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Über dieses Buch:

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Blutüberströmt wacht Charlie Nacht für Nacht auf. Tagsüber geschehen um sie herum unerklärliche Dinge, die sie an ihrem Verstand zweifeln lassen. Angst macht ihr vor allem ihr Spiegelbild im Bad. Verzweifelt sucht sie nach einer Erklärung. Ausgerechnet die junge behinderte Sofia hilft ihr dabei. Von Anfang an fühlt sich Charlie auf ungewohnte Weise von der rätselhaften, düsteren Frau angezogen. Damit verstrickt sie sich jedoch in ein Netz aus finsteren Vorahnungen. Sie führen Charlie zu einer grausamen Wahrheit und nehmen ihr schließlich den letzten Halt.

 

Copyright © 2022 Maria Zaffarana, publiziert von telegonos-publishing

 

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(Haftungsausschluss und Verlagsadresse auf der Website)

Cover: Kutscherdesign

 

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

ISBN der Printversion: 978-3-946762-69-0

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mord verträgt kein Jenseits

 

 

 

Maria Zaffarana

 

 

 

 

telegonos-publishing

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1. Kapitel

1. Kapitel

 

Ich knipse das Licht an und sehe das blutverschmierte Laken. Hektisch wandern meine Blicke über die schmalen, schlangenförmigen Linien. Das Blut blendet mich. Es schimmert in grellem Hellrot auf weißem Untergrund. Ein metallisch-süßlicher Geruch und eine beunruhigende Stille liegen beklemmend im Raum. Mein Herz gerät aus dem Takt. Der Puls rast und hämmert schmerzhaft gegen meine Schläfen. Kalter Schweiß rinnt über meine überhitzte Stirn, während die Luft um mich herum immer frostiger wird. Ich friere. Wie gelähmt liege ich mittendrin und kann mich keinen Zentimeter bewegen. Mein Körper gehorcht mir nicht mehr. Mittlerweile ist es im Zimmer so eisig, dass ich meinen Atem sehe.

Die Uhr zeigt zwei Uhr in der Früh. Ich habe gerade mal anderthalb Stunden geschlafen.

 

Es ist Mittwoch, der 16. Juni.

Mittlerweile müsste es die zweite oder dritte Nacht sein, in der ich so unvermittelt aufwache. Oder waren es doch mehr oder weniger? Die Zeit rinnt mir neuerdings durch die Finger. Somit habe ich keinerlei Gefühl mehr für Wochen, Tage, Stunden oder Minuten.

Der Schweiß fließt tröpfchenweise in meine Augen. Sie brennen. Mir ist nach Weinen zumute. Ich kann es aber nicht, noch nicht einmal das. Mein Herz überschlägt sich. Ich atme laut, wobei es mehr wie ein ersticktes Keuchen klingt. Die Angst schnürt mir die Kehle zu. Das Schlucken schmerzt. Meine Haut ist eiskalt.

Wo kommt dieses verdammte Blut her?, frage ich mich wie so oft in den vergangenen Nächten. In meinem Seelenleben tobt gerade ein Tornado. Alles entgleist und ich kann keinen klaren Gedanken fassen, geschweige denn eine Antwort auf meine Frage finden. So langsam beginne ich sogar, an meinem Verstand zu zweifeln.

Das Karussell in meinem Schädel beschleunigt. Die Kälte hält mich fest im Griff. Ich sehe, wie die blutroten Schlangen anfangen, sich zu regen, erst langsam, dann immer intensiver. Sie pulsieren wie aufgequollene Venen. Meine Gefühle wechseln von Ekel zu Angst, wandern zwischen Panik und Verzweiflung hin und her. Ich ertrage dieses Schauspiel nicht länger, wende den Blick ab, schaue an die Decke über mir und sehe, wie sie sich auf mich zubewegt. Auch die Wände drumherum scheinen über mir einstürzen zu wollen. Sie schwingen und drehen sich wild wie die Wellen eines wütenden Ozeans. Meine Schläfen pochen unerträglich laut. Trotzdem höre ich mein leises, angestrengtes Röcheln.

