Cover

Über dieses Buch:

 

Es geht weiter mit der Geschichte um Katja, Meldrit, Ela und Sandra, die sich seit der Schulzeit kennen. Die nachfolgenden Jahre rissen die Clique mehr oder weniger auseinander. Jede Einzelne von ihnen lebte ihr Leben, traf ihre Entscheidungen und trug ihr schweres Päckchen. Bis auf eine, die schon damals nicht mehr leben wollte.

Was erwartet uns und die Protagonistinnen? Heikle Beziehungskisten, häusliche Gewalt, ein Wahnsinniger. Aber auch eine schöne unterfränkische Stadt, atemraubende Momente voller Magie und das, was wahre Freundschaft ausmacht.

All die verstörenden Fragen, die im ersten Teil von „Späte Entscheidungen“ aufgekommen sind, suchen dringend nach Antworten. Und nun blicken diese vier Frauen dem baldigen Klassentreffen entgegen - nicht ahnend, dass es ganz anders verlaufen wird als gedacht.

 

Copyright © 2021 Hilde Willes – publiziert von telegonos-publishing

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Cover: Kutscherdesign

 

 

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ISBN der Printversion: 978-3-946762-38-6

Kontakt zur Autorin über die Verlagshomepage

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

 

 

Späte Entscheidungen

 

Wunschsteine

 

 

 

 

Hilde Willes

 

 

 

 

telegonos-publishing

 

 

 

 

 

 

 

 

Als der Jäger ein paar Schnitte gemacht hatte,

sah er das rote Käppchen leuchten,

und noch ein paar Schnitte,

da sprang das Mädchen heraus und rief:

Ach, wie war ich erschrocken, wie war’s so dunkel in dem Bauch des Wolfes!»

 

 

Was bisher geschah …

 

Erinnern Sie sich noch an die Pentagonis – an Katja, Meldrit, Ela, Sandra? Und an Juliane?

Als sie noch zur Schule gingen, waren sie beste Freundinnen gewesen - fünf Mädels mit großen Träumen, heißen Wünschen und starken Plänen. Hands up, wir können alles, was wir wollen!

Die nachfolgenden Jahre haben die Clique auseinandergerissen. Jede einzelne von ihnen lebte ihr Leben, traf ihre Entscheidungen und trug ihr Päckchen. Bis auf eine, die schon damals nicht mehr leben wollte.

Auf der Party zu Sandras 50. Geburtstag kommt die Idee auf, ein Klassentreffen zu veranstalten. Die alleinstehende Journalistin Katja nimmt die Sache in die Hand und setzt sich unter anderem mit Ela in Verbindung, von der sie viele Jahre lang nichts mehr gehört hat. Ela lebt mit ihrer Familie in Würzburg, und schon bald findet sich dort auch eine passende Lokalität für das geplante Event.

Einzig zu der in Hamburg lebenden Immobilienmaklerin Meldrit war der Kontakt nicht abgebrochen, und für Katja ist es wieder einmal an der Zeit für einen Besuch an der See. Doch diesmal ist es anders. Befremdlich. Direkt bei ihrer Ankunft spürt Katja, dass mit ihrer besten Freundin irgendetwas nicht stimmt. Diese aber hält sich bedeckt, lenkt beharrlich ab.

Sie hat sich in einem reizenden Ostseebad ein Häuschen gekauft. Katja verliebt sich sofort in das Cottage by the Sea - ungünstiger Weise auch in Nils, Mels Nachbarn. Wissen Sie noch, dieser künstlerisch angehauchte Zahnarzt, der sich absentiert hatte. Gewissermaßen.

Wohin Katja auch blickt, überall herrscht plötzlich ein seltsames Gefühls-Chaos. Sogar sie selbst kriegt ihre Empfindungen nicht mehr sortiert. Und dabei könnte alles so schön sein. So schön wie das Meer und dieser Ort, der noch immer das Flair des einstigen Fischerdorfes innehat, welcher er einmal gewesen war. Die beiden Frauen baden in Sonne, Wind und Meer und genießen süffige Cocktails im Anno Dazumal, dem urigen Lokal, welches Ricardo gehört. Sie lachen und plaudern, doch wirklich miteinander reden tun sie nicht.

Was ist los mit Meldrit, die sich Katja gegenüber nur bruchstückhaft öffnet? Warum braucht sie diese Hammer-Schlaftabletten, um zur Ruhe kommen zu können. Wie wichtig ist Mel der Italiener, in dessen Café ein Porträt von ihr hängt? Und welche Rolle spielt Nils in ihrem Leben, zu dem sich Katja in verwirrender Weise hingezogen fühlt. Es fällt ihr schwer, sich dagegen zu wehren.

Zudem gibt es ja längst einen Mann in ihrem Leben, von dem sie nicht loskommt, obwohl er mit einer anderen Frau verheiratet ist. Einer Frau, die Katja gut kennt. Darüber hinaus glaubt sie, dass Nils Meldrit viel mehr bedeutet, als diese zugibt. Deshalb will und kann Katja ihre Freundin nicht hintergehen. Allerdings bringt ein aufregend romantischer Abend mit Sex on the Beach Katja so was von durcheinander, dass sie Hals über Kopf abreist.

Zuhause wird sie von Chris erwartet, ihrer langjährigen Affäre - Sandras Ehemann. Doch alles fühlt sich auf einmal so verändert an. Des Weiteren schreckt ihre Nachbarin Edith sie mit der Hiobsbotschaft, dass Katjas Vater einen Herzanfall erlitten habe. Bei den Besuchen im Krankenhaus kommt es zu tiefgreifenden Gesprächen zwischen Vater und Tochter, bei denen er Bekenntnisse über ihre Mutter preisgibt, die Katja schwer zu schaffen machen. Was er zu sagen hat, passt so gar nicht mehr zu seinem sonstigen Lebensmotto: Nimm es leicht, das Leben und die Liebe

Während Katja sich mit all diesen irritierenden Dingen auseinandersetzt, steht Ela unversehens vor Meldrits Tür. Weshalb diese gar nicht dazu kommt, sich großartige Gedanken über Katjas abrupte Abreise zu machen. Auch Ela ist geflüchtet – weg aus ihrem unglücklichen Zuhause und vor den Menschen dort, die sie mehr und mehr auffressen. Kaum angekommen im Cottage by the Sea wird sie krank. Mel hat alle Hände voll zu tun - mit dieser Situation um Ela, sowie mit ihren eigenen quälenden Geistern aus der Vergangenheit.

Auch bei Sandra läuft es nicht rund im Leben, und das nicht erst seit gestern. So gesehen hat sie zwar alles erreicht, was sie meint, haben zu müssen und was sie sich als junges Mädchen erträumte, doch dass ihr etwas Entscheidendes fehlt, ist ihr nicht wirklich klar. Jahrelange Gefühlskälte stumpft den Menschen ab, selbst wenn man nach außen wie die Schneekönigin auf dem Siegertreppchen dasteht. Selbst ihr gut situiertes Dasein im netten Einfamilienhaus kann Sandras Missmut nicht auffangen. Was ebenfalls der Mann, den sie einmal so sehr gewollt und letztlich auch geheiratet hatte, ebenfalls nicht vermag. Denn was nützt einem schon ein goldener Käfig, in dem es keine Wärme gibt?

Manchmal beneidet Sandra ihre neue Bekannte Mandolina, ohne zu ahnen, dass diese in einem noch viel kälteren (irdischen) Jammertal haust.

Und doch kann das Leben schön sein, etwa nicht?! Zumal eine Feier in Sicht ist, ein kleines Highlight, ein bisschen Freude und Spaß. Amüsement. Erinnerungen. Aufsteigende Bilder …

Ja, das Leben ist schön, von einfach war nie die Rede!

