Cover

Der Tod ist nicht das Ende der Liebe

 

Petra Schindler

 

 

telegonos-publishing

 

 

 

 

Über dieses Buch:

Petra Schindler findet im Januar 2017 ihren Ehemann völlig unerwartet tot in seinem Bett auf. Sie verbringt die folgende Woche in einem kompletten Blackout. Nur mit Unterstützung einer engen Freundin findet sie nach acht Tagen den Weg zurück in die Realität, die für sie unerträglich ist. Aus einer Powerfrau ist innerhalb von Sekunden ein orientierungsloses, hilfloses und suizidales Geschöpf geworden, das auf die Hilfe ihrer Freunde bei der Bewältigung der nun notwendig werdenden enormen bürokratischen Hürden angewiesen ist.

Es folgen 19 Monate eines langen, harten und unendlich schweren Wegs, bis sie wieder imstande ist, zu ihrer alten Kraft zurückzufinden, ihr Leben autonom zu führen und einen neuen Lebenssinn für sich selbst zu finden.

 

Copyright © 2022 Petra Schindler – publiziert von telegonos-publishing

 

www.telegonos.de

(Haftungsausschluss und Verlagsadresse auf der website)

Cover: Kutscherdesign

 

 

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

ISBN der Printversion: 978-3-946762-61-4

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich widme dieses Buch allen Freunden, die mich nach dem plötzlichen Tod meines Mannes aufgefangen, getragen und nicht allein gelassen haben.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Unfassbare

 

Ich weiß nicht, ob es Nacht oder Tag ist.

Muss aus dem Fenster schauen.

Es ist dunkel und ich höre keinen Laut, weder im Haus noch von draußen.

Ich höre nichts.

Ich höre gar nichts.

Die Welt ist stumm.

Ich atme nicht, dennoch lebe ich.

Ich lebe - und mein Mann ist tot, haben sie gesagt.

Tot.

Wieso tot?

Er ist doch immer da bei mir.

Er hätte mir doch gesagt, dass er weggeht.

Ich suche ihn…

Er ist nicht mehr in seinem Arbeitszimmer.

Er liegt nicht mehr tot in seinem Bett.

Er sitzt nicht in seinem Schreibtischstuhl.

Er ist auch nicht mehr in der Wohnung.

Wohin haben sie ihn gebracht?

Wo ist mein Mann?

Wieso bin ich hier und er ist weg?

Das kann nicht sein!

Ich muss aufwachen!

 

Wieso scheint die Sonne und mein Mann ist tot?

Ich träume wahrscheinlich noch.

Sicher schlafe ich.

Ich stehe auf, gehe zu meinem Mann, der schon am PC sitzt und arbeitet.

Aber dort ist er nicht.

Die Türklinke in der Hand starre ich ins leere Zimmer.

Es riecht nach Zigarettenrauch. Es ist kalter Rauch.

Wo ist er hin?

Wo ist mein Mann, warum bin ich da und er ist fort?

Es ist kalt, ich friere.

Die Heizung ist abgedreht.

Warum ist sie nicht an?

 

Was ist das für eine Musik in meinem Ohr?

Ich kann sie deutlich hören.

Eine gewaltige Orchestermelodie mit Akkorden, die in meinem Kopf hämmern und rauschen. In Moll.

Immer nur ein paar Takte, nicht mehr.

Immer wieder dieselben Melodien, wie eine kaputte Schallplatte, überall, in jedem Raum.

 

Heute kann ich seine Tür nicht öffnen.

Ich fasse die Klinke nicht mehr an.

Kann sie nicht herunterdrücken und bin auch nicht fähig, in sein Zimmer gehen.

Denn da links steht gleich sein Bett.

Sein Totenbett.

Es ist das erste Möbelstück, das ich sehe, wenn ich den Raum betrete.

Ich will zu meinem Mann.

 

Ich will ihn sehen,

ihn berühren,

streicheln,

küssen.

Ich will reden mit ihm.

Ich will erklären, besprechen, diskutieren, sagen, was ich immer sagen wollte, nochmal und nochmal, wieder und wieder.

Herrgott, ich will reden mit IHM…JETZT!

 

Aber da ist er nicht mehr, das Zimmer ist leer.

Sie haben ihn weggebracht.