Entmutigt schließe ich die Augen. Doch auch hinter den geschlossenen Lidern will sich nichts beruhigen. Alles dreht sich. Allmählich verlässt mich auch mein Orientierungssinn. Es kommt mir vor, als würde das Bett in unsanften Schwingungen hin- und herschaukeln. Nur zu gerne möchte ich mich festkrallen im Laken, um ja nicht auf den Boden zu fallen. Aber meine Hände bleiben ebenso taub wie der Rest meines Körpers. Meine Nase dagegen öffnet sich dem beißenden Geruch in der Luft, der zunehmend strenger und intensiver wird. Es stinkt nach ranzigem Fett und Fäulnis. Mich würgt es.

Am liebsten würde ich jetzt laut schreien, damit mir irgendjemand zu Hilfe kommt. Aber die Stimme dringt nicht nach außen. Sie schafft es nicht. Mein Mund ist wie versiegelt. Ich brülle und doch versickert mein geräuschloser Schrei nur nach innen. Niemand hört mich, noch nicht einmal ich selbst. Immer wieder versuche ich es. Doch kein einziges Mal gelingt es mir, einen Ton aus mir herauszupressen. Ganz gleichgültig, wie viel Kraft ich aufwende – meine Lippen bleiben verschlossen, meine Stimmbänder versagen.

 

Es ist 2:45 Uhr.

Seit einer dreiviertel Stunde liege ich schon in diesem wachkomaähnlichen Zustand. So erschöpft fühle ich mich sonst noch nicht einmal nach dem Sport. Minuten vergehen, bis eine gewisse Ruhe in mir einkehrt. Erst dann hört auch der Schwindel von alleine auf und erst danach traue ich mich, die Augen zu öffnen.

Vorsichtig blinzle ich ins Licht und sehe, dass sich das Blut mittlerweile wie eine dunkle Lache übers ganze Bett verteilt hat. Auch meine Füße, Beine und Arme sind blutverschmiert. Mein Nachthemd ist besudelt wie die Schürze eines Schweineschlachters. Wieder überrollt mich eine Lawine aus Unbehagen, Unruhe und Furcht. In mir tobt ein einschnürendes Gefühls- und Gedankenchaos.

Was geschieht bloß?, hämmert es unentwegt in meinem Kopf. Die Welt um mich herum hat sich selbst aus den Angeln gehoben. Sie gehorcht keinen rationalen Gesetzmäßigkeiten mehr. Alles verschwimmt surreal vor meinen Augen und geht über in ein heilloses Durcheinander, das ich einfach nicht mehr einordnen kann und mich völlig verstört. Hilflos wie ein Neugeborenes liege ich in meinem Bett und versuche, wenigstens den Kopf wegzudrehen, um ja nicht weiter auf das entsetzliche Schauspiel blicken zu müssen. Der Kopf ist aber wie festgeschraubt und lässt sich noch nicht einmal leicht anheben. Machtlos gebe ich schließlich auf, dagegen anzukämpfen. Was mir jetzt nur noch bleibt, ist, die Augen erneut davor zu schließen. Immerhin erfüllen wenigstens die Lider ihren Zweck.

Im Dunkeln fühle ich mich ein wenig sicherer. Mein Herz pumpt mein Blut zwar immer noch unverhältnismäßig stark durch meinen Körper, doch wenigstens deutlich schwächer als bei geöffneten Augen. Konzentriert belausche ich meinen Atmen, nur um ja nicht weiter darüber nachzudenken, was gerade um mich herum passiert. Erst jetzt, da ich wieder so daliege, merke ich, dass sich der kalte Wind gelegt hat. Ich friere nicht mehr. Erschöpft gleite ich in einen unruhigen Schlaf über.

Das Telefon klingelt.

Schrill hallt es in meinen Ohren. Ein flüchtiger Blick auf die Uhr verrät: Es ist 4:15 Uhr.

Wer kann das sein?, frage ich mich.

Das laute Schrillen fährt mir durch Mark und Bein.

Vielleicht Mike? Aber warum sollte er mich so früh anrufen?

Das Klingeln hat mich dermaßen überrascht und unsanft aus dem Schlaf gerissen, dass ich beim Wachwerden für einen kurzen Augenblick alles um mich herum vergesse. Dieser Moment dauert allerdings nicht lange an und schon fällt es mir wieder ein: all das Blut, wie es sich wie kleine rote Schlangen um mich herumbewegt hat.