Katja, Meldrit, Ela und Sandra – sie alle blicken dem baldigen Klassentreffen entgegen. Nicht ahnend, dass es ganz anders verlaufen wird als in Frieden, Freuden, Feierei.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Eine Spur von Leichtigkeit

 

„Bist du fremdgegangen, Vater?“

Sein Kopf sank in das weiße Krankenbettkissen, als überfiele ihn eine jähe Schwäche. Oder ein herber Schlag, der ihn traf. Doch seine Stimme klang ruhig und fest: „Nicht ein einziges Mal!“

„Aber Mama hat das gedacht?“

Er nickte still. „Hat sie sich deshalb…?“

„Vielleicht. Aber da gab es noch etwas anderes.“

„Was, Papa, was?“

Er nahm die Wasserflasche und goss sich den Becher voll, der auf dem fahrbaren Tisch neben seinem Bett stand. „Hol dir auch ein Glas.“

„Ich habe keinen Durst.“

„Hol dir eins, Kind!“

Katja erhob sich zähneknirschend, um draußen im Flur auf einer Anrichte dieses verdammte Trinkglas zu holen. Sie war zwar ungeduldig, registrierte indes, dass ihr Vater scheinbar eine Pause brauchte. Sie hoffte jedoch, dass diese nicht zwangsläufig das Ende ihres Gespräches bedeutete. So, wie es stets gewesen war, wenn Katja nach ihrer Mutter gefragt hatte, wenn sie wissen wollte, was der Grund dafür gewesen sein könnte, warum sie sich umgebracht hatte. Außer vagen, ausweichenden Antworten hatte Katja bislang nichts erhalten. Genauso wie letztens erst von Meldrit. Warum machten sie nur alle aus ihren Herzen solche Mördergruben?

Als sie zurückging, stampfte sie innerlich mit dem Fuß auf, wild entschlossen, jetzt und hier ebendiese Gruben weiter auszuheben. Gerade schon schnappte sie nach Luft und wollte ansetzen etwas zu sagen - zu fordern - als sein Blick ihr den Wind aus den Segeln nahm. „Setz dich wieder, Katja, trink einen Schluck und hör zu!“

Und das Fräulein Tochter gehorchte, trank das Glas in einem Zuge leer und merkte, dass es ihr tatsächlich guttat, weil die Krankenhausluft trocken war. Als er anfing, weiterzuerzählen, spitzte sie die Ohren.

„Du weißt, dass ich deine Mutter seit unserer Kindheit kannte. Ich habe mich schon in den ersten Schuljahren in sie verliebt. Sie war …“ In seinen Augen schimmerte es. „Als junges Mädchen so herrlich fröhlich und als Frau … Sie war einfach wunderbar.“ Er schluckte schwer, ehe er weitermachen konnte. „Aber irgendwo in ihr gab es auch eine dunkle Seite. Ich glaube, das hat sie selbst überrascht. Und erschreckt. Immer wieder aufs Neue. Sie wusste wohl ebenso wenig damit umzugehen wie ich. Das Leben mit ihr war ein einziges Auf und Ab, Himmel und Hölle, Feuer und Wasser. Ja, so könnte man sagen …“

Er faltete seine Hände und schaute hinauf an die Decke, als wüsste er nicht, wohin er sonst blicken sollte, um sich zu konzentrieren. Auf das, was er sagen wollte, erklären wollte. Als ob die richtigen Worte dort oben stünden. „Vielleicht, wenn ich achtsamer gewesen wäre“, setzte er erneut an. „Wenn ich kapiert hätte, dass das, was ich ihre dunkle Seite nenne - also diese Schwermut, die sie manchmal innehatte - aber auch ihre Wut, die Ausraster, also, ich meine … Meistens hab ich’s als weibischen Zickenkram abgetan. Sah es nicht als das, was es war, nämlich eine Krankheit. Es fing an, als du noch ein kleines Kind gewesen bist, Katja. Von Jahr zu Jahr wurde es schlimmer. Vielleicht, wenn ich sie zu einem Arzt gebracht hätte …“

Das Reden fiel ihm schwer, überdies die Erinnerungen. Und die Vorwürfe, die er sich bis anhin wohl immer noch machte. „Das heißt, ich war sogar bei unserem Arzt gewesen wegen deiner Mutter. Aber nur ein einziges Mal. Fragte ihn um Rat und er antwortete, dass er nicht viel für sie tun könne. Er schrieb eine Überweisung für einen Facharzt aus, einen, der sich mit Depressivität auskenne. Aber deine Mutter wollte dort nicht hin, sie wehrte sich mit Händen und Füßen, und ich habe nicht weiter drauf bestanden. Vielleicht, weil … hab ich’s nicht richtig ernstgenommen? Dachte ich, allein durch meine Liebe würde alles gut? Dass sie ausreicht, um eine dunkle Seite zu bekämpfen? Katja, verdammt, ich habe das alles zu leichtgenommen, wie ich vieles zu leicht nehme im Leben. Bei deiner Mutter habe ich versagt. Ja, das habe ich.“

Seine Worte gingen in ein raues Schluchzen über und Katja legte bestürzt ihre Hand über seine Hände, die sich wieder eiskalt anfühlten. „Hör auf, Papa, lass uns ein anderes Mal darüber sprechen!“ Sie machte sich Vorhaltungen, ihn gerade jetzt in dieser seiner Situation mit ihren Fragen bombardiert zu haben. Aber er schüttelte den Kopf, rappelte sich hoch und suchte nach der Fernbedienung, mit der er das Bett verstellte, um sich in eine sitzende Haltung zu manövrieren. „Nein, Katja. Lass es uns zu Ende bringen. Du hast ein Recht darauf, Antworten zu bekommen. Längst schon!“

„Aber es quält dich doch so.“

„Ja, das tut es, hat es immer getan und wird es auch morgen noch. Dennoch ändert es nichts an den Tatsachen. Und die solltest du erfahren. Wer weiß denn, ob ich …“

Morgen noch da bin?!

Katja starrte ihren Vater an mit großen Augen, wollte aufbrausen, wollte beschwichtigen, wollte diesen Wink nicht wahrhaben, mit dem er ihr zu verstehen gab, was sie selbst wusste und sorgenvoll betrachtete, nämlich, dass dieser Herzanfall auch schwerer hätte gewesen sein können.

„Katja, ich weiß es doch selbst“, fuhr er fort, noch ehe sie etwas sagen konnte. „Und bevor du dich aufregst, es geht mir besser, ja. Die Gefahr ist fürs Erste gebannt. Aber mir ist genauso klar geworden, dass dies alles hier auch ganz anders hätte ausgehen können.“

Katja stieß einen tiefen Atemzug aus, sagte: „Okay, Papa, aber wir könnten trotzdem morgen weitermachen.“

„Nein, wir tun es jetzt!“

Doch zuvor kam eine nette Krankenschwester hinein, um das Abendessen zu bringen. Brot, drei Scheiben Wurst, ein bisschen Käse, Mixed Pickles und einen Joghurt. Sie teilten brüderlich, und Katjas Vater meinte belustigt: „Dafür bringst du mir morgen aber eine Pizza mit!“

„Haha, aber nur eine kleine, und nur, wenn du brav bist und dich sonst an alles hältst, was die Ärzte dir sagen!“