Die Männer haben ihn fortgetragen, mit den Füßen zuerst durch die Tür.

So, wie er es prophezeit hat vor Jahren:

„Aus dieser Wohnung kriegt mich keiner mehr raus, es sei denn, mit den Füßen zuerst, wenn ich tot bin.“

Daran denke ich in diesem Moment.

Seine Stimme ist in meinem Ohr.

Alles strömt dort seinen Geruch aus.

Wenn ich hineinginge, könnte ich ihn inhalieren.

Würde ich ihn dann noch intensiver spüren?

Ich stehe vor seinem Sessel und blicke mich um.

Das Bett ist leer.

Die Kissen und die Decke aufgeschüttelt, so als wenn er gleich hineinschlüpfen wollte.

Wer hat das getan und wann, es ist doch noch früh?

Ich stehe in seinem kleinen Arbeitszimmer herum und suchend fällt mein Blick auf die Möbel, seine Ordner, seine Autoschlüssel, sein Portemonnaie und - da liegt auch sein Schmuck und seine Armbanduhr.

Sein Lederarmband, das ich ihm zum Geburtstag geschenkt habe. Durch meine Mitte fährt ein Messer, es schneidet und weidet mich innerlich aus.

Wieso liegt da sein Ehering?

Er trägt ihn doch immer…

Ich sehe vor meinem geistigen Auge seine rechte Hand, wie sie auf dem Schaltknüppel im Auto liegt.

Am Ringfinger steckt der Ring. Sein Ring.

Und jetzt liegt er hier.

Abgestreift, überflüssig geworden…

 

Irgendwas zerrt schmerzhaft an meinen inneren Organen. Sie blähen sich auf und fallen in sich zusammen. Mein Herz zerplatzt.

Wie eine reife Tomate.

Es tut unsagbar weh.

 

Über seinem Schreibtisch hängen unsere gerahmten Fotos. Unbekümmert lache ich mir selbst entgegen.

Bin das ich?

Und ER…ER strahlt mich an.

Wie er mich immer angestrahlt hat.

Unnachahmlich.

Einmalig.

Unvergesslich.

SEIN LACHEN.

SEINE BLITZENDEN ZÄHNE und

SEINE GRÜBCHEN.

 

Mein Gott, habe ich diesen Mann geliebt!

Da lehnt er an unserem Auto, das für uns das Schönste und immer etwas Besonderes war. Blacky hatten wir es getauft.

Wie kann es sein, dass er nicht mehr da ist?

Wieso?

Warum?

 

Ich muss wegschauen. Ich kann die Bilder nicht anschauen, nicht mehr sehen! Es tut so weh.

Eine tödliche Wunde ist in mir, sie lässt mich verbluten.

Ich spüre sie...tropf…tropf…tropf...

Mein Lebensinhalt läuft aus mir heraus, aus meinem Kopf, meinem Rumpf, den Extremitäten.

Ich bin nichts mehr ohne ihn, leer.

Er ist nicht mehr hier in dieser irdischen Welt.

Verwitwet haben sie gesagt.

Ein schreckliches Wort.

Es bedeutet Alleinsein, Leere, Einsamkeit.

Ich stiere vor mich hin.

 

Tränen stürzen über mein Gesicht, tropfen ungehindert auf meine Kleidung. Sekret aus der Nase beschmutzt mein Kleid.

Mein Herz zuckt unkontrolliert.

Es schlägt im Rhythmus der Trommeln.

Dong - dong - dong - dong.

Blut schießt in den Kopf, der Druck wird unermesslich. Der Schmerz in mir rast und wütet.

Wild.

Er bricht sich seine Bahn.

Er zerreißt mich.

In der Mitte entzwei, von oben nach unten.

Und das Orchester in meinem Hirn schmettert eine irre Melodie. Dröhnend, hämmernd, fortwährend.

Mein Mund ist aufgerissen und ich schreie einen irren Schrei.

Raus aus dem Raum.

Vorbei an dem Stuhl, in dem er nicht mehr sitzt.

Weg von dem leeren Todesbett.

Das Bett, in dem ich meinen Mann sterbend gefunden habe. Der Anblick ist fotografiert und festgebrannt in meinem Hirn, ich werde ihn nie mehr los.

Nummer 110.

„Kommen Sie sofort! Mein Mann liegt tot in seinem Bett…“

 

Sie reagieren sofort.

