Über dieses Buch:
Sie sind alle weit über sechzig, arbeiten nicht mehr - und legen los. Ruhelos im Ruhestand schwingen sich die Menschen in diesem Buch zu einem Neuanfang auf. Sie tun, was sie können und wollen, leben ihr Potenzial aus. Der 83-jährige Friedrich verzückt die Bewohner eines Altenheims mit seinen Zauberkünsten und seiner Musik. Die Psychologin Rita unterrichtet Kinder und tanzt mit ihnen in einer Flüchtlingsunterkunft. Großeltern kümmern sich hingebungsvoll um ihre Enkel. Der Anwalt Michael betreibt eine Fahrradwerkstatt auf dem riesigen Gelände einer Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber. Die Best-Ager erleben großartige Dinge, doch sie machen auch bittere und ziemlich skurrile Erfahrungen.
Fazit: Die Generation 60plus kann und tut viel mehr, als die Allgemeinheit glaubt.
Ziemlich beste Alte – Best-Ager geben Gas
Copyright: © Cornelia von Schelling
2022 – publiziert von telegonos-publishing
www.telegonos.de
(Haftungsausschluss und Verlagsadresse auf der website)
Cover: Julian Kähler
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ISBN der Printversion: 978-3-946762-75-1
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
«Alt ist man erst, wenn man nichts mehr vorhat.»
Aus: Ruhestand für Anfänger von Gertraude und Clemens Steindl
Vorwort
Das war´s: bye bye Arbeitsleben. Und so sieht er aus, der klassische Mensch-geht-in-Rente Verlauf: endlich Freizeit für immer und ewig. Herrlich. Keine Deadlines mehr, die Fesseln des Berufsalltags sind abgestreift.
Doch bald kommt die Orientierungslosigkeit näher - was anfangen mit all der frei verfügbaren Zeit? Man ertappt sich dabei, nostalgisch zurückzublicken: Jahrzehntelang warst du Teil eines Arbeitsteams, aber nun hast du die unausweichliche Altersgrenze erreicht, und weg bist du. Deine Arbeit übernimmt jetzt ein jüngerer Mensch, also bist du sehr wohl ersetzbar. Das muss man erst mal verkraften.
Wer in Rente geht, ist wieder ein Anfänger. Oft ein suchender Debütant, plan- und ziellos. Freiheit muss man erst lernen. Doch zum Glück winken die mannigfaltigen Hobbys, Interessen und all die Vergnügungsangebote: Geplauder mit Freunden, Wandern, Theater- und Kinobesuche, Konzerte, Reisen, Gartenarbeit, Obst und Blumen pflanzen - welch eine Auswahl an erfüllenden Freizeitaktivitäten. Für viele eine bleibende Freude, für meine Protagonisten und Protagonistinnen allerdings nicht. Sie spüren ein großes Verlangen, Neues anzupacken und in unbekannte Welten einzutauchen. Dauernd blitzt in ihren Gedanken die nur leidlich genutzte Kostbarkeit des Restlebens auf.
Es dauert nicht lange, und sie finden die Haltung und das Tun, die in zu ihnen und ihrer neuen Lebensphase passt. Jetzt stimmt ihr Selbstbild wieder. Sie hören auf, ihrem Beruf nachzutrauern, freuen sich, dass kein einziger Chef mehr ihre Leistung beurteilt, und genießen es, ihr Leben in selbst gewählter Regie individuell zu gestalten. Ihr Leben ist jetzt weniger zweckgebunden, stattdessen Menschen- und Interessengebunden.