Er lachte und räkelte sich in seinem Krankenbett zurecht, erzählte weiter: „Eines Tages lernten wir eine Frau kennen. Sie war neu in der Stadt und unglücklich verliebt. Ihr Kerl meinte es nicht gut mit ihr. Und dabei war sie nur wegen ihm hergekommen, hatte alles Vorherige aufgegeben. Nun stand sie da, war todunglücklich und wusste nicht mehr weiter. Sie vertraute sich mir an. Ich habe sie getröstet und ihr geholfen, wieder zu sich zu kommen, eine Wohnung zu finden, einen Job. Denn trotz allem wollte sie nicht mehr zurückgehen, sie wollte hierbleiben.“

„Edith?“, warf Katja ein. Er stutzte. „Sie hat es dir erzählt?“

Katja gab den vergangenen Abend wieder, auch, dass sie eingeschlafen war auf Ediths Sofa. Worüber er lächelte. „Hat sie noch immer dieses rote, samtene Teil?“

„Ja, hat sie.“

„Und ihre Suppe ist gut, nicht wahr?“

Katja grinste. „Ja, ist sie.“

„Du hast mich vorhin gefragt, ob ich deine Mutter betrogen hätte …“

„Selbst wenn, Vater, selbst wenn …“

„Unterbrich mich nicht!“

„Ich wollte doch nur sagen, dass ich dich trotzdem nicht verurteilen würde. Glaubst du nicht, dass ich längst weiß, dass viele Dinge im Leben zwei Seiten der Medaille haben.“

„Ich weiß, dass du das weißt. Und trotzdem sag ich’s dir in aller Deutlichkeit: Ich habe es nicht getan! Weil ich mich sonst selber schwer verurteilt hätte. Aber ich will zugeben, dass ich manches Mal nahe dran gewesen bin.“

„Edith?“

„Ja, auch bei ihr. Aber ich konnte es nicht. Irgendwas hat mich im letzten Moment immer gestoppt. Selbst wenn ich ein Mann bin.“ Er lächelte verschmitzt. „Na ja, immerhin sagt man unserem Geschlecht ja nach, dass wir gerne unsere Beherrschung verlieren, wenn das Ding zwischen unseren Beinen das Kommando übernimmt.“

„Soso!“ Es fühlte sich sonderbar an, über solche Dinge zu sprechen – mit ihrem Vater. „Wie auch immer, Katja, für mich hat es nie eine andere Frau gegeben.“

„Aber Mama hat dich doch genauso geliebt?!“

„Ja. Sehr. Zu sehr. Und auf eine furchtbar kranke Art.“

„Weil sie so eifersüchtig war?“

„Das auch.“

„Was noch, Vater? Ist sie denn fremdgegangen?“

Er nickte still. Blieb einige Momente schweigsam, in denen er ganz offensichtlich nach Worten suchte.

„Ich wollte nicht, dass du das erfährst. Du solltest nicht schlecht denken über sie.“

„Ich bin erwachsen, Papa!“

„Ja!“

„Und ich kann durchaus differenzieren.“

„Ja, ich weiß.“

„Es ist wichtig, dass du mit mir über diese Dinge sprichst.“

„Das ist mir klargeworden.“

„Hat sie es getan, weil sie dachte, du würdest es tun? Mit Edith zum Beispiel?“, schlussfolgerte Katja, woraufhin er abermals nickte. „Ja, aber auch schon vor der Geschichte mit Edith.“

Hhm!“ Sie war krank, einfach nur krank. Aus Liebe?!

Und Katjas Vater offenbarte: „Dann wurde sie noch einmal schwanger.“

„Davon weiß ich ja gar nichts!“, begehrte Katja auf und spürte, wie ihre Wangen anfingen zu glühen. „Wann war das denn?“

„Kurz nach deinem Abiball damals, da habe ich es gemerkt.“

„Du hast es bemerkt? Ja, hat sie es dir denn nicht gesagt?“

„Nein, hat sie nicht.“

„Aber warum?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Kann nur mutmaßen, dass sie …“

„Nicht sicher wusste, wer der Vater dieses Kindes war?“, vollendete Katja den abgebrochenen Satz, und wie ein Blitzschlag kam ihr der eigenartige Traum wieder in den Sinn, den sie gehabt hatte auf Ediths Chaiselongue.

Wie krass, wie abgedreht!

Welche Bedeutung hatte das alles, wenn es überhaupt eine hatte und nicht einfach NUR all diesem unsortierten seelischen Kram der letzten Zeit geschuldet war?! Die Sache mit dem Kind im Traum war allerdings wirklich ominös, denn eigentlich hatte Katja dies mit Meldrits Angelegenheit in Verbindung gebracht. Sie war ja auch in dem seltsamen Traum erschienen. Denk nicht weiter drüber nach!

Man träumte so viel, wenn die Nacht lang war, mitunter auch am Tage.

Und trotzdem konnte Katja ihre Gedanken nicht einfach so beiseite wischen. Alles bloß Zufälligkeit? Oder gab es doch irgendwelche Dinge zwischen den Welten? Das fragte sie sich, während sie durch die Krankenhausflure ging, nachdem sie sich von ihrem Vater verabschiedet hatte, der hernach doch reichlich müde und angegriffen gewesen war.

Auf dem Weg zum Auto kam das nächste Ding, Katja traf auf Sandra. Und Chris.

„Was machst du denn hier?“, rief Sandra aus. „Ich dachte, du bist in Hamburg.“

Also hat sie es doch mitbekommen!

„Oh, hallo!“ Katja mühte sich, Chris‘ Blick nicht zu begegnen. Nach dem, was gewesen war, hätte sie jegliche Art von Botschaft, die vielleicht in seinen Augen zu lesen gewesen wäre, just im Moment nur schwer ertragen. Mit dürren Worten erwähnte sie den Herzanfall ihres Vaters, hatte indes noch die Höflichkeit, sich zu erkundigen: „Und was führt euch hierher? Ist etwas passiert?“

Im Gegensatz zu Katja klärte Sandra ein Stück weit ausgedehnter auf, welch schweren Asthmaanfall ihr Sohn gehabt habe, so schlimm, dass ihn der Hausarzt einweisen ließ. Nun seien sie auf dem Weg zu seinem Krankenbett, um ihre Töchter abzulösen, die dort für einige Zeit Wache gehalten hatten. Sozusagen.

„Ich hoffe, dass es Benni bald besser geht.“

„Das tut es schon, er ist hier in guten Händen.“

Wie Katjas Vater auch.

Man wechselte noch ein paar artige Floskeln, um dann wieder auseinanderzugehen. Und auch, wenn sie es nicht wollte, wandte Katja sich nach ein paar Schritten noch einmal um. Genau im gleichen Augenblick, als Chris dies tat, und der stumme Austausch – für Sekunden nur – fasste Katja schwer an. Trotz allem, was gewesen war. Oder vielleicht sogar gerade deswegen.

Oh Mann!

Was, wenn sie ihr Tête-à-Tête nicht vorzeitig beendet hätte, wenn sie jetzt noch immer mit Chris in dieser Pension wäre und sie sich dort fröhlich verlustieren würden, während sein Sohn und ihr Vater … Ein Königreich für eine Zigarette!

 

Später, als Katja schlafen gehen wollte, rotierte es in ihr, als säße sie in einem ultraschnellen Karussell. Im Küchenschrank befand sich nur Schwarztee, Melisse gab er nicht her. Und Edith schlief sicher schon.

Im Augenblick wäre Katja ohnehin nicht imstande gewesen, mit irgendjemandem zu reden. Worüber denn auch, bzw. worüber zuerst?