Doch ein flüchtiger Blick auf meinen Körper offenbart mir, dass jetzt kein einziger Tropfen mehr zu sehen ist. Das Bettlaken erstrahlt in reinem Weiß. Es ist, als wäre nichts gewesen. Das beruhigt mich allerdings in keiner Weise, sondern verwirrt mich noch viel mehr, weil das seit mehreren Tagen so geht und ich mir darauf einfach keinen Reim machen kann. Anvertraut habe ich mich bis jetzt niemandem. Ich plage mich damit alleine herum. Wer sollte mir all das denn auch glauben, wenn ich es selbst kaum verstehen kann, was hier vor sich geht?

Während ich meinen Gedanken nachhänge, schrillt das Telefon unerbittlich weiter. Erst jetzt bemerke ich es bewusst, wie es aufdringlich klingelt. Je länger es schellt, desto beunruhigender hört es sich in meinen Ohren an. Aber ich komme einfach nicht aus dem Bett. Meine Glieder fühlen sich schwer an. Immerhin kann ich sie wenigstens etwas bewegen. Ungelenk recke ich mich, strecke die Beine aus und komme mir dabei vor wie eine alte Frau, deren Gelenke seit Jahren versteift sind. Auch meinem Kopf geht es nicht besser. Er ist angeschlagen wie nach einem Boxkampf.

Das Telefon wird zunehmend aggressiver. Jeder einzelne Ton bohrt sich direkt in mein Gehirn und verursacht einen stechenden Schmerz in der linken Hälfte meines Schädels. Angespannt bleibe ich liegen.

Das Telefon will einfach nicht verstummen. Statt ranzugehen, inspiziere ich wie besessen weiterhin mein Bett auf Blut. Es will mir einfach nicht in den Kopf gehen, dass es spurlos verschwunden ist. In hellem Rot leuchten jetzt nur noch meine frischlackierten Fußnägel.

„Vielleicht werde ich ja wirklich verrückt“, flüstere ich. Das auszusprechen, was ich schon seit Tagen befürchte, verleiht dem Ganzen eine noch viel größere Tragweite. „Ich werde noch verrückt!“

Dieses Mal frage ich mich das nicht mehr nur, sondern stelle es fest. Noch während ich die Worte ausspreche, spüre ich sie auf einmal wieder: die Angst. Sie kriecht langsam an mir hoch. Bei der Vorstellung, irrezuwerden, schnürt sich alles in mir zu. Der Brustkorb verengt sich. Mein Sichtfeld verkleinert sich. Ich sehe für einen kurzen Moment wie durch einen langen, dunklen Tunnel. Mit pelziger Zunge benetze ich meine staubtrockenen Lippen.

„Es ist kein Verlass mehr auf irgendetwas, vor allem aber nicht mehr auf mich. Ich sehe Dinge, die es nicht gibt, höre Dinge, die nicht existieren“, flüstere ich heiser. Sie belasten mich ebenso wie diese großen Lücken in meinem Gedächtnis, die sich einfach nicht mehr schließen wollen. Seit Wochen dehnen sie sich immer weiter aus. Mir fehlen Sekunden, Minuten und Stunden eines Tages und ich weiß einfach nicht, wo ich sie verloren habe.

Mit zittrigen Händen fahre ich mir übers Gesicht, wische mir den kalten Schweiß von der Stirn.

So fühlt es sich also an, wenn man den Verstand verliert?

Diesen Gedanken halte ich nicht lange aus. Ich versuche, ihn zu verdrängen. Dabei bemerke ich erst jetzt, dass das Telefon aufgehört hat zu schreien. Im Raum herrscht Stille. Es ist jedoch keine beruhigende. Nervös knete ich meine Hände. Meistens entspannt mich das, jetzt aber nicht. Wenige Minuten später setzt das bohrende Klingeln von Neuem ein.

„Es wird sicher etwas Schlimmes passiert sein“, sage ich in die Stille hinein. „Oder doch nur ein armer Irrer, der genauso wie ich nicht schlafen kann und sich verwählt hat?“

Auch das bereitet mir Sorgen, dass ich seit einiger Zeit angefangen habe, mit mir selbst zu reden.

