Über dieses Buch:
Die Enttarnung des NSU im Herbst 2011 stürzt die Familie von Hannah und Dirk in eine tiefe Krise. Die beiden müssen erkennen, dass sie sich in ihrem Urlaub auf Fehmarn nicht mit drei „netten jungen Leuten aus Ostdeutschland“ angefreundet haben, sondern mit den Rechtsterroristen Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe.
Ihre 17-jährige Tochter Julia deckt kurz darauf die verhängnisvolle Urlaubsbekanntschaft ihrer Eltern auf, stellt sie zur Rede und verlässt ihr Elternhaus.
Gleichzeitig droht ihre enge Beziehung zu ihrer türkischstämmigen Schulfreundin zu zerbrechen, deren Vater das erste Mordopfer des NSU gewesen ist.
Eine verhängnisvolle Urlaubsbekanntschaft
Copyright © 2019 Bernd Hauck
mit einem Nachwort von Gisela Friedrichsen
publiziert von telegonos-publishing
www.telegonos.de (Haftungsausschluss und Verlagsadresse auf der website)
Cover: Kutscherdesign
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Die Handlung ist frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig.
„Wie sieht das Böse aus?
Es lässt sich nicht wirklich beschreiben.
Das Böse sieht nicht anders aus als wir alle.
Das heißt nicht, dass es banal wäre.
Das Gegenteil ist der Fall.“
Carla Del Ponte,
Chefanklägerin des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag*
*Der Spiegel, H. 48/2018, S. 13
Die Erzählung „Eine verhängnisvolle Urlaubsbekanntschaft“ basiert auf wahren Begebenheiten, von denen ich durch mehrere Artikel in der lokalen, später auch in der überregionalen Presse erfahren habe.
Die kurz nach der Aufdeckung der Gewaltverbrechen des rechtsterroristischen NSU berichteten Ereignisse haben mich nachhaltig verstört und Fragen aufgeworfen, die ich nicht beantworten konnte.
So habe ich mich auf den Weg gemacht, mein Befremden sowohl auf dem Wege der Faktenrecherche wie auch im Medium der literarischen Bearbeitung zu thematisieren und zu durchdringen.
Entstanden ist auf diese Weise eine gleichermaßen spannende wie bestürzende literarisch-dokumentarische Erzählung über die dramatischen Folgen der Urlaubsfreundschaft zwischen den NSU-Terroristen und ahnungslosen Fehmarn-Touristen.
Ich muss den Brief an meine Eltern an einem Ort deponieren, wo er nicht zufällig und vor der Zeit, nach meinem Verschwinden aber ganz sicher und umgehend entdeckt wird.
Denn sie sollen sich nach all den Turbulenzen keine unnötigen Sorgen machen müssen und umgehend erfahren, wo ich mich aufhalte und warum ich nicht länger zusammen mit ihnen unter einem Dach leben kann.
Vielleicht in die Schublade des kleinen Schränkchens neben meinem Bett?
Seit meinem 13. oder 14. Geburtstag sorge ich weitgehend selbst für Ordnung in meinem Zimmer und meine Eltern tauchen hier relativ selten auf. Meine Mutter weiß aber, dass ich alle mir wichtigen Dinge in diesem Schränkchen aufbewahre; das habe ich ihr selbst erzählt, als sie es wieder einmal nicht lassen konnte, mir beim Aufziehen neuer Bettwäsche zu helfen. Hannah bietet bei solchen Arbeiten immer wieder ihre Unterstützung an. Ich glaube, sie braucht das, um (irgendwann) wirklich loslassen zu können – aber ich bin inzwischen siebzehn Jahre alt und mache nächstes Jahr mein Abitur!
Ich öffne die Schublade und lege den hellgrünen Umschlag mit meinem Brief ganz oben auf die vielen Erinnerungsstücke, die ich hier gesammelt habe. Gut, dass ich dabei meinen Reisepass entdecke!