Meldrit schied schon deswegen aus, weil Katja noch immer ein schlechtes Gewissen hatte, einfach abgehauen zu sein, und das versprochene Telefonat hatte sie auch noch nicht eingehalten. Und Chris …

So, wie es aussah, war er also nach ihrem misslichen Abschiedsakt nach Hause gefahren, gerade rechtzeitig, um da zu sein für seinen Sohn. Und für seine Frau. Na dann …

 

Katja wälzte sich hin und her. Es wollte nicht aufhören, in ihrem Kopf zu brummen. Vieles, was ihre Mutter betraf, hatte sie bereits gewusst, ohne es wirklich gewusst zu haben. Nur das mit dem Geschwisterkind, das ging sie wirklich arg an. Ferner die Vorwürfe, die sich ihr Vater nach wie vor machte … am Freitod seiner Frau, Katjas Mutter.

Ebenfalls Meldrits unausgesprochene Probleme, auch das waren zentrale Fragezeichen, die Katja nicht zur Ruhe kommen ließen. Und auch Michelmann hätte sie am liebsten einfach in irgendeiner Schublade verschwinden lassen, ganz nach dem Motto: aus den Augen, aus dem Sinn. Das, was man nicht mehr sieht, vergisst man … vielleicht.

Dieses penetrante Gedankenkarussell, es hielt vom Schlafen ab wie schlechte Träume. Ein Hypnotikum würde Katja aber trotzdem nicht schlucken. Zum einen, weil sie so etwas nicht daheim hatte und zum anderen … siehe Mel!

Die Dinge mussten von selbst wieder ins Lot kommen. Auf irgendeine Weise. Und solches, das war Katja wohl bewusst, kostete unter Umständen eine Menge Nerven. Und Zeit. Vielleicht half auch eine Spur von Leichtigkeit.

 

In der Wohnung über ihr schepperte etwas. Katja schreckte hoch. Diese verrückten Leute, die da wohnten, mussten die mitten in der Nacht derart rücksichtslos umherhantieren?! Laute Musik folgte – unglaublich! Eine gute halbe Stunde dauerte der Spuk an, Katja war schon drauf und dran gewesen, mit dem Besenstiel kräftig an die Decke zu klopfen, als von jetzt auf gleich wieder Ruhe herrschte.

Boah!

Den beiden da oben würde ein bisschen mehr Leichtigkeit sicher genauso wenig schaden.

 

Als sie endlich eingeschlafen war, sah sie sich barfuß auf einer Sommerwiese stehen, das Gras war kühl und feucht vom Morgentau. Im Hintergrund thronte die Ruine. Jemand kam auf sie zu und fasste nach ihrer Hand. Die Finger, die ihre fest und behutsam umschlossen, fühlten sich warm an. So wie auch das Gefühl, das Katja durchflutete, als sie erwachte und sich verschlafen aufsetzte. Einige Momente lang spürte sie dem Klopfen ihres Herzens nach, das gegen die Rippen hämmerte, bevor sie sich aus dem Bett schwang. Wer oder was ihre Hand gehalten hatte, wusste sie nicht mehr, ein Traum halt, irgendeiner. Doch was sie empfunden hatte, war ein seltsam zärtliches Gefühl, gleich diesem Wahnsinn namens Liebe.

 

 

Da sie sich nur schwerlich auf ihre Arbeit konzentrieren konnte, klopfte Katja dann doch an Ediths Tür. Es ließ ihr keine Ruhe; sie musste einfach mit jemandem reden - über ihre Mutter.

„Ja, Katja“, meinte Edith, nickte und braute wieder Melissentee. Weil er das Herz tröstet und die Traurigkeit wegpustet …

„Ihr Vater hatte mir von der Schwangerschaft erzählt, damals, nach der Verzweiflungstat Ihrer Mutter.“ So konnte man einen Selbstmord wohl nennen. Verzweiflungstat!

„Ich hätte also eine kleine Schwester haben können. Oder einen Bruder“, seufzte Katja ob dieser Tatsache, die sie nach wie vor nicht fassen konnte, und die sie ziemlich traurig machte. Edith schob ihr die gefüllte Tasse samt dem Zuckerstreuer rüber und blickte sie an mit so viel Mitgefühl, was Katja ungemein guttat.

„Papa vermutet, dass sie sich deshalb umgebracht haben könnte, und auch, weil sie vielleicht nicht wusste, von wem das Kind war. Sagen Sie, Edith, hatte sie denn wirklich so viele Männer zur gleichen Zeit?“, stellte Katja diese Frage, die sie ganz schön tangierte.

„Sie hat den Freitod gewählt, weil sie krank gewesen ist. Oder sagen wir es so, sie war angefüllt mit krankhaften Leidenschaften. Das ist mit Gewissheit zu sagen, alles andere bleibt eher vage.“ Eine Antwort, mit der man sich zufriedengeben musste. Aber es war trotzdem schwierig für Katja, mit diesem Wissen nun zurechtzukommen. Es war doch nur ein Stochern im Nebel, denn die einzige Person, die ihr echte Rückmeldungen hätte geben können, lag auf dem Friedhof.

 

Alle möglichen und unmöglichen Gedanken brodelten in Katja, doch sie bekam nichts wirklich sortiert. Deshalb war sie beinahe froh, als am Abend das Handy brummte und Meldrit anrief: „Mensch, Katja, was ist denn los? Wir wollten doch telefonieren!“

„Entschuldige Mel, aber bei mir geht im Moment alles drunter und drüber.“

„Was ist passiert?“

Katja berichtete vom Herzinfarkt ihres Vaters, was sie immerhin als plausible Erklärung sowie gute Entschuldigung für ihre Flucht aus dem Cottage by the Sea anführen konnte. Allerdings lenkte sie hernach rasch um: „Nun erzähl mir doch erstmal von Ela!“

„Puh, ich sage dir, das ist vielleicht eine Chose“, berichtete Meldrit und schilderte, wie fix und alle ihre ehemalige Kameradin eingetroffen sei. „Dass Ela total am Arsch ist, habe ich ja schon gemerkt, als sie mich spätabends angerufen hatte. Deshalb lud ich sie spontan ein. Ich wusste nicht, was ich sonst für sie hätte tun können.“

„Wahrscheinlich das Beste, was du überhaupt machen konntest, Mel. Vielleicht ist’s deswegen gar nicht so übel, dass ich hopplahopp wegmusste.“

„Na ja, schade ist es trotzdem. Außerdem überfordert mich die Situation hier ganz schön. Aber logisch, mit deinem Vater, das geht natürlich vor!“

„Was ist denn mit Ela?“

„Gott, Katja, ihre Ehe scheint das absolute Chaos zu sein. Und ihre Kinder – Monster, sag ich dir, die reinsten Monster! Aber ich glaube, dass da noch einiges mehr ist.“

„Lass ihr Zeit! Wenn sie will, und wenn sie’s braucht, wird sie sich schon anvertrauen.“

„Ja, vielleicht! Und das Verrückte ist, dass sie trotz allem so bald wie möglich wieder zurückwill“, brauste Meldrit auf. „Was ich echt blödsinnig finde. Ich kriege sie einfach nicht davon ab. Also habe ich beschlossen, mit ihr zu fahren und ein bisschen auf sie aufzupassen. Wie schaut’s aus, Katja, meinst du, du würdest kommendes Wochenende irgendwie hinkriegen? Dann könnten wir uns auch gleich das Hotel angucken. Weißt schon, fürs Klassentreffen. Nils hat uns sogar seine Wohnung angeboten.“