Das Telefon gibt nicht auf und setzt mir mittlerweile richtig zu. Es gibt mir deutlich zu verstehen, dass es erst aufhören wird, wenn ich endlich rangehe. Also gebe ich nach. Mit letzter Kraft raffe ich mich auf und schleppe mich in den Flur. Meine Beine sind schwer wie Blei, mein Kopf dröhnt. Die viel zu kurze Nacht liegt mir schwer im Magen. Je näher ich dem Telefon komme, desto angriffslustiger erscheint mir sein Ton. Erst als ich zum Hörer greife, ist endlich Ruhe.

„Ja?“, hauche ich.

Meine Stimme ist energielos. Ich fürchte mich vor dem, was mich erwartet. Doch es bleibt zunächst still. Es vergehen mehrere Sekunden, bis ich ganz weit weg ein leises Räuspern wahrnehme.

„Charlotte?“

Vor Schreck lasse ich den Hörer fallen. Er plumpst dumpf auf den nackten Fliesenboden. Seit Jahren hat mich niemand mehr so genannt. Wenn ich recht darüber nachdenke, hat mich seit meiner Jugend niemand mehr so angesprochen. Ich habe diesen Namen abgelegt, als ich weggezogen bin. Hier bin ich nur Charlie.

Mit klopfendem Herzen schaue ich auf den Hörer vor meinen Füßen. Ich traue mich nicht, ihn wieder aufzuheben. Argwöhnisch betrachte ich ihn eine ganze Weile, stupse ihn dann mit dem Fuß an. Am anderen Ende höre ich die Stimme weiter sprechen. Vorsichtig bücke ich mich, greife nach dem Hörer und halte ihn mir erneut ans Ohr.

„Charlotte?“, wiederholt der Mann, inzwischen mit etwas mehr Nachdruck.

Panik fährt mir durch den Körper. Diese kehlige Stimme kommt mir bekannt vor. Sie geht mir unter die Haut und macht mir Angst. Es ist ein vertrautes Grauen aus der Vergangenheit.

„Charlotte? Bist du es?“

An meinen Handflächen hat sich ein hauchdünner Schweißfilm gebildet.

„Ja“, antworte ich kurzatmig, obwohl ich jetzt lieber auflegen möchte. Aber ich kann es nicht.

„Ich bin es … Rudi! Kennst … weißt du noch, wer ich bin?“

Dunkle, kleine Punkte schieben sich vor meine Augenlinse. Sie schwirren und tanzen unkoordiniert umher. Meine Beine werden noch schwerer, als sie ohnehin schon sind. Sie können mich kaum noch tragen. Nur mit viel Anstrengung gelingt es mir, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Schwer lasse ich mich auf das viel zu niedrige Bänkchen neben dem Telefon fallen. Mein Puls schlägt unrhythmisch und ist völlig aus dem Takt.

„Charlotte? Bist du … noch da?“

Schnaufend kralle ich mich am Telefonhörer fest, der in meiner Hand mittlerweile so glüht wie heiße Kohlen.

Wie hätte ich denn Rudi vergessen können?

Mit der anderen Hand fasse ich mir an meinen Kehlkopf. Es fühlt sich so an, als ob er nach innen gedrückt würde. Ich bekomme kaum noch Luft.

Ich muss auflegen!, befehle ich mir innerlich.

Aber meine Hand löst sich nicht vom Hörer und so bleibe ich doch am Apparat.

„Ja … ich bin noch da“, flüstere ich. Meine Stimme klingt unnatürlich blechern.

Rudi hustet in den Hörer. Sofort ist es wieder da: Das altbekannte Geräusch, das ich noch von früher kenne, als er nach einer seiner durchzechten Nächte zu mir unter die Bettdecke gekrochen ist.

Obwohl er noch nicht viel gesprochen hat, weiß ich ganz genau, dass er auch jetzt betrunken ist. Die Art, wie er atmet, verrät es mir.

