Leopold ist ein schwer gebeutelter Mann. Er hat eine Schwiegermutter, die er hasst und mit der er mehr Zeit verbringen muss, als ihm lieb ist. Warum? Seine Frau will es eben so. Die hat nämlich einen ausgeprägten Mama-Komplex. Das wäre an sich schon schlimm genug, wenn da nicht auch noch der Rest seiner sonderbaren Familie wäre: Seine pubertierenden Zwillinge, der schwerhörige Vater, die verträumte Mutter, die gefräßige Tante und der transsexuelle Bruder halten ihn ganz schön auf Trab. Zum Glück gibt es da noch Gregor, Leopolds einzigen Freund. Der wohnt einsam in einem verlassenen Haus mit Madame Lunette zusammen, einem äußerst einsilbigen Papagei. Doch auch Gregor hat mehr Macken als ein 20 Jahre altes Auto.
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Zum Teufel mit Kafka
Maria Zaffarana
telegonos-publishing
Da stehen sie wieder!
Bunt, grell, abscheulich.
Ich starre sie an.
Jede einzelne Tasse.
Meine Frau ist gerade dabei, sie auf Hochglanz zu polieren. Wieder einmal. Und ich fühle mich wie jemand, der gerade darauf wartet, aufs Schafott gebracht zu werden.
„Das Kaffeeservice muss glänzen“, gluckst sie geradezu vor Aufregung – jedes Mal, wenn sie diese grässlichen Porzellan-Gefäße in ihren Händen hält. Das ist immer dann, wenn sich Besuch angekündigt hat wie heute eben. Da kommt nämlich ihre Mutter samt Anhang! Und das alles zusammengenommen fühlt sich schlimmer an als der kälteste Sturm in einer eisigen Polarnacht. Ich friere dementsprechend.
Angestrengt denke ich darüber nach, was mir gerade mehr zu schaffen macht: Ist es das abscheuliche Blumendekor der Tassen, meine vorlaute Schwiegermutter oder ihr unterbelichteter Ehemann? Ich weiß es nicht so recht. Und im Grunde genommen ist es auch überhaupt nicht von Bedeutung. Fakt ist: Mir stinkt’s! Und zwar gewaltig, weil ich das grauenerregende Szenario schon genau vor mir sehe. Wie Uschi und Gustl neben mir sitzen, beide stocksteif, sie wie eine aufgeblasene Wachtel, er wie ein ausgehungerter Specht. Beide werden die Tassen zu ihren Mündern führen und dabei die allerscheußlichsten Schmatz- und Schlürf-Geräusche machen.
„Krrrr krrrr krrr krrr.“
Es ist das unangenehme Klirren einer diesen verhassten Tassen, das mich aus meinen Gedanken reißt. Ich übertreibe wirklich nicht, wenn ich verhasst sage. Das muss ich an dieser Stelle einmal betonen. Da übertreibe ich wirklich kein bisschen. Ich verachte sie wirklich und gebe jedes Mal mein Bestes, dass sie nicht auf unserem Tisch landen. Aber damit stoße ich bei meiner Frau seit Jahren auf taube Ohren.
„Du spinnst, wegen dieser albernen Tassen jedes Mal so ein Theater zu machen“, wirft sie mir immer wieder aufs Neue vor, wenn ich sie vor die Nase gesetzt bekomme.
„Na, wenn du doch schon selbst zugibst, dass sie albern sind, kannst du sie ja wunderbar entsorgen“, schreie ich dann beleidigt zurück. Geholfen hat meine Gegenwehr allerdings bislang nicht. Im Gegenteil: Ich habe das Gefühl, dass ich Irene dadurch erst recht dazu anstachle, die Tassen noch gründlicher zu polieren.
Und so sitze ich nun da und schaue mir dieses grauenvolle Schmierentheater in der 127. Wiederholung an.
Was haben sich die Designer dabei eigentlich gedacht, denke ich, als sie das Porzellan mit diesem altertümlichen Muster, den übergroßen Blüten und diesen grässlichen Farben verunstaltet haben?
Das frage ich mich ernsthaft, obwohl ich mir nie wirklich Gedanken über Geschirr mache. Mir ist es eigentlich völlig gleichgültig, woraus ich meinen Kaffee trinke. Meinetwegen könnte mir Irene den auch in einem Eimer servieren. Wäre mir egal! Aber aus diesen Tassen, die ich vom ersten Augenblick an gehasst habe, da will ich ihn einfach nicht. Auch ich habe schließlich Rechte – zum Beispiel das Recht, mal etwas nicht zu mögen. Aber nein, Irene interessiert das nicht im Geringsten. Ich plage mich deswegen schon seit über 15 Jahren mit ihnen herum und werde genötigt, zu jeder noch so (un-)feierlichen Gelegenheit aus ihnen zu trinken. Dabei haben wir so viele andere Tassen im Schrank. Irene kauft schließlich unentwegt neue. Aber nein: Wenn sich Besuch ankündigt, werden nur die hier aus der Vitrine geholt und ich muss mich dann beugen, ob ich will oder nicht. Irene erwartet das von mir.
So schaut die bittere Wahrheit aus!
Doch damit nicht genug: Irene macht stets eine ausgewachsene Zeremonie daraus. Mir wird jedes Mal schon speiübel, wenn ich sehe, wie sie das Geschirr aus dem Schrank holt. Andächtig trägt sie es dann auf einem Tablett durch den Raum und setzt dabei ein Gesicht auf, als würde sie den Heiligen Gral positionieren. Diesen ganzen Zirkus um diese billigen Teile macht sie übrigens nur, weil das Service mal ihrer Mutter gehört hat. Und der ist meine Frau nun mal hörig. Auf ungesunde Art ist sie das – noch nett ausgedrückt! Wäre ich Freud, würde ich sagen, dass meine Frau einen gewaltigen Ödipus-Komplex hat. An ihr und Uschi hätte der alte Freud seine wahre Freude gehabt, obwohl ich eher glaube, dass er diesbezüglich ganz schnell an seine Grenzen gestoßen wäre. Denn meine Frau würde sich lieber ein Bein abhacken lassen, als sich ihre Mutter schlechtreden zu lassen. Wie ein Kampfhund hat sie sich an Uschis Rockzipfel festgebissen und daran hält sie eisern und entschlossen fest. Ich kenne es nicht anders und habe den leisen, beunruhigenden Verdacht, dass das nicht besser wird mit den Jahren, sondern sogar noch schlimmer.
Ich habe somit nicht nur Irene an der Backe, sondern auch noch meine Schwiegermutter, und das seit über 25 Jahren. Ich bin sozusagen mit zwei Frauen verheiratet – für viele vielleicht ein Traum, für mich eindeutig ein Albtraum. Selbst wenn Uschi gar nicht da ist, weil sie im Gegensatz zur Tochter ihre Freiheit liebt und Irenes übertriebene Anhänglichkeit eher als lästig empfindet, ist Uschi doch immer präsent. Tag und Nacht. Meine Ehe war und ist dementsprechend nicht immer einfach. Aber lassen wir das; ich möchte jetzt nicht in Selbstmitleid zerfließen.