„Hhm!“ Katja zögerte. Einrichten würde sie es bestimmt können. Im Grunde wäre diese Ablenkung auch sehr willkommen, doch Nils wollte sie keinesfalls so rasch wieder begegnen. Ehe sie eine konkrete Antwort geben konnte, vernahm sie Mels zerknirschtes Murmeln: Na ja, natürlich nur, wenn es geht.“ Doch es war mehr als deutlich herauszuhören, wie sehr sie hoffte, dass es ginge, also sprang Katja über ihren Schatten: „Okay, ich werde kommen. Meinem Vater geht es ja schon besser.“

„Oh Mann, Katja, ich bin heilfroh, dass du das sagst, dass es klappt bei dir. Weil ich echt ein bisschen Schiss habe vor der ganzen Situation. Ich weiß ja nicht, was mich erwartet in Würzburg, also wegen Ela. Wer weiß, wie der Kerl so drauf ist, also, ihr Mann, und die Kinder, diese Bande!“

„Na, wenn der Typ blöd macht, dann könnte Nils ihm doch Bescheid stoßen, oder nicht?! Das traue ich ihm zumindest zu, im positiven Sinne, meine ich.“

„Nils?!“

„Na ja“, rang Katja sich ab, das Gespräch auf Michel in groß und stark zu bringen. „Du hast doch was von seiner Wohnung gesagt.“

„Ach so! Nein, er kommt nicht mit, er stellt uns seine Bude bloß zur Verfügung.“

Oh! Das ist aber echt nett von ihm.“ Dem Herrn sei’s getrommelt und gepfiffen!

„Ja, total! Ich sag’s dir doch, er ist ein Wahnsinnskerl!“

Mit wahnsinns-wunder-blauen Augen!

Und so verblieben sie, Treffpunkt am kommenden Samstag: der Walfisch am schönen Main.

 

Solo noi, solo noi


Eine Spur von Leichtigkeit, besser gesagt, Ablenkung und Zerstreuung, das erhoffte sich Katja von Würzburg. Ihrem Vater ging es gut. In ein paar Tagen würde er aus dem Krankenhaus entlassen werden, sollte sich jedoch einer engmaschigen Betreuung bei seinem Hausarzt unterziehen, bis er die empfohlene Reha antreten konnte.

Bei einer leckeren Pizza, die sie ihm anderntags gebracht hatte, erzählte er Katja noch mehr von ihrer Mutter. Diesmal waren es bessere Erinnerungen von schönen Momenten, die es gewiss ebenfalls gegeben hatte. Überdies, weil sie wohl beide ein positives Andenken brauchten. Beim Abschied fasste Katja noch in Worte, was ihr unbedingt am Herzen lag: „Papa, ich will nicht, dass du dir weiter solche Vorwürfe machst. Du hast getan, was du konntest. Nicht alles im Leben liegt in unserer Macht, verstehst du?“

„Da hast du recht, aber so ganz können wir nie raus aus unserer Haut.“

„Ja, und das Herz malt auch immer ein bisschen über den Rand.“ Meldrits Worte.

„Hhm.“

Sie schauten sich an und nickten. Schwiegen. Für eine Weile. Ehe Katja aufstand. „Ich geh dann mal. Pass auf dich auf!“

„Mach ich! Und du auch auf dich!“

„Klar doch!“

„Und lass dich von der Liebe nicht kleinkriegen, mein Kind. Sie kommt und geht, ganz wie es ihr gefällt. Aber wenn sie dich wahrhaft sucht, dann wird sie dich finden.“

„Klingt ja wie im Märchen!“, grinste Katja.

„Ein Märchen hat seine Wahrheit und muss sie haben, sonst wäre es kein Märchen“(1), gab er zurück und lächelte dabei in sich hinein.

Katja war schon beinahe an der Tür, als er sie noch einmal aufhielt. „Meldrit hat dir wirklich nicht gesagt, was los ist?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, allerlei Andeutungen zwar, aus denen ich mir manches zusammenreimen kann, aber so richtig schlau werde ich nicht daraus.“

„Hhm, das ist tatsächlich merkwürdig. Ihr seid doch schon ewig gute Freundinnen.“

„Das ist es ja eben, Papa!“

„Pass auch auf sie auf, sei wachsam!“, sagte er.

„Alles, was mir möglich ist.“

Er nickte. „Mehr kannst du nicht tun. Gute Reise, Katja!“


Was sich auf die Schnelle erledigen ließ, leistete sie noch ab. Die Reisetasche war rasch gepackt, und der Laptop kam obenauf, vielleicht kam sie ja unterwegs dazu, an ihrem Roman weiterzuschreiben.

Einige Male war sie nahe dran, Chris anzuschreiben, da sie weiter nichts mehr von ihm gehört hatte. Was sie trotz allem bekümmerte. Besorgte. Nervte! Doch jedes Wort, das sie ins Handy tippte, kam ihr so unsinnig nichtssagend vor, dass sie es gleich wieder löschte. Auf diese Art mit ihm zu kommunizieren, fühlte sich einfach falsch an. Und unangemessen. Wenn überhaupt, dann musste sie ihm dabei in die Augen sehen, wiewohl es zu ihrem verunglückten Date nun wahrlich nicht mehr groß was zu sagen bzw. zu erklären gab. Allein der Gedanke daran, wie sonderbar kalt sie empfunden hatte, nachts im Bett dieses Pensionszimmers, verwirrte Katja enorm. Seufzend schnappte sie die Tasche und machte sich auf den Weg.

„Machen Sie’s gut!“, winkte Edith hinterher, als Katja ihr Gepäck samt Smartphone auf den Beifahrersitz warf und losfuhr. In einen strahlenden Sommermorgen hinein. Es war noch früh am Tag, aber man konnte schon jetzt getrost davon ausgehen, dass es wieder heiß werden würde. Diesmal fuhr sie mit dem Auto, es hatte zum Glück eine funktionierende Klimaanlage. Darüber hinaus, und das war Katja noch viel wichtiger, wollte sie unabhängig sein, auf dass sie jederzeit wegfahren könnte, wenn sie vielleicht nicht bleiben wollte, wo sie ankommen würde.

Gott, wie gerne hätte sie jetzt einen Spaziergang am Meer gemacht. Stattdessen fuhr sie eben ins Frankenländle, um einen Walfisch zu besichtigen.


Gegen Mittag war sie kurz vor Würzburg. An einem Rasthof hielt sie an für einen Toilettengang. Mit einem Coffee to go lief sie zurück zum Auto und angelte nach ihrem Handy, um die Navi App in Gang zu setzen, womit sie dann das besagte Hotel finden wollte. Doch als sie die drei Sprachnachrichten von Meldrit entdeckte und auch gleich abhörte, fühlte sich Katja wie vom Schlag getroffen.

