Cover

Tatort Dangast

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Tatort Dangast

 

Im Schatten des Todes

 

Gitte Jurssen

 

 

Über dieses Buch:

 

Renate Stöckel hatte ihren Ferienaufenthalt in Dangast lange geplant. Seit Jahren war sie Stammgast in dem kleinen Badeort am Jadebusen. Das neue Bauprojekt des «Nordseeparks» hatte sie zunächst abgeschreckt, aber sie wollte sich nicht von den Negativbeurteilungen beeinflussen lassen und sich selbst ein Bild machen. Zum Wochenende war ein Familientreffen geplant und Renate freute sich, ihre Kinder und Enkel wiederzusehen. Leider schaffte sie es nur bis vor ihre Wohnungstür. Danach war sie spurlos verschwunden.

Fast zeitgleich geschieht ein brutaler Mord in Varel. Die taffe Kommissarin Kim und ihr mürrischer Kollege Koller tappen lange im Dunkeln.

Hängt vielleicht alles mit allem zusammen?

 

Copyright: © Gitte Jurssen 2021 – publiziert von telegonos-publishing

www.telegonos.de

(Haftungsausschluss und Verlagsadresse auf der website)

Covergestaltung: Kutscherdesign

 

ISBN der Printversion: 978-3-946762-56-0

 

 

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://dnb.d-nb.de abrufbar

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Schatten

 

Mittwoch, 03.07.2019

«Verflucht! Der Schlüssel passt nicht!» Renate stand vor der Eingangstür ihrer Ferienwohnung im ersten Stock der Ferienwohnanlage ‚Nordsee Park Dangast‘ und konnte es nicht fassen. Verunsichert schaute sie auf ihre Vermietungsunterlagen, die sie aus der Handtasche gezerrt hatte. Hatte man ihr eine falsche Wohnungsnummer genannt? Von der Rezeption der Ferienhausverwaltung bis zu ihrer Wohnung waren es etliche Schritte. Der Park war viel größer, als sie erwartet hatte. Sie stöhnte vor sich hin und versuchte noch einmal, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Nach ihrem schrecklichen Erlebnis in Varel war sie fluchtartig nach Dangast gefahren. Draußen herrschte immer noch eine unglaubliche Hitze, obwohl es schon beinahe Abend war. Wahrscheinlich hatten die Damen im Büro der Verwaltung schon längst Feierabend. Den Schlüssel hatte sie geholt, bevor sie sich auf den Weg nach Varel gemacht hatte.

Im Apartment-Haus war ihr die angenehme Kühle aufgefallen, die ihr entgegenkam. Sie atmete tief durch und dachte, sie sei in Sicherheit. Den Schatten, der sie verfolgt hatte, bemerkte sie nicht. Er befand sich jetzt direkt hinter ihr. Aber sie war viel zu verärgert über das Schlüsselproblem, als dass sie das Geschehen um sich herum wirklich wahrnahm. Missmutig entschloss sie sich endlich, noch einmal zur Verwaltung zu gehen. Was blieb ihr anderes übrig? Schlimmstenfalls müsste sie sich an die angegebene Notfallnummer wenden, die sie neben der Eingangstür entdeckt hatte.

Sie seufzte und steckte ihre Unterlagen wieder ein. Als sie sich zum Gehen umdrehen wollte, nahm sie einen heißen Atem im Nacken wahr. Noch bevor sie es schaffte, sich die Gestalt anzusehen, die hinter ihr stand, folgte ein Schlag auf den Kopf. Sie sackte zusammen. Stille!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vermisst

 

Donnerstag, 04.07.2019

Fenna war verärgert. Wie so oft konnte man sich nicht auf ihre Mutter verlassen. Dabei hatte sie sich den Nachmittag extra freigenommen, um Renate in der neuen Ferienwohnung zu begrüßen. Sie arbeitete in Oldenburg in einer Werbeagentur und es herrschte Hochkonjunktur. Ein großes Projekt war hereingeschneit und ihr Chef war kurz davor, durchzudrehen. Er hatte ihr und den Kollegen den Urlaub verweigert. Sie wollte sich eigentlich die ganze kommende Woche um ihre Mutter kümmern, aber jetzt würde sie nur das Wochenende mit ihr und der restlichen Familie in Dangast verbringen. Ihre Geschwister hatten Zimmer im Strandhotel gemietet, weil die Ferienwohnung für alle zu klein war. Renate hatte zu Fenna gesagt, sie wolle einiges mit ihnen besprechen und ganz geheimnisvoll getan.