Irene streitet das natürlich alles ab. Sie liebe ihre Mutter einfach, gibt sie mir immerzu zu verstehen. Und sie erlaube es zudem niemandem, insbesondere mir nicht, auch nur den leisesten Hauch von Kritik an Uschi auszuüben. Ganz gleichgültig, was Uschi sagt oder macht – und sie sagt und macht ausschließlich nur Mist –, für Irene ist es das Evangelium. Was ihre Mutter von sich gibt, hat für Irene absolute Endgültigkeit, an der niemand rütteln kann, soll und darf.
Das wäre ja schon schlimm genug. Das Schlimmste daran aber ist, dass Irene erwartet, dass das gesprochene Wort ihrer Mutter auch von mir nicht angetastet wird. Das kann ich aber nicht. Im Gegenteil: Alles, was Uschi vorschlägt, mache ich grundsätzlich und aus Prinzip genau anders. Selbst wenn sie ausnahmsweise recht hat, entscheide ich mich aus reiner Frackigkeit dagegen. Und dazu stehe ich!
Jedenfalls hatte meine Schwiegermutter einst nichts Besseres zu tun, als uns diese besagten Tassen zu schenken. Irene ist der festen Überzeugung, ihre Mutter hätte das aus Großzügigkeit gemacht. Ich aber bin sicher, dass sie einfach nur ihre Schränke entmüllen wollte. Und weil Irene ihrer Mutter alles und mir nichts glaubt, nahm sie das Präsent mit größter Freude in Empfang und hatte dabei sogar noch Tränen der Rührung in den Augen.
„Die Tassen sollen euch genauso lange durchs Leben begleiten wie mich und davor auch meine Mutter“, waren Uschis Worte, die in Irenes Ohren natürlich wie ein Beweis für ihr großes Herz geklungen haben müssen; in meinen Ohren dagegen hörten sie sich nur verlogen an. Brechreiz überkam mich damals sogar, als ich Uschi so übertrieben theatralisch sprechen hörte und meine naive Frau so ergriffen sah.
Uschis Augen glänzten regelrecht bei der feierlichen Übergabe. Gönnerhaft lächelte sie uns an. Irene umarmte sie zum Dank und sie ließ sich von ihr feiern wie ein Star. Mir war’s zu viel. Aber hätte ich auch nur ein winziges Anzeichen von Undankbarkeit durchblicken lassen … gnade mir Gott! Irene ist wie gesagt unerbittlich, wenn es um ihre Mutter geht. Also spielte ich brav mit. Ich ließ mich sogar sanft in Uschis Arme schieben. Meine Schwiegermutter, die mich im Übrigen noch viel weniger leiden kann als ich sie, presste mich an sich. Wenn es um Heuchelei geht, ist Uschi wirklich unschlagbar. Mit Nachdruck drückte sie ihren unförmigen Körper an mich. Für sie war es eine vermeintlich lieb gemeinte Umarmung, die sie ausschließlich für Irene inszeniert hatte. Für mich kam es einer Nötigung gleich, fast schon einer Körperverletzung. Und das ist noch nett ausgedrückt.
Glücklicherweise sind solche Auftritte eher seltener Natur, denn meine Schwiegermutter mag es nicht sonderlich, Gefühle zu zeigen. Sie ist zurückhaltend, distanziert. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie reserviert wäre. Nein, Uschi ist ein offener, für meinen Geschmack viel zu offener Mensch, der sich gerne bei jedem und in allem einmischt. Aber lassen wir das.
Fünfzehn Jahre ist es nun her, dass ihre Tassen Einzug fanden in unser sonst so behagliches Heim. Hausfriedensbruch nennt man so etwas! Dafür könnte ich sie vielleicht sogar strafrechtlich belangen. Ich werde das bei Gelegenheit überprüfen.
Seitdem fehlen sie auf keiner gedeckten Tafel. Und auch heute macht sich meine Frau daran zu schaffen, die kleinen Scheusale so zu polieren, als ob sich die Queen höchstpersönlich bei uns angekündigt hätte. In Irenes Augen ist ihre Mutter wahrscheinlich sogar noch hochrangiger als die Königin. Ich hingegen könnte mich übergeben, weil das Scheusal und ihr Gefolge im Anmarsch sind.
Gustl ist der fünfte Ehemann meiner Schwiegermutter. Sie war also vorher bereits vier Mal verheiratet, mit Irenes Vater immerhin zwölf Jahre, bevor er an Krebs erkrankte und sie nahezu mittellos mit Irene zurückließ. Ihr zweiter Ehemann, dessen Name unter keinen Umständen erwähnt werden darf, wurde stets totgeschwiegen. Er sei ein Halunke gewesen, hat Irene mal über ihn gesagt. Mehr war aus den beiden nicht herauszukitzeln. Die Scheidung erfolgte keine anderthalb Jahre nach der Hochzeit. Egon, der dritte Mann im Bunde, erwischte Uschi in flagranti beim Schäferstündchen mit einem Nachbarn. Als er daraufhin die Scheidung einreichte, waren sie nicht einmal sechs Monate verheiratet. Ihr vierter Gatte, Hans-Werner, verstarb schon nach kurzer Zeit an einem Herzinfarkt. Sie bemerkte zu spät, dass das Erbe nur aus Schulden bestand, für die nun der brave Gustl komplett aufkommen muss.
Mit Gustl hält sie es nun seit fünf Jahren aus. Die beiden lernten sich über ihre damals beste Freundin Elisabeth, Irenes Taufpatin, kennen. Mit ihr war Gustl damals liiert. Uschi spannte ihn ihr fein säuberlich aus, als sie spitzkriegte, dass er ein ehemaliger Geschäftsmann und entsprechend betucht war. Die Freundschaft mit Elisabeth zerbrach natürlich und Gustl wurde, bevor er es sich doch noch anders überlegen konnte, rasch vor den Traualtar gezerrt. Diesbezüglich hatte meine Schwiegermutter ja genug Erfahrung.
Wie ein Adler passt sie seitdem auf ihre Beute auf. Das Beste an Gustl ist nämlich nicht nur, dass er vermögend ist, sondern dass er auch keine Kinder hat und Uschi somit Alleinerbin sein wird. Das hat sie übrigens schon am Tag nach der Hochzeit ein für alle Mal zementiert. Da ist sie mit Gustl zum Notar gegangen, damit er brav das Testament mit seinen Geschwistern als Begünstigten für ungültig erklären lassen konnte.