Die erste war kurz nach ihrer Abfahrt von zuhause aufgesprochen worden: „Hey, Katja, melde dich doch mal! Vermelde Planänderung! Wir können nicht fahren. Ela ist krank geworden.“

Die nächste Nachricht, eine halbe Stunde später aufgenommen: „Schiet, Katja, du guckst nicht aufs Handy. Bist also tatsächlich schon auf dem Weg, oder? Ela hat irre hohes Fieber. Die kann ja keinen Schritt mehr laufen, ist wie im Delirium. Verdammt, was hat sie nur?! Ich raste noch aus hier. Muss einen Arzt anrufen, dass der herkommt. Melde dich, wenn du das abhörst!“

Und eine Stunde später folgte Meldrits letzter Erguss: „Also, pass auf, Nils hat sich auf den Weg gemacht. Ich habe ihn drum gebeten, damit du da nicht alleine rumhockst in Würzburg. In Gottes Namen, probiert zusammen diesen Walfisch aus, ob er schmeckt, haha! Mann, mir is‘ eigentlich gar nicht zum Lachen. Aber gut, ich meine, checkt das Hotel ab und macht die Chose klar. Wegen Ela, du weißt schon. Es liegt ihr doch so viel daran. Dann kann ich ihr was Schönes erzählen, wenn sie wieder klar im Kopf ist. Katja, es tut mir sooo leid, dass das alles so schiefgelaufen ist, aber das konnte ja keiner ahnen. Ela hat irgendeinen wilden Infekt, ne‘ Menge Medikamente gekriegt und Bettruhe angeordnet. Unbedingte Ruhe, hat der Arzt gesagt. Mit Heimfahren is‘ jetzt erstmal nix. Das müsst ihr der Monsterfamilie verklickern, ja? Wenn du es nicht machen willst, Nils kriegt das schon hin. Wir haben alles besprochen. Warte vor diesem Walfisch auf ihn. Er kommt so schnell wie möglich und nimmt dich dann mit in seine Wohnung, dann brauchst du kein Hotelzimmer bezahlen. Vorsichtshalber schicke ich dir mal seinen Kontakt, man weiß ja nie, was unterwegs auf den Straßen so los ist. Dann könnt ihr euch abstimmen. Alles klar?! Und lass uns später nochmal telefonieren. Ich leg mich jetzt ein bisschen hin, bin sowas von k. o. nach dieser Nacht. Ela ist fürs Erste versorgt, die schläft auch. Alsdann, Bussi und toi toi toi!“

Mit offenem Mund starrte Katja auf ihr Handydisplay, das inzwischen schon längst wieder dunkel geworden war. Dann rannte sie zurück in den Rasthof, um sich ein Päckchen Zigaretten zu kaufen.


Und zwei weitere Stunden später wartete sie auf die Mannsperson, der sie vor nicht allzu langer Zeit davongelaufen war, weil er ihr näher ging, als ihr lieb war. Herrschaftszeiten nochmal, nun würde sie Michel in groß und stark doch schon bald wieder begegnen! Oh, nein! Oh … doch! Angesichts dessen hatte Katja auf dem Rasthof gleich zwei Glimmstängel hintereinander durchgezogen. Und gedacht: Und du schickst ihn mir auch noch her, Mel - seelenruhig!

Dann war sie weitergefahren – gezwungenermaßen - obwohl sie am liebsten direkt umgekehrt wäre. Auf dem Weg zum Hotel hatte sie ständig einen Zahnarztstuhl vor Augen. In ihrem Bauch rumorte es wie nur was, und sie hatte ihre liebe Not, sich auf den Verkehr zu konzentrieren, ferner, diesen Walfisch zu finden.

Reiß dich am Riemen, Fräulein Katja, und die Sache runter!


Vielleicht konnte man es ja beschleunigen? Die Planungen fürs Klassentreffen hatte sie inzwischen bereits gemanagt, das war in groben Zügen unter Dach und Fach. Im Prinzip könnte sie jetzt direkt heimfahren. Bei Elas Bagage aufzuschlagen wäre für Nils bestimmt kein Problem. Dafür würde er Katja nicht brauchen, die auf sowas ohnehin keinen Bock hatte. Wer wusste schon, was sie dort erwartete?! Monsterfamilie, O-Ton von Meldrit.

Aufgeregt und unschlüssig wanderte sie auf dem flauschigen Teppich ihres Hotelzimmers hin und her. Ein gemütliches Bett, ein Sessel, ein rundes Tischchen mit Glasplatte, auf dem ein Blumensträußchen stand. Fernseher, Minibar, Bad mit Toilette und Dusche. Und durchs Fenster bewunderte Katja einen herrlichen Ausblick auf den Weinberg, auf dessen Anhöhe die Festung Marienberg thronte. Wie toll wäre es doch gewesen, jetzt mit Ela und Meldrit gemeinsam einen Spaziergang dorthin zu machen. Das Wetter war herrlich, die Sonne lachte. Sich förmlich ins Fäustchen, wie es Katja vorkam, weil nun ja alles anders ablief als geplant.

So haben wir nicht gewettet! So nicht! Dass anstelle ihrer Freundinnen dieser Mann jeden Moment eintreffen würde, wie er ihr vor wenigen Minuten per WhatsApp mitgeteilt hatte.

Offenbar hatte Mel Gewissensbisse gehabt, weil Katja die Dinge vor Ort nun alleine regeln sollte. Doch was konnte sie dafür, dass Ela über Nacht krank geworden war?! Allerdings wäre es besser gewesen, Nils nicht mit einzubeziehen. Mel hätte erst fragen müssen! Wie war nochmal das Gegenteil von gut gemeint?! Katja schnaubte. Denn sie musste sich eingestehen, dass ihre Freundin es ja versucht hatte. Mels Schuld war’s jedenfalls nicht, wenn Katja unterwegs nicht rechtzeitig aufs Handy guckte.

Verdammtes Karma-Dings?!

Und nun?!

Also schön, wenn man schon mal hier war im Frankenländle, wo nicht nur der Wein so gut schmecken sollte …

Schon wieder stierte sie rüber auf den sonnenbeschienenen Weinberg - vom Fenster ihres Einzelzimmers aus - das sie gebucht hatte, weil sie mitnichten in SEINER Wohnung nächtigen wollte, wo sie möglicherweise nicht eine einzige Hand für sich würde ins Feuer legen können, weil dieser Typ …

just in diesem Moment an die Tür klopfte.

Und Katja fühlte sich ganz und gar nicht wie eine erwachsene, gereifte Frau, sondern wie eine planlose Pubertierende. Ihr Herz sprang im Dreieck, als sie wenige Sekunden später in Nils wahnsinnsblaue Augen schaute. Wahnsinn!


Er blieb vor der Tür stehen, kam nicht einfach so herein. Stattdessen zwinkerte er ihr zu und resümierte: „Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt.“

„Hhm, tja.“ Etwas Brillanteres zu erwidern, fiel ihr augenblicklich nicht ein.

„Hey, Katja! Möchtest du was sehen von Würzburg oder lieber nicht?“

„Na ja, wenn wir schon mal hier sind …“ Jawohl, dann wollte sie auch etwas sehen! Und sein Lächeln drückte aus, dass er sich darüber freute.


Er fuhr mit ihr hoch in den Maasweg, wo er vor einem Haus parkte, in dem sich seine Wohnung befand. „Ich bringe eben meine Sachen rein, dann können wir gleich los. Zuerst hinauf zum Käppele. Keine Sorge, es ist nicht weit.“

„Ich bin schon groß, Herr Nils, und ich kann laufen. Ich will es sogar!“

„Na, dann ist ja gut. Wie ich sehe, hast du sogar halbwegs ordentliches Schuhwerk an“, lachte er und blickte musternd an ihr hinunter, über Shirt und Jeans hinweg bis zu den Sneakers, und Katja spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss.

Mann! Mann! Mann!

Ungeachtet dessen war sie heilfroh, dass er sich noch nicht über ihre Einmietung im Hotel ausgelassen hatte. Doch warum sollte er auch?!

Am liebsten hätte sie jetzt das Zigarettenpäckchen aus ihrem Rucksack gekramt, aber da kam er schon wieder zurück. Donnizetti!, wie schnell er sich frisch gemacht hatte! Und ja, er war schon ein Mannsbild, lässig leger, ebenfalls in T-Shirt und Jeans. Sein blondes Haar, wie immer wild und wirr, der Blick, unverändert wunderblau. Sie konnte ihn nur anstarren und hoffte, nicht wie ein Mondkalb auszusehen. Dabei war er doch echt nicht ihr Typ. Katja stand nicht auf Blondschöpfe, und schon gar nicht auf solche Riesenpakete, wo man sich beinahe den Hals verrenkte, wenn man zu ihnen hochguckte.