Renate, die Hotels nicht mochte, hatte darauf bestanden, für sich allein eine Ferienwohnung zu mieten. Noch nicht einmal Fenna wollte sie über Nacht bei sich haben. Aber da diese in Varel wohnte, war es ihr sogar lieber so. Sie konnte von zu Hause aus hinfahren, wenn es ihr passte.

Fenna stöhnte: «Typisch Renate. Zuverlässigkeit ist überhaupt nicht dein Ding.»

Morgen würden sie eintrudeln, die lieben Verwandten. Aber wo war Renate jetzt? Verärgert stapfte Fenna auf dem Flur des Apartmenthauses hin und her und grübelte, was sie machen könnte. Wenigstens ist es angenehm kühl hier, dachte sie.

Seit Kindertagen nannte Fenna ihre Mutter Renate. Sie war 1978 geboren und die Zeit war alles andere als konventionell gewesen. Kinder durften größtenteils machen, was sie wollten und es war geradezu verpönt, Mama oder Papa zu sagen. Aber heute war es anders. Als ob die Zeit sich zurückentwickelt hätte. Die Kids wurden wieder in feste Regeln gedrängt und die Jungenfrisuren sahen aus wie die der Hitlerjugend im Zweiten Weltkrieg.

Missmutig verließ Fenna das Haus und schlenderte über das Gelände der Ferienwohnanlage. Sollte sie warten oder gehen? Als sie an dem Verwaltungsbüro vorbeikam, ging sie entschlossen hinein und fragte, ob eine Frau Stöckel ihre Wohnung schon bezogen hätte. Sie erfuhr, dass ihre Mutter die Schlüssel wie geplant am Vortag erhalten hätte.

Ein ungutes Gefühl beschlich Fenna. Was hatte das zu bedeuten? Schnell schlug das Gefühl in Wut um. Man kann sich eben nicht auf sie verlassen. Warum wundere ich mich überhaupt?

Sie wurde langsam ungeduldig. Auf dem Parkplatz der Wohnanlage entdeckte sie Renates Auto. Auf dem Rücksitz lagen etliche Jacken. Sogar Gummistiefel hatte sie mitgebracht. Wozu auch immer. Renate hatte also noch nicht ausgepackt. Sie war aber doch schon gestern angekommen. Wollte sie die Jacken absichtlich im Auto lassen? Fenna wusste es nicht. Zum gefühlt hundertsten Mal versuchte sie, ihre Mutter auf dem Handy zu erreichen. Außer der Mailbox kam keine Reaktion. Auch die WhatsApp-Nachrichten wurden nicht beantwortet. Seit gestern Abend versuchte sie schon, ihre Mutter auf dem Smartphone zu erreichen.

Was, um Himmelswillen, sollte sie jetzt tun? Frustriert schlenderte sie in den Ort, um einen Kaffee zu trinken. Vielleicht würde Renate ja irgendwo auftauchen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ein Neuanfang

 

Donnerstag, 04.07.2019

Jannek Koller brummte der Schädel. Der Ärger über seine Abordnung nach Varel war präsent wie immer. Gestern Abend war die Whiskyflasche seine engste Vertraute gewesen. Erst um vier Uhr nachts war er in einen unruhigen Schlaf gefallen und hatte von seiner neuen Dienststelle geträumt. Ein Alptraum. Zwischenzeitlich war er in Wilhelmshaven eingesetzt gewesen, aber wie das Schicksal es wollte, war der Ermittlungsführer eines Dezernats in Varel vor kurzem gestorben und er wurde kurzerhand in dieses Kaff geschickt. Nicht etwa als Abteilungsleiter, weit gefehlt. Man hatte ihm gesagt, der neue Dezernatsvorgesetzte heiße Kim. Komisch, dass man ihm nur den Vornamen genannt hatte. Aber er war viel zu phlegmatisch, um nach dem Grund oder dem Nachnamen zu fragen. Ist doch alles scheißegal. Ich muss sehen, dass ich da wieder wegkomme.