Die Mehrzahl der Personen in diesem Buch engagieren sich ehrenamtlich. Zufall? Vermutlich spürten sie von Anfang an, was Psychologen längst erkannt haben, nämlich dass ältere Menschen, die andere Unterstützen und viel für sie tun, selbst an Lebenskraft gewinnen. Mehr noch: Das eigene Ego blüht auf. Der anhaltende Eifer verlangt zwar einen beträchtlichen Kraftaufwand, aber er wird ja belohnt - immer wieder steigen warme Willkommens- und Erfolgsgefühle auf. Die Glücksneuronen kommen in Schwung. Frust und Enttäuschung gibt es natürlich auch, denn nicht immer sind die Menschen, die unterstützt und gehört werden, dankbar, nett und freundlich. Nun ja, aber langweilig wird der Einsatz nie, und wem es gelingt, im Lebensherbst hin und wieder über sich hinauszuwachsen, der kräftigt sein Selbstbewusstsein. Gerade im Alter wankt es ja schon mal – das kennen wir, die älter sind, doch alle. Oder?
Aus meiner Sicht sind die Geschichten in diesem Buch beispielhaft, Beispiele für menschliche Größe im Alter. Möge es sich herumsprechen, dass Ältere sehr viel mehr drauf haben und bewegen, als die meisten meinen!
INHALT
I Rita: Meine Feuerprobe - Die Flüchtlingsunterkunft
II Renate: Meine kranke Nachbarin - Kettenrauchend und singend erobert sie mich
III Michael: Ich bin der Radldoktor - in meiner Werkstatt geht die Post ab
IV Marianne: Mein Schüler- meine Frischzellenkur
V Alicja: Ich bin die Putzkraft. Kraft ist mein Mantra
VI Maritta: Mein Mann nimmt sich eine Junge. Erst Alterskrise - dann Neustart.
VII Hanna: Mithelfen bei der Tafel. Mein Dauerappell: „Kein Streit, liebe Leute. Jeder kommt dran!“
VIII Großeltern im Dauereinsatz? Himmlisch und unendlich anstrengend.
IX Silvia: Mein Projekt heißt „Ich will, dass Du das weißt“ - Abschiedsbriefe auf CDs
X Friedrich: Meine Leidenschaft – für andere singen, zaubern und Raritäten sammeln
Einführung
Wie das Thema mich packt - und bleibt
Ist Altsein eine Einstellungssache?
Ich habe das Altwerden gern ignoriert und weit in die Zukunft verlegt. Auch meine liebsten Freunde stünden lieber in der Midlife- als in der Oldlife-Crisis. Deshalb sei ein Buch über Senioren wirklich keine gute Idee. Hohes Alter sei nicht gesegnet, sondern ein Ballast. Damit wolle kein einziger Mensch konfrontiert werden.
Dann geschah das:
Eine ganz normale Alltagssituation. Ich sitze mittags in meinem Lieblingscafé und lese Zeitung. Als ich kurz aufschaue - zu viele schlechte Nachrichten, ich brauche eine Verschnaufpause - sehe ich das ältere Paar. Es steuert auf den Tisch neben mir zu, der einzige der noch frei ist. Die Frau ist bestimmt Ende 70, der Mann, leicht gebeugt, weit über 80. Ein junges Pärchen schiebt sich energisch an den beiden vorbei. „Geht’s noch langsamer?“, zischt der Typ. Schon sitzen die Jungen an dem unbesetzten Nebentisch. Die Alten bleiben stehen, sehen sich an, sie zuckt mit den Schultern, dann verlassen sie das Café.
„Butterkuchen mit Sahnehäubchen gibt’s in der Konditorei um die Ecke“, feixt der junge Mann, bevor er sich einen Cappuccino bestellt. Seine Begleiterin kichert.
In diesem Café sind alle, außer mir, höchstens Mitte 50. Die meisten starren auf ihre Handys oder tippen in ihre Laptops. Mit einer Zeitung raschelt hier keiner. Alte Leute sind hier wie Aliens, gelandet auf einem falschen Planeten.
Wieso fällt mir das jetzt erst auf? Weil ich zu jenem Typ ältere Frau gehöre, die sich für for ever Young hält. Es lebe die Illusion. Eine eindeutige Falschannahme, aber bisher hat sich mein Irrglaube tapfer gehalten - alt sind die anderen. Doch auf einmal blicke ich weit über meine Nasenspitze hinaus: Nur ein paar Jahre, und ich bin im Alter des weggeschobenen Ehepaars. Man wird es mir ansehen und man wird es mir schon zeigen.