Nach seinem Tod bekommt sie somit alles und kann sich auf ein schönes, sorgenfreies Leben freuen. Überlebt er sie allerdings, geht alles doch noch an die Geschwister, denn an Irene als Ersatz-Erbin hat die gute Uschi nicht gedacht. Frei nach dem Motto „Nach mir die Sintflut“ kümmert sie sich ausschließlich und nur um ihr Wohl. Insgeheim wird sie sicher hoffen, dass sie den gutmütigen Gustl um Längen überlebt. Das behaupte ich jetzt einfach mal und ich weiß, dass das ein wenig gehässig klingt. Doch da hat sie, und das wiederum freut mich, die Rechnung ohne den zähen Bayer gemacht. Denn der kernige Bursche hat schon zwei Herzinfarkte überstanden und erfreut sich inzwischen allerbester Gesundheit. Nach der Hochzeit war er zu meiner großen Verwunderung regelrecht aufgeblüht. Mir ist dabei absolut schleierhaft, wie er an ihrer Seite überhaupt länger als eine Woche hat überleben können. Disharmonischer könnte kein Paar – Irene und ich ausgenommen – kaum sein. Sie, ein vorlautes durchtriebenes Luder, er, der einfältige, dumpfbackige Einsiedler, dessen einzige Leidenschaft die Berge und deren Besteigung ist. Aber vielleicht liegt ja gerade darin das Geheimnis. Er ordnet sich Uschi völlig wehrlos unter und damit ist Ruhe im Karton. So lebt es sich sicherlich friedlicher als bei uns zu Hause, wo es jeden Tag scheppert, weil ich einfach nicht meinen Mund halten kann. Und will!
Heute ist wieder so ein Tag, an dem es deshalb ordentlich gekracht hat, weil ich mich lautstark gegen den anstehenden Besuch aufgelehnt habe. Einmal mehr hängt bei uns also wegen Uschi der Haussegen schief. Und weil meine Schwiegermutter und Gustl ja noch nicht genügen, hat es sich meine Frau außerdem nicht nehmen lassen, auch noch meine Eltern einzuladen – wohlwissend, dass alle Parteien sich bis aufs Blut hassen. Schöner könnte das Wochenende nicht ausklingen! Irene hat, das muss man ihr lassen, stets das richtige Gespür dafür, mir den Tag zu versauen.
„Da machen wir es uns richtig gemütlich“, war sie mir heute Morgen noch barsch übers Maul gefahren. Dabei hatte ich ihr nur zum wiederholten Male vor Augen führen wollen, dass sich alle lieber gegenseitig erschießen würden, als zusammen an einem Tisch zu sitzen. Aber Irene möchte auch davon nichts wissen, wie sie ohnehin von nichts irgendetwas wissen will, das ihr nicht gefällt und nicht hineinpasst in ihre Welt. Sie ist halt Idealistin, würden einige sagen. Ihre Freundinnen, von denen eine heuchlerischer als die andere ist, bezeichnen sie als Optimistin. Ich dagegen sage es, wie es ist: Irene ist nicht mehr als ein Blindgänger. Und das ist immer noch schmeichelhaft für sie.
Sagen wir es also so, wie es wirklich ist:
Irene ist ein Arschkriecher!
Ja, das ist der passende Ausdruck, um ihre markantesten Wesenszüge zu beschreiben. So einer ist sie im Übrigen schon immer gewesen. Zu unseren Anfängen war sie sogar mir gegenüber einer. Das änderte sich allerdings recht bald. Wenn ich mich recht entsinne, endete es unmittelbar nach der Hochzeit. Auf alle anderen bezogen und insbesondere bezüglich ihrer Mutter, ist sie hingegen sehr ausdauernd: Meine Frau ist zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit ein Arschkriecher! Ich weiß, das klingt nicht besonders charmant. Aber so ist es nun mal. Speiübel wird mir jedes Mal dabei. Hinzu kommt, dass sie echte Missstände nicht realisiert. Irene sieht wie gesagt nur das, was sie sehen will. Und heute will sie eben ausschließlich eine harmonische Familienidylle am Sonntagmorgen sehen. Alle Einwände diesbezüglich bürstet sie ab. Das macht sie jedoch noch lange nicht dominant wie ihre Mutter, sondern eher hysterisch wie ein kleines Kind.
Was ich jetzt sage, ist zweifelsohne gemein. Das gestehe ich freimütig. Aber ich glaube, dass viele Männer so über ihre Frauen denken und einfach nicht den Mumm besitzen, es auszusprechen. Ich aber traue mich! Oft spreche ich es sogar aus, laut und deutlich, vor dem Spiegel: „Irene ist ein Boot!“
Ja, das wiederhole ich immerzu, wenn ich mich von ihr wieder einmal ungerecht behandelt fühle, also täglich. Deswegen rufe ich mir regelmäßig diesen einen Satz ins Gedächtnis: „Irene ist ein Boot!“
Das ist nicht böse gemeint, trifft den Nagel aber auf den Kopf. Irene ist jedoch kein Segelboot und erst recht keine Yacht. Sie ist ein einfaches, bequemes Hausboot. Das ist meine Frau allerdings nicht immer gewesen. In den ersten Wochen unserer Beziehung war sie sogar ein sehr adrettes, schickes Schifflein. Aber auch das hörte sie schnell auf zu sein. Wenn ich mich recht entsinne, hörte es ziemlich abrupt nach der Hochzeit auf. Da wurde sie unerwartet zum Holzboot. Ja, das geht tatsächlich: so eine plötzliche Verwandlung!
Schnörkel- und oftmals orientierungslos segelt sie seitdem über ein chaotisches Meer, das mehr Flut als Ebbe kennt. Es ist ständig in Aufruhr. Irenes Meer wird fortwährend von Stürmen aufgewirbelt. Darauf zu schippern, und das auch noch auf einem unbequemen Hausboot, ist unter diesen Umständen natürlich nicht immer einfach. Dennoch ist sie stets bemüht, dem allen zu trotzen, obwohl sie das ja eigentlich gar nicht müsste, weil sie schließlich selbst der Antrieb dieses völlig unsinnigen Sturmes ist.
O ja! Irene ist ein Chaos-Macher der übelsten Sorte. Sie gerät unentwegt in missliche Situationen, in die sie sich – und leider meistens auch noch mich – hineinmanövriert. Das Schlimmste daran ist: Sie versteht nicht einmal, dass sie selbst der Grund für all den unnötigen Ärger ist, den sie sich und uns damit einbrockt. Chaos über Chaos, Ärger über Ärger, 365 Tage im Jahr. Seit 25 Jahren hoffe ich, dass der eine Tag kommt, an dem mal nichts außer der Reihe passiert. Und wenn ich manchmal abends ins Bett gehe, bin ich froh, wenn es nur die Kaffeemaschine ist, die sie in die Luft gejagt hat. Harmloser, aber ziemlich nerviger Natur sind auch ihre ewigen Such-Aktionen. Irene findet grundsätzlich nichts wieder und verliert dafür alles. Ihre Spezialität ist es, den Hauschlüssel zu verlegen. Frühmorgens hetzt sie mehrfach die Woche keuchend durch alle Zimmer und fahndet verzweifelt danach. Meistens helfen die Kinder und ich ihr dabei, damit das Spektakel ein baldiges Ende finden möge.
