Cover

Über dieses Buch:

Der mittelalterliche Kern der Stadt an der Trave, die einmal als „Königin der Hanse“ bezeichnet wurde, übt immer noch einen besonderen Reiz auf Touristen aus. Es leben dort über zweihunderttausend Menschen, viele von ihnen seit Generationen. Manche verbergen düstere Geheimnisse. Einer davon ist Gunnar Lüderupp, dem durch die ganz spezielle Erziehung einer streng religiösen Stiefmutter ein unheilvoller Lebensweg bereitet wurde.

Als der alternde, kettenrauchende Ex-Polizist Konstantin Schatz aus Magdeburg von einer verstorbenen Tante ein Patrizierhaus im Norden Deutschlands erbt, entschließt er sich dazu, zusammen mit seinem alten Kumpel Friedhelm und einer suspendierten Kommissarin aus Essen seinem Leben noch einmal eine neue Wendung zu geben. Niemand von ihnen ahnt, dass in ihrer neuen Heimatstadt ein Wahnsinniger die Apokalypse vorbereitet.

 

Copyright © 2020 Ruben Schwarz– publiziert von telegonos-publishing

 

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Für Aurelia

Aber erst nach dem sechzehnten Geburtstag lesen

 

 

 

Prolog

 

Wahrscheinlich ist es das Beste, wenn ich zuerst einmal erkläre, warum ich mich dazu entschlossen habe, das Ganze für Sie aufzuschreiben. Oder zumindest will ich den Versuch unternehmen, es zu erklären. Ob Sie das überhaupt interessiert, ist noch die ganz große Frage. Das muss ich wohl Ihnen überlassen.

Am Anfang war es gar nicht meine Absicht, einen Roman daraus zu machen, denn wenn man über wahre Begebenheiten berichtet, muss man ja immer peinlich genau darauf achten, die Rechte "Dritter", wie es so schön heißt, nicht zu verletzen. Und immerhin besteht ja auch immer die Gefahr, dass man die Gefühle beteiligter Personen verletzt. Und verletzen wollte ich nun wirklich niemanden. Am allerwenigsten meine Mutter. Aber Melle, meine beste Freundin seit der Mittelstufe, hatte mir irgendwann mal dazu geraten, die ganze Sache einfach aufzuschreiben, von der Seele zu schreiben sozusagen, weil man manche Dinge auf diese Art bekanntermaßen am besten verarbeitet. Dabei bin ich selbst an dem eigentlichen Geschehen nicht einmal direkt beteiligt gewesen. Aber ich habe von meiner Mutter nach und nach so viele schlimme Details mitbekommen, dass die Bilder, die dadurch in meinem Kopf entstanden sind, mir echte Schlafprobleme beschert haben. Und nicht nur das, sie haben meine Sicht auf das Verhältnis zwischen Männern und Frauen, die davor vielleicht auch ein bisschen naiv gewesen ist, nachhaltig verändert. Vielleicht sollte ich sogar sagen, beschädigt.

Meine Mutter hat sich später sogar bei mir dafür entschuldigt, dass sie mir viele Dinge so detailliert geschildert hat. Aber wahrscheinlich ist es für sie damals auch so etwas wie eine Therapie gewesen, darüber zu reden. Ebenso wie für mich das Schreiben.

An Fantasie hat es mir schließlich noch nie gemangelt. Schon als Kind habe ich mir die tollsten Geschichten von Hexen, Einhörnern und Prinzen ausgedacht, die in Höhlen, in tiefen Wäldern oder in verwunschenen Schlössern leben. Die ganze Familie habe ich damit genervt, Mama und Papa allen voran. Jeder, von Tante Beate über Oma Klara bis zu Onkel Jürgen, alle mussten meine Geschichten lesen. Zum Glück aller Beteiligten waren diese damals aber nicht so lang wie das, was ich Ihnen hier zumute. Und es war damals alles nur reine Fantasie. Das was mitunter in der realen Welt passiert, soviel weiß ich heute, schlägt meine naive Fantasie aus Kindertagen um Längen. Leider!

Erst nachdem ich die ersten Kapitel dieser Geschichte ins Unreine getippt hatte, kam mir die Idee, vielleicht ein Buch daraus zu machen. Der Stoff schien mir allemal für einen spannenden Roman auszureichen. Zumindest war und ist das meine persönliche Meinung.

Melle habe ich von der Idee zuerst mal nichts erzählt. Irgendwie hatte ich Hemmungen, Angst mich lächerlich zu machen. An Ma habe ich die Geschichte dann mal als Word-Dokument per E-Mail geschickt, als ich sie ungefähr zur Hälfte fertig hatte.

„Du musst dir das nicht reinziehen“, hatte ich ihr am Telefon gesagt, „wenn dich das irgendwie abfuckt."

Schließlich hatten die Geschehnisse meine Ma damals als unmittelbar Beteiligte und als eine der Hauptbetroffenen sehr stark emotional erschüttert. Aber sie hat es trotzdem gelesen und mich darin bestärkt, den Roman fertig zu schreiben.

„Du hast einen guten Stil, Kind“, hatte sie zu mir gesagt. „Es hat mich richtig gefesselt, hätte ich so nicht erwartet. Also ich würd´s kaufen, das Buch."

Wir hatten beide ein bisschen gelacht am Telefon. Das hatte gutgetan. Keiner von uns beiden hat damals wirklich daran geglaubt, dass die Geschichte mal als Buch gedruckt, geschweige denn gekauft werden würde. Immerhin hat Ma mich aber auch vor zu hohen Erwartungen gewarnt.

„Jule, du musst da erst mal nen Verlag finden, der das veröffentlichen will“, hatte sie zweifelnd zu mir gesagt. „Es gibt ja schon so viele Bücher auf der Welt, und täglich schreiben so viele Leute irgendwas Neues. Ich will ja nur, dass du nicht hinterher traurig bist, Kind, okay?"

 

Also bevor Sie das Buch nun wieder zuklappen und kopfschüttelnd zur Seite legen, sollte ich mich vielleicht erst mal vorstellen. Mein Name ist Julia Dellinghausen, und ich werde in einem knappen Monat zweiundzwanzig Jahre alt. So richtig gut, ich möchte es fast innig nennen, ist das Verhältnis zu meiner Mutter erst geworden, nachdem man sie bei der Polizei rausgeschmissen hat. Das war 2016, ich glaube im April. Es war damals weiß Gott keine leichte Zeit für Sie, und wir haben uns in den Wochen nach dem Rauswurf ziemlich oft getroffen.

Als Ma ( ich sage heute meistens Petra zu ihr) sich vier Jahre vorher von Papa getrennt hatte, war ich zunächst stinkwütend auf sie gewesen. Kein Wunder, ich war damals siebzehn und noch so dumm wie acht Meter Feldweg. Daran änderten auch meine guten Noten auf dem Gymnasium in Steele nichts. Die beiden hatten mir aber auch erst viel später erzählt (Petra war´s, die es mir schließlich verraten hat), dass sie Papa damals mit diesem blonden Betthasen erwischt hat.

Wie auch immer, ich bin dann zuerst mit Ma zusammengezogen, aber nach einem knappen halben Jahr mit Sack und Pack zu Papa übergesiedelt, weil ich mich mit Petra nur gezofft habe. Und die hatte durch ihren Job bei der Kripo ohnehin kaum Zeit für mich. Man muss dabei erwähnen, dass meine Ma Kriminalhauptkommissarin beim Essener Morddezernat war, das heißt, sie hat es geleitet, und bei dem Verein müssen sie wohl im Bücherschrank einen Duden gehabt haben, in dem der Setzer unter F das Wort Freizeit schlichtweg vergessen hatte. Vermutlich war dieser Duden ein ganz wertvolles Mängelexemplar, was die Sache aber nicht besser machte.