Das ist der Tag, an dem ich beginne, mich mit dem Phänomen Ageism zu beschäftigen, wie Altersdiskriminierung kurz und griffig auf Englisch heißt. Ich fange an, im Freundeskreis Fragen zu stellen: Seid Ihr wegen eures Alters schon mal beleidigt worden? Wenige sagen nein, die meisten haben mindestens ein Beispiel parat. Hier zwei ziemlich dreiste, grundverschiedene Episoden:
Eine siebzigjährige Freundin: „Neulich war ich beim Zahnarzt, es ging hektisch zu in der Praxis. Ich wurde aufgerufen und als ich erst nach der zweiten Aufforderung reagierte, keifte ein Mann im Warteraum: `Wohl das Hörgerät vergessen!´ Ich drehte mich um und fauchte zurück, worauf der Typ noch einmal nachlegte: `Dritte Zähne machen wohl bissig, was?´ Noch nie war ich so froh, auf dem Zahnarztstuhl zu landen. Die Tür zu, der Ekel draußen.“
Eine 64 Jahre alte Bekannte erzählte: „Stell dir vor, was mir in unserer Firma passiert ist: Sagt doch eine Kollegin zu mir, ich solle mich bei den zwei neuen Kollegen fünf Jahre jünger machen, denn wer die 60 erreicht hat, wird nicht mehr richtig ernst genommen, egal wie qualifiziert man ist. Was mache ich? Ich höre auf die Kollegin, lasse mir das Hirn vernebeln und erwähne vor den Neuen mit einem Lächeln ganz nebenbei mein erlogenes Alter. Bescheuert!“
Jetzt zu mir. Es wird ein wenig verzwickt: Auf einer Einladung meint ein etwa fünfzigjähriger Gast, was sei ich doch für eine reizende alte Dame. Reizend gemeint, ich lächle nett, aber innerlich koche ich. Von Agatha Christie gibt es einen Krimi mit dem Titel `Lauter reizende alte Damen´- er spielt in einem Pflegeheim.
Ich mag überempfindlich sein, mimosenhaft und gefallsüchtig, aber ich bitte um Verständnis: Als ältere reizende Lady ist man doch eine Lachnummer.
Mir soll auch keiner mit der Würde des Alters kommen - ein beliebtes Ammenmärchen. Ältere werden selten gewürdigt oder geachtet es sei denn sie sind bedeutend, prominent, weltbekannte Super-Stars, Politiker oder einfach nur steinreich. Wenn die sich altersmäßig der 100 nähern, wie Helmut Schmidt, ist die Bewunderung grenzenlos. Das gilt für unsereins nie.
Meine Gedanken wandern nach Lateinamerika, wo ich lange gelebt habe. Dort herrscht Achtung vor älteren Menschen, liebevoller Respekt versteht sich von selbst. Andere Länder bessere Sitten? Nicht ganz, denn in den Städten leben schwächelnde Alte gefährlich - Verkehrschaos, kaputte, löchrige Bürgersteige, und die Gesundheitsversorgung für Minderbemittelte ist miserabel. Altsein ist nirgends ein Honigschlecken.
Kann man sich hierzulande eigentlich wehren, frage ich mich, wenn man als alter Mensch diskriminiert wird? Kann man. Ein Klick im Internet und man erfährt, dass bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes die Altersdiskriminierung ganz oben auf der Agenda steht. An diese Stelle kann man sich also wenden, wenn man von irgendeinem Idioten wegen des Alters beleidigt wird. Aber - die Alten-Beleidigung muss heftig ausfallen, damit die amtliche Antidiskriminierungsstelle nicht milde lächelnd abwinkt.