Wenige Minuten später sind sie da.

Heulende Sirenen, sie nähern sich dem Haus.

Flackernde Lichter auf den Autos in unserem Hof.

Kripo.

Notarzt.

Sanitäter.

Kriseninterventionsteam.

 

Die Wohnung voller fremder Menschen.

Mein Liebster, mein Herzblut, weiß wie eine Kalkwand in seinem Bett.

Temperatur 32 °C, viel zu niedrig, nicht erweckbar.

ER IST TOOOOOT, hämmert es in mir! TOT! TOT!

Mein Liebster ist tot!

Er wollte sich doch nur ausruhen, schlafen.

Ein Mittagsschlaf, nichts weiter.

Tut doch was!

Macht was!

Macht irgendwas, dass er wieder lebt.

Dass er wieder da ist, dieser wunderbare Mensch.

Dass er atmet, mit mir spricht, dass ich ihn umarmen, küssen kann.

 

 

 

Die Menschen tun, was sie können.

Doch, es ist zu spät.

Zu s-p-ä-t.

Zuuu spääät.

 

„Frau Schindler, es tut mir sehr leid. Ihr Mann konnte nicht mehr zurückgeholt werden.“

Der Notarzt hält meine Hand, er schaut mich an.

Ich schwanke und falle auf einen Stuhl wie ein Baum.

Ich habe es gespürt, habe es gewusst. Er war schon „fort“ als ich ihn fand.

 

„Bitte bedenken sie, auch wenn wir ihn noch einmal hätten holen können, er wäre ja nie mehr der gewesen, den sie kannten, mit dem sie gelebt haben. Er wäre voll pflegebedürftig. Das hätten sie sicher nicht gewollt. Er hatte einen schönen und schnellen Tod.“

 

Ja, ich weiß.

Er braucht nicht weiterzureden.

Ich kenne mich aus.

 

NEIN! NIEMALS!

Dieser kreative schnelle Geist, dieser lebhafte Mensch, der auf alles sofort reagierte, dieser gütige, zuverlässige und treue Mann, der mit mir 24 Jahre unseres Lebens verbracht hat - voll pflegebedürftig?

DAS wäre entsetzlich gewesen.

Für ihn und für mich.

So egoistisch darf ich nicht sein.

Ich MUSS ihn loslassen, mich trennen.

Abgeben an den Tod. Jetzt und hier.

Doch das ist mehr, als ich vermag.

Ich kann mich vor Weinen nicht fassen.

Es gelingt mir noch, mich zu verabschieden und zu danken den Männern, die ihre Pflicht getan haben und nun zum nächsten Notfall eilen.

Die Kripo bleibt da.

Auch der Krisendienst.

Wir warten auf den Bestatter.

Irgendwann trifft seine Schwester mit ihrem getrenntlebenden Ehemann ein. Mir ist, als wäre auch ich gestorben. Ich fühle nur noch einen dumpfen Schmerz.

Mein Herz ist in dem Moment zerrissen, als ich meinen Mann bei der Reanimation auf dem Boden liegen sah und knarzende Geräusche aus seiner Brust kamen…

Ich wusste es, er kommt nicht zurück.

Ist sein Geist noch hier in der Wohnung?

Eine riesige Wunde tut sich auf in mir, die fortan bluten wird, sie wird nie mehr heilen.

Das weiß ich!

 

Dann höre ich mich wieder schreien…

Ein schriller zitternder Schrei, der langsam erstirbt.

Immer noch oder schon wieder?

Es gibt keine Antwort darauf.

Der Nachbar legt seine Hand um meine Schulter.

Er will mich beruhigen.

So viele Menschen in unserer Wohnung.

 

Später sitzen das Krisenteam und die Verwandtschaft bei mir am Tisch. Die Schwester ist verstummt, der Schwager auch. Keiner kann den plötzlichen Tod meines Mannes fassen. Mein Liebster liegt ohne Leben nebenan auf seinem Totenbett.

 

 

Die beiden Kriminalbeamten sind nett. Haben sich in seinem Arbeitszimmer, unserer Wohnung umgesehen. Sie fragen mich sonderbare Dinge, ich antworte mechanisch. Zeige ihnen die letzte SMS. Die SMS, die ich zu spät entdeckte und auf die ich nicht mal mehr reagierte. Er war ja heimgekommen, bevor er sich hingelegt hatte. Er hatte mit mir noch gesprochen. Kein Mensch konnte ahnen, dass er einschläft und kurze Zeit später stirbt.