Na ja, jedenfalls hatte Petra sich viele Jahre den Arsch aufgerissen für diesen Verein, hat jede Menge böser Buben und Mädels hinter schwedische Gardinen befördert, mit dem Ergebnis, dass man sie zur Belohnung bei der erstbesten Gelegenheit vor die Tür gesetzt hat, nur weil sie ein einziges Mal versucht hatte, ein bisschen Menschlichkeit in die kalte Paragraphenwüste zu bringen. Sie konnte dabei noch froh sein, dass man ihr nicht auch den Pensionsanspruch gestrichen hat. Mensch, bin ich damals sauer gewesen, als ich davon erfuhr. Wenn ich eins nicht abkann, dann ist es Ungerechtigkeit. Wie schon gesagt, die Sache hat damals Ma und mich irgendwie einander nähergebracht.

„Sie können nicht anders handeln, Kind“, hat sie mal zu mir gesagt. „So sind nun mal die Gesetze. Es hätte eben keiner davon erfahren dürfen. Aber wenn sowas rauskommt, müssen die so handeln."

Meine Ma hat es dann (es musste ja irgendwie weitergehen) beruflich an die Ostsee verschlagen. Das fand ich sehr traurig, denn irgendwie waren wir gerade erst richtig sowas wie Freundinnen geworden. Ihre neuen Kollegen habe ich kurz danach kennengelernt, als ich sie dort oben übers Wochenende besuchte. Eine voll krasse Truppe, mit zwei Typen irgendwo so zwischen Rente und Scheintod und voller Marotten, aber doch irgendwie nicht uncool. Na ja, und so richtig kennengelernt habe ich die Leute erst später durch Mamas Erzählungen, nachdem diese „Sache" da oben im Norden passiert war.

Hatte ich schon erwähnt, dass ich mit viel Fantasie begabt bin? Ich glaube, ich hatte es erwähnt. Ob das wirklich eine Gabe ist, sei noch dahingestellt. Als ich nämlich damit begonnen habe, die ganze Geschichte aufzuschreiben und in eine Romanform zu bringen, habe ich schnell gemerkt, dass ich zwar viele Details kenne und auch viel über die beteiligten Personen weiß, mir aber doch manche Informationen darüber fehlen, wie die einzelnen Begebenheiten zusammenhingen. Das konnte mir noch nicht einmal Ma bis in jede Einzelheit berichten. Und letztendlich bin ich ja auch nicht wirklich dabei gewesen. Deshalb habe ich mir erlaubt, an einigen Stellen meine vielgepriesene Fantasie einzusetzen, um Lücken in der Geschichte zu füllen. Seien wir ehrlich, es gab sehr viele Lücken, in denen Fantasie gefragt war. Dass das hier kein Tatsachenbericht, sondern ein Roman geworden ist, werden Sie sehr schnell schon im ersten Kapitel merken, da muss man sich nichts vormachen. Aber ich schwöre jeden Eid, dass sich die Geschichte im Großen und Ganzen so abgespielt hat, wie ich es hier aufgeschrieben habe. Oder denken Sie, dass meine Ma mich angelogen hat? Immerhin ist sie viele Jahre Beamtin im gehobenen Dienst gewesen. Die sind schließlich der Wahrheit verpflichtet. Und wenn Sie jetzt in meine blauen Augen schauen könnten, würden Sie wissen, dass die Geschichte wahr ist.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1

Die Kiefer

 

Schon seit mehreren Tagen hatte sich der Himmel in ein schwermütiges Grau gehüllt. Die Wolken hingen träge und fast unbeweglich in den Tälern wie staubige Zuckerwatte. Die grasbedeckten Hänge, aus denen sporadisch einzelne Kiefern und Fichten herausragten, hatten sich mit Wasser vollgesogen und die dunkelgrauen Felsbrocken, irgendwann während der letzten Eiszeit von einem mächtigen Panzer gefrorenen Wassers hier zurückgelassen, waren an ihren Nordseiten stark von dunkelgrünem Moos besetzt und glänzten nass im trüben Tageslicht.

Der Sturm, der dann an jenem Sonntagmorgen gegen Ende des Novembers 1970 aufzog, war der letzte der ausklingenden Herbstsaison, bevor sich der alpine Winter mit Schnee und Frost über Berge und Täler legte.

Der reife Zapfen hatte schon seit längerer Zeit recht lose an seinem Zweig gehangen und wurde jetzt von einer Böe, die einen Regenschwall gegen die Kiefer warf, abgerissen. Da sein Platz relativ weit oben in dem mächtigen Mutterbaum gewesen war, trug ihn der Sturm ein paar Meter in südöstliche Richtung davon, bevor er hart auf einem riesigen, wohl mehrere Meter durchmessenden Felsbrocken aufschlug, zweimal in die Luft hüpfte und dann von dem Stein herabrollte, um ein gutes Stück weiter unten auf einem schmalen Wirtschaftsweg zur Ruhe zu kommen.

Beim Aufprall hatten sich ein paar der Samenschuppen vom Zapfen gelöst, die dann im Laufe der nächsten Minuten von den sturmgepeitschten Regenschleiern in den schmalen Spalt gespült wurden, der den Felsen fast von einem bis zum anderen Ende teilte.

Sowohl der eigentliche Kiefernzapfen als auch die meisten der abgelösten Schuppen fielen der Nässe der folgenden Wintermonate zum Opfer; sie moderten und verwandelten sich in braunen Matsch, wobei der Zapfen auf dem Wirtschaftsweg zusätzlich von einem der gefühllosen Hinterreifen eines John Deere-Traktors zermalmt wurde.

Nur einer der Samen begann im nächsten Frühjahr in der Spalte des Felsens zu keimen. Da er an dem ihm vom Schicksal zugewiesenen Platz nur sehr wenig Erde vorfand, die im Laufe der Jahre vom Wind hierhergetragen worden war, und er nach Wasser zu lechzen hatte, sobald es ein paar Tage nicht regnete, wurde das Wachstum für ihn zu einem mühseligen Geschäft.

Der Keim, aus dem ein winziges, mutiges Bäumchen werden wollte, hatte seine Wurzeln sehr tief und verzweigt in den Felsspalt zu treiben, um die geringe Überlebenschance zu nutzen, die sich ihm bot. So kam es, dass das Astwerk der kleinen Kiefer nach Jahren auf ungewöhnliche Art verkrüppelt, verdreht und verknotet wirkte, wie die Finger einer gichtgeplagten Hand. Sie hatte an ihrem Platz den Felsspalt mit ihrem Wurzelgeflecht so gut wie vollständig ausgefüllt, und es sah so aus, als ob die Anzahl der Wurzelstränge die der Äste bei weitem in den Schatten stellte. Unterhalb ihres Felsens im satten, fruchtbaren Untergrund hatten andere junge Kiefern, die fast gleichzeitig mit ihr gekeimt hatten, schon bald die doppelte Höhe erreicht, profitierten von dem nährstoffreichen Boden und blickten mit ihren Zweigen, die von geraden Stämmen ausgingen, stolz und überheblich auf ihre verkrüppelte Schwester herab.

Die Kiefer selbst wusste von alledem nichts. Sie tat das ihrige, dass die Natur ihr vorgab und wurzelte, zog aus den hintersten, tiefsten und schwer zugänglichen Bereichen Wasser heran, um das Leben, das in ihr steckte, zu bewahren und zu vermehren. Ihr knorriges und starkes Wurzelwerk stemmte sich mit aller Kraft gegen den harten Felsen, denn es war die Enge, die inzwischen ihr Wachstum mehr beeinträchtigte als fehlendes Wasser oder Erdreich.