Das heißt: Wir müssen uns selber wehren. Nicht leicht. Sollen wir etwa verkünden: „Achtung, ich bin in Rente und trotzdem kein Trottel?“ Oder: „Hört auf mich schlechtzumachen, das ist Altersdiskriminierung!“ Ob das wirkt? Wohl kaum, denn gespeicherte Vorurteile sitzen recht fest. Die Menschen projizieren auf andere allzu gern das, was sie eh von ihnen erwarten.
Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass auch ich nicht frei bin von angelernter Altersabscheu: Letztes Jahr beim Klassentreffen schüttelte es mich geradezu beim Anblick meiner Ex-Mitschüler. Was für ein Haufen alter Leute: Falten, schüttere Haare, Fettbäuche, und so manche gebeugte Rücken. Zwei Freunde, mit denen ich den ersten Joint rauchte, sahen so alt aus wie damals ihre Opas. Puh!
Wieso mache ich mir vor, denen sehe man das unansehnliche Alter an, nur mir nicht? Ganz einfach - weil ich, agil, sorgfältig geschminkt, braun gefärbtes Haar und sportlich gekleidet, doch nie und nimmer so ältlich daherkomme wie diese Senioren. Ich doch nicht! Ich weigere mich, mein eigenes Alter von diesen auffallend gealterten Klassenkameraden spiegeln zu lassen.
Als nach unserem Zusammentreffen der Dieter, die fransigen weißen Haare zum Pferdeschwanz gebunden - er war damals Klassenbester - im Schneckentempo die Landstraße lang fährt, platze ich schier vor Ungeduld. Soll der Methusalem doch zuhause bleiben und auf seiner Couch weiterschnarchen. Kein Funken Auch-ich-bin-alt-Solidarität meinerseits.
Asche auf mein Haupt. Offensichtlich bin ich gegen ageism alles andere als immun. Ich sollte in mich gehen und meinen eigenen Giftschrank ausmisten.
Paradoxerweise bezeichne ich mich selber, selbstironisch, gern als vertrottelte alte Kuh oder verblödete Alte. Entweder weil mir ein bekannter Name gerade partout nicht einfallen will, oder wenn ich gezielt ins Wohnzimmer laufe, verdutzt stehen bleibe und mich frage, was ich noch vor einer Sekunde hier wollte. Auf Englisch spricht man von autoageism, wenn man sich als leicht Verkalkte selbst niedermacht. Mein sehr deutscher Ausdruck dafür: vorauseilende Alters-Selbst-Diskriminierung.
Nun ja, sage ich mir, in dem Fall ziehe ich nur mich selbst durch den Dreck und habe es in der Hand, es zu lassen. Doch das Bashing anderer, nur weil sie alt sind, geht gar nicht - ageism untergräbt das Selbstwertgefühl, ist arrogant und abwegig. Da mich das endlich beschäftigt, beschließe ich dagegen anzuschreiben. Nur wie, bleibt eine Denksportaufgabe, wo ich doch schwanke zwischen der kecken Selbsteinschätzung und der Geringschätzung von außen.
Es kommt, wie es kommen soll! Meine Freundin Rita, 72 Jahre, engagiert sich in einer der größten Flüchtlingsunterkünfte der Stadt. Sie unterrichtet dort Kinder, spielt mit ihnen und unterstützt sie, wo sie nur kann. Sie geht auch ins Schwimmbad mit den Jungen und Mädchen. Plötzlich steht der Bademeister vor ihr und giftet sie an: Sie sei viel zu alt, um auf diese Kinder aufzupassen. Sie solle gefälligst zuhause bleiben.
Mein Thema ist da:
Ich schreibe die Geschichten von Menschen auf, die sich in dem Zustand, den man Ruhestand nennt, ruhelos auf neues Terrain vorwagen und zu beachtlichen Taten aufschwingen. So ähnlich wie Rita. Und bei jedem Interview stelle ich irgendwann die Frage: „Wurdest du schon mal schlechtgemacht, bloß weil du alt bist?“
Diesem Doppel-Phänomen hatte ich bisher nie Beachtung geschenkt. Nun bin ich beiden Phänomenen auf der Spur: Alte legen los - das packt mich. Alte werden missachtet - erbost mich.
