralisieren.
Pascal setzte Sören wie gewohnt an der Bushaltestelle Hervester Straße ab und hatte es dann nicht mehr weit bis zum Gewerbegebiet Wenger Höfe. Die Fahrzeuge von Peter, Ferhat und Kostas waren schon auf dem Gelände abgestellt. Anscheinend war auch Alex Tönnis schon weg. Wahrscheinlich war er mit seinen Kumpels vom Ruderverein zum Bowlen. Nur Dilek saß noch im Büro und schrieb Rechnungen.
„Hi, Whitey“, winkte sie ihn durch das offene Fenster herein, „wills noch ´n Kaffee auf´n Wech?“ Den Spitznamen Whitey hatte Pascal, in Anlehnung an seinen Nachnamen, schon seit Menschengedenken nicht nur in der Firma. Wer damit angefangen hatte, wusste er nicht mehr. „Whitey“ war Pascal Weiss schon seit der Schulzeit.
Er freute sich zwar auf sein Feierabendbier zu Hause, nahm aber gerne an. Denn sobald er allein war, begann das Grübeln. Während die mollige Büroangestellte mit der schwarzen Kurzhaarfrisur ihm die dampfende braune Flüssigkeit in den Becher mit dem durch unzählige Spülvorgänge nur noch undeutlich zu erkennenden BVB-Logo goss, sagte sie: „Kannst du morgen schon um acht in die Lippestraße wegen der Pelletheizung? Der Kunde muss spätestens um halb neun weg und will vorher noch mit dir sprechen.“
„Um acht?“ Pascal hob den Kaffeebecher zum Mund und blies mit gespitzten Lippen darüber. „Mein Gott, da muss ich mitten in der Nacht aufstehen. Warum kann Kostas das nich machen? Der wohnt doch praktisch um die Ecke.“
„Der hat doch morgen den Termin beim Orthopäden. Wegen seinem Knie. Und alle anderen sind fest eingeplant an der Sickingmühle.“ Dilek Erkmen war seit ein paar Jahren im Betrieb und inzwischen war sie unentbehrlich. Bei ihr liefen alle Fäden zusammen, und sie hatte mehr Durchblick als der Junior. Wozu allerdings nicht viel gehörte. Jeder in dem Saftladen hatte mehr Durchblick als der Junior.
Dilek sah Pascal mit einem Blick an, der Bedauern und Mitgefühl, aber auch eine Form von fordernder Dringlichkeit ausdrückte.
„Ja, ja, schon gut“, sagte Pascal und schlürfte vorsichtig an seinem heißen Kaffee. „Mit mir könnt ihrs ja machen.“
„Ach, danke, du bist ein Schatz.“ Sie schenkte ihm ein schelmisches Lächeln. Dabei sah sie beinahe ein bisschen hübsch aus. Pascal nippte zielstrebig an seinem Kaffee. Gern würde er eine rauchen, aber da Dilek das in ihrem Büro nicht duldete, wollte er so bald wie möglich los.
Kaum zehn Minuten später saß er in seinem blauen Corsa, der beinahe so alt war, wie der Werkstatt-Kangoo und nur unwesentlich weniger Kilometer auf dem Tacho hatte. Seit elf Jahren pendelte Pascal Weiss inzwischen fünf Mal in der Woche zwischen Essen-Katernberg und Dorsten. Die Strecke nahm er mittlerweile kaum noch bewusst wahr. Dabei wäre es ihm lieber gewesen, wenn er sich auf den Verkehr konzentrieren müsste. Denn in diesen Momenten des Blindflugs, des unterbewussten Schaltens, Bremsens und Abbiegens kamen die Gedanken an Lydia. Und damit unweigerlich an Sammy, wie sie Samuel immer genannt hatten. Als er noch lebte.
Der Friedhof lag auf seinem Weg. Spätestens wenn er von der Altenessener in die Stauderstraße einbog, schwenkten die Gedanken von Lydia zu Sammy. Den Nordfriedhof konnte er von der Straße aus nicht sehen, aber er wusste, dass er da war. Und er wusste, wer unter der schlichten schwarzen Granitplatte, dem Heidekraut, den Kieselsteinen und dem Grablicht lag. Der weiße Kunststoff der Laterne sah durch den Regen der vergangenen Wochen schon reichlich schäbig aus. In der dunkelgrünen Plastikvase, deren Spitze am unteren Ende zwischen den Kieseln in der Erde stak, würde sich auch heute ein frischer kleiner Strauß aus Anemonen, Freesien und rot-weißen Tulpen befinden. Der ursprünglich hellbraune und inzwischen schmutziggraue Plüschbär wurde jeden Tag aufgerichtet und liebevoll auf der Steinplatte drapiert. Die Spiderman-Figur war irgendwann verschwunden. Ob sie einen neuen Besitzer gefunden hatte, oder ob ein Mitarbeiter der Friedhofsverwaltung den Superhelden auf einer letzten Ruhestätte unangemessen fand, blieb unbekannt.