Nur einmal, da waren wir alle wirklich ziemlich ratlos. Stundenlanges Suchen und ein komplett auf den Kopf gestelltes Haus ließen uns kapitulieren. Wütend und über die Maßen verspätet machte ich mich schließlich auf den Weg in die Redaktion. Und siehe da: Der Schlüssel hatte die ganze Nacht, während wir alle friedlich in unseren Betten gelegen hatten – als verlockende Einladung für willige Diebe – draußen an der Tür gehangen.
Noch am selben Tag besorgte ich Irene einen Schlüssel mit Piepser. Das löste unser Problem allerdings nur kurzfristig. Denn Irene versäumte es natürlich auch, rechtzeitig die Batterien zu wechseln. Somit habe ich jetzt auch das übernommen – wie ich fast alles übernommen habe, um in ihr Leben ein wenig Struktur zu bringen. Das ist wirklich kein leichtes Unterfangen, weil Irene auf ihrem Boot eigentlich keinen Kapitän duldet außer ihrer Mutter. Die darf natürlich schalten und walten, wie sie will. Selbst ihre noch so unsinnigsten Kommandos werden von meiner Frau grundsätzlich angenommen und sogleich umgesetzt. Da könnte man glatt seekrank werden!
„Meinst du nicht, du könntest auch mal deine eigenen Entscheidungen treffen und vielleicht nicht immer nur der Meinung deiner Mutter sein? Meinst du, das ginge? Du siehst nur ihre Sicht, ihre bescheuerte Einstellung zum Leben und mehr nicht!“
„Na, immerhin sehe ich das, Leo. Und ich finde es nicht schlecht, was ich sehe. Du dagegen siehst ja meistens nur das Negative bei allem, was meine Mutter sagt oder macht. Ist das besser? Ist es toller, sie immer schlechtzumachen?“, entgegnet sie mir stets entrüstet mit hochrotem Kopf, wenn ich bemüht bin, ihre Sicht auf die Welt ein wenig zurechtzurücken. Eine geradezu ungesunde Röte überzieht dann ihre Wangen, dass es mir wieder schlecht wird.
Denn wenn es um Uschi geht, stellt Irene sofort auf Abwehr. Also gebe ich meistens nach wie an diesem Sonntagmorgen.
Irene macht sich noch immer an den blöden Tassen zu schaffen. Ich finde es maßlos übertrieben, sage aber natürlich nichts. Wenn ich in dieser angespannten Situation noch das Geringste darüber sage, explodiert die Bombe sofort. Also heißt es, Augen zu und durch. Das leise Klirren der Tassen ruft mir schmerzhaft ins Gedächtnis, dass das Wohnzimmer in weniger als drei Stunden einem Schlachtfeld gleichen wird. Ich sehe sie schon deutlich vor mir: all die Leichen – natürlich nur sinnbildlich gesprochen –, die bald unseren lila Hochflorteppich zieren werden.
Erwähnte ich übrigens, dass ich alle Farben außer Lila liebe? Das weiß Irene natürlich. Aber es musste unbedingt dieser lila Teppich sein, kein grüner, kein roter und kein blauer. Sie bestand geradezu auf ihren lila Teppich. Warum? Na, weil Uschi Lila liebt, ist doch klar! Das Haus meiner Schwiegermutter gleicht einer lila Hölle. Alle Kissen, Decken, Vasen, Blumen und Teller sind lila. Sogar der Toilettendeckel und das Klopapier sind lila. Also mussten auch unsere Teppiche selbstverständlich lila sein, da bestand meine Frau drauf. Wo kämen wir schließlich hin, wenn die Teller in schlichtem Weiß, das Sofa in dezentem Braun und die Bettbezüge in elegantem Grau wären?
„Wenn wir viel Lila haben, kann sich die Mama auch bei uns wohlfühlen.“
„Aber ich will doch gar nicht, dass sie sich bei uns wohlfühlt und heimisch wird. Das ist doch gar nicht in meinem Interesse.“
„Die Mama mag’s aber. Ende der Diskussion!“
Und so gab ich wie so oft nach und belud mein Auto mit unzähligen lila Accessoires und eben jenem übergroßen lila Teppich, den ich dann schön im Wohnzimmer auslegen durfte, damit die liebe Uschi immer gemütlich ihre Füße darauf ablegen konnte. Schließlich liebt sie es ja lila-kuschlig.
Doch das genügte meiner Frau nicht. Nur knapp eine Woche später stand eine Speditionsfirma vor unserem Haus mit einer Lieferung, die ich nicht bestellt hatte, aber bezahlen durfte. Irene hatte gleich sechs weitere lila Teppiche bestellt, damit ich nicht nur im Wohnzimmer, sondern gefälligst in jedem Zimmer daran erinnerte wurde, wie sehr ich Lila hasse.
Themenwechsel!
Ich kaue an den Fingernägeln. Das mache ich immer, wenn ich nervös oder sauer bin. Gerade bin ich beides. Meine Schwiegermutter, davon bin ich fest überzeugt, sitzt gerade in ihrer Küche und bespricht mit ihrem permanent bergwandernden Ehemann, wie sie mich, unsere Kinder und meine Eltern in die Mangel nehmen kann, besser gesagt: aufspießen wird, bis wir Blut spucken und nur noch leblos daliegen. Das ist im Übrigen eine der vielen Königsdisziplinen, die Meuchelmörderin Uschi meisterlich beherrscht.
Erneuter Themenwechsel!
Ein dicker Kloß sitzt in meinem Hals. Trocken und klumpig fühlt er sich an. Ich versuche, ihn hinunterzuschlucken. Vergeblich. Er hat sich festgesetzt, so wie sich gleich Uschi an meine Nerven hängen wird, bis sie zerreißen. Ich schaue auf die Uhr: zwanzig vor zwei. Keine anderthalb Stunden mehr, denke ich. Uschi ist pünktlicher als der Londoner Big Ben. Mich würgt es. Ich brauche Luft.
„Wo gehst du hin?“, schreit Irene aus der Küche, als sie mich die Tür aufmachen hört.
„Kannst du mir nicht wenigstens einmal helfen, den Tisch zu decken. Unsere Gäste kommen doch gleich.“
Irene reißt gerade die Verpackung mit dem tiefgekühlten Kuchen auf. Das Backen hat sie glücklicherweise aufgegeben. All ihre Versuche hatten stets damit geendet, dass die tortenähnlichen Dinger entweder wie ausgekotzt aussahen, abscheulich schmeckten oder im schlimmsten Fall beides. Das muss man leider so deutlich und uncharmant sagen. Als Uschi irgendwann einmal nach einer ihrer Käse-Sahne-Torten fast eine ganze Woche lang mit verdorbenem Magen zu Hause festsaß und sie ihre Mutter somit tagelang nicht besuchen konnte – es hätte ja auch was Ansteckendes sein können! –, war endlich Schluss mit Backen.