„Ist ja eine Weile her, … als wir uns das letzte Mal gesehen haben. Und ich wusste nicht, ob die Telefonnummer noch stimmt. … Hab ja auch lange überlegt, ob ich dich überhaupt … anrufen soll.“

Rudi stottert, lallt, schnieft, hustet. Das alles spricht dafür, dass er nicht nur ein paar Biere getrunken hat. Er ist sturzbesoffen. Das ist er ja ohnehin die meiste Zeit gewesen.

„Jedenfalls wollte ich dir … nur sagen, … dass …“

Rudi macht eine Pause, in der er vermutlich, so jedenfalls hört es sich an, einen weiteren Schluck aus irgendeiner Flasche mit Hochprozentigem nimmt.

„… dass … dass … deine Mutter … vor zwei Tagen … am Montag ge…gestorben ist.“

Diese Bombe lässt Rudi nach einer gefühlten Ewigkeit einfach so platzen. Unvermittelt. Unvorbereitet. Unsentimental. Es ist ein lauter Knall mit großer Druckwelle. Mir zieht es augenblicklich den Boden unter den Füßen weg. Wie versteinert stehe ich mit dem Hörer in der Hand im Flur und starre dabei an die Wand gegenüber. In meinen Ohren hallt noch der letzte Halbsatz nach, den Rudi künstlich in die Länge gezogen hat. Meine Zunge ist ein pulsierender Tumor, der meinen Mund gänzlich ausfüllt und ihm den letzten Rest Sauerstoff nimmt.

Während ich nach Luft ringe, taucht meine Mutter völlig überraschend vor meinem geistigen Auge auf. Es ist das erste Mal nach all den vielen Jahren des Vergessens. Blitzartig spielt sich in mir ein Film ab: das „Best of“ unseres gemeinsamen Lebens. Es ist kein besonders schöner Trailer. Leider kann ich ihn nicht stoppen. Ein flaues Gefühl in meinem Magen macht sich breit. Wieder schaue ich durch einen langen, dunklen Tunnel ins Nichts.

An diesem frühen Morgen steht die Welt kopf. Denn nach einer solchen Nacht habe ich nicht auch noch damit gerechnet, am allerwenigsten aber damit, dass mich diese Nachricht so berühren würde. Der Tod meiner Mutter hat mich geradezu überrollt. Sie ist wie so oft in der Vergangenheit mit roher Gewalt in mein Leben geplatzt. Dabei hatte ich mir so fest vorgenommen, nie wieder an sie zu denken.

Natürlich denke ich aber nicht so über sie, wie es eine Tochter für gewöhnlich tut. Ich bin über ihren Tod kein bisschen betrübt. Im Gegenteil! Ich bin sogar sauer, weil Rudi mit dieser Nachricht alles durcheinandergewirbelt hat. Es fühlt sich so an, als ob er auf einen Knopf gedrückt hätte, wodurch die verschüttete Vergangenheit auf einmal wieder an die Oberfläche gedrängt wird. Am allerliebsten wäre es mir gewesen, wenn ich überhaupt nichts von all dem erfahren hätte. Denn für mich ist meine Mutter bereits vor zwölf Jahren gestorben. Meine Trauerarbeit ist also längst abgeschlossen.

„Ein Auto hat sie … von hinten ge…gerammt. Und hinterher ist der Fahrer abgehauen. Das war‘s!“, fügt er nach einer kurzen Weile des Schweigens noch hinzu.

Ob er weint oder einfach nur die verrotzte Nase hochzieht, kann ich nicht wirklich heraushören. Es fällt mir schwer zu glauben, dass er meiner Mutter auch nur eine Träne nachweint.

„Die haben sie … zwar nach einer Weile gefunden und noch ins Krankenhaus gefahren … aber … aber … da war nichts mehr … zu machen. Sie war auf der Stelle … tot, haben sie gesagt, mausetot!“

Auch in mir regt sich nicht wirklich viel; ich bin weder entsetzt oder geschockt noch überrascht.

Was für ein erbärmlicher Tod! Das ist das Einzige, was mir zu ihrem Tod einfällt. Aber irgendwie passt er genau deswegen zu ihr: Sie ist so gestorben, wie sie gelebt hat.