Jedes einzelne Interview überrascht mich. Oft bin ich geradezu sprachlos: Meinen Protagonistinnen und Protagonisten widerfahren Dinge, die ich nicht für möglich hielt - großartige, schmerzliche und ziemlich skurrile. Ihr Engagement bedeutet auch Bindung und Selbstverantwortung, verlangt Kraft und Durchhaltevermögen. Alle erleben Nähe und Zuneigung, Enttäuschung und Aggressionen, Gebrauchtwerden und Sinn. Genaugenommen ist es immer wieder eine Feuerprobe pur.
Ich habe die Gespräche protokolliert, etwas ausgefeilt und minimal fiktionalisiert, doch jedes Erlebnis ist real. Die Namen der Protagonistinnen und Protagonisten habe ich geändert, sie wollen keinen Applaus.
Mit ihren verblüffenden Geschichten kehre ich das Narrativ von den nutzlosen Rentnern im hinteren Winkel der Gesellschaft ins Gegenteil. Getrieben von einer im Alter neu erwachten Tatkraft, wachsen sie über sich hinaus. Sie zeigen, was Ältere, die noch fit sind, können. Keiner muss, jeder soll das Alter nach eigenem Gusto gestalten - doch alle in diesem Buch: wollen. Sie sind keine Alters-Darwinisten, die mit ihrer Stärke prahlen, sie sind einfach nur froh, ihr Potenzial ausleben zu können.
Wie bei vielen anderen Themen, hat Goethe auch das Thema Altsein auf den Punkt gebracht: „Älter werden heißt selbst ein neues Geschäft antreten. Ganz aufhören, oder mit Wille und Bewusstsein das neue Rollenfach übernehmen.“
Heute ist jeder fünfte Einwohner in unserem Land älter als 66 Jahre, und die Alterung der Bevölkerung schreitet voran. Dabei hat es noch nie eine ältere Generation gegeben, die so gut in Form ist wie die heutige. Also müssen sich erfahrungssüchtige best ager etwas einfallen lassen. Es gibt keine magische Pille gegen das Altern, aber meine Interviewten beweisen, dass schwung- und sinnvolles Tun eines der besten und absolut legalen Aufputschmittel gegen Altersmüdigkeit ist.
Abschließendes Streitgespräch über ageism und warum man lieber nicht mehr alte Hexe oder alter Sack sagen sollte.
Angela, Gesprächstherapeutin, hat sich eingehend mit Altersdiskriminierung befasst. Wir wollen ein Streitgespräch führen und ich spiele den Advocatus Diaboli. Es reizt mich, die Anwältin des Teufels zu simulieren - der Diskussion zuliebe. Also behaupte ich: Wenn das Alter eintritt, geht der Verstand zu Ende. Das soll William Shakespeare gesagt haben. Und wie reagiert Angela, bei der viele ältere Patienten in Therapie sind? Sie lacht trocken und sagt, trotz meines Alters sei ich zwar noch recht gut bei Verstand, aber sehr unverständig in Sachen Altersdiskriminierung. Ich solle das Thema ernstnehmen.
Die Debatte beginnt.