Bisher galt er als einer der besten Ermittler im ganzen Oldenburger Land. Aber er hatte die Finger nicht von der Kleinen lassen können. Thea war halt eine scharfe Nummer. Sie hatte ihm imponiert. Wie sie mit den Hunden umging, war grandios. Sie war die Leiterin der Hundestaffel in Oldenburg, zu der auch sein Schäferhund Kobold gehörte. Sein bester Kumpel.

Für ihn würde er alles tun. Und Thea hatte Kobold fest im Griff. Das hatte außer ihm noch niemand geschafft, bis Thea kam. Innerhalb kürzester Zeit hatte sie Kobold zu einem Polizeihund erster Klasse gemacht. Das war vor zwei Jahren gewesen und während der Zeit der Ausbildung war er ständig Gast in der Hundestaffel gewesen. Und das nicht nur wegen Kobold. Thea hatte ihm zwar die Zähne gezeigt, dennoch fand er sie einfach nur großartig. Über ein Jahr lang hatte sie ihn zappeln lassen. Dann war es zu einer Beziehung geworden, die lediglich auf Sex beruhte. Das lag nicht an ihm. Das waren Theas Vorgaben. Nur Sex und sonst gar nichts. Er hatte sich daran gehalten, aber Thea wollte plötzlich nichts mehr von ihm wissen. Als er ihr deswegen an Kobolds Prüfungstermin eine Szene gemacht hatte, war es zu einer hässlichen Auseinandersetzung gekommen und alle Anwesenden hatten es mitgekriegt. Ein paar Tage später wurde er nach Wilhelmshaven beordert. Er konnte es immer noch nicht fassen. Aber dann kam es noch schlimmer. Er musste nach Varel und heute war es so weit.

Der Leiter des 1. Fachkommissariats, Holger Meisner, der die verschiedenen Gruppen des Vareler Kommissariats koordinierte und das letzte Wort hatte, begrüßte ihn nur knapp. Er hätte einen Termin, sagte er, aber Koller solle sich am besten sofort zu einem Tatort begeben. Man hätte am Morgen einen Toten in einem Frisörsalon aufgefunden und Kim könnte bestimmt Hilfe gebrauchen. «Ein Mord passiert schließlich nicht alle Tage in Varel», hatte er noch gesagt und ihn an die Sekretärin Edda verwiesen, die ihm die Adresse des Frisörsalons geben sollte.

Das fängt ja gut an, dachte Koller, und machte sich auf den Weg.

Als er ankam, waren einige Beamte damit beschäftigt, den Tatort zu sichern. Die Flatterbänder vor dem Eingang konnte er aber, ohne dass sich jemand um ihn kümmerte, unterlaufen. Er war wütend über diese Schlamperei. Als er dann sah, wie eine Frau sich ungeniert und ungehindert über eine Leiche auf dem Fußboden gebeugt hatte, fing sein Herz laut an zu schlagen. Was hatte die da zu suchen? Und wo war dieser Kim?

«Entschuldigung! Was machen Sie da? Wo ist denn der Ermittlungsleiter?», fragte er aufgebracht.

Die Frau drehte sich überrascht um und sah in seine metallisch wirkenden blaugrauen Augen, die schon so manche Frau beeindruckt hatten. Sie stutzte, bevor sie in einer sehr jovialen Art, die vor nichts zurückzuschrecken schien, antwortete: «Das bin ich.»

Koller war so überrascht, dass er stammelte: «Sorry! Ich hatte mit einem Mann gerechnet.»

Ungläubig starrte er sie einen Moment an. Dünn wie ein Hering war sie, straßenköterblond, trug verwaschene Jeans und ein weites T-Shirt. Keine weiteren besonderen Merkmale, sozusagen unscheinbar. Aber es war ihm nicht entgangen, dass sie einen Moment zu lange in seine Augen gestarrt hatte. Bevor er sich darüber freuen konnte, dachte er: Sie ist meine neue Vorgesetzte. Ich muss aufpassen, was ich sage.