Am anderen Ende der Leitung höre ich, wie Rudi einen weiteren Schluck aus der Flasche nimmt, danach ein Streichholz anzündet und kurz darauf einen tiefen Zug nimmt. Während er raucht, schaue ich auf das Bild an der Wand: ein Landschaftsgemälde mit hohen Bergen vor einem azurblauen Himmel. Das Gesicht meiner Mutter blitzt unerwartet darin auf.

Es ist zum Kotzen, denke ich, dass ich innerhalb so kurzer Zeit zigmal an sie denken muss. In den letzten zwölf Jahren waren es kaum mehr als drei oder vier Mal und das ist schon hochgegriffen.

„Charlotte? Bist du … noch da?“

In Gedanken bin ich noch bei meiner Mutter, fast hätte ich Rudi dabei am anderen Ende der Leitung vergessen.

„Ja“, antworte ich kurz.

Es ist mir wie früher zuwider, mit ihm zu sprechen.

Rudi trinkt und nimmt noch einen Zug. Ich kämpfe weiter mit den Erinnerungen, die zunehmend farbintensiver werden.

„Und … und … am Montag … ist … ist ihre Beerdigung.“

Seine Sätze werden immer schwerfälliger. Der Alkohol ist ihm auf die Zunge geschlagen.

Das, was er sagt, registriere ich nur beiläufig. Bewusster nehme ich hingegen die vielen bunten, bewegten Bilder wahr, die an mir immer schneller vorbeiziehen: Ich sehe auf einmal meine Mutter als junge Frau, meine Mutter schreiend vor mir, meine Mutter besoffen, meine Mutter ungepflegt, meine Mutter und ich allein zu Hause, wir beide weinend. Das Foto-Karussell will einfach nicht anhalten.

„… wollte dir das … nur sagen. … Vielleicht … willst du … willst du … du … ja kommen?“

Das Foto-Karussell hält augenblicklich an. Es stoppt aus voller Fahrt. Ich taumle zurück. Rudis Worte schlagen ein wie ein Blitz. Sie treffen mich härter als die Nachricht über den Tod meiner Mutter. Sie fühlen sich an wie ein Fausthieb mitten ins Gesicht. Wut steigt in mir auf. Meine Pupillen tanzen aufgeregt hin und her.

Dass er überhaupt ernsthaft in Erwägung zieht, ich würde ihr die letzte Ehre erweisen wollen, macht mich rasend. Gerne möchte ich ihm meine Wut zeigen. Aber ich traue mich nicht. Selbst nach all den Jahren habe ich immer noch Angst vor Rudi; daran haben auch die zwölf Jahre nichts geändert.

Statt zu reagieren, mache ich deswegen das, was ich in solchen Situationen am besten kann: Ich schweige. In mir drin brodelt es inzwischen dagegen umso lauter weiter. Meine Gefühle überschlagen sich. Angst, Wut und Hass wechseln sich im Sekundentakt ab. Was überwiegt, kann ich nicht genau sagen. Rudi macht mich zweifelsohne aggressiv. Der Tod meiner Mutter verursacht bei mir dagegen mittlerweile Hass. Denn ich gönne ihr nicht dieses friedliche Ende. Unter die Räder eines Autos zu geraten und auf der Stelle tot zu sein, ist mir einfach zu wenig. Sie hat weder Schmerzen noch Ängste ertragen müssen. Aber genau das habe ich ihr gewünscht. Der Tod ist einfach zu barmherzig mit ihr gewesen.

Rudis kratziges Husten holt mich zurück in die Gegenwart.

„Kommst du, Charlotte?“, höre ich ihn am anderen Ende der Leitung wieder fragen.

 

 

Die Wut hat sich mittlerweile aufgebauscht zu einer bedrohlichen Lawine.

„Nein!“, rufe ich jetzt doch zu meiner eigenen Überraschung etwas bestimmender in den Hörer.

Getragen von dieser Wut schaffe ich es dann doch noch aufzulegen, und zwar mit einem lauten Knall und ohne mich zu verabschieden.

Mein Puls dröhnt wie eine Explosion.

„Oder sollte ich vielleicht doch hinfahren?“, überlege ich nach einer kurzen Weile laut. „Ich könnte voller Wonne auf ihr Grab spucken, so wie sie stets mit Wonne in mein Gesicht geschlagen hat!“

Nachdem ich aufgelegt habe, bleibe ich regungslos auf dem Bänkchen sitzen. Ich bin durchgeschwitzt und fühle mich wie nach einem Marathonlauf. Meine Beine schmerzen, meine Arme hängen schlaff herab, der Atem stockt und meine Gedanken wandern zurück in meine Kindheit.