Ich nehme ihn heraus und stecke ihn in meinen Rucksack.
„Wo soll ich die Kisten mit den Geranien hinbringen?“
Julia sah ihren Vater fragend an, der gerade die Heckklappe des alten Volvo geöffnet hatte.
„Stell' sie einfach neben die Kellertür zu dem neuen Sack Blumenerde“, antwortete Dirk, irritiert, aber auch erfreut über das unerwartete Hilfsangebot seiner Tochter, die sich sonst eher zurückhielt, wenn es um Arbeiten rund um Haus und Garten ging.
Geranien passten eigentlich nicht zu dem 1901 erbauten dreigeschossigen Haus, in dem Julias Familie lebte. Aber ihr Vater hatte nach drei aufeinander folgenden Sommerurlauben in Bayern Gefallen an diesem sommerlichen Fensterschmuck gefunden. Die Blumenkästen vor den zur Straße hin gelegenen Erkerzimmern im ersten und zweiten Stockwerk des Hauses wurden deshalb in jedem Frühling von Dirk mit Hängegeranien bepflanzt, obwohl seit vielen Jahren ein Campingplatz auf Fehmarn das neue Reiseziel der Familie in den Sommerferien war.
In diesem Jahr war er allerdings sehr spät dran mit dem Bepflanzen der Blumenkästen.
Die Korrektur der Abiturklausuren und die Vorbereitung der mündlichen Prüfungen hatten ihn so sehr in Anspruch genommen, dass die gesamte Gartenarbeit zu seinem anhaltend großen Ärger hoffnungslos in Verzug geraten war.
Nachdem Julia die letzte Kiste mit Geranien neben der in einem hässlichen Grauton lackierten Kellertür abgestellt hatte, wandte sie sich ihrem Vater zu, der die Kofferraum-Matten ausschüttelte:
„Kannst du mich noch schnell zum Jugendzentrum fahren?! Ich komme sonst zu spät.“
Dirk verdrängte den aufkommenden Verdacht, dass Julias Hilfsbereitschaft Ergebnis einer kühl kalkulierten Strategie war, um ihn wieder einmal zum Taxifahrer zu machen. Dabei war es nicht so, dass er die Bitten und Wünsche seiner Tochter nicht gerne erfüllte – dazu liebte er sie zu sehr!
Aber ganz so einfach wollte er es Julia heute doch nicht machen.
„Was steht denn so Wichtiges an, dass du auf gar keinen Fall zu spät kommen darfst?“
Dirk drehte sich um und richtete seinen Blick gespannt auf Julias Gesicht. Er wollte sehen, ob seine Anspielung auf ihren oft etwas nachlässigen Umgang mit Terminen und Verabredungen die erhoffte Wirkung zeigte.
Julia jedoch antwortete sachlich-nüchtern und ohne auf seine kleine Provokation einzugehen.
„Wir wollen uns von Hilal verabschieden, die morgen in aller Frühe mit ihrer Mutter in die Türkei fliegt. Sie hilft ihr, den Umzug zu organisieren, und bleibt dann auch noch die Sommerferien über bei ihr in einem kleinen Dorf in der Nähe von Izmir.“
Hilal war vor fünf Jahren mit ihren beiden älteren Geschwistern und ihrer Mutter aus Nürnberg in die kleine oberhessische Kleinstadt gezogen und hatte sich in der Schule schnell mit Julia angefreundet. Durch ihre gemeinsame Arbeit im Jugendzentrum waren sie im Laufe der Zeit so etwas wie 'beste Freundinnen' geworden.