Ich: „Du magst recht haben, Angela, aber sind wir nicht überempfindlich? Sind Begriffe wie Altersdiskriminierung oder gar Altersrassismus nicht überspitzt? Ich gebe zu, Senioren sind eine beliebte Steilvorlage für Häme, aber die Mehrzahl der Menschen begegnet ihnen doch höflich und zuvorkommend. Wenn sie, nur als Beispiel, die Tücken der neuen Technologien in den Wahnsinn treiben, bekommen sie anstandslos mildernde Umstände: Komm, wir helfen den PC-Gruftis die digitalen tools zu beherrschen, wir erklären der PC-Oma den Unterschied zwischen der Wolke am Himmel und der Rechnungswolke cloud. Irgendwann verstehen die Alten sogar die Computer-Beamer-Tastenkombination.“
Angela: „Sehr witzig. Jetzt öffne mal lieber deine Augen und Ohren. Rentnern weht generell ein unangenehmer Wind entgegen. Ständig wird über Alte die Nase gerümpft, mal subtil, mal angewidert: Seht sie euch an, die Raffzähne, belasten unser Sozialsystem, kassieren fette Renten und die junge Generation muss dafür zahlen. Dauernd sind die satten Rentner unterwegs auf Luxus-Kreuzfahrten und nörgeln trotzdem.“
Ich: „Da ist doch auch was dran. Ich kenne solche meckernden Alten, satte Jammerrentner mit ihrem ewigen `früher war alles besser´ Genöle. Die Generation Dauerempörung: `Ich werde mich beschweren!´ Kaum auszuhalten.“
Angela: „Die Bilder sind trotzdem einseitig und schief. Sie werfen alle Alten in einen einzigen Topf. Klassisches `Labeln´- auf deiner runzligen Stirn klebt das Label: Du bist alt, du bist überflüssig. Solche Vorurteile sind sehr unangenehme Lebensbegleiter.“
Ich: „Stimmt. Aber wollen wir dauernd die Opferkarte ausspielen? Mitmachen bei dem ewigen Theater Jung gegen Alt und umgekehrt? Bloß nicht. Schau dir doch all die Senioren an, denen es richtig gutgeht - kein Arbeitsstress mehr, eine akzeptable Rente, Ersparnisse, und recht gut in Form sind die meisten auch. Das nennt man einen erfüllten Lebensabend. Wieso sollten sie sich beklagen?“
Angela: „Denk an die zahllosen Rentner, die unter Krankheiten, Einsamkeit oder Altersarmut leiden. Ich kann nur sagen: old lives matter.“
Ich: „Willst du jetzt wirklich in die Rassismus-Debatte einsteigen? Echten Rassismus mit dem milden Gespött über uns Alte auf eine Stufe stellen?“
Angela: „Nein, aber Altsein ist in unserer Gesellschaft eindeutig negativ besetzt. Für mich grenzt das an Altersrassismus. Bei manchen gelten Ältere vielleicht als weise - eher ansatz-weise - , doch für sehr viele Junge sind sie geistige Tiefflieger.“
Ich: „Einspruch: Großeltern werden über alles geschätzt und geliebt!“
Angela: „Von ihren Enkeln schon. Aber von der Allgemeinheit werden Omas und Opas über 70 gnädig belächelt. Das ärgert mich.“
Ich: „Komm schon. Angesäuerte Moralprediger wollen wir auch nicht sein.“
Angela: „Nein. Aber auch keine Naivlinge. Apropos Moralpredigt. Ich lese jetzt dir die Leviten: Neulich hast du dich altes Wrack genannt. Geschickt versteckst du deine Alters-Abscheu hinter viel Selbstironie. Hör auf damit und übe Selbstrespekt.“
Ich: „Wenn du meinst. Aber lass uns bitte nicht zu altklug daherkommen.“
Angela: „Siehst du? Altklug - da haben wir es schon wieder. Klug und alt ist gleich schulmeisterlich. So, und du gewöhnst dir ab, dich alte Kuh zu nennen!“
Ich: „Okay. Und wenn ich, wie neulich, meinen Tee trinke und spucken muss, weil ich, statt braunem Zucker, Pfeffer in die Tasse gestreut habe - leide ich dann nicht an Altersverblödung? Wie auch immer, ich verfluche mich ab jetzt nur als Blödfrau. So komme ich auch noch genderkorrekt daher.“
Angela, die Sprachkontrolleurin, lächelt gnädig. Wir einigen uns auf einen Deal: Ich beschimpfe mich selbst nach Lust und Laune, aber lasse das Adjektiv „alte“ bei meinen Selbstbeschimpfungen weg.