Er ärgerte sich über seinen Ausspruch und wurde rot. Er nahm wahr, dass sie sich ein Grinsen verkniff, als sie antwortete: «Das haben schon viele gedacht. Ich hoffe, Sie haben kein Problem damit.»

Prompt wendete die Frau sich wieder der Leiche zu und setzte ihre Beobachtungen fort, als wäre er gar nicht mehr da.

«Ich warte auf die Oldenburger Leute des KTI (Kriminaltechnisches Institut)», sagte sie schließlich, weil er nicht von ihrer Seite wich. «Sie müssen jeden Moment kommen. Die Frisörin Maja Söder, die den Toten gefunden hat, hab ich nach Hause geschickt, nachdem ich sie kurz angehört habe. Die anderen Angestellten sind von den Kollegen, die den Tatort abgesichert haben, nach Hause geschickt worden. Ich werde sie später befragen.»

Eine riesige Blutlache hatte sich unter der Leiche gebildet. Der Mann lag vor einem Frisierstuhl und eine eher kleine Wunde klaffte an seinem Hals. Genau in der vorderen Mitte, so dass mit großer Wahrscheinlichkeit auch der Kehlkopf etwas abbekommen hatte. Aber sprechen würde er sowieso nie mehr können. Er hatte seinen letzten Atemzug getan.

«Der Stich muss so überraschend gekommen sein, dass er nicht mehr reagieren konnte. Die Wunde würde sich sonst kaum so präzise in der Mitte des Halses befinden», sagte Kim. «Ich denke, dass es sich um einen kräftigen Stich gehandelt hat. Ein Schnitt sähe anders aus. Man könnte eine Affekthandlung vermuten», ergänzte sie «Der Mann hat wohl nicht damit gerechnet. Aber ich will lieber keine voreiligen Schlüsse ziehen», sagte sie stirnrunzelnd. «Meine Truppe hütet sich, solche Vermutungen laut auszusprechen, bevor sie belegt sind.» Jetzt lächelte sie sogar, sah ihn aber nicht an.

Ziemlich verklemmt die Frau, dachte Koller.

«Hallo Kim», hörten sie jetzt den Chef der Oldenburger Nebenstelle des KTI, Frieder Soltau, der mit seinen Leuten und Dr. Kaper den Salon betrat. Der Arzt sollte den Tod des Opfers amtlich feststellen. Das war Vorschrift.

Kim begrüßte die Gruppe freundschaftlich und sagte: «Ich habe mich schon umgesehen, ihr könnt anfangen.» Bevor Frieder Soltau etwas sagen konnte, grinste sie ihn an. «Ich habe nichts verändert und die Leiche nicht angerührt. Keine Angst.» Die Leute des KTI waren immer sauer, wenn man vor ihnen den Tatort begutachtete.

Kim hatte es plötzlich verdammt eilig. Sie hätte einen wichtigen Termin, sagte sie.

Was Koller nicht wissen konnte war, dass sie schon seit Wochen unerträgliche Unterleibsschmerzen plagten. Sie nickte Dr. Kaper freundlich zu: «Vielleicht können Sie mich später anrufen und etwas zum Zeitpunkt des Todes sagen», bat sie.

«Mach ich», antwortete Kaper freundlich.

«Sorry», mischte sich Koller ein. «Ich würde gern auch einen Blick auf den Toten werfen. Ich bin übrigens Jannek Koller, der neue Ermittler aus Oldenburg. Äh, ich meine zuletzt war ich in Wilhelmshaven. Tschuldigung! Er reichte Kim und den anderen die Hand. «Hatte noch keine Gelegenheit, mich vorzustellen.»

«Ich muss los. Ich habs eilig», sagte Kim und verließ den Frisörsalon, ohne weiter darauf einzugehen. An die Gruppe gewandt sagte sie beim Hinausgehen: «Lasst ihm zwei Minuten.»