„Die Mama liebt ja Marzipan und Schokolade und Erdbeeren. Die liebt sie so sehr, dass ich ihr gleich drei Torten gekauft habe, dann hat sie eine schöne Auswahl.“
Gänzlich verrückt wäre ich, wenn ich meiner Schwiegermutter jetzt noch die Torten mundgerecht auf einem passenden Teller drapieren würde, denke ich. Das soll ruhig meine Frau machen. Mir ist es eh wurscht, ob Uschi Marzipan, Schokolade oder Erdbeeren liebt. Fakt ist, dass ich Mohnkuchen liebe und den gibt es heute nicht. Warum auch? Uschi hasst Mohn. Sagt sie jedenfalls. Ich glaub es ihr allerdings nicht, weil sie erst damit anfing, Mohn zu hassen, als sie herausfand, wie viel Freude ich daran hatte. Aber lassen wir diese Mutmaßungen.
„Die Mama ist doch nicht bösartig“, ist mir Irene mal gehörig über den Mund gefahren, als ich ihr meinen Verdacht mitteilte.
Nein, da hat Irene wahrscheinlich recht. Uschi ist nicht bösartig. Bösartig wäre viel zu untertrieben, um zu beschreiben, wie meine Schwiegermutter ist. Was ist eigentlich die Steigerung von bösartig?
Mit klopfendem Herzen schleiche ich mich hinaus. Sobald ich aus der Tür ins Freie trete, bin ich gerettet, das weiß ich. Denn draußen vor der Tür wagt sich Irene nicht, eine Szene zu machen. Außerhalb des Hauses wird nicht geschrien. Die Nachbarn könnten ja mithören.
„Es sind nicht meine Gäste und erst recht nicht meine Tassen“, sage ich, bevor ich rausgehe, allerdings so leise, dass meine Frau nichts davon mitbekommt.
„Bin gleich wieder da“, brülle ich lauthals, dass die Tür zu vibrieren beginnt, und lasse die Tür mindestens genauso laut ins Schloss fallen.
Schnell um die Ecke, dann bin ich endgültig in Sicherheit. Ich beeile mich, weil ich fürchte, sie könnte es sich doch noch anders überlegen und wider Erwarten hinter mir herrennen. Schließlich kommt die Mama! Da ist Irene immer aufgeregt wie ein aufgescheuchtes Huhn. Sie will dann immer alles besonders perfekt machen, obwohl sie ganz genau weiß, dass das ein Ding der Unmöglichkeit ist. Niemand und insbesondere nicht Irene kann es Uschi recht machen.
Mit unerträglicher Arroganz stolziert Uschi jedes Mal durch unser Haus, sucht und findet stets etwas, weswegen sie meine Frau zur Sau machen kann. Entweder sind es die Fenster, die mal wieder geputzt werden könnten, oder der Fußboden, der nicht sauber, oder die Heizung, die nicht warm genug eingestellt ist. Dementsprechend nervös ist meine Frau.
Erst als ich mich bis ans Ende unserer Straße gerettet habe, kann ich erleichtert aufatmen. Bis hierhin wagt sie sich sicher nicht. Das weiß ich. Denn Irene hasst Bewegung jeglicher Art. Diese Faulheit hat sie zweifelsohne von ihrer Mutter geerbt. Die lässt sich auch lieber den ganzen Tag von ihrem Gustl mit dem Auto herumkutschieren oder bedienen, wenn er denn mal nicht auf irgendeinem Berg ist, was höchst selten vorkommt. Wie eine ägyptische Pharaonin thront sie dabei auf ihrem Sessel und erteilt Befehle, die ihr Gatte folgsam umsetzt. So weit ist Irene zwar noch nicht mit mir. Aber sie wäre es bestimmt, wenn ich nicht wenigstens in diesem Punkt ein wenig Widerstand leisten würde.
Ich überquere noch kurz einen kleinen Spielplatz und befinde mich dann direkt vor Gregors Gartentor. Ein verwilderter Garten liegt vor mir. Ich betrete ihn und fühle mich augenblicklich wie in „Alice im Wunderland“. Diesen Film habe ich immer gehasst, weil ich ihn meine halbe Kindheit habe ansehen müssen. Mein Bruder hatte einen Narren an diesem blöden Hollywood-Schinken gefressen. Täglich schaute er sich ihn an. Mir war schleierhaft, wie er wie gebannt vor dem Fernseher sitzen und sich Abend für Abend denselben Mist anschauen konnte. So entwickelte ich einen regelrechten Hass auf diesen Film. Er kannte jeden Dialog auswendig – und ich leider auch. Meine Eltern ließen ihn gewähren. Zuerst nahmen sie es mit Verwunderung hin, aber recht bald schien es fast so, als ob sie es gar nicht mehr wahrnehmen würden, dass ihr jüngster Sohn sein halbes Leben mit und bei Alice im Wunderland verbrachte. Irgendwann gehörte es einfach dazu, dass Nils seine tägliche Dosis „Alice im Wunderland“ brauchte wie andere Medikamente. Mit leuchtenden Augen verfolgte er jede Szene, als ob es das erste Mal war, dass er sie sah. Dieser Spuk hielt sicher zwei oder drei Jahre lang an, bis er eines Tages selbst so aussah wie Alice im Wunderland.
Ich erinnere mich noch ganz genau an den Tag, an dem er plötzlich vor uns stand, einfach so – in Frauenklamotten und mit einer langhaarigen roten Perücke auf dem Kopf. Meine Eltern und ich saßen in der Küche und warteten mit dem Abendessen auf ihn.
„Wo bleibt denn der Junge schon wieder“, hatte mein Vater noch gefragt. „Immer kommt er zu spät.“
Als er dann endlich erschien, wäre meinem Vater beinahe das Gebiss herausgefallen. Meine Mutter schrie kurz schrill auf und fing augenblicklich an zu japsen. Ich muss zugeben, dass auch ich dämlich dreingeschaut haben muss. Ich konnte einfach nicht einordnen, was dieser Aufzug sollte. Eine Weile saßen wir stumm wie die Hühner auf der Stange da und starrten meinen Bruder an, der ebenso wortlos zurückstarrte. Mein Vater war der Erste, der nach einer kleinen, für mich unerträglichen Ewigkeit seine Sprache zurückfand.
„Haben wir schon Karneval oder was ist hier los?“, fragte er. In seiner Stimme schwang Unsicherheit mit, die er nicht überspielen konnte.
„Nein!“, erwiderte Nils und strich sich eine rote Strähne aus seinem überschminkten Gesicht.
Irgendwie eigenartig kam er mir vor mit all der Schminke, den feuerroten Lippen, den rosa Wangen und diesem Kleid. Es stand ihm so gar nicht. Ich starrte ihn weiter an, mit offenem Mund. Speichel lief mir das Kinn entlang. Ich stieß irgendwelche Geräusche aus, die keinerlei Sinn ergaben.