Der Frühling wich dem Sommer, der seinerseits von Herbst und Winter abgelöst wurde. Ob die Sonne unbarmherzig auf sie herniederbrannte, oder ob ihre knorpeligen Äste und Zweige vom Schnee beschwert wurden, der Fels hielt die Kiefer umklammert wie eine unerbittliche, eiserne Faust, als wäre es seine einzige Aufgabe, das in ihm sich ausdehnende Leben zu unterdrücken, zu bannen, es zu ersticken. Und während sie sich im Laufe der Jahre mühsam Zentimeter um Zentimeter in die Höhe kämpfte, thronten die Kronen der Geschwister inzwischen erhaben über ihr.

Vielleicht war es aber auch der Fels, der die ganzen Jahre über um sein Überleben kämpfte. Vielleicht war auch für ihn eine Bedrohung entstanden aus etwas Winzigem, Unbedeutendem, das in seinem Bauch heranwuchs und seine eigene Existenz bedrängte, seinen angestammten Platz gefährdete, den er seit Tausenden von Jahren behauptete.

Es war ein Spätsommertag mit hohen Temperaturen und strahlendem Sonnenschein, an dem die Kiefer, wie so oft in ihrem Leben, die letzten Energien in die äußersten und jüngsten Triebe pumpte, um wenigstens die Art zu erhalten, wie die Evolution es ihr vorgab, war sie doch selbst in stetiger Gefahr zu verdorren, als mit einem Mal ein lautes Krachen sie umgab, während sie gleichzeitig eine jähe Befreiung aus ihrem engen Korsett verspürte. Es zerrte mit einem Mal brutal an ihrem Wurzelgeflecht, und es schien, als müsse sie nun den Felsen, der ihr jahrelang im Wege gestanden war, um jeden Preis halten, weil er ihr schließlich auch Stütze und Schutz geboten hatte. Die Natur der Kiefer entschied sich und klammerte sich an die eine Hälfte des Felsens, die an ihrem Platz verharrte und sich an den Hang schmiegte, wie in den all den Jahren zuvor. Die andere Hälfte des mächtigen Steins gab den Kampf auf, ergab sich ihrem Schicksal und erlag dem jahrelangen Druck, den die Kiefer auf sie ausgeübt hatte, ohne es zu wissen. Der halbe Felsen neigte sich unendlich langsam talwärts, kippte schließlich und rutschte, nachdem er zuvor einen der umstehenden Bäume entwurzelt hatte, gegen einen weiteren Felsen, zerbarst mit höllischem Getöse und Grollen in mehrere kleinere Teile, die immer schneller werdend, andere Felsbrocken und junge Bäume mit sich reißend, den Hang hinabrollten, sprangen, walzten.

Wenn jemand alle folgenden Ereignisse schon zu diesem Zeitpunkt erahnt hätte, er hätte daraus lernen können, dass alles mit allem zusammenhängt, und das alles, was heute passiert, seinen Ursprung und Auslöser in der Vergangenheit hat, dass es das jeweilige Ergebnis einer Kette von Ereignissen ist, die manche Vorsehung und andere Zufall nennen. Denn an diesem Tag verlor der erst vierjährige Gunnar Lüderupp viel zu früh seine junge Mama, die ihn abgöttisch geliebt hatte, bei einem Steinschlag während eines Urlaubs in den Südtiroler Alpen.

Zehn Jahre hatte die Anbahnung dieses Unglücks gedauert, um genau im richtigen Moment am richtigen Ort zu geschehen.

Die Kiefer, die sich mit einem Teil ihrer Wurzeln verzweifelt an eine nackte Felswand klammerte, während der andere Teil hilflos vertrocknend ins Leere griff, lebte noch zwei oder drei Monate länger. Einen genauen Todestag konnte man bei einer Kiefer nicht bestimmen.

 

 

 

2

Konstantin Schatz

 

Es war Mai, und nach einigen Tagen mit wechselnder Bewölkung und häufigen Regenschauern war heute der zweite Tag, den man schon fast als Sommertag bezeichnen konnte. Die Buchen und Ahornbäume hatten in den vergangenen Tagen mächtig ausgetrieben und zeigten im Sonnenlicht und der klaren Luft des jungen Tages ihr Grün in solch überschwänglicher, ja prahlerischer Opulenz, dass es dem in die Jahre gekommenen Betrachter fast in den Augen wehtun wollte. Am Rande der frisch geharkten Spazierwege wetteiferte das hellblau der Rhododendren mit dem leuchtenden Violett der Azaleen, als wollten alle zusammen den Mann zu einer gemeinsamen Erneuerung aufrufen, die ihnen selbst schließlich Jahr für Jahr in jedem Frühling aufs Neue glückte.

Der Mann hatte sich auf einer der dunkelgrün lackierten Bänke im Schatten niedergelassen. Er selbst, Konstantin Schatz, mit dessen Konstitution es ganz und gar nicht zum Besten stand und der sich weit von einer Erneuerung entfernt sah, reagierte fast ein wenig missmutig auf die spöttische Vitalität seiner Umgebung. Um den Zustand seiner eigenen Vitalität zu diagnostizieren, benötigte Konstantin Schatz keinen Arzt. Die regelmäßig auftretenden Hustenanfälle, die manchmal nicht enden wollten, und bei denen sein Inneres nach außen zu streben schien, sprachen für ihn eine eigene, deutliche Sprache. Natürlich musste die jahrzehntelange Raucherei irgendwann Wirkung zeigen. War das nicht immer klar gewesen? Als Schatz jung gewesen war, hatte niemand über die schädlichen Auswirkungen des Rauchens geredet. Onkel Karl, sein Patenonkel und Bruder des Vaters, hatte ihn sogar zu seiner ersten Kippe ermutigt. Damals war er vierzehn Jahre alt gewesen und hatte, was das Rauchen anging, in seinem Umfeld fast schon als Spätzünder gegolten.

Viele Jahre, zuerst in der Armee und später auch noch bei der Volkspolizei hatte er Juwel geraucht, die richtige, die alte Juwel aus Dresden. Nicht die Schweinejuwel, die sie aus Bulgarien importierten. Es hatten ja damals schließlich alle geraucht wie die Schlote, und selbst die Ärzte hatten da keine Ausnahme gemacht.

Ein paar Jahre lang, ungefähr seit der Maueröffnung, hatte er sich selbst welche gedreht. Seltsamerweise ausgerechnet nach seiner Pensionierung war ihm das dann zu aufwendig und zu lästig erschienen - Rentner haben ja nie Zeit - und er war über Lord Extra bei Lucky Strike gelandet.

Die Hustenattacken waren lästig, aber die Bedrohung, die von ihnen ausging, war nicht akut, sondern bildete eher ein dumpfes Hintergrundrauschen, das zwar immer da war, aber nicht ausreichte, um ein Umdenken herbeizuführen. Richtig Angst hatte der stechende Schmerz in der Brust gemacht, der ihn neulich nachts geweckt hatte. Die Pein im Herzen, die sich angefühlt hatte wie ein glühender Dolch, hatte gefühlt minutenlang angehalten, und der pensionierte Kommissar hatte nach vorn gekrümmt im Bett gesessen und verzweifelt die Faust gegen seine Brust gedrückt. Schatz hatte sich selbst und dem lieben Gott in dieser Nacht geschworen, gleich morgen früh seinen Hausarzt Doktor Weißenheuser aufzusuchen, der ihm auch regelmäßig die Blutdruck-Tabletten verschrieb. Wie alle Schwüre seine Gesundheit betreffend, hatte er dann auch diesen gebrochen. Der Schmerz war seitdem nicht wieder aufgetreten, und Schatz hoffte, dass es dabei bleiben würde, obwohl ihm als analytisch denkendem Kriminalisten klar war, dass die Wahrscheinlichkeit dafür gegen Null tendierte. Am Morgen nach dem Schmerz hatte er sich wie gewohnt, schon bevor die Kaffeemaschine durchgelaufen war, die erste Lucky Strike zwischen die Lippen geschoben.