Es hörte sich so an, als würde sie denken: Wenn es denn unbedingt sein muss. Verärgert darüber wollte Koller sich äußern. Aber sie würdigte ihn keines Blickes mehr. Er schob seine Wut beiseite. Er würde später seine Meinung dazu sagen. Ich glaube, sie ist eine Zicke!, dachte er und war absolut nicht erfreut darüber, dass seine Vorgesetzte eine Frau war und ihm auch noch etwas zu sagen hatte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

«Reine Quelle»

 

Donnerstag, 04.07.2019

Bevor Koller sich den Toten ansehen konnte, dokumentierten die Kriminaltechniker die Auffindesituation der Leiche und wandten sich dann den Spuren zu.

Koller blieb neben Dr. Kaper stehen, der das Opfer ausgiebig untersuchte.

Er fragte: «Was meinen Sie, wie lange liegt er hier schon?»

Aufgrund der Totenflecke würde ich sagen, er liegt schon seit gestern Abend hier. Aber die genaue Diagnose überlasse ich lieber meinen Kollegen aus der Rechtsmedizin. Er stellte den Totenschein aus und verabschiedete sich.

Koller sah sich ausgiebig in dem Frisörsalon «Reine Quelle» um, obwohl der Spurensicherung das nicht passte. Sie mahnten ihn, er solle nichts verändern. Als ob er das nicht wüsste. Auf dem Frisiertisch vor dem Stuhl, wo der Tote lag, befand sich ein wenig eingetrockneter Schaum. Er folgerte daraus, dass jemand rasiert worden war. Handelte es sich bei dem Mordwerkzeug um ein Rasiermesser? Die Wunde würde dazu passen. Aber wo war es? Er suchte unter dem Stuhl und in der näheren Umgebung, fand aber keins. Er hielt es für besser, zunächst darüber zu schweigen. Mal sehen, was diese Kim dazu zu sagen hatte.

Im Kommissariat herrschte große Aufregung. Niemand kümmerte sich um den Neuen. Er stellte sich hinter die Gruppe, die Kim offensichtlich zusammengerufen hatte. Alle hatten sich auf das bevorstehende Wochenende gefreut und fürchteten nun das Schlimmste. Ein Mordfall bedeutete Arbeit rund um die Uhr und eine Vorgesetzte wie Kim kannte kein Pardon. So zart und zerbrechlich sie im ersten Moment wirkte, so zäh und unnachgiebig war sie. Beim Kickboxen hatte sie es schon bis zum ersten Schwarzen Gürtel geschafft und sie arbeitete regelmäßig daran, noch weiter zu kommen. Aber da sie im Sommer ausschließlich weite Blusen oder T-Shirts trug, sah man ihren durchtrainierten Körper nicht und sie legte auch keinen besonderen Wert darauf, dass man ihr irgendwelche Fähigkeiten ansah.

Als Kim den Raum betrat, wurde es mucksmäuschenstill und alle Augen richteten sich auf ihre Vorgesetzte.

«Es tut mir leid, Kollegen», sagte sie, «aber wie ich gerade erfahren habe, haben wir es mit noch einem weiteren Fall zu tun.»

Ein Raunen ging durch die Gruppe.

«Der Vergewaltiger hat wieder zugeschlagen. Diesmal handelt sich um eine 84-jährige Frau aus Rastede. Das ist aber noch nicht alles. Sie wurde ins Krankenhaus nach Varel zur Untersuchung gebracht, was ihr ausdrücklicher Wunsch war. Von dort aus ist sie spurlos verschwunden.»

Kim holte tief Luft, bevor sie weitersprach.

«Die Vergewaltigungsopfer scheinen immer älter zu werden, das ist sehr ungewöhnlich. Ein Muster, wonach der Täter sich richtet, ist noch nicht zu erkennen. Mittlerweile haben die Hauptermittler in Oldenburg ein Sonderdezernat gebildet und wir sollen ihnen zuarbeiten. Genauso wie die Kollegen aus Rastede und die weiteren betroffenen Polizeidienststellen. Die Oldenburger sind auf jegliche Hilfe angewiesen. Ob der letzte Fall mit den vorigen Vergewaltigungen zusammenhängt, ist offen. Es wird in alle Richtungen ermittelt. Da wir seit heute Morgen jedoch einen Mordfall in Varel haben, werden wir wohl nur wenig Zeit haben, uns intensiv damit zu beschäftigen. Aber jetzt noch etwas Erfreuliches: Wie man mir weiter mitgeteilt hat, werden wir einen Quereinsteiger als Verstärkung bekommen, der gerade die Polizeiakademie beendet hat. Felix Henrich. Er hat sein Jurastudium abgebrochen. Warum auch immer. Er muss jeden Augenblick hier aufkreuzen. Er wollte sich heute Nachmittag vorstellen.»