Wenn ich es mir genau überlege, sind tatsächlich fast alle Wörter die mit Alters ... beginnen altersverachtend oder zumindest niederziehende Attribute - Altersflecken, Alterswarzen, Alterszucker und sogar Altersversorgung und Alterswerk stimmen nicht fröhlich. Altersweisheit geht einigermaßen.
Angela legt noch nach. Um mein Feingefühl zu schärfen, zählt sie mir zügig all die miesen Begriffe auf, mit denen unsere lieben Mitmenschen Alte titulieren: alte Hexe, alte Fregatte, alte Schreckschraube, alter Besen, alter Sack, alter Knacker, alter Griesgram und und …
„Du hast den weißen alten Mann vergessen“, beanstande ich, „den absoluten Bösewicht. Und wann kommt endlich die Beschimpfung weiße alte Frau? Niemals, wir sind die Guten.“
Ein wenig Humor tut richtig gut. Deshalb erzähle ich Angela meinen Favoriten unter den bösen Seniorenwitzen: „Braucht noch jemand mehr Alte? Bitte zugreifen, das Mindesthaltbarkeitsdatum läuft morgen ab.“
Angela grinst brav. „Sollen die Menschen doch Witze über uns reißen, damit können wir leben. Jeder Witz sieht es auf irgendjemanden ab, warum nicht auch auf die Alten.“
Ich: „Genau. Wir sind doch nicht altersstarr. Oh weh, noch so ein Unwort. Also wir spielen locker mit Witzen und blöden Sprüchen. Wäre doch gelacht.“
Angela: „Bingo. Mit souveränem Humor entwaffnen wir die Alten-Verächter.“
Ich: „Und wenn wir irgendwann wackelig werden und wenig zu lachen haben, lachen wir trotzdem. “
Angela: „Guter Vorsatz. Wir gehen das Alter spielerisch an und sind froh, niemandem mehr beweisen müssen, wie erfolgreich wir sind. Keine Leistungsschau angesagt.“
Ich: „Seelenstärke besiegt Körperschwäche.“
Angela nickt. Diskussion beendet.
Jetzt tauchen wir in die Geschichten ein, die selbst den findigsten Altersverächter dumm aussehen lassen.
I
Rita: Meine Feuerprobe - Die Flüchtlingsunterkunft
„Rita, bist du ein Gutmensch?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Weil der Gutmensch heutzutage als aufgeblasener, moralisierender Naivling dasteht. Und jetzt konzentriere dich lieber auf das, was ich dir von meinen Heldentaten erzählt habe und noch erzählen werde.
Recht hat sie.
Sie hat sechs Stunden Herkulesarbeit hinter sich und ist, kaum zu glauben, trotzdem hellwach. Ihr gelingt es, mich sprachlos zu machen. Da ich aber hier bin, um über ihren Sturm und Drang auf ihre alten Tage zu sprechen, bezwinge ich meine Sprachlosigkeit. Ich kenne sie gut und frage somit ungeniert: „Du hast dich doch immer als `liebend gerne faul´ bezeichnet. Jetzt bist du in Rente, könntest nach Herzenslust faulenzen und was tust du? Dich abrackern in einer Flüchtlingsunterkunft. Wie passt das zusammen?“
Wir sitzen in der Küche ihrer Zweizimmerwohnung. Eine kalte Flasche Weißwein steht schon bereit. Entspannt faltet Rita die Beine unter dem Tisch. Sie ist 72 Jahre alt, trägt Turnschuhe, Jeans, eine dunkelblaue knielange Strickjacke und an den Handgelenken blau-rot gestreifte Pulswärmer. Sie füllt unsere Gläser und sagt: „Pass auf. Ich drücke mich liebend gern vor allem, was mich anödet. Papierkram zum Beispiel. Ich bin erledigungsfaul. Doch weite, anstrengende Reisen waren schon immer das Höchste für mich. Wenn ich spätnachmittags die Gemeinschaftsunterkunft verlasse, ist es jedes Mal so, als käme ich von einer sehr anstrengenden Weltreise zurück. Verstehst du?“