 

Konstantin Schatz sah auf seine Fossil-Armbanduhr, die mit dem braunen Lederarmband, die ihm Lisbeth zum Geburtstag geschenkt hatte. Es musste der Fünfundfünfzigste oder Sechsundfünfzigste gewesen sein, denn nicht lange danach war Lisbeth mit diesem Italiener aus dem Reisebüro in der Jordanstraße abgehauen. Über den Jordan sozusagen - haha! Das musste jetzt wohl neun Jahre her sein. Zwei Jahre her war inzwischen seine Versetzung in den wohlverdienten Ruhestand. Etwa drei Wochen nach seiner offiziellen Verabschiedung - die Feier in der Letzten Instanz inklusive der Ansprache des Polizeirats Wintzlohner hatte er geschwänzt - war ihm aufgefallen, wie sehr er seinen Beruf geliebt hatte. Eine Hassliebe musste es wohl gewesen sein, denn während seiner Dienstzeit hatte er es selten so empfunden.

„Mensch Conny“, hatte sein jüngerer Kollege Hajo an einem seiner letzten Diensttage zu ihm gesagt, „du kannst so froh sein. Diesen ganzen Dreck, den wir hier tagtäglich wegschippen, brauchst du nicht mehr sehn. Genieß dein Leben, Conny. Fahr mal weg, in den Süden oder so. Du weißt gar nicht, wie sehr ich dich beneide."

Hajo war es auch gewesen, der mehr als einmal, wenn es Schatz wieder in einer Hustenlawine weggerissen hatte, zu ihm gesagt hatte: „Das klingt aber nich jut. Du solltest damit zum Arzt."

Schatz hatte dann meistens abgewunken und erwidert: „Wenn ich Pensionär bin, hab ich Zeit für Arztbesuche."

Konstantin hatte es nach seiner Pensionierung genossen, einmal völlig loszulassen. Keinen Druck zu haben, morgens aufzustehen. Keine Überstunden im Präsidium bis in die Nacht, keine Besprechungen, keine nervigen Pressekonferenzen, keine Verdächtigen ohne jegliches Unrechtsbewusstsein, aber mit umfassender Kenntnis ihrer staatsbürgerlichen Rechte. Keine Wasserleiche, die in nebeliger Nacht aus der Elbe gefischt wurde und deren Gesicht durch Einwirkung einer Schiffsschraube oder eines Aals aussah wie schimmeliger Hackbraten.

Ungefähr drei Wochen hatte er es genossen, in etwa für die Dauer eines normalen, ausgedehnten Jahresurlaubs. Dann war Konstantin Schatz aufgefallen, dass nichts mehr kam. Ein Tag ähnelte dem anderen. Er stand früh auf, obwohl er es nicht musste. Er sah sich schon am Vormittag schwachsinnige Fernsehserien und Kochshows an. Er blieb nachts zu lange auf, weil er zu träge war, ins Bett zu gehen, und er ertappte sich mehr als einmal bei dem Gedanken, dass es ganz okay wäre, wenn es das jetzt für ihn gewesen sein sollte. Wenn der Sensenmann gefragt hätte, ob er vielleicht mit ihm gehen will, er hätte vielleicht spontan zugestimmt. Zumindest an so manchem späten Abend bei der dritten oder vierten Wiederholung eines Polizeirufs im MDR, bei dem der Mörder gerade noch rechtzeitig vor Ende des Krimis überführt werden konnte, obwohl Schatz es ihm von Herzen gegönnt hätte, dass er vielleicht dieses Mal davon kommt, nur um die Monotonie zu durchbrechen. Der Tod war nichts, wovor er sich wirklich fürchtete. Aber das Sterben an sich, der Übergang war das Problem, zumal wenn er vielleicht mit Schmerzen und Angst einherging, mit Krankenhaus und dem Geruch von Desinfektionsmitteln und Urin.

Hajo Hitzblech hatte noch etwas anderes zu ihm gesagt: „Und lass dich bloß demnächst mal wieder im Präsidium sehen, Conny. Du weißt, dass wir uns alle freuen, okay?"

Hajo war ein prima Kerl. Klar, Schatz hatte es hoch und heilig versprochen und sich in den vergangenen zwei Jahren nicht ein einziges Mal bei den ehemaligen Kollegen blicken lassen. Er wusste doch, wie das ist. Der Betrieb geht weiter, die Kollegen haben ihre Fälle, ihre laufenden Ermittlungen. Die haben gerade darauf gewartet, dass ein Rentner auftaucht und mit ihnen alte Zeiten aufleben lässt. Für sowas ist doch nie Zeit.

Klar, er wäre gerne mal mit Hajo nach Feierabend ein Bier trinken gegangen, im Clockwork Violet oder zur Not auch in der Letzten Instanz. Aber irgendwie hatte Schatz sich nie getraut anzurufen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Ist doch so, oder? Er sah wieder auf die Uhr. Zwanzig vor Elf - noch zwanzig Minuten bis zu seinem Termin beim Notar. Doktor Schlesinger und Kollegen hatten ihre Kanzlei in der Walther-Rathenau-Straße, direkt hier am Geschwister-Scholl-Park. Der Park war, daran musste er manchmal denken, für Schatz eng verknüpft mit seinem letzten Fall als Ermittler. Damals, kaum zwei Jahre her, hatte hier eine durchgeknallte, junge Frau einen Mann mit einem Radmutternschlüssel ins Koma geprügelt. Der Mann war später im Krankenhaus gestorben. Das heißt, er war hirntot und man hatte die Apparate abgeschaltet. Nicht, dass es um den Kerl schade gewesen wäre, der hatte selbst genug Dreck am Stecken gehabt, und eins seiner liebsten Hobbys war es gewesen, seine Frau zusammenzuschlagen. Alles Schnee von gestern.

Konstantin Schatz war heute Morgen extra etwas früher mit seinem alten, grauen Passat losgefahren, weil das Wetter so schön war und er gehofft hatte, dass sich dadurch seine Stimmung etwas heben würde. Es war schon überraschend gewesen, als der Brief von Doktor Schlesinger in der Post gelegen hatte. Eine Erbschaftsangelegenheit! Wer sollte ihm um Himmels willen etwas vererben? Scheiß drauf! Er brauchte kein Geld. Mit seiner Pension als Hauptkommissar kam er mehr als gut über die Runden. Schließlich brauchte er nicht viel. Wann hatte er sich den letzten Anzug gekauft? Gefühlt musste das noch zu D-Mark-Zeiten gewesen sein.

Aber dann war er doch neugierig geworden. Tante Sophie hatte in den siebziger Jahren rüber gemacht, wie man so schön sagte, zusammen mit einem Freund. Über die Ostsee. Irgendwann hatte ihm jemand erzählt - einer seiner Neffen - dass Tante Sophie im Westen irgendwo an der Ostsee ein hohes Tier geheiratet hatte, einen Gerichtspräsidenten oder Oberregierungsrat oder so etwas. Danach hatte sich die Spur von Tante Sophie verlaufen, und da er ohnehin nie viel Kontakt zu ihr gepflegt hatte und zur damaligen Zeit seine Sympathie für Republikflüchtlinge sehr begrenzt gewesen war, hatte ihn der Verbleib der Tante auch nicht weiter interessiert.