„Aber warum will Hilals Mutter zurück in die Türkei? Die Familie lebt doch schon seit Jahrzehnten in Deutschland und Hilal macht erst in einem Jahr ihr Abitur!“
„Ich weiß es auch nicht so genau. Seit dem Tod ihres Ehemanns und dem Umzug hierher geht es der Mutter nicht gut, genauer gesagt von Monat zu Monat schlechter. Vielleicht hofft sie, in der Heimat schneller Abstand zu gewinnen von dem schrecklichen Schicksalsschlag, den sie durch den plötzlichen Tod ihres Mannes erlitten hat. Können wir nun bitte losfahren?!“
Sie verabschiedete sich noch schnell von Hannah, die auf der Bank hinter dem Haus in der Abendsonne die Tageszeitung las: „Ich bin erst nach dem Abendessen zurück!“
Dirk lenkte den Wagen durch den abendlichen Berufsverkehr. Den Hof hatte er erst verlassen können, als ein anderer PKW auf der zu jeder Tageszeit vielbefahrenen Hauptstraße seine Geschwindigkeit so weit gedrosselt hatte, dass eine ausreichend große Lücke entstanden war, um sich in die lange Kolonne von Fahrzeugen einzureihen, die sich im Schritttempo Richtung Innenstadt bewegte.
Einerseits ärgerte sich Dirk darüber, dass ihn Julia wieder einmal überrumpelt und dazu gebracht hatte, gegen seine eigenen Überzeugungen mit dem Auto in die Stadt zu fahren. Auf der anderen Seite war er stolz auf seine geschickt argumentierende Tochter, die es nicht zum ersten Mal geschafft hatte, ihn um den sprichwörtlichen kleinen Finger zu wickeln.
Er selbst hatte meist wenig Erfolg darin, Menschen auf spielerische Weise dazu zu bringen, Dinge zu tun, von denen sie nicht überzeugt waren. Obwohl er als Lehrer eigentlich auf diese Fähigkeit angewiesen war.
„Verdammt!“
Dirk musste eine Vollbremsung machen, um nicht auf den schwarzen 3er-BMW aufzufahren, der im Rückstau vor der Kreuzung am Mainzer Tor völlig unnötigerweise erst beschleunigt und dann unvermittelt abgebremst hatte.
„Woher haben diese türkischen Jungs das Geld, um ein so teures Auto zu fahren?!“, schimpfte Dirk, der an der Heckscheibe des Autos eine kleine Türkeifahne entdeckt hatte.
„Sie arbeiten und verdienen Geld?!“, antwortete Julia und hob dabei im Zeitlupentempo ihre Schultern an. Sie blickte ihren Vater provozierend von der Seite an, der ihre Aussage aber zu ignorieren schien.
Das gelb gestreifte Hemd, das Dirk trug, spannte leicht über seinem Bauch. Julia registrierte zum ersten Mal bewusst, dass ihr Vater in den letzten Monaten schleichend, aber doch wahrnehmbar einige Kilo zugenommen haben musste.
Gehupe hinter ihnen. Es setzte sich wellenförmig bis an das Stauende fort. Im Seitenfenster erblickte Julia einen Rentner, der sich vom Bürgersteig aus mit erhobenem Gehstock einen Weg über die Straße zu bahnen versuchte.
Nachdem sie die Kreuzung endlich überquert hatten, lenkte Dirk den Wagen nach rechts in die Mainzer Gasse. Endlich war die Altstadt erreicht.
An der Klosterkirche vorbei führte die Straße nun zur Abzweigung in Richtung Jugendzentrum, das am Rande des früheren Klostergartens in dessen ehemaligem Wirtschaftsgebäude untergebracht war. Das schmale, aber mehrstöckige Gebäude war komplett aus denselben Natursteinen erbaut, aus denen auch die Reste der mittelalterlichen Stadtmauer bestanden, die das Gelände des ehemaligen Klostergartens umgaben, der heute nur noch eine Wiesenfläche war.
Dirk hielt direkt vor dem Eingang zum Jugendzentrum. Julia verabschiedete sich mit einem herzlichen „Danke!“ und einem flüchtigen Kuss auf die Wange ihres Vaters.
Die vier Mädchen hatten sich in dem Raum im ersten Stock verabredet, in dem sie an zwei Tagen in der Woche die Hausaufgabenhilfe für die 12- bis 14-Jährigen anboten.