„Auf geht’s! Es ist nicht mehr viel dran am Tag, und ich habe noch einiges vor mit dir.“

„Uups, das klingt ja beinahe wie eine Drohung.“

Oder wie Verheißung.

Er grinste frech, und bei dem Tempo, das er vorlegte, hatte Katja direkt Mühe, ihm auf den Fersen zu bleiben. Allerdings waren sie auch rasch am Ziel. Die schöne Wallfahrtskirche Mariä Heimsuchung am Hang des Nikolausbergs leuchtete geradezu in der Nachmittagssonne. Katja sah sich gerne imposante Bauwerke an - Schlösser, Kirchen, Klöster, auch Friedhöfe. Und Ruinen. Je älter, desto lieber.

„Als meine Neffen noch klein waren, wollten sie das jedes Mal sehen, wenn ich mit ihnen hier hochgekommen bin“, ließ Nils sie wissen.

In einem Nebenkorridor des Mirakelgangs stand ein gläserner Kasten, in dem eine Wallfahrt dargestellt wurde. Mit einem Glockenspiel, das durch den Einwurf einer Münze in Gang gesetzt wurde. Sofort wanderten die putzigen Menschenfigürchen los.

„Das ist ja süß! Schätze, deine Neffen haben dir so manchen Groschen abgeluchst, was?“

„Worauf du wetten kannst.“

Als Nächstes besahen sie sich die Votivgaben im Kapellenraum nebst Freskomalereien und wunderschöne Deckengemälde, hernach einen Beichtstuhl im Rokoko-Stil, Altäre und die Kanzel. Für ein paar stille Minuten setzte Katja sich auf eine Kirchenbank, von wo aus sie die eindrucksvolle Orgel bewunderte. Wundervoll wäre es gewesen, sie auch hören zu können. Und miteins dachte Katja daran, dass sie eine Schwester oder einen Bruder hätte haben können, wenn nicht …

Sicher, da wäre ein ziemlich hoher Altersunterschied gewesen, doch hätte das eine Rolle gespielt? Katja hatte schon lange nicht mehr gebetet, zumindest konnte sie sich in diesem Augenblick nicht daran erinnern. Nun faltete sie intuitiv ihre Hände und schickte einen Gruß gen Himmel. An ihr Geschwisterkind, welches ihre Mutter einfach so mitgenommen hatte. In den Tod.

„Wollen wir weiter oder brauchst du noch einen Moment?“, fragte eine leise Stimme hinter ihr. Sie wandte sich um. Nickte.

Scheinbar nahm er etwas wahr in Katjas Miene, vielleicht sagte er es auch nur so: „Wir haben Zeit, Katja.“

„Ich würde gerne eine Kerze anzünden, Nils.“

Eigentlich zwei.

„Komm mit, ich zeige dir, wo du das machen kannst.“


Nach dem Dämmerlicht in der Kirche blendete die Sonne, wiewohl sie sich schon langsam auf den Weg Richtung Westen machte. Was sie indes nicht davon abhielt, noch immer drückend sommerliche Kraft zu verströmen. Nach der Kühle im Gotteshaus fühlte es sich zunächst sehr angenehm an.

Eine Weile liefen sie schweigend nebeneinander her, bis sie unterhalb der Kirche eine Grünanlage erreichten, in dem eine lebensgroße Madonnenfigur stand. „Das ist die Immaculata der Englischen Fräulein“, merkte Nils an und erzählte vom zweiten Weltkrieg, der Würzburg in eine Trümmerlandschaft verwandelt hatte, das Käppele jedoch sei wie durch ein Wunder verschont geblieben.

„Es heißt, die Madonna habe die Wallfahrtskirche während eines schlimmen Bombenangriffs verschont.“

„Wunder gibt es immer wieder“, antwortete Katja, und er grinste: „Schon wieder schwülstige Musik?“

Sie guckte einen Moment lang irritiert, bis ihr klar wurde, was er meinte. „Haha, nein, den alten Schlager meine ich jetzt eigentlich nicht.“

„Schau, dort drüben siehst du die Festung Marienberg. Sie war über Jahrhunderte hinweg der Herrschaftssitz der Würzburger Fürstbischöfe. Hast du Lust, sie dir anzusehen, Katja? Von dort hat man einen tollen Blick auf die Stadt, und es gibt einen schönen Wanderweg durch den Weinberg.“

„Okay.“

„Ist ein gutes halbes Stündchen Weg.“

„Och, ich denke, das schaffe ich grad noch so.“


„Wir müssen nicht unbedingt … Wenn du Hunger hast und lieber was essen willst, Katja?“

„Nein, wir können gerne hinlaufen. Ich habe vorhin bei meiner Ankunft im Hotel erst eine Kleinigkeit gegessen.“

„Na dann los!“

Nils war ein guter Führer, der viel wusste über diese Stadt, in der er einige Jahre lang daheim gewesen war. Selbst wenn er seinen Wohnsitz unterdessen verändert hatte, bedeutete Würzburg sicher noch immer ein Stück weit Zuhause für ihn. Vermutlich wollte er deshalb seine Wohnung noch nicht aufgeben.

Und wenn sie schon Zeit miteinander verbrachten, dann war es gut, dass sie zumindest einen Plan hatten. So konnte Katja sich darauf konzentrieren, zu betrachten, was sie gezeigt bekam und zuzuhören, was er darüber erörterte. Das erleichterte ihr die Situation ungemein. Überdies verdrängte es unangemessene und genierliche Momente, vor denen Katja wahrlich bange war.

Da sie verfängliche Themen unbedingt vermeiden, aber auch nicht die ganze Zeit schweigend neben Nils her latschen wollte, erkundigte sie sich nach Ela.

„Sie hat über Nacht hohes Fieber bekommen“, antwortete Nils. „Sieht nach einem Infekt aus. Ich denke, es könnte auch mit ihrem schon ziemlich deprimierten Zustand zusammenhängen.“

„Probleme mit ihrer Familie?“, hakte Katja nach, neugierig, ob er möglicherweise mehr wusste als sie.

„Wohl auch, ja, und in ihrer Ehe, soviel ich weiß.“

„Und wir sollen tatsächlich dort aufschlagen und eine Welle machen?“

Er lachte auf, meinte dann aber: “Meinst du, das stünde uns zu?“

„Eher nicht, oder? Aber Mel hat sowas verlauten lassen.“


„Na ja, du kennst doch deine Freundin. Ich meine, wie sie sich manchmal ausdrückt.“

„Oh ja!“ Nun lachten sie beide.

„Katja, ich habe diese Sache erstmal beiseitegestellt. Kommt Zeit, kommt Rat. Viel lieber laufe ich nämlich mit dir durch die Gegend.“

„Soso!“

„Na ja, ich habe zwar Adresse und Telefonnummer von Elas Familie, aber ich weiß ehrlich gesagt nicht so genau, was man da tun könnte und ob man sich überhaupt einmischen sollte.“

Katja nickte. „Das ist mir auch nicht klar. Eigentlich kenne ich Ela gar nicht mehr, jedenfalls nicht mehr so wie früher. Mel wird inzwischen mehr Einblick in die Dinge bekommen haben. Und sie wird doch bei Elas Leuten Bescheid gesagt haben, damit die wissen was los ist?“

„Das schon“, bejahte Nils, „es war wohl eine von Elas Töchtern am Telefon. Wenn die es nicht vergessen hat, auszurichten …“

„Ah, verstehe! Deshalb ist Mel wohl der Ansicht, dass wir vorsichtshalber nochmal Kontakt zu dem Mann aufnehmen sollen. Weil sie dem Mädel nicht traut?“

„Schätze, ja.“

„Hhm!“

Es fühlte sich gut an, nebeneinander dahinzuschreiten, und angenehm, sich mit ihm auszutauschen.