Konstantin Schatz stemmte seine Handflächen auf die Knie und stand mit einem Ächzen von der Bank auf. Zwei Sperlinge zeterten aufgeregt in den Zweigen über seinem Kopf. Wahrscheinlich fühlten sie sich von ihm gestört. Oder sie plauderten darüber, dass es unter dem Baum gegenüber mehr Mücken gäbe als hier. Vielleicht konnten sie auch einfach nur die Schnäbel nicht halten, weil sie sich so über den Frühling freuten. Auch hier zeigte sich Erneuerung. Wachsen, vitales Leben im Aufbruch. Irgendwie fand das alles ohne Konstantin Schatz statt. Der Bauch war auch so ein Problem, gegen das man etwas tun sollte. Das sagte ihm Doktor Weißenheuser jedes Mal, wenn er ihn zu fassen kriegte, während er doch eigentlich nur schnell im Vorzimmer sein Rezept abholen wollte. Übergewicht, Bluthochdruck, Arthrose in den Knien, irgendwie gehörte das doch alles zusammen, oder? Und dann noch die Lunge. Nein, Geld war wirklich das Letzte, was er brauchte. Die paar Kröten konnten sie gerne für einen guten Zweck spenden. Vielleicht für die Krebshilfe oder so. Seine nicht sehr modernen, aber soliden Schnürschuhe riefen knirschende Geräusche auf dem Aschenweg hervor.

 

3

Petra Dellinghausen

 

Der Gesichtsausdruck von Kriminalrat Rüstemeier strahlte den gewohnt autoritären Ernst aus, aber Menschen, die ihn gut kannten, und dazu gehörte Petra Dellinghausen unbestritten, konnten in seinen Augen einen Ausdruck von Bedauern und Wärme erkennen.

„Ich hab´s wirklich versucht, Petra“, sagte er in seinem sonoren Bariton, der jedoch heute irgendwie die gewohnte Festigkeit vermissen ließ. „Feisting hat heute sogar noch mal mit Güstrow telefoniert, es ist nichts zu machen. Die wollen deinen Kopf."

Petra Dellinghausen nickte nur stumm. Die erfahrene Hauptkommissarin fühlte sich ein bisschen wie eine Schülerin, die beim Rauchen auf dem Klo erwischt wurde und nun vor dem Direktor saß. Nur, dass es hier nicht um einen einfachen Verweis ging, sondern sie sollte tatsächlich von der Schule fliegen. Mit Feisting hatte ihr direkter Chef den Polizeipräsidenten gemeint, und Güstrow war Staatssekretär im Innenministerium. Petra Dellinghausen hätte nicht gedacht, dass die Sache so hoch aufgehängt werden würde.

„Lothar, ich weiß doch“, entgegnete sie leise aber gefasst, „ich weiß, dass du getan hast, was in deiner Macht steht."

„Bei allem Verständnis, Petra“, sagte der Kriminalrat und beugte sich nach vorne über seine dunkelgrüne Schreibunterlage, wobei er nervös mit seinem silbernen Kugelschreiber spielte, den er immer benutzte, „aber von einer so, sei mir nicht böse, altgedienten Beamtin hätte ich mehr Voraussicht erwartet." Kriminalrat Rüstemeier war ein großer und hagerer Mann mit vollem grauen Haar. Die auffällige steile Falte auf seiner Stirn schien jetzt noch ausgeprägter zu sein als sonst.

„Ich kann deine Beweggründe ja verstehen. Die Frau hätte mir auch leidgetan, aber Tötungsdelikte sind nun mal keine Bagatellsachen. Das weißt du so gut wie ich, schließlich beschäftigst du dich mit nichts anderem."

„Du hast mit allem recht, Lothar“, antwortete die Kommissarin, die jetzt ein wenig trotzig wirkte, „ich muss dir absolut zustimmen. Und ob der Tote ein totaler Arsch war und die Welt froh sein kann, von ihm befreit worden zu sein, haben die Gerichte zu entscheiden, nicht wir. Wir sind fürs Einbuchten da, nichts weiter. Die wirklich dicken Fische mit ihren Winkeladvokaten sind nach vierundzwanzig Stunden wieder draußen und grinsen uns dabei noch blöd an. Und die armen Wichte, die einmal ne schwache Minute haben, kriegen die geballte Staatsmacht zu spüren."

„Komm mir jetzt bloß nicht mit der Robin-Hood-Nummer, Petra. Echt!"

Rüstemeier hatte seinen Kugelschreiber unsanft auf dem Schreibtisch platziert. Seine buschigen, grauen Augenbrauen zogen sich nach unten und die Stirnfalte wirkte weiß und blutleer.

„Du kennst die Regeln nicht erst seit gestern!", sagte er streng. „Dir ist hoffentlich klar, dass ich dich mag, Petra“, fuhr er fort. „Du machst eine erstklassige Arbeit. Ich schätze dich nicht nur als Polizistin, sondern auch als Mensch. Aber es ist leider nichts mehr zu machen. Glaub mir, niemand bedauert das mehr als ich."

„Doch“, erwiderte Petra Dellinghausen, „ich. Ich denke, ich bedaure es wahrscheinlich noch ein bisschen mehr."

Rüstemeier lehnte sich in seinem Stuhl zurück und hob beide Handflächen in die Luft. Seine Miene enthielt eine Spur von Wehmut. Die Frau, die ihm gegenübersaß, war ziemlich groß, kräftig aber nicht dick und hatte einen relativ kurz geschnittenen Haarschopf, in dem sich die grauen Schattierungen in den letzten Jahren zusehends ausdehnten. Dellinghausens Personalakte lag seitlich auf Rüstemeiers Schreibtisch. Darin hatte er noch kurz zuvor gelesen, dass sie inzwischen siebenundvierzig Jahre alt war. Seit nunmehr fünf Jahren stand sie der Abteilung M1 vor. Das abrupte Ende einer Karriere. Er selbst hätte auch nicht gedacht, dass ein einziger und erster Fehltritt solche Konsequenzen haben würde. Es kam eben immer darauf an, wer über was zu entscheiden hatte. Vielleicht war die harte Beurteilung der Abteilung für interne Angelegenheiten auch politischer Natur gewesen. Offensichtlich wollte man ein Exempel statuieren. Vielleicht wollte jemand sich profilieren. Müller-Degenhardt, der Leiter der Internen, oder Güstrow, der Staatssekretär. Der Präsident auf keinen Fall, der hatte sich für Petra eingesetzt und immer hinter ihr gestanden. Und der hatte es auch nicht nötig.

Kriminalrat Rüstemeier ließ seinen Blick auf der Ausbuchtung ruhen, die das Holster mit der P99 seitlich unter der grauen Strickjacke verursachte, die seine Kommissarin über dem einfachen, dunkelblauen T-Shirt trug.

„Du bist ab sofort suspendiert, Petra“, sagte er knapp.

Die Beamtin bemerkte seinen Blick und entgegnete ebenso knapp: „Kann ich die Sachen gleich bei dir lassen, Lothar?"

Als der nickte, zog sie die Waffe aus dem Holster und ihren Dienstausweis aus der hinteren Gesäßtasche ihrer Jeans. Beides legte sie fast andächtig vor Rüstemeier auf den Schreibtisch. Dann stand sie auf und zog ihre Strickjacke aus. Die Szene wirkte auf den Kriminalrat fast ein bisschen zu theatralisch. Dann nahm sie das Holster von der Schulter, rollte den Gurt zusammen und legte es neben die Waffe.

„Das wär`s dann wohl“, sagte sie, während sie die Strickjacke wieder überstreifte.

„Ja, im Moment wär`s das, Petra“, bestätigte der Kriminalrat und stand ebenfalls auf.

„Alles Gute für dich“, sagte er freundlich, „und lass von dir hören."