 

Rudi war ein Schwein, das abscheulichste Schwein in Menschengestalt – wie all seine Vorgänger übrigens, die meine triebhafte Mutter immer wieder zu uns ins Haus geschleppt hatte. Alle waren sie jünger als sie, alle versoffen und abgebrannt bis aufs letzte Hemd. Aber irgendwie war mir Rudi am deutlichsten in Erinnerung geblieben – nicht nur, weil er der letzte ihrer Freunde war, sondern wahrscheinlich auch, weil er sich als noch brutaler als die anderen entpuppte.

Fünf Jahre hatte ich das Vergnügen, mit diesem Scheusal unter einem Dach leben zu müssen. Fünf endlos lange Jahre, in denen ich seinen widerwärtigen alkoholschwangeren Atem und sein dreckiges Stöhnen dicht in meinem Nacken hatte spüren müssen, wann immer meine Mutter mal wieder völlig besoffen in ihrem Bett lag. Und das kam nahezu jede Nacht vor. Am Tage ließ er mich in Ruhe. Da beschränkte sich seine Macht über mich auf verbale Erniedrigungen. Täglich führte er mir vor Augen, wie nutz- und wertlos ich doch sei. Er schikanierte und peinigte mich, wo er nur konnte. Mich gegen ihn zu wehren, kam nicht infrage. Zu hart wären seine Strafen ausgefallen, als dass ich das riskiert hätte. Ein einziges Mal wagte ich zu rebellieren. Das Mahnmal davon trage ich heute noch mit mir herum: eine kleine verblasste Narbe an meiner Stirn. Danach widersetzte ich mich nie wieder. Ein Blick von ihm allein genügte und ich zuckte innerlich zusammen. Am Ende glich ich einem dressierten Hund, der jede Regung seines Besitzers zu deuten wusste, aber sonst keinerlei Rechte hatte. Allein die Erinnerung daran verursachte bei mir lange Zeit einen nervösen Magen.

Meine Mutter bekam von all dem und insbesondere von seinen nächtlichen Besuchen bei mir natürlich nichts mit. Sie war nur mit sich selbst beschäftigt.

Das war sie übrigens immer, insbesondere als sie noch jünger war und weniger versoffen. Da war sie sogar hübsch – noch mit vollem Haar, gesunden Zähnen, das Gesicht nicht so verbittert, nicht so verlebt. Allerdings war sie das nicht lange. Die meiste Zeit kannte ich sie nur verbraucht, ausgemergelt, abgestumpft. Eine leere Hülle. Das letzte Mal, als wir uns sahen, glich sie nur noch einem Pfund Nichts. Kein Gramm Fett war mehr auf ihren hervorstehenden Rippen, kein einziger Ausdruck mehr auf ihrem aufgedunsenen Gesicht. Sie war nur noch leer. Auf ihren schmalen Lippen trug sie stets nur einen billigen blassrosa Lippenstift, den sie immer zu dick aufgetragen und für den ich mich als Kind immer geschämt hatte. Meine Mutter mochte es billig. Das lag keinesfalls nur daran, dass sie sich teuer nicht leisten konnte.

 

Erschöpft stehe ich von dem Bänkchen auf, schleppe mich zurück ins Schlafzimmer und stelle mich ans Fenster.

„In weniger als drei Stunden muss ich in der Schule sein“, fällt mir jetzt ein. „Ich weiß nicht, wie ich das in diesem Zustand schaffen soll!“

Meine nackten Füße berühren den kühlen Fliesenboden. Eine eisige Kälte steigt in mir hoch. Müde schaue ich hinaus auf die halb leeren Straßen. Ich fühle, wie ein leichter Luftzug meinen Rücken streift, und schrecke auf. Es fühlt sich genauso an wie letzte Nacht: dieselbe kühle Brise, die sich langsam an meinem Körper entlangtastet. Es sind sanfte, kalte Berührungen auf meiner Haut, die mich erschaudern lassen. Mich friert es, aber von innen. Im Zimmer herrscht eine bedrückende Stille. Ich halte den Atem an und kann sogar das leise Heulen des Windes hören, der sich federleicht auf meinen Körper setzt. Es klingt wie das sanfte Schlagen eines Schmetterlingsflügels.