Auch wenn Katja diese wohligen Empfindungen nicht haben, nicht fühlen wollte, so konnte sie sich trotzdem nicht dagegen wehren. Sie ertappte sich dabei, wie sie hin und wieder zur Seite schaute und sein Profil betrachtete. Regelrecht studierte. Wie ihr Blick an seinen Lippen hängenblieb, was sofort wieder das Gefühl wachrief, das sie gehabt hatte, als er sie küsste. Am Strand. Nach Casablanca. Ahhh!

Es war gut, dass sie ihr nächstes Ziel bald erreichten. Nils hatte etliches drauf über die Fliehburg, die diese Anlage zu keltischen Zeiten einmal gewesen war, bis sie von den Germanen erstürmt wurde. Ab dem 6. Jahrhundert nutzten dann die Franken und ihre Merowinger-Könige die Festung. Auch über den Bau der Wehrmauer samt Zugbrücke wusste er etwas zu berichten, und womit er unbedingt recht behielt, war der überwältigende Ausblick hinunter auf die Stadt und den Main, der wie ein leuchtendes blaues Band in der Sonne schimmerte.

Hier blieben sie eine Weile stehen und Katja rauchte eine Zigarette, genoss diese auch. Schön und gut! Gut? Na, wenn sie sich schon ein Päckchen gegönnt hatte?!

„Komm mal ran, Nils“, rief sie übermütig, als sie den Glimmstängel ausdrückte. „Lass uns ein Selfie machen.“

Was Katja durchaus alleine hätte zustande bringen können. Ohne Michel in groß und stark daneben, der nun seinen Arm um ihre Schultern legte und sogar etwas in die Knie ging, auf dass die Aufnahme einigermaßen vernünftig würde - wegen des Größenunterschieds. Die abrupte Tuchfühlung, Schulter an Schulter, diese nicht bedachte Intimität einer Situation, all das stürmte mit ungeheurer Wucht auf Katja ein. Nahe genug war er ja herangekommen. Viel zu nahe eigentlich. So nahe, dass die Flugzeuge in Katjas Bauch nur so brummten. Herzrhythmusstörungen. Sehr unbedacht, dass sie ihn um ein läppisches Foto gebeten hatte - vor einer atemberaubenden Kulisse, aus dem letztlich ganz viele Selfies wurden. Wildvergnügte. Auf denen sie lachten und blöde Grimassen schnitten, ihre Augen verdrehten, die Wangen aufbliesen und ihre Münder verzerrten.

Es waren wundervolle Momente, unnachahmliche Minuten, in denen sie herumalberten wie Kinder. Oder wie Verliebte. Einfach nur … GEIL. Nein, nicht so. Anders. Aber auch ein bisschen so. Geil halt!

Dieser hessisch-unterfränkische Ostsee-Michel war also auch quatschfähig. Chris nicht (mehr) allzu sehr, bisweilen dann, wenn er als lüsterner Wolf ein williges Rotkäppchen fangen wollte.

Bei all diesem Herumkaspern wurde Katja noch heißer. „Puh!“, stöhnte sie und fächelte sich Luft zu. Auch Nils zerrte an seinem Shirt. Sie erspähte Haut, knusprig braun. Nicht zu viel und nicht zu wenig Haare plus gut definierte Bauchmuskeln. Nicht schlecht, absolut nicht, ungemein maskulin und verdammt sexy! Mit anderen Worten stark, sehr stark! Wie es etwas weiter unten wohl aussieht?

Und Katja geriet noch mehr ins Schwitzen, weil sie miteins eine wüste Vorstellung im Kopf hatte - wie eine Vision: Intermezzo of Liaison …

Bei der er sich das Shirt vollends über den Kopf zieht. Sein wilder Duft steigt ihr in die Nase und macht sie genauso benommen wie das Flirren in seinem hungrigen Blick. Ohne Rücksicht auf Verluste reißt er sie an sich, küsst sie, haucht ihr regelrecht Leben ein. Und Lust. Ungestüme Lust. Seine Hände, überall an ihrem Körper. Jetzt und hier. Und alles Begehren, das in ihr ist, sprudelt aus sämtlichen Poren. Katjas Hose ist auf einmal nicht mehr da, wo sie hingehört, aber das ist guuut so. Weil er sie jetzt anhebt und auf die Balustrade setzt, seine eigene Hose öffnet. Es geht so schnell. Wie ein Lauffeuer. Und als er eindringt, stöhnt sie auf, beißt in seine Schulter, an die sie sich klammern muss, weil sie sonst kopfüber nach hinten kippen und abstürzen würde. In die Tiefe. In diese unglaubliche, wahnsinnige, zügellos sinnliche Tiefe, in die er sie hineinstößt, hineinfickt, hineinliebt …

„Alles in Ordnung, Katja?“

„Hä, was?!“

„Ist dir nicht gut? Du guckst, als ob du gleich hyperventilierst?“

Jetzt packte er sie wirklich an den Schultern und hielt sie mit festem Griff. Doch er blickte eher besorgt und nicht mehr so aufregend fiebrig wie noch gerade eben in Katjas hitzigem Tagtraum.

„Ach, nein, du, ich glaube, ich bin nur ein bisschen durstig.“

„Komm, setz dich hier hin. Ich weiß, wo es einen Kiosk gibt. Da hole ich uns mal eben was.“

„Ja, haben wir beide wohl vergessen, was zu trinken mitzunehmen.“

„Und das bei der Hitze heute, sorry, Katja!“

„Ne, ne, lass mal, alles gut!“, wies sie ab, weil … konnte er denn etwas dafür, dass sie just im Moment tatsächlich abstürzte?! …

Mit dem Kopf voran rapide abwärts, wo sie mitten in den Weinbergen aufdotzt und wie eine zerrupfte Kugel durch sämtliche Rebstöcke kullert. Bis runter in den Main. Wo sie abgescheuert und kaputt, wie sie ankommt, noch ein Weilchen nacktarschig in den Wellen dahintreibt, ehe sie auf Nimmerwiedersehen vergluckert! Ende gut, alles gut!


Nix war gut! Denn während er zum Getränkestand davoneilte, dachte Katja nur: Ich muss tatsächlich einen Sonnenstich haben. Oder gewaltig einen an der Waffel!


„Sieh her! Schönes, frisches, kühles Wasser!“, rief Nils, als er mit den Getränken zurückkam.

Michel, mein Retter in der Not! Dank dir!“

Sie lachten, tranken und sahen sich an mit diesen betretenen Blicken, die man draufhatte, wenn man nicht so recht weiterwusste, weil man den Faden verloren hatte.

„Langsam bekomme ich Hunger, und du?“

„Ja, essen könnte ich auch was.“

„Ich kenne einen netten Italiener in der Stadt. Und auf der schönen Brücke da unten trinken wir ein Gläschen Wein. Wäre das was für dich, Katja?“

„Aber ja, sehr gerne, Nils!“

Gute zwanzig Minuten später überquerten sie die schöne Brücke da unten, nämlich Würzburgs Alte Mainbrücke, eines der Wahrzeichen der Stadt, auf dem keine Kraftfahrzeuge mehr fahren durften, weil sie seit 1992 zur Fußgängerzone gehörte. Ein sehr romantisches Viadukt, wie Katja kulleräugig wahrnahm.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 04.02.2021
ISBN: 978-3-7487-7381-8

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