Er kam um seinen Schreibtisch herum und streckte ihr die Hand entgegen. Petra Dellinghausen brauchte in paar Sekunden, bis sie sich dazu durchrang, seine Hand zu ergreifen. Sie wusste, dass sie jetzt so schnell wie möglich aus dem Büro des Chefs verschwinden musste. Irgendwo im Hintergrund schien sich ein Stau aus Tränenflüssigkeit zu bilden, der nach außen drängte. Die Kommissarin und ihr Chef sahen sich einen Moment lang an, dann entzog sie ihm ihre Hand und ging schnell zur Tür.

„Danke für alles, Petra“, sagte er.

„Ich meld mich“, antwortete sie ohne große Überzeugungskraft, dann floh sie auf den Flur. Eine Etage höher, wo die Sitte ihre Diensträume hatte, befand sich auch Heikos Büro, aber sie hatte jetzt nicht die Kraft, ihn zu sehen. Sie hoffte, sich bis zum Abend so weit gefasst zu haben, um ihm in Ruhe zu berichten, was passiert war. Jetzt konnte sie auf keinen Fall mit ihm sprechen. Irgendetwas schien ihren Kehlkopf zusammenzudrücken. Die Sehnen am Hals der Kommissarin traten krampfartig hervor. Jetzt erst mal raus hier! Ausgerechnet in dem Moment, als sie die Glastür zur Abteilung M1 passierte, flog diese mit Schwung auf und ihr Kollege Richy Lohnewald trat lachend in den Flur. Ihm folgte die neue Assistentin, deren Namen Petra sich noch nicht hatte merken können. Beide waren offensichtlich bester Laune.

„Verlass dich drauf!", versicherte die junge Frau lachend und verstummte dann.

„Chefin“, sagte Richy und sah die Kommissarin erstaunt an, „was´ los?"

Er hatte zwar gewusst, dass seine Vorgesetzte einen Termin beim Kriminalrat hatte, ahnte jedoch nicht warum.

Petra Dellinghausen winkte nur ab und ging eilig weiter. Kurz bevor sie die Tür zum Treppenhaus erreichte, drehte sie sich um und rief: „Ich meld mich später, okay? Muss weg."

Während sie die großzügige Steintreppe des während des Ersten Weltkrieges errichteten Gebäudes hinunterlief, war nichts mehr zu machen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Kalte Wut war schuld daran und ein nagendes Gefühl der Ungerechtigkeit. Ja, und da war der Schock. Petra Dellinghausen spürte deutlich, dass sie unter Schock stand. Eine Standpauke, ja, damit hatte sie gerechnet und das wäre angemessen gewesen.

Trotzig stieß sie die schwere, verglaste Eichenholztür mit den Messinggriffen auf. Ein kühler, aber nicht unangenehmer Aprilwind wehte ihr entgegen und erfrischte ihr erhitztes Gesicht. Auf dem Weg zum Parkplatz fiel ihr ein, dass sich der Autoschlüssel noch geduldig abwartend in ihrer Jackentasche im Präsidium befand. Ach ja, der Golf gehörte ja auch dem Verein!

Machen wir einen korrekten Schnitt, dachte die frischgebackene Ex-Polizistin. Zu ihrer Erleichterung ertastete sie den Wohnungsschlüssel in der fünften Tasche ihrer Five-Pocket-Jeans. Sie würde ein bisschen zu Fuß gehen und nachher vielleicht das letzte Stück mit der Bahn fahren. Schwarz, versteht sich! Das war die Stadt ihr schuldig. Zu ihrem Erstaunen fiel ihr in diesem Moment ihre Tochter ein. Genau, Julia war der einzige Mensch, mit dem sie jetzt gerne sprechen würde, obwohl der Kontakt zu ihr in der letzten Zeit ein bisschen eingeschlafen war. Sie würde bei ihr anrufen, sobald sie zuhause angekommen war. Hoffentlich würde das Mädchen an ihr Handy gehen. Plan B wäre ansonsten noch Hajo Hitzblech, der Kollege, mit dem sie noch gelegentlich per E-Mail Kontakt hatte.

 

4

Notar Schlesinger

 

„Und Frau ... ähm, Tante Sophie hatte da oben keine Angehörigen? Keinen Einzigen?"

Konstantin Schatz blickte dem Herrn im tadellosen, dunkelgrauen Anzug versonnen und fasziniert auf die Stirnglatze, auf der sich eine kreisrunde Insel mit einem grauen, lockigen Bewuchs präsentierte. Der Notar blätterte in ein paar Unterlagen herum und erwiderte: „Mein Kollege vor Ort und ich konnten keinerlei lebende Angehörige ausfindig machen. Die Ehe von Frau Josephine Engelhardt ist kinderlos geblieben, und auch der verstorbene Ehemann ... Nein, Sie sind eindeutig der einzige lebende Verwandte, Herr Schatz."

Aus dem Wortlaut des Testaments, der sich über mehrere Seiten nicht enden wollend erstreckte, und den der Notar ihm mit sonorer, etwas gleichgültiger Stimme und annähernd ohne Betonung zügig verlesen hatte, konnte das analytisch arbeitende, geübte Gehirn des ehemaligen Kriminalisten die für ihn wichtigen Eckdaten extrahieren. Ohne Mühe blickte es durch die juristischen Verklausulierungen hindurch wie durch hauchdünnes Seidenpapier und sah dahinter die einfachen und verständlichen Fakten.

Immerhin da oben funktioniert´s noch, dachte Schatz nicht ohne Genugtuung, nachdem er einen aufkommenden Hustenreiz erfolgreich niedergekämpft hatte.

Doktor Schlesinger zog ein paar farbig bedruckte DIN A4-Blätter aus seinem Stapel hervor und schob sie über die hölzerne Schreibtischplatte vor sein Gegenüber.

„Das Haus verfügt über acht Wohnräume, zwei Bäder, zwei vollständig ausgestattete Küchen und ein zusätzliches kleines Badezimmer. Das Ganze verteilt sich über die drei Etagen, wie Sie sehen ..."

„Ja, ich sehe“, murmelte Schatz und schob die drei Farbausdrucke mit Fotos hin und her. Es handelte sich durchweg um Außenansichten eines schmalen, hohen Wohngebäudes mit der typischen Fassade eines Patrizierhauses aus rötlich braunen Mauersteinen, wie man sie in den Hansestädten an der Ostsee häufig vorfindet. Die beiden Nachbarhäuser zur Linken und zur Rechten waren jeweils weiß getüncht und bildeten einen irgendwie harmonischen Kontrast, wie Konstantin Schatz fand. Dann entstand ein unangenehmes Kitzeln in seiner Brust und er musste husten. Wenn es einmal angefangen hatte, gab es kaum eine Chance auf ein baldiges Ende. Schatz warf dem Notar einen entschuldigenden Blick zu, gab ein dazu passendes Handzeichen und wendete sich zur Seite ab, während sein Körper durch einen teils bellenden, teils keuchenden Husten geschüttelt wurde. Hastig zog er ein Taschentuch aus der Außentasche seiner Anzugjacke und presste es sich gegen den Mund. Als der Husten nachließ, hatte er einen roten Kopf und die Augen tränten.

„Das klingt aber nicht gut“, kommentierte der Notar mitfühlend. „Sie sollten damit zum Arzt."

„Hm“, brummte Schatz und winkte ab, während er seine Augen abtupfte. „Verschleppte Grippe“, log er, „halb so schlimm."

„Also, Herr Schatz, wie ich Ihnen schon sagte“, begann Doktor Schlesinger routiniert, und man merkte seinem beiläufigen Tonfall deutlich an, dass er derlei Abwicklungen schon sehr häufig betrieben hatte, „wenn Sie es wünschen, übernehme ich sämtliche Formalitäten beim Nachlassgericht, kümmere mich um den Erbschein und setze mich mit dem Grundbuchamt in Verbindung. Die Schlüssel für die Liegenschaft hat mein Kollege vor Ort, den Ihre verblichene Tante zu Lebzeiten mit dem Verfassen des Testaments beauftragt hatte, in Verwahrung. Sie müssten nur gleich noch vorne bei meiner Sekretärin die Vollmacht unterschreiben, und dann geht alles seinen Gang."