Julia nahm in der Annahme, dass sie die Erste war, aus der Küche im Erdgeschoss Teller und Gläser mit nach oben. Anschließend holte sie das kleine Paket aus dem Schrank, das die drei gestern heimlich als kleines Abschiedsgeschenk für Hilal gepackt hatten. Eingewickelt in grünes Papier mit einem unendlich weiten Sonnenblumenfeld als Motiv enthielt es eine bunte Mischung Reiseproviant, der Hilal die lange Zeit bis zur Ankunft im Heimatdorf ihrer Mutter zwanzig Kilometer von Izmir entfernt versüßen sollte.
Franzi, die als Nächste eintraf, hatte aus dem Garten ihrer Eltern einen kleinen Blumenstrauß mitgebracht, den sie neben das Paket stellte. Hilal und Aylin, die gemeinsam kamen, brachten Gebäck, Eistee und Cola Zero mit.
Die „Abschiedsparty“ (so nannte nur Franzi ihr Treffen) konnte beginnen.
Sie endete mit verstörenden Einblicken in das Schicksal von Hilals Familie, die ihre drei Freundinnen nach ihrer Abreise noch lange beschäftigen sollten.
Julia schloss die Haustür auf und betrat den Flur. Im Wohnzimmer saß ihre Mutter allein vor dem Fernseher. Sie sah ein wenig müde und abgespannt aus und ihre kurzen blonden Haare standen am Hinterkopf etwas wirr in die Luft.
Als sie Julia bemerkte, schaltete sie sofort den Ton aus und rief: „Hallo! Hast du noch Hunger? Wir haben den Nudelsalat nicht geschafft.“
Da die Antwort ihrer Tochter ausblieb, stand Hannah auf und kam in den Flur.
„Nein danke, ich mag nichts essen“, antwortete Julia und schüttelte den Kopf.
„Wie war die Abschiedsparty für Hilal?“
Kaum dass sie den Begriff 'Abschiedsparty' ausgesprochen hatte, schossen Julia Tränen in die Augen.
„Das war leider keine Party, eher das Gegenteil!“
„Ist Hilal der Abschied so schwergefallen? Sie kommt doch nach den Ferien zurück!“
„Darum geht es nicht. Wir haben zunächst nett miteinander geplaudert und Musik gehört.
Hilal hatte eine große Schachtel bunter Bagels mitgebracht, Aylin Eistee und eine Flasche Cola. Sogar einige der Jungs aus unserer Hausaufgabengruppe sind vorbeigekommen, um sich von Hilal zu verabschieden. Die Stimmung ist erst gekippt, als Franzi von ihr wissen wollte, woran ihr Vater gestorben ist.
„Und: Was hat Hilal erzählt?“
Der Verweis auf Franzis Frage weckte Hannahs Neugier, denn die Frage nach den Gründen für die Rückkehr von Hilals Mutter in die Türkei bewegte sie, seit Julia vor einigen Monaten das erste Mal davon erzählt hatte. Wusste sie doch durch gelegentliche Gespräche mit Hilal nicht mehr, als dass der plötzliche Tod des Vaters damals in Nürnberg den Umzug nach Oberhessen ausgelöst und ihre Mutter nachhaltig aus der Bahn geworfen hatte.
Julia zögerte einen Moment mit der Antwort, atmete einmal tief durch und sagte dann nur zwei Worte:
„Neun Schüsse!“
„Neun Schüsse?“
„Ja, Hilals Vater ist durch neun Pistolenschüsse getötet worden!“
Wieder rannen Tränen über Julias Gesicht.
Hannah merkte, wie auch sie die Kontrolle über ihre Gefühle verlor. Sie brauchte eine gewisse Zeit, um zu realisieren, was ihre Tochter da eben gerade erzählt hatte. Schließlich sprang sie auf, nahm Julia in den Arm und strich ihr