Lydia kam immer noch täglich her. Sie war innerlich zerbrochen. Ebenso wie Pascal selbst und ihre Ehe. Aber es hatte Momente gegeben, da war es Pascal so vorgekommen, als sei es für Sarah am schlimmsten gewesen. Sie war im August sechzehn geworden und Samuels ältere Schwester. Gewesen. Oft kam es Pascal so vor, als bestünde sein ganzes Leben nur noch aus Vergangenheit. Nichts war geblieben. Die Fröhlichkeit, die gemeinsamen Fernsehabende, Grillen auf dem Balkon, die Schulfeste, Urlaube in Kroatien. Das alles waren eingefrorene Momentaufnahmen auf verblassten Polaroidfotos. Das Kinderlachen verhallt, die Liebe weggewischt wie Krümel vom Frühstückstisch. Mit einem Schlag. In einer verregneten Nacht im vergangenen März, als zwei Polizisten vor der Tür gestanden hatten, ein Mann und eine Frau. Die ernsten und undurchdringlichen Gesichter, die von Anfang an kaum einen Funken Hoffnung zugelassen hatten.
Pascal Weiss lenkte den Corsa wie im Schlaf nach rechts in die Viktoriastraße. Er würde heute nicht auf den Friedhof gehen. Er musste sich zwingen es nicht zu tun. Es musste aufhören. Es musste irgendwann gut sein oder zumindest besser werden. Die Zeit heilt alle Wunden. Das sollte sie eigentlich tun. Alle sagten das. Auch Tante Gerda, seine Patentante, hatte es ihm zugeflüstert, als sie ihm nach der Beisetzung auf dem Friedhof die Hand gedrückt hatte. Auch sein Kollege Peter, der ihm mit der Hand auf die Schulter geklopft hatte, als er zum ersten Mal wieder in die Firma gekommen war. Kopf hoch, Junge, hatte er gesagt. Die Zeit heilt alle Wunden.
Pascal hatte gehofft, dass es so wäre. Er hatte es glauben wollen. Aber heute wusste er, dass es nicht stimmte. Es gab Wunden, die nicht heilten. Sie entzündeten sich und begannen zu eitern. Sie arbeiteten unter der Haut und drangen in tieferes Gewebe vor, füllten den Verwundeten aus, bis er das Gefühl bekam, es gäbe keine schmerzfreie Stelle mehr. Es fraß einen von innen heraus auf.
Bei Lydia hatte er es beobachten können. Am Anfang war er derjenige gewesen, der nach außen Stärke zeigte, für sie beide stark sein wollte. Wir haben noch uns und Sarah, hatte er gesagt und damit genau das Gegenteil erreicht. Es gab keinen Trost. Es war immer schlimmer geworden. Lydia hatte heimlich getrunken. Bis er selbst schließlich auch immer dünnhäutiger geworden war. Die Trennung war schließlich unausweichlich gewesen. Für ihn war es wie eine Flucht gewesen. Und Lydia hatte ihn nicht mehr in ihrer Nähe ertragen. Für ihn war es in Ordnung, einstweilen in der kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung im Meybuschhof zu wohnen. Zumindest für einige Zeit. Für den Übergang.
Nein, ich bleib auf jeden Fall bei Mama, hatte Sarah gesagt. Sie hatte selten geweint, aber ihre großen grauen Augen hatten seit damals ihren Glanz verloren. Pascal hatte es begrüßt, dass seine Frau nicht allein bleiben würde. Aber er machte sich Sorgen um Sarah.
März 2019
4
„Ich dachte, du fährst“, sagte Leo Krafczyk erstaunt und zwinkerte seiner Frau zu. Lisa rollte mit den Augen.
„Nein, du warst dran. Als wir mit Vanessa und Halim im Frederico zum Essen waren, bin ich gefahren, wenn du dich erinnern kannst.“ Sie schob das halbvolle Glas Bardolino vorsichtig über die weiße Tischdecke von sich weg. Sie hatte das besorgte Gesicht ihrer Mutter Elvira gesehen.