„Sie hatten gesagt, das Haus sei schuldenfrei?", warf Konstantin Schatz ein. „Auf die Gefahr hin, dass Sie mich für begriffsstutzig halten, Herr ..."

„Schlesinger“, half der Notar aus.

„Ja, Herr Schlesinger, aber da kommen doch erhebliche Kosten auf mich zu, oder?" Er erinnerte sich zwar, dass der Notar unter anderem auch von nicht unbeträchtlichen Vermögenswerten monetärer Art gesprochen, und diese auch detailliert aufgelistet hatte, sah aber in erster Linie eine Lawine von Schriftkram, Behördengängen und Scherereien auf sich zurollen. Womöglich war der alte Kasten marode und musste von Grund auf saniert werden. Wäre zumindest kein Wunder, schließlich hatten zwei alte Leute jahrelang allein in dem großen Haus gewohnt. Schatz hatte absolut keine Lust, am Ende wegen dieser alten Baracke in die roten Zahlen zu geraten. Das würde ihm gerade noch fehlen auf seine alten Tage. Als erfahrener Kriminalbeamter ließ er sich von der äußerlich ansprechenden Fassade nicht täuschen.

„Bei Ihnen, Herr Schatz, der zu der Erblasserin in keinem Verwandtschaftsverhältnis ersten Grades stand, schlägt die Erbschaftssteuer natürlich nicht unerheblich zu Buche. Aber bei dem genannten Barvermögen und den Wertpapieren sollte auch nach Abzug aller Steuern und Gebühren ein erklecklicher Betrag übrigbleiben."

Der Notar lehnte sich in seinem schwarzen, drehbaren Lehnstuhl, der durchaus nicht billig aussah, zurück, und sein Gesicht nahm einen geduldigen Ausdruck an, der Schatz überhaupt nicht gefiel, denn er wirkte auf ihn wie die Miene eines nachsichtigen Pädagogen, der es mit einem Schüler zu tun hat, der auch nach mehrmaligem, langsamen Erklären immer noch Probleme mit der Anwendung des einfachen Dreisatzes hat.

Schatz spürte mittlerweile ein dringendes Bedürfnis, sich eine Zigarette anzuzünden, verkniff sich aber die Frage, ob das hier gestattet sei, da er nirgendwo einen Aschenbecher sah. Stattdessen nickte er nur verständig und beobachtete, wie Notar Schlesinger an den weißen Manschetten seines Hemdes zupfte. Von der Wand hinter dem Notar blickte ein älterer, distinguierter Herr mit Frack und Fliege durch runde Brillengläser hoheitsvoll und offensichtlich übellaunig aus einem opulenten Ölgemälde. Konstantin Schatz vermutete in der Person irgendeinen Vorfahren des Notars oder den Gründer der Kanzlei, der aufgrund seiner Ausstrahlung vermutlich nicht viele Freunde gehabt hatte.

„Die Voraussetzung ist natürlich, Herr Schatz, dass Sie die Erbschaft annehmen möchten. Sollte das nicht zutreffen, fällt das Erbe, da es keine anderen natürlichen oder juristischen Personen gibt, die erbberechtigt wären, dem Land Schleswig-Holstein zu."

Als er die Miene seines Klienten bemerkte, die sich immer mehr verfinsterte, fügte er schnell hinzu: „Mein Vorschlag wäre daher, Herr Schatz, dass Sie sich die Immobilie einmal persönlich anschauen. Sie machen eine kleine Reise, mein Kollege vor Ort händigt ihnen die Schlüssel aus, und danach vereinbaren wir einen neuen Termin. Wie wäre das?"

„Das wäre wohl das Beste, Herr ...", brummte Schatz zustimmend. Obwohl ihm der Name seines Gegenübers dieses Mal auf der Zunge lag, ließ er ihn bewusst und aus purer Bosheit weg.

„Schlesinger“, ergänzte der Notar und beugte sich wieder nach vorne. „Doktor Schlesinger."

 

 

 

5

Heiko Drewes


„Bleib einfach sitzen, Schatz, ich mach das. Bleib einfach sitzen, okay?"

Der große, schlanke Mann drehte sich noch einmal um und kniff vertraulich ein Auge zu, bevor er durch die Küchentür verschwand. Heiko Drewes hatte gegen 18.30 Uhr das Präsidium verlassen, wo er als Oberkommissar beim Sittendezernat zusammen mit seinen Kolleginnen und Kollegen Vorbereitungen für sie Razzia getroffen hatte, die morgen im El Paradiso stattfinden sollte. Es handelte sich um einen sogenannten Sauna-Club, oder besser gesagt einen Edel-Puff in der Helenenstraße, in dem kleinen Gewerbegebiet hinter dem Einkaufszentrum. Es gab schon seit Wochen mehrfach Hinweise darauf, dass dort rumänische Zwangsprostituierte beschäftigt wurden, möglicherweise sogar minderjährige Mädchen. Morgen wollten sie den Laden hochnehmen.

Als Heiko Drewes nach Hause gekommen war, hatte er eigentlich Petra von diesen Plänen erzählen wollen, aber der Abend schien sich anders zu gestalten.

„Wie, suspendiert?", hatte er entgeistert gefragt, und muss dabei wohl ziemlich dumm aus der Wäsche geguckt haben. „Richtig suspendiert?"

„Ja, was an dem Satz hast du denn nicht verstanden?", hatte Petra ihn aggressiv angefahren. „Entschuldige“, hatte sie gleich danach gemurmelt und ihr Gesicht von ihm abgewandt.

Nein, sie hatte nicht geweint, das nicht. Heiko Drewes hatte seine Partnerin als eine starke Frau kennengelernt, die manchmal ein bisschen zu hart wirkte, was aber nur Fassade war. Der Beruf brachte eine gewisse Abgebrühtheit mit sich. Was die Frau in ihrer beruflichen Laufbahn schon an Gewalt gesehen und miterlebt hatte, da konnte er sicher nicht mithalten.

Sie hatte auch heute Abend nicht geweint, zumindest noch nicht. Aber Heiko Drewes hatte seine Lebensgefährtin noch nie so gesehen. So - wie kam es ihm vor? Aus der Bahn geworfen? Entwurzelt? Ja, und ein bisschen hilflos, was ihn am meisten beunruhigte.

Streetlife, you can run away from time. Die helle und weiche Soul-Stimme von Randy Crawford klang klar wie Bergkristall aus dem schnurlosen Lautsprecher, der neben dem Fernseher auf dem modernen, weißen TV-Möbel in der Ecke stand. Heiko hatte die Musik ausgewählt, weil Petra nach dem anstrengenden Dienst dabei am besten abschalten konnte. Nicht zu laut, nicht zu leise. Wohl temperiert, pflegte Petra es zu nennen.

Als Heiko Drewes aus der Küche kam, trug er in der linken Hand zwei Weingläser. Seine Finger hatte er um die schlanken Stiele gekrümmt. In der Rechten brachte er die Flasche Santa Cristina mit, die letzte, die noch übrig geblieben war von dem Rotwein, den sie immer abends getrunken hatten in dem Urlaub in der Toskana. In San Gimignano war das gewesen, und es war auch schon wieder zwei Jahre her. Und auch diesen Urlaub hatten sie damals nach zehn Tagen unerwartet abbrechen müssen, weil Petra dringend in Essen gebraucht wurde. Personalmangel war schon seit Jahren ein ständiger Wegbegleiter der Polizeiarbeit gewesen. Damals hatte es diese sogenannten Kutten-Morde gegeben, wie die Boulevard-Presse es genannt hatte, Morde im Rockermilieu. Mitglieder ein und desselben Chapters hatten es sich zum Ziel gesetzt, sich gegenseitig aus dem Weg zu räumen. Auch da war es um Zwangsprostituierte gegangen. Und um eine größere Menge Crystal Meth, das irgendwelche untergeordneten Supporter am Boss des Chapters vorbei in Umlauf gebracht hatten.