Wir alle sind fassungslos.

Ich bin fassungslos…und ich bin krank.

Krank im Kopf.

Ich kann nicht mehr denken.

Was wollen die hier?

Der Amtsarzt erscheint. Studiert das Notarztprotokoll, steckt alle Medikamente ein, die mein Mann in seinem Zimmer hatte, führt die Leichenschau durch. Anschließend wenige Worte zu mir, dann füllt er den vorläufigen Totenschein aus.

„Normale Todesursache“ steht darauf.

Wie wichtig dieser Passus noch für mich wird, erfahre ich erst später.

Danach verabschiedet sich die Kripo. Sie haben sich davon überzeugt, dass es ein „natürlicher Tod“ war, nicht durch Fremdeinwirkung.

 

Inzwischen ist es später Abend geworden.

Alle sind mitfühlend und freundlich zu mir. Haben mir Visitenkarten dagelassen, und wenn ich mal Hilfe bräuchte, könnte ich mich jederzeit an sie wenden. Danke schön, das würde ich tun.

Alles Gute für sie.

Schönen Abend.

 

 

Eine Lungenembolie hat der Notarzt gesagt und auch, dass er nichts hätte tun können, selbst wenn er neben ihm gestanden hätte.

Ist das so?

Wie traurig das ist beim Stand der heutigen Medizin.

Es sind eben keine Halbgötter in Weiß. Können es nicht sein. Sie tun ,was sie können.

In diesem Fall war das wohl so.

Eine dreiviertel Stunde versucht zu reanimieren.

Ohne Erfolg.

Patient tot.

Oh mein Gott! Mein armer Liebling.

 

Der Bestatter tut seine traurige Pflicht.

Und dann verabschiedet sich auch die Verwandtschaft und das Krisenteam. Ich bleibe allein.

Mein Mann ist nicht mehr im Haus, in unserer Wohnung, in seinem Zimmer. Sie haben ihn weggetragen.

Raus aus seinem geliebten Arbeitszimmer.

Aus unserer gemeinsamen Wohnung, in der wir uns sicher und geborgen gefühlt haben.

Er ist aus meinem Leben „herausgetragen“ worden, ich weiß nicht, wie es weitergehen soll…

Es ist der Moment, in dem mein Gehirn nichts mehr abspeichern kann. Ab da versinkt in mir jegliches Geschehen.

Ich weiß nicht mehr, wie ich den Rest des Abends verbracht habe, die Nacht überstanden und die nächsten Tage gelebt habe.

Ich weiß davon überhaupt nichts mehr.

Wären da nicht die fast unleserlichen Kritzeleien in meinem Kalender gewesen… die ich ein halbes Jahr danach erst wieder anschauen konnte.

 

Blackout

 

Ich bin erkältet.

Glatteis draußen.

Ich gehe nicht aus dem Haus.

Die Sonne scheint, mein Mann ist tot.

Wie kann das sein?

Wie kann es hell und Tag sein und meinen Liebsten gibt es nicht mehr?

Er ist mein innerer Rhythmus.

Mein Zentrum.

Mein Leben.

Mein Tagesablauf und sein Sinn.

Wieso bin ich ohne ihn noch da?

 

Denken strengt an.

Jede konkrete Wahrnehmung versinkt im wabernden Nebel meines Hirns.

Hocke herum, wandere sinnlos von der Couch auf den Stuhl, von Küche ins Bad, von Korridor in andere Räume, tue nichts, bleibe hier und da stehen, schaue blicklos vor mich hin, stiere, ohne etwas wahrzunehmen. Verbringe diese Tage unbewusst.

Ohne Aktivitäten, ohne zu denken.

Ich kann mich nicht erinnern, an irgendwas.

Ob ich etwas esse, ob ich mich dusche, weiß ich nicht. Ob ich mit anderen spreche oder mit mir - es interessiert mich nicht.

Es nennt sich nicht Leben, was in mir ist.

Ich vegetiere.

Irgendwann telefoniere ich.

Weine, schluchze, mein Körper zuckt dabei.