„Schon gut“, sagte sie mit gespielter Resignation, „ich hab ja nur ein Glas getrunken und ein paar Schlucke hiervon.“ Sie zeigte mit dem Finger auf das aktuelle Rotweinglas.
„Prächtig“, freute sich ihr Vater, stand auf, griff nach der Flasche, lehnte sich über den Tisch und schenkte Leo nach, wobei sein Bauch, über den sich ein weißes Hemd spannte, seinem Teller, auf dem sich braune Soßenreste befanden, bedrohlich näherte.
Arthur Bruhns legte Wert darauf, dass er seinen Wein immer vom selben badischen Winzer bezog. Dass das Getränk mit Noten von Kirschen und Holunderbeeren einhergehe und dass man die rubinrote Farbe mit purpurnen Reflexen beachten möge, hatte er ausgeführt. Lisa hatte den Wein lecker gefunden, aber im Grunde hatte er nach Rotwein geschmeckt und nach nichts anderem. Außerdem war ihr Vater nie Weinkenner gewesen. Solange sie noch bei ihren Eltern gelebt hatte, kannte sie ihn als ausgewiesenen Biertrinker. Erst seit Arthur Bruns das Rentenalter erreicht hatte, war er offenbar zum Sommelier mutiert. Lisa drängte sich jedoch der Verdacht auf, dass seine Fachkenntnisse angelesener und recht oberflächlicher Natur waren.
„Prost, Lieblingsschwiegersohn!“, rief Arthur, der beim Nachschenken sicher nicht nachgezählt hatte, und hob sein Glas zum Mund.
„Arthur, du solltest dich auch langsam zurückhalten“, mahnte Elvira Bruhns vorsichtig. „Heute Abend jammert er mir wieder mit seinem Sodbrennen die Ohren voll“, erklärte sie mit einem Augenzwinkern an ihre Tochter gewandt.
„Prost“, sagte Leo und nahm ebenfalls einen Schluck.
Elvira und Arthur Bruhns begingen an diesem Tag ihren fünfunddreißigsten Hochzeitstag und hatten sich gewünscht, dass ihre einzige Tochter mit ihrer Familie zum Essen kam.
„Aber beim nächsten Mal bringt ihr bitte, bitte die Nele mit, ja?“, sagte Elvira, als sich die jungen Leute eine halbe Stunde später zum Gehen fertigmachten. Sie nahm ihre Tochter in den Arm und machte ein flehendes Gesicht. „Wir haben das Kind an Weihnachten zuletzt gesehen. Und sie werden doch so schnell erwachsen.“
„Versprochen, Mama“, sagte Lisa. Alle vier standen im Hausflur. Lisa zog ihre Webpelzjacke an und Leo seinen dunkelbraunen Kurzmantel. Arthur Bruhns öffnete die Haustür. Draußen war es dunkel. Es war noch mal empfindlich kalt geworden in den letzten Tagen, und ein unangenehmer Wind trieb feinen Nieselregen durch die Luft. Die Wassertröpfchen auf dem dunklen Lack von Leos Wagen, der in der Einfahrt hinter dem Mercedes des Hausherrn stand, glitzerten im Licht der Außenbeleuchtung wie winzige Perlen.
„Fahr vorsichtig, Schatz“, rief Elvira, während Tochter und Schwiegersohn den Wagen bestiegen. Sie hob eine Hand. Arthur stand neben ihr in der geöffneten Haustür und trotzte mit seiner Frau gemeinsam dem kalten Wind, der ihnen entgegenschlug. Dann steuerte Lisa das Auto rückwärts aus der Ausfahrt. Am späten Sonntagabend war kaum Verkehr auf den Straßen. Von der Florastraße in Gelsenkirchen bog sie nach einigen hundert Metern auf die Rotthauser Straße ein, die in südliche Richtung nach Essen führte.
„Bist du müde?“, fragte Lisa, als Leo neben ihr herzhaft gähnte.
„Ach was“, antwortete er. „Aber ich hab morgen um neun einen Termin in Kettwig. Da muss ich fit sein. Die Häuser hinter dem Golfclub sind fast ne Million wert. Du kannst mir die Daumen drücken.“
„Ja“, sagte Lisa und schaute nach vorn, wo die Scheibenwischer tapfer die heranfliegende Nässe zur Seite schoben. Das ruhige Licht der Anzeigen im Armaturenbrett wirkte heimelig. Im Innenraum waren kaum Motor- oder Rollgeräusche zu hören. „Dann hättest du vielleicht ein oder zwei Gläser weniger trinken sollen.“
„Du kennst doch deinen Vater. Sag mal, sind das Schneeflocken?“ Leo deutete nach vorn und schaltete dann den CD-Player ein. Das Album von Springsteen hatte er am Freitag auf dem Heimweg gehört.