Jedenfalls hatte Petra mit ihrem Team damals sowohl den Anführer der Death Riders (Henner Fürbrecht hieß der Typ, genannt Lasso) und drei seiner engsten Vertrauten einbuchten lassen. Zwei von denen konnten tatsächlich des Mordes überführt werden und saßen aktuell in der JVA Gelsenkirchen. Der Richter hatte damals alle Zuschauer aus dem Saal verwiesen, weil die Clubmitglieder, die martialisch verkleidet in Mannschaftsstärke angetreten waren, sich wiederholt durch unflätige Zwischenrufe hervorgetan hatten.

Petra Dellinghausen zog die Beine an, die sie auf dem Sofa ausgestreckt hatte, als Heiko sich neben sie setzte und die Gläser auf den Tisch stellte. Dann legte sie die Beine auf seinen Schoß. Er mochte es, wenn seine Freundin sich auf dem Sofa breitmachte, wie er es überhaupt mochte, wenn sie sich so entspannt ausstreckte. Es kam gar nicht so oft vor, dass sie sich fallen ließ. Aber bei ihm tat sie es. Manchmal wenigstens. Heiko goss beide Weingläser halbvoll. Das Getränk sah bei dem gedämmten Licht des Wohnzimmers aus wie dunkelrote Tinte. Oder wie Blut.

„Danke dir, Schatz“, sagte Petra und sah ihn freundlich an. Für ihre Verhältnisse war das ein wahrer Gefühlsrausch.

Heiko Drewes, der wie Petra ebenfalls geschieden war, konnte sich noch sehr genau daran erinnern, wie er ihr damals in der Schießanlage mit seinem legendären, siegesgewissen Grinsen eröffnet hatte, dass er mit ihr etwas trinken gehen und sie näher kennenlernen wollte. Damals hatte Petra ausweichend reagiert und private Termine vorgeschoben. Eine Woche später hatten sie dann aber ihr erstes Date gehabt. Gerade die Tatsache, dass sie nicht das typisch Weibliche verkörperte, hatte ihn bei Petra angezogen. Da er selbst ziemlich groß war, passte sie mit ihren über einen Meter achtzig gut zu ihm. Am Anfang war es das burschikose Auftreten, das ihn gereizt hatte, die schlagfertige und fast deftige Art wie sie manchmal redete, wie sie sich in einer ruppigen, männlichen Umgebung behauptete. Und er liebte die frauliche Weichheit, die sie in gewissen Momenten zeigte, wenn sie mit ihm allein war. Manchmal, wenn sie gut gelaunt war, pflegte sie einen ordentlichen Ruhrpott-Slang und klang dann wie ein alter Gelsenkirchener Stahlkocher. Aber nicht, wenn sie in einer Stimmung war wie heute. Dann sprach sie reines Hochdeutsch, wie es einer Beamtin zukommt. Auch einer suspendierten Beamtin.

„Na komm, dann erzähl mal“, forderte er sie auf, nachdem sie gemeinsam den ersten Schluck getrunken hatten. „Eins nach dem anderen. Vielleicht renkt sich ja alles wieder ein."

Randy Crawford sang Streetlife, but you better not get old. Or you´re gonna feel the cold.

Petra Dellinghausen schüttelte den Kopf. Und dann erzählte sie ihm vom heutigen Tag ab dem Zeitpunkt, als Kriminalrat Rüstemeier seinen Kopf durch die Tür ihres Büros gesteckt hatte, mit den Worten „Petra, kannst du nachher mal zu mir kommen?"

Die Geschichte des heutigen Tages war für ihn neu. Wie es ursprünglich dazu kommen konnte, die Vorgeschichte also, die kannte er gut. Die hatte vor ungefähr drei Monaten begonnen.












6

Peter Gander


Die Mordabteilung suchte den Mörder von Peter Gander. Im Laufe der Ermittlungen hatte sich herausgestellt, dass Gander der Kopf einer Bande war, die alten Leuten mit dem sogenannten Enkeltrick große Geldbeträge aus der Tasche zog. Er hatte die Opfer ebenso persönlich ausgewählt wie die Leute, die für ihn die Drecksarbeit machten. Außerdem hatte Gander eine ganze Reihe von Jugendlichen rekrutiert, die für ihn im Umfeld von Schulen mit Drogen dealten. Überwiegend Speed und Koks, manchmal auch Heroin. Gander blieb dabei meistens im Hintergrund und verdiente an allem kräftig mit. Der Mann war verheiratet gewesen und hatte eine kleine Tochter. Während die gesamte Abteilung Ganders Mörder unter den Dealern, Junkies und möglichen Konkurrenten suchte, hatte Petra bei einer der Vernehmungen vor Ort in Ganders Wohnung bei dessen Witwe die Wahrheit herausgefunden.

Lange hatte die Frau gemauert und alle hatten angenommen, dass der Schock, unter dem sie stand, der Grund für ihre Schweigsamkeit war. Es war eines der Hobbys des Ermordeten gewesen, Andrea Gander mit Gegenständen zu traktieren und ihr diese dort einzuführen wo sie sicher nicht hingehörten. Neben häufigen Prügelattacken hatte Ganders Frau sich nicht selten obskure Handlungen gefallen lassen müssen, während sich die Klinge eines Schnappmessers nicht weit von ihrem Hals entfernt befunden hatte.


An einem lauen Sommerabend im vergangenen Juli war Andrea Gander im Wohnzimmer damit beschäftigt gewesen, einige ihrer Orchideen, die sie mit Leidenschaft züchtete, in größere Töpfe umzusetzen. Zu diesem Zweck hatte sie einen Teil des langen Esstisches mit Zeitungspapier ausgelegt, damit das empfindliche Holz nicht mit Blumenerde beschmutzt wurde.

„Na komm, Sinalein“, hörte sie Peter Ganders leicht schleppende Stimme vom Balkon, der seine fünfjährige Tochter rief, die bei ihr im Wohnzimmer noch vor dem Schlafengehen eine halbe Stunde KIKA gucken durfte.

Normalerweise bestand Hoffnung auf einen halbwegs ruhigen Abend, wenn Peter mit seinem Bier und einer selbstgebauten Tüte auf dem Balkon im Liegestuhl lag. Die Familie, oder das was Peter Gander vermutlich für eine Familie hielt, wohnte im sechsten Stockwerk einer Wohnanlage in Steele-Horst, einem östlichen Stadtteil von Essen. Der Balkon war nicht sehr breit, aber dafür erstreckte er sich am ganzen Wohnzimmer und Schlafzimmer entlang.

„Et is bald soweit, Baby“, hatte Peter in letzter Zeit öfter zu Ihr gesagt, „ich hab die Kohle bald zusammen, dann ziehen wir nach Ibiza."

Dabei hatte er ihr oft auf diese eklige Art zugezwinkert, vor der sie Angst hatte. Meistens erfolgte danach ehelicher Sex. Beziehungsweise das, was Peter Gander dafür hielt. Manchmal, wenn er bekifft war, pflegte er dann vielsagend zu dem flachen Stahlschränkchen neben der Schuhkommode im Flur hinüberzunicken. Das

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 27.08.2020
ISBN: 978-3-7487-5525-8

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