Wiege mich im Gespräch fortwährend vor und zurück, einen Arm um den anderen geschlungen, den Hörer zwischen Achsel und Kopf eingeklemmt. Eingeklemmt fühle ich mich auch in einem wilden Schmerz.

Weiß nicht mehr, mit wem ich gesprochen habe.

Weiß nicht, worüber.

Es ist nicht wichtig.

Nichts ist wichtig.

Mein Mann ist tot.

Am Tag sechs.

„Petra, willst du mir sagen, dass du seit Freitag, seit dein Mann gestorben ist, noch gar nichts unternommen hast? Hast der Versicherung nicht geschrieben, hast dich nicht um deine Witwenrente gekümmert, hast sein Konto noch nicht geprüft? Ich sage dir eins: Das Allerwichtigste jetzt ist, dass du dich um dein Geld kümmerst, und zwar sofort. Wie willst du ohne Geld leben? Du wirst aus deiner Wohnung fliegen und kein Hahn kräht mehr danach, Mädchen, wach auf! Du kannst es dir nicht leisten, nur dazuhocken und Löcher in die Luft zu stieren. Ja klar, ist es furchtbar und schrecklich, was da passiert ist, aber jetzt wachst du sofort auf! Du musst AUFWACHEN, Petra, du musst was machen! HANDELN! Petra! Peeetra! Hallo! Mädchen, wach auf! Du gehst den Bach runter. Schluss jetzt. Morgen Früh um 9:00 Uhr bin ich bei dir.“

 

Diese Worte höre ich ganz klar.

Was will sie denn von mir?

Wieso ist sie so aufgeregt?

Worum muss ich mich kümmern?

Warum muss ich was tun?

Ich muss gar nichts.

Mich interessiert das doch nicht.

Mich interessiert doch gar nichts mehr.

Mein Mann ist tot.

Am Tag sieben.

Ich stehe im Bad und ein müdes, fahles und faltiges Gesicht schaut mir im Spiegel entgegen.

Grauenvoll die strähnigen Haare. Sie stehen an der einen Seite ab, die andere hängt kraftlos herunter.

Grotesk sieht das aus. Wie ein Clown. Aber lustig ist er nicht. Ich streiche sie mit der Hand, aber sie halten nicht, brauche eine Bürste oder einen Kamm.

Ich drehe mich in Zeitlupe nach hinten und greife aus einer Schale irgendeinen Haargummi heraus, binde sie damit hinten zusammen, so stehen keine Seiten mehr ab. Automatisch umrande ich die verschwimmenden Augen mit taubenblauem Kajalstift, dabei laufen mir permanent Tränen übers Gesicht. Ein Pinsel mit dezent getöntem Puder gibt meiner welken Haut einen Touch Farbe, die wie das bemalte Gesicht einer alternden Diva ausschaut.

Registriere ich, ist mir aber egal.

Mühsam schlüpfe ich in die schwarze Hose, schwarzen Kaschmirpullover, schwarze Schuhe. Ich schnaufe, habe kaum noch Kraft dafür.

Warum Schmuck? Nicht auf diese schwarze Tristesse.

Ich will mich nicht schmücken.

Meine Fingernägel heben sich. Das schmerzt, wenn Seife darunter läuft. Ich könnte sie jetzt einfach abziehen, alle zehn.

Wieso gehen meine eigenen Fingernägel ab? Die sind doch angewachsen, wie kann das gehen?

Auch die verlassen mich?

Was dann als Nächstes?

Absurder Gedanke.

Automatisch grinse ich.

Schiefes Grinsen, wieder wie ein Clown. Ich sehe es im Spiegel.

Die Tränen laufen unaufhörlich.

Links und rechts.

Vom Unterlid zeichnen sie ganz deutlich Spuren, ziehen eine weiße nasse Bahn durch die Schminke bis zum Kinn, dort tropfen sie auf meinen Pullover, hinterlassen kleine nasse Flecken.

Mich stört das nicht.

Es klingelt.

Das Geräusch schmerzt in den Ohren.

Lang habe ich nichts mehr gehört.

Oder wahrgenommen.

Keine menschlichen Stimmen, keine Geräusche im Haus, auch nicht von der Straße.

Wie lange?

Tagelang.

Eine Woche ist vergangen.