Koller, der sich im Hintergrund hielt, sah einen lang aufgeschossenen jungen Mann in der Tür stehen. Eine helle Stimme sagte: «Ich bin schon da.»

Ach du Scheiße, ein Schwuler, dachte Koller. Geschniegelt und gestriegelt.

Kim drehte sich zu ihm um und bemerkte jetzt auch Koller, der immer noch auf den jungen Mann starrte.

«Somit haben wir gleich zwei neue Kollegen.» Sie stellte nacheinander beide Männer vor.

Zuerst Felix Henrich, dann Jannek Koller.

Koller bemerkte die Reihenfolge. Sie kann mich nicht ausstehen, dachte er.

«Wir kümmern uns natürlich vorrangig um unseren Mordfall», erklärte Kim. «Die Vergewaltigung aus Rastede dürfen wir aber nicht außer Acht lassen. Zusammenfassend kann ich zu dem Mord im Frisiersalon noch nicht sehr viel sagen. Der Tote war offensichtlich der Chef des Salons. Milla, du übernimmst die Recherche am Rechner. Finde alles über ihn raus und stelle eine Liste des Personals zusammen.»

Milla, die jüngste Kommissarin im Team, nickte, setzte sich sogleich vor ihren Bildschirm und tippte los. Ihr rotblonder Pferdeschwanz wippte, als wäre er hocherfreut.

Koller registrierte sie wohlwollend. Nicht übel, die Kleine.

«Bremer, du befragst die Nachbarschaft und kümmerst dich um das Personal des Frisörsalons, sobald Milla dir eine Liste geschickt hat», gab Kim weitere Anweisungen. Andreas Bremer war Oberkommissar und schon lange in der Abteilung. Er war als besonnener Kollege ein Ruhepol in der Gruppe.

«Wir treffen uns um siebzehn Uhr zur Besprechung und anschließend müssen wir uns wohl der Presse stellen. Felix, ich darf doch Felix sagen?», wandte sie sich jetzt an den langen Kerl, der immer noch neben Koller stand. Er nickte. «Gut Felix, Sie begleiten Bremer. Und Koller, wir treffen uns in meinem Büro. Jetzt!»

«Halt! Nicht so schnell. Vorerst möchte ich ein paar Worte mit ihm wechseln.» Koller bemerkte den Vorgesetzten Meisner, der ihn begrüßt hatte. Seine Stimme klang ärgerlich.

Kim blieb abrupt stehen und sah dem Mann in die wässrigen Augen. «Sorry! Ich dachte ...»

Meisner unterbrach sie. «Du sollst nicht denken.» Er stutzte: «Jedenfalls nicht jetzt. Kommen Sie, Koller!»

Koller folgte ihm in sein Büro.

«Setzen Sie sich», forderte er ihn auf.

«Danke, ich stehe lieber.»

«Sie sollen sich setzen!», posaunte Meisner.

In Koller regte sich Widerstand. Er zögerte, setzte sich dann jedoch, wie geheißen.

«Sie müssen hier nicht den großen Macker spielen», schnaubte der Chef, sah dann jedoch auf, als hätte er sich über seine eigenen Worte erschrocken und nahm sich zurück. Jetzt fuhr er etwas ruhiger fort: «Sorry, ich wollte nur sagen, hier sind Sie Hauptkommissarin Kim untergeordnet und ich möchte, dass Sie das respektieren. Auch wenn Sie in Oldenburg Leiter einer Einsatzgruppe waren. Dass Sie es nicht mehr sind, haben Sie sich ja»....

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 06.08.2021
ISBN: 978-3-7487-9085-3

Alle Rechte vorbehalten

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