„Nils!“, sagte meine Mutter, sichtlich irritiert. „Warum dieser alberne Aufzug? Bitte zieh dich um, wir wollen jetzt endlich wie vernünftige Leute essen.“
Hoffnung, aber auch eine kaum überhörbare Verzweiflung lagen in ihren Worten. Nils‘ Aufritt kam so unerwartet, so plötzlich und hatte dennoch etwas Endgültiges. Es ließ keinen Raum für Spekulationen. Als wir ihn so sahen, wussten wir augenblicklich, von jetzt auf gleich, dass das Ganze kein alberner Spaß war. In der Art und Weise, in der er dastand, zeigte er uns, dass es ihm verdammt ernst war.
Mit einem Gesichtsausdruck, der schwer zu durchschauen war, setzte er sich zu uns an den Tisch. Wir beobachteten jede seine Bewegungen, die sich auf einmal alle so fremd anfühlten. Er aber ließ sich nicht von unserer Starre irritieren. Nicht, weil es ihm gleichgültig war – er schaute uns sogar die ganze Zeit lang mehr oder weniger an. In aller Seelenruhe nahm er sich eine Scheibe Brot, legte sie auf seinen Teller und sah durch uns hindurch.
„Ich wünsche mir, dass ihr mich nicht mehr Nils nennt. Ich heiße Alicia.“
An den weiteren Verlauf des Gesprächs kann ich mich nicht mehr im Detail erinnern. Das fahle, trockene Gefühl in meinem Mund dagegen spüre ich noch heute überdeutlich. Wir schwiegen eine ganze Weile, bevor wieder geredet wurde. Die meiste Zeit sprach Nils. Mein Vater verstummte. Meine Mutter gab nur wortähnliche Geräusche von sich, hin und wieder vernahm ich Wortfetzen, die nicht zusammenzuhängen schienen. Dann weinten sie. Mein Vater schüttelte gelegentlich den Kopf. Ich starrte indes nur auf die grässliche Perücke, die mein Bruder aufgesetzt hatte.
Warum hat er sich keine schönere ausgesucht?, war mein einziger Gedanke. Die hat er sich sicher billig in irgendeinem Ramschladen besorgt, im Schlussverkauf. Dieser alte Geizkragen!
Mein Bruder redete noch lange auf meine Eltern ein, das weiß ich noch vage. Nicht nur an diesem Tag: Es folgten Monate voller Gespräche. Und es flossen sehr viele Tränen. Es war keine einfache Zeit für uns alle. Nur einen positiven Effekt hatte das Ganze: Er hörte am Tag seines Outings endlich und zu meiner Erleichterung damit auf, „Alice im Wunderland“ zu schauen. Aber auch das geschah nicht einfach nur so. Bei Nils geschah immer alles mit einer gewissen Theatralik. Er schmiss die Kassette also nicht achtlos in die Mülltonne, sondern machte daraus ein regelrechtes Staatsbegräbnis. Und das meine ich im wahrsten Sinne des Wortes: Eines Sonntagmorgens stand er in unserem Garten mit dem grässlichen lila Morgenmantel meiner Mutter – weiß der Geier, wo er den wieder herausgekramt hatte! – und grub ein metertiefes Loch. Dabei hatte er sich eine noch grässlichere Perücke aufgesetzt.
„Was in Gottes Namen machst du denn da?“, wollte meine Mutter mit weinerlicher Stimme wissen. Sie fürchtete, dass die gesamte Nachbarschaft, die uns durch Nils‘ Outing ohnehin noch mehr unter der Lupe genommen hatte, wieder neuen Zündstoff bekäme. Und den lieferte Nils ihnen natürlich.
„Ich vergrabe Alice“, antwortete er mit einer Selbstverständlichkeit, dass es uns allen wieder einmal die Sprache verschlug.
„Musst du das denn hier im Garten machen? Die Frau Gruber steht schon oben am Fenster und beobachtet dich, ganz zu schweigen von der geschwätzigen Frau Gilsen!“
Meine Mutter flüsterte es ihm heiser zu und war dabei doch lauter, als wenn sie ganz normal mit ihm geredet hätte.
„Mama! Ein Grab kann ich nicht in meinem Zimmer ausgraben. Das geht nun mal nur in der Erde!“
„Nun lass ihn!“, bestimmte mein Vater und holte meine Mutter ins Haus, die wie so oft mit den Tränen kämpfte. Als Nervennahrung musste eine ganze Tafel Schokolade herhalten.
Ich blieb am Küchenfenster stehen und sah meinem Bruder zu, wie er sich Schaufel für Schaufel vorarbeitete.
Mittlerweile hatten nicht nur Frau Gruber und Frau Gilsen ihre Beobachtungsposten eingenommen. Auch ihre Ehemänner hatten sich zu ihnen gesellt. In ihren Gesichtern erkannte ich eine Mischung aus Verachtung, Schadenfreude und Ekel.
„Ich helfe dir, dann geht’s schneller!“, rief ich Nils zu und ging in den Geräteschuppen, um eine zweite Schaufel zu holen.
Er schaute mich fragend an. In seinen Augen sah ich Verwunderung. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ausgerechnet ich ihm helfen würde. Ich allerdings auch nicht, waren wir in den vergangenen Jahren schließlich mehr Gegner als Brüder gewesen! Lieber hätten wir uns die Zähne ausgeschlagen, als dem anderen auch nur eine klitzekleine Freude zu gönnen.
Eine ganze Stunde lang buddelten wir Seite an Seite. Es war nicht einfach. Denn der Boden war gefroren. Wir hätten warten können, bis es etwas wärmer werden würde. Aber Nils duldete keinen Aufschub. Er wollte und musste das sofort erledigen. So war, so ist er: ungeduldig, impulsiv, hitzköpfig. Unabhängig davon, was andere über ihn sagten oder dachten, er zog sein Ding stets und stur durch. Lange habe ich ihn dafür gehasst, dass er so war, wie er war. Aber an diesem Tag habe ich ihn sogar dafür bewundert. Das war eine Premiere, wenngleich eine eigentümliche.
Als wir schweißgebadet endlich mit der Arbeit fertig waren, richtete er sich kerzengerade auf. Wir standen vor dem Loch. Ernst blickte er drein. Übertrieben, wie er nun mal war, ließ er mit trauernder Miene die Kassette hinuntergleiten. Ich weiß nicht warum, aber ich trauerte solidarisch mit ihm mit. Alice war im Laufe der Jahre fast wie eine Familienangehörige geworden. Ich mochte sie zwar nicht, aber sie war an diesem Tag nun mal gestorben. Da konnte man ja wohl trauern!
Nils nahm die Schaufel und schüttete Erde darüber. Er sah mich an und ich griff ebenfalls zur Schaufel. Wir brauchten weniger als zwei Minuten, um Alice für immer verschwinden zu lassen; und mit diesem feierlichen Akt trug mein Bruder gleichzeitig auch seine Existenz als Mann zu Grabe.