„Wenn Tote durch Räume gehen, hinterlassen sie eine eisige Kälte. Sie wandern zwischen den Welten und machen sich so bei uns bemerkbar.“ Dieser Spruch meiner Mutter fällt mir auf einmal wieder ein. Er ist einer aus ihren vielen Schauergeschichten, die sie mir als kleines Kind gern erzählt hat in dem Wissen, dass sie mir damit den Schlaf rauben würde. Aber wahrscheinlich hat gerade darin für sie der Reiz gelegen. Ich habe damals schon Höllenängste durchgestanden, immer wenn sie damit angefangen hat. Genau dieselbe Angst empfinde ich auch in diesem Moment.

Im Zimmer ist es mittlerweile so bitterkalt wie in einer Polarnacht. Hastig atme ich ein und aus. Dabei beschlägt die Fensterscheibe. Das Zischen des Windes ist jetzt ganz dicht an meinem Ohr. Es ähnelt dem Klang einer Stimme. Sie flüstert mir etwas zu. Aber ich verstehe sie nicht. Kein verständliches Wort dringt zu mir durch, nur gedämpftes Gesäusel. Die Angst überrollt mich ein weiteres Mal mit Herzklopfen und Atemnot, mit Taubheit in Armen und Beinen. Mir wird schwindelig. Ich taumle und schaffe es gerade noch, mich rechtzeitig aus der Starre zu lösen, um mich mit beiden Händen an der Fensterbank festzuhalten. Im selben Moment hört das Flüstern auf. Der kalte Wind hat sich verzogen. In die unheilvolle Stille mischen sich wieder andere Geräusche von außen. Ich höre die Nachbarn die Flurtreppe hinuntergehen. Draußen zwitschern ein paar Vögel munter und sorgenfrei.

 

 

Es ist 6:15 Uhr.

An Schlaf ist nicht mehr zu denken. Ich schlurfe in die Küche. Der Tisch ist noch voll vom Vorabend: eine leere Flasche Rotwein, ein halb volles Glas, ein angebissenes Brot, eine ranzige Scheibe Käse. Überall liegen schmutziges Geschirr und benutzte Servietten. Ich habe seit Tagen nicht mehr aufgeräumt, geschweige denn abgespült. Es stinkt nach altem Essen und abgestandenem Alkohol. Der Anblick des Weines widert mich an – wie so oft, wenn ich zu viel getrunken habe.

„Nie wieder will ich auch nur einen Schluck trinken“, nehme ich mir vor. Das tu ich allerdings jedes Mal, wenn es wieder einmal zu viel geworden ist. Gehalten habe ich mich daran bislang nie länger als eine Woche.

Ich schiebe auf dem Tisch alles beiseite und mache Platz fürs Frühstück. Mein Magen knurrt. Appetit habe ich jedoch keinen. Was könnte ich schon essen, wenn mir doch Ekel und ständige Angst die Kehle zuschnüren? Halbherzig schäle ich mir dennoch einen verschrumpelten Apfel. Er liegt seit zwei Wochen im Kühlschrank. Aber nach zwei Bissen macht er mir schon keinen Spaß mehr.

Diese Nacht und all die Nächte davor haben mir einfach die Lust an allem und auf alles genommen. Seit Tagen habe ich nichts Ordentliches mehr gegessen, glaube ich, denn so richtig erinnern kann ich mich nicht. Der Gedanke an meine Mutter, ihren Tod und die Beerdigung haben mir an diesem Morgen jedenfalls den Rest gegeben. Angewidert lege ich den verschrumpelten Apfel weg und zünde mir stattdessen eine Zigarette an. Aber auch sie will mir heute nicht so richtig schmecken. Halbherzig nehme ich zwei, drei tiefe Züge. Meine Lunge brennt und mir wird noch übler. Ein letzter Zug, dann

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 03.05.2022
ISBN: 978-3-7554-1300-4

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