„Nicht ganz.“
„Stell dir das so vor: Ich verabschiede mich von den Kindern in der Unterkunft, steige auf mein Rad und fahre auf einer Hauptverkehrsstraße quer durch die Stadt. Links von mir gleichmäßiges Autorauschen, zu meiner Rechten pulsiert das Leben. Ich fahre an drahtigen Joggern vorbei, an belebten Cafés, kleinen, gepflegten Parks und zwei, drei Spielplätzen. Von weitem höre ich die Kinder jauchzen und lärmen. Krasser kann der Gegensatz zwischen dem ghettoartigen Ort, von dem ich gerade komme, und dieser munteren Stadt kaum sein. Von einer solchen Normalität können die Kinder in der Unterkunft nur träumen. Gefühlt habe ich gerade einen fernen, krisengeschüttelten Ort verlassen, in dem es für die Kinder nicht einmal einen Spielplatz gibt.“
Jede Woche verbringt Rita vier Nachmittage mit den Kindern in der dreistöckigen Gemeinschaftsunterkunft. Während der Schulferien ist sie jeden Tag dort. Ihr Aktionsradius: Hausaufgabenbetreuung, spielen, schwimmen und - tanzen!
Bevor sie in Rente ging, arbeitete Rita als Psychotherapeutin in einer Erziehungsberatungsstelle, wo vor allem Familien in Trennungs- und Scheidungssituationen zu ihr kamen. Zudem hatte sie traumatisierte junge Flüchtlinge in Therapie. Sie ist also gut vorbereitet auf die Erfahrungen, die sie jetzt als Ehrenamtliche macht. Dennoch bleibt es ein Rätsel für mich, weshalb sie sich in ihrem Alter permanent verausgaben will.
Ritas Antwort: „Soll ich etwa lauschig in den Tag hineinleben? Die Rente als Rundum-Sorglos-Paket fantasieren? Nichts für eine wie mich. Dann lande ich vor gepflegter Langeweile schnurstracks im Pflegeheim und erzähle dir wehmütige Geschichten über die Zeit, als ich noch zupacken konnte.“
Ein schönes Leben in der Komfortzone ist für Rita also ein pfeilschneller Altersbeschleuniger. Das Alter, das wisse doch jeder, sei eine mal leise, mal heftig tickende Zeitbombe: „Der Countdown läuft. Wer weiß, wie viele Jahre ich noch habe, bis mir das Alter befiehlt: `Stopp. Du kannst nicht mehr!´ Viele sind es nicht. Das zu wissen, hilft bei der Frage, was du vom Restleben noch willst. Es hilft auch dabei, genau das zu tun, was du möchtest und kannst, bevor es zu spät ist. Sobald du in Rente gehst, musst du dir eine neue Rolle suchen, sonst versinkst du im Altersblues. Du findest heraus, was dir liegt und dann legst du los. Genau das habe ich getan.“
Rita schließt kurz die Augen, atmet durch und fügt lächelnd hinzu: „Ich bin schließlich noch eine „Uhu“, eine Unterhundertjährige voller Lebensgier.“
Außerdem fühle es sich gut an, an etwas Nützlichem mitzuwirken. „Mein Einsatz ist zwar nicht sonderlich bedeutend, ich werde nie ein Verdienstkreuz bekommen, und Menschen wie mich beklatscht niemand auf den Balkonen. Aber dies kann ich mit Sicherheit sagen: Mein Engagement ist ein kleiner Schub an Menschlichkeit, der zuweilen richtig anstrengend ist. “
Dann kommt sie zum Thema Identität: „Der Renteneintritt kann zur Identitätskrise werden. Du fragst dich, wer du jetzt bist, wohin du noch willst. Weil es einer fitten älteren Frau wie mir freisteht, ihren Lebensinhalt selbst zu wählen, macht ihre Wahl ihre Identität
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 12.09.2022
ISBN: 978-3-7554-2045-3
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