Wenn ich es theatralisch ausdrücken soll: Nils starb an diesem Tag ebenfalls.
Am selben Abend entsorgte er all seine männliche Kleidung.
„Würdest du morgen mit mir ins Geschäft gehen und mit mir Kleider kaufen? Das schaffe ich nicht allein. Und Mama kann ich da schlecht fragen.“
Ich ging mit. Zu meiner Verwunderung eignete ich mich sogar als Modeberater.
Von da an trug mein Bruder ausschließlich Kleider, Schmuck und hohe Schuhe. Er lackierte sich die Nägel und stiefelte regelmäßig zum Friseur, bis seine Haare lang genug waren und er sie rot färben konnte.
Für Nils begann damit ein neues Leben, für uns andere auch. Nichts blieb, wie es war. Fortan drehte sich alles nur noch um Nils und meine Eltern verstanden die Welt nicht mehr.
Die Verwandlung ihres jüngsten Sohnes in eine Tochter stürzte sie in eine mittlere bis schwere Sinnkrise. Meine Mutter musste lange daran knabbern, dass sie nun über Nacht einen Sohn weniger, dafür allerdings eine Tochter bekommen hatte. Mein Vater versuchte schneller, sich mit den Tatsachen zu arrangieren, sprach allerdings nie wieder darüber, weder mit meiner Mutter noch mit Nils selbst. Meine Mutter grübelte hingegen jahrelang, warum nur es zu dieser Tragödie kommen konnte.
„Wenn wir ihm den Film frühzeitig weggenommen hätten, wäre er heute sicher noch unser Nils!“ Davon ist meine Mutter felsenfest überzeugt. „Dieser schreckliche Film müsste verboten werden.“
„Das ist doch Unsinn, Mama. Er wäre so oder so diesen Weg gegangen“, habe ich sie oft – und meistens erfolglos – zu trösten versucht.
„Wieso denn das? Er hat sich doch in diese Alicia verguckt. Tag und Nacht hat er sie sich angeschaut. Da ist es doch nicht ausgeblieben, dass er so geworden ist wie diese schreckliche Frau.“
„Er ist so geboren, Mama!“
„Nix da! Gesund und völlig normal hab ich ihn auf die Welt gebracht. Er war immer ein richtiger Junge bis …“
So richtig davon überzeugen, dass nicht der Film schuld gewesen ist, konnte ich sie nicht. Und vielleicht ist es auch gut, dass sie Hollywood für die Transsexualität ihres Sohnes verantwortlich machen kann. Dennoch blieb Nils für sie immer Nils. Alicia nannte sie ihn zwar recht bald. Aber so einfach kam ihr das nicht über die Lippen. Am meisten machten ihr das Geschwätz und die Reaktionen der Nachbarn zu schaffen. Das ist bis heute so geblieben.
„Die Frau Huber, die grüßt mich nicht mehr“, beschwerte sich meine Mutter irgendwann nach dem Outing.
„Und in der Metzgerei bekomme ich keinen Rabatt mehr auf die Leberwurst.“
Mein Vater hörte nach über 20 Jahren plötzlich das Boccia-Spielen auf. Das hatte er geliebt und, so lange ich mich erinnern konnte, keinen einzigen Sonntag versäumt, um dort hinzufahren. Aber dann ging er einfach nicht mehr hin und lange war ihm nicht zu entlocken, warum. Irgendwann nach einigen Gläschen Bier rutschte es ihm dann doch noch heraus.
„Die Drecksäcke haben mir eine rosa Schleife an den Spind gehängt. Ich hab sie dem Erstbesten ins Maul gestopft. Und das war‘s!“
Es dauerte eine Weile, bis ein wenig Normalität bei uns einkehrte und meine Eltern allmählich akzeptierten, dass ihr Nils nun Alicia war. Für mich war es ein wenig leichter. Das lag vor allem daran, dass mir Nils, nachdem er nicht mehr mein Bruder, sondern meine Schwester war, um Längen sympathischer wurde. Als Junge war er nur hysterisch. Als Alicia wurde er erträglich. Als Junge weinte er sofort, sobald er nicht das bekam, was er wollte. Als Frau war er männlicher. Da schrie er kaum noch. Er lächelte als Frau auch auf einmal öfter. Als Junge war er meist nur schlecht gelaunt. Da hatten wir häufig nur gestritten. Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass wir uns gehasst hatten. Nachdem er zur Frau wurde, haben wir uns von jetzt auf gleich blendend verstanden. Ich hasste zwar seine Perücke, aber mit ihr auf dem Kopf war er für mich auf einmal wie ein ganz anderer Mensch: einer, mit dem ich nun gerne meine freie Zeit verbrachte.
Verrückt! Aber es war so. Für mich war seine Verwandlung also ein Gewinn. Für meine Eltern wurde er das erst, als er sich – und damit auf gewisse Weise auch sie – beruflich rehabilitierte, indem es ihm gelang, den ramponierten Ruf der Familie ein wenig aufzupolieren. Alicia studierte nach dem Abitur nämlich Medizin, promovierte und eröffnete später sogar eine eigene Praxis. Das entschädigte meine Eltern für vieles.
„Das freut mich, dass der Junge wenigstens da mal normal tickt“, hatte meine Mutter erleichtert aufgeatmet, als sie bei der Examensfeier neben ihm mit Tränen in den Augen stolz dastand. Mittlerweile ist meine Mutter sogar wieder ein bisschen stolz auf ihn. Ich meine: auf sie!
Gregors „Alice im Wunderland“- Garten ist jedenfalls nicht hübsch anzusehen. Vielleicht wäre er es, wenn er mich nicht an Alice erinnern würde. Überall wachsen orientierungslos Rosen, blühen wilde Blüten, schießen Bäume ziellos aus dem Boden in die Höhe. Ich atme den Duft der Blumen ein und kämpfe mich durchs Dickicht bis zum Haus. Verwahrlost steht es da. Darin könnte auch Frankensteins Monster hausen, denke ich und gehe weiter – wobei selbst der es feudaler hätte als Gregor.
Die Tür ist wie immer nicht verschlossen.
„Wozu einen Schlüssel benutzen? Ich lasse mich nur ungern einsperren“, hatte er mir mal erklärt. „Da würde ich mich wie im Käfig fühlen.“
Angst vor Einbrechern hat er nicht. Ich glaube, dass er noch nicht einmal weiß, dass es tatsächlich Menschen gibt, die in Häuser eindringen, um zu stehlen. Ein solcher Gedanke ist ihm völlig fremd. Da ist Gregor so naiv wie ein Kind, eigentlich wie ein Neugeborenes. Oder sollte man blauäugig sagen? Und Käfige hasst er, weswegen er seinen Papagei, Madame Lunette, auch nicht in einem hält. Die in die Jahre gekommene bunte Dame residiert stattdessen in einem Häuschen aus marodem Holz. Es hat zwei übergroße Fenster, eine riesige Tür und ein offenes Dach.