Ich sehe es im Kalender.

Wieder Freitag. Der erste Freitag danach.

Ich weiß nichts mehr von dieser Woche.

Es gibt Eintragungen in diesem Büchlein. Mit Krakelschrift, ohne Zeilenabstand und quer durch die Tage.

Ich kann das nicht lesen, was da steht.

Ich will es auch nicht.

Alles schmerzt.

Worte sind zu schrecklich, um sie zu lesen.

Grauenvolle Tage mit grauenvollen Gedanken.

Eine Woche voller Grauen.

Viel zu absurd, um Realität zu sein.

Mein Mann ist gestorben, er ist nicht mehr da.

Das ist alles, was ich weiß.

Das ist kein Traum mehr, das ist Tatsache, insistiere ich. Aus einem Albtraum wäre ich ja mal wieder erwacht.

Aber das bin ich nicht.

Er geht weiter, setzt sich fort.

Angst springt mich von hinten an.

Da ist sie wieder diese Angst.

Wovor habe ich Angst?

Das weiß ich nicht.

Noch nicht!

Mein Körper und meine Sinne reagieren sofort auf diesen Gedanken, diese Empfindung.

Ich beginne zu zittern, meine Hände, die Knie.

Das Herz klopft wild und die Tränen laufen stärker.

Harte Schluchzer kommen aus meiner Kehle.

Fremde Laute, nicht meine Stimme.

Diese kenne ich nicht.

Wie ein Hund, der bellt.

Brausen und konzertale Akkorde im Kopf.

Jetzt - blitzt es durch mein Gehirn - ist der Moment gekommen und ich werde wahnsinnig?

Verrückt?

Irrsinnig?

Knalle ich durch und das war es dann für mich?

Hitze steigt vom Herzen in den Kopf und verbrennt mir Brust und Hals. Schweißnasse Hände - unangenehm. Ich wische sie an meinen Hüften ab. Panische Gedanken formieren sich, steigen auf und reißen wieder irgendwo ab…

Klares Denken ist nicht möglich.

 

Dann nehme ich die Tritte auf den Treppen wahr.

Das Rauschen im Kopf und die musikalen Töne verschwinden, Magdalena rennt zum ersten Stock hinauf.

Sie kommt zu mir.

Nach einer ganzen Woche kommt jemand zu mir.

Es interessiert einen anderen Menschen wie es mir geht?

 

 

Sie stürmt mit wehenden Haaren herein. Ihre herrlichen langen blonden Haare tanzen wirbelnd vor meinem Gesicht. Sie schaut mich aufmerksam an, nimmt Kurs an mir vorbei und steuert direkt auf unser Wohnzimmer zu. Nimmt Platz in dem hellen Sessel und verlangt alle Ordner zu sehen, die wir haben.

Sie will Papiere, Dokumente. Versicherungen, Verträge, Renten, Banken, etc..

 

„Gib mir alles, was du hast, Petra. Los, lauf, hole sie. Ich sortiere. Setz dich zu mir und bleibe ruhig. Ich frage dich, was ich wissen muss.“

 

Mechanisch komme ich in Bewegung, laufe hin zum Todeszimmer. Diesmal kann ich auch wieder die Tür öffnen und hole das Geforderte. Greife wahllos aus der langen Reihe der aufgestapelten Vorgänge heraus. Ordnen, was gebraucht wird, muss sie.

Ich kann das nicht.

Ich kann nicht denken.

Mein Mann war so ordentlich.

Ist das alles, was mir jetzt einfällt?

Die erste Handlung, die mein Gehirn wieder abspeichert, ist die Tatsache, dass ein Mensch zu mir gekommen ist und mir sagt, was ich jetzt zu tun habe. Jemand hat mich aus der dumpfen Besinnungslosigkeit gerissen.

Aus meinem nebulösen Zustand.

Aus dem Wattebausch-Dasein.

Aus dem betäubenden Schmerz.

 

Jetzt muss ich mich von mir abwenden und ihr zu.

Was will sie hier?

Was will sie von mir?

Was will sie tun mit mir?

Magdalena ist hier.

Sie ist so voller Leben.

Ich nicht.

Träge setzt sich mein Denkapparat in Bewegung.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 08.02.2022
ISBN: 978-3-7554-0737-9

Alle Rechte vorbehalten

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