„Sieht so aus“, antwortete Lisa, „kalt genug ist es ja.“
„The Ghost of Tom Joad“, sang der „Boss“ mit seiner unverwechselbaren Stimme. Ein bisschen laut, fand Lisa.
„Sag mal, fandest du nicht auch, dass Mama irgendwie krank aussah?“, fragte sie und blickte ihren Mann von der Seite an. Sie sah seine Augen, die plötzlich ganz groß wurden, und den Mund, der sich erschrocken öffnete, ohne etwas zu sagen. Sie folgte seinem Blick und sah den Jungen, der innerhalb der letzten Sekunde zwischen zwei geparkten Autos aufgetaucht war und vielleicht dreißig Meter vor ihnen stehenblieb. Lisa stemmte instinktiv ihre Füße mit voller Kraft gegen Bremse und Kuppelung. Ein stotterndes Rumpeln vom ABS war zu hören und vibrierte in ihrem rechten Bein. Im grellen Scheinwerferlicht waren die erschrockenen Augen des Jungen deutlich zu sehen, die viel zu schnell näherkamen. Trotz der nassen Fahrbahn bremste der Wagen scharf ab. Aber als Lisa sah, dass es vielleicht nicht ganz reichen würde, zog sie die Lenkung im letzten Moment nach links. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Leo beide Hände oberhalb des Handschuhfachs gegen die Armaturenabdeckung drückte.
Alles wäre gut gegangen, wenn nicht auch der Junge im Bruchteil einer Sekunde eine schnelle Bewegung zur Fahrbahnmitte gemacht hätte. Von einem Aufprall war weder etwas zu hören noch zu spüren. Der Wagen stand schräg auf der Fahrbahn. Die Airbags hatten nicht ausgelöst. Die Scheibenwischer taten unbeirrt ihren Dienst. Aus den Lautsprechern erklang das fabelhafte Solo einer E-Gitarre.
5
Samuel Weiss besuchte die sechste Klasse der Gustav-Heinemann-Gesamtschule in der Schonnebeckhöfe. Mit diesem unausstehlichen Felix war er schon einige Male aneinandergeraten. Samuel wusste nicht, ob Felix Neukirch eine oder zwei Klassen über ihm war. Auf jeden Fall machte er in dieser Klasse gerade seinen zweiten Durchlauf. Er zeichnete sich nicht durch schulische Leistungen aus, dafür war er stämmig gebaut, fast einen Kopf größer als Samuel und machte sich eine diebische Freude daraus, Mitschüler zu drangsalieren.
Samuel hatte nie zu Felix´ Lieblingsopfern gehört, weil er trotz der körperlichen Überlegenheit des anderen nie ängstlich zurückgewichen war. Er riss sich resolut los, wenn sein Widersacher ihn am Anorak festhalten wollte, und er stieß ihn entschlossen von sich, wenn er ihn gegen die Brust boxte, oder versuchte, ihm die Schultasche zu entreißen. Und wenn es hart auf hart kam, konnte Samuel schneller laufen als Felix.
Felix Neukirch fühlte sich dann am stärksten, wenn er seine Schar aus drei oder vier Anhängern um sich versammeln konnte, und er war derjenige, der Samuel zum ersten Mal das Wort „Jude“ an den Kopf geworfen hatte, was er ganz offensichtlich als Schimpfwort verstand. Samuel war kein Jude, er war in der evangelischen Kirche am Markt getauft worden, und in seinem Elternhaus hatte Religion nie eine große Rolle gespielt. Sie hatten jüdische Vorfahren, das hatte Mama ihm mal erzählt, und seinen Vornamen verdankte er seinem Patenonkel.
Welchem Zufall er es allerdings verdankte, ausgerechnet an diesem Sonntagabend, an dem er auf seinem Weg zur Bushaltestelle ohnehin viel zu spät dran war, auf seinen Lieblingsfeind zu treffen, mochte der Himmel wissen.
Die Fete bei seinem besten Freund Fabian in der Gartenlaube am Zollernweg war klasse gewesen. Sie hatten sich schon nachmittags um vier getroffen und später als zwanzig Uhr hätte es auch nicht werden sollen, aber Fabian hatte neben ein paar Mitschülern und Freunden aus dem Judoverein auch seine Cousine Maja eingeladen, die ihre besten
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 16.09.2022
ISBN: 978-3-7554-2063-7
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