„Da fühlt sie sich frei und kann hinausfliegen, wann immer sie will“, begründet Gregor die Baumaßnahme.
Das macht der eigentümliche Vogel aber nicht. Er sitzt stets brav in seinem Häuschen und schaut den ganzen Tag nur aus einem der Fenster. Hin und wieder geht Madame Lunette im Häuschen auf und ab. Dabei wiederholt sie immer nur den einen Satz, von dem ich nicht so recht weiß, woher sie ihn eigentlich hat:
„Draußen ist es immer finster! Draußen ist es immer finster! Draußen ist es immer finster!“
Sie schafft es bis zu zwanzig Mal hintereinander, ihn gebetsmühlenartig hinunterzuleiern. Manchmal wird mir davon regelrecht schlecht.
„Madame Lunette, sei jetzt bitte ruhig, ich kann mich nicht konzentrieren“, fordert Gregor sie oftmals höflich auf, wenn es auch ihm mal zu viel wird.
„Draußen ist es immer finster!“, sagt sie dann nur noch einmal, um dann tatsächlich den Schnabel zu halten.
Ich öffne die Tür. Sie quietscht unangenehm. Ich trete in den verwaisten Flur. Trostloser könnte keine Diele sein. Sie ist leer, kalt, düster. Es steht nichts darin: kein Schrank, keine Garderobe, kein Teppich, kein einziger Gegenstand. Ich mache mir zwar nichts aus Deko oder Möbeln. Aber das hier ist ein wahrhaft hässlicher Anblick. Mich friert es jedes Mal, wenn ich diesen Flur betrete, obwohl ich in diesem Moment froh bin, hier und nicht zu Hause zu sein. Überall ist es gerade schöner als in unserem unheilschwangeren Wohnzimmer.
Draußen scheint die Sonne, doch sie dringt nicht bis ins Haus vor. Es gibt kaum Fenster. Den Architekten, der so ein Haus entworfen hat, müsste man erhängen. Aber für Gregor ist es genau das Richtige.
Bei jedem Schritt knarrt es unter meinen Füßen.
Hoffentlich hält mich die alte Holztreppe aus, sage ich mir und bewege mich vorsichtig weiter.
„Der alte Geizhals sitzt wie immer im Dunkeln“, murmele ich leise vor mich hin und gehe weiter. Ungemütlich ist es, dieses alte Ungetüm, in dem es in allen Ecken zieht wie Hechtsuppe, denke ich. Aber auf gewisse Weise hat es auch seinen Reiz. Insbesondere heute ist es sogar irgendwie anziehend. Wer braucht schon die Ordnung von Tassen, die auf Hochglanz poliert sind und auf einem akkurat gedeckten Kaffeetisch stehen? Ich sicher nicht! Und wozu lila Teppiche? Ich schüttele mich bei dem Gedanken und kämpfe mich weiter nach oben.
Gregor hält sich wie üblich in seinem Büro auf dem Dachboden inmitten all seiner Bücher auf. Kein einziges Licht brennt im Haus. Im Halbdunkeln taste ich mich hinauf. Ich kenne mich aus. Schließlich bin ich oft genug hier.
Meiner Frau wäre es lieber, wenn ich Gregor nicht mehr aufsuchen würde. Zumindest will sie, dass ich mir zuvor ihre Erlaubnis dafür einholen würde – schriftlich, versteht sich. Das hätte sie gern. Es geht hier einzig und allein, darum, um Erlaubnis zu fragen und eine Erlaubnis erteilt zu bekommen! Doch wenn es nach meiner Frau ginge, dürfte ich mir ohne ihre Erlaubnis noch nicht einmal mehr die Schnürsenkel zubinden, geschweige denn mir selbst den Hintern abputzen. Ich gebe zu, so schlimm ist es noch nicht. Aber wir entwickeln uns zielsicher in diese Richtung. Fakt ist, dass sie es gerne sähe, wenn ich ihn nicht mehr sehen würde.
„Was ist das für eine seltsame Freundschaft, die ihr da habt? Ich verstehe nicht, was du an ihm überhaupt findest!“, meckert sie jedes Mal, wenn wir uns wegen dieses leidigen Themas streiten, was regelmäßig der Fall ist.
„Er ist so seltsam, Leo, in allem. Eigentlich passt ihr doch gar nicht zueinander. Und dann diese Treffen in diesem seltsamen Haus! Ach, ich weiß nicht, was das alles mit diesem komischen Vogel zu bedeuten hat.“
„Dass ich ihn mag, auf diese Idee kommst du gar nicht, stimmt’s? Ich mag ihn einfach so oder vielleicht gerade, weil er so anders ist. Ich würde dazu jedoch nicht ‚anders‘ sagen, sondern ‚besonders‘!“
„Was ist denn so besonders an ihm? Er geht keiner richtigen Arbeit nach und verlässt das Haus so gut wie nie. Er kommt dich nie besuchen. Ihr unternehmt nichts zusammen. Er ist ein absoluter Freak, Leo!“
„Ja, das mag sein, Irene. Aber was ist schlecht daran, ein Freak zu sein?“
Diese Frage hat Irene bislang immer offengelassen. Und ich wundere mich wirklich, dass gerade sie Freaks ablehnt, da sie doch eine Mutter hat, die schlimmer ist als ein ganzes Fußballstadion voller Freaks.
Sie lehnt Gregor schlichtweg ab, meines Erachtens völlig unbegründet. Gerne würde sie mich deswegen unter Hausarrest stellen, weil ich es trotz ihrer unsinnigen Verbote doch noch wage, Tag für Tag dorthin zu marschieren. Ich glaube, sie fürchtet, er könnte mich mit seinem Anderssein anstecken. Und deshalb will sie mich von ihm fernhalten. Was das angeht, ist Irene strenger zu mir als zu unseren Kindern. Was keine Leistung ist: Denn unsere Kinder hat sie so wenig im Griff, dass wir froh sein können, dass wir in diesem Haus überhaupt noch was zu sagen haben. Eigentlich erziehen die Kinder nämlich uns. Das ist einzig und allein Irenes Schuld. Als sie noch klein gewesen waren, meinte sie, ich sei zu streng zu ihnen. Regelrecht untersagt hat sie es mir, irgendetwas zu unternehmen, dass die Kinder auf die richtige Bahn gelenkt hätte. Das solle ich einzig und allein ihr, idealerweise noch Uschi, überlassen, lautete ihre klare Ansage. Und jetzt haben wir den Salat. Es fehlt nicht mehr viel, bis wir die Kinder um Erlaubnis fragen müssen, wenn wir mal ausgehen, länger fernsehen oder Freunde nach Hause einladen wollen.
Ich habe jedenfalls noch nie gehört, dass sie Max und Matilda den Umgang mit jemanden verboten hätte. Es hätte ohnehin nichts gebracht, weil
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 10.09.2020
ISBN: 978-3-7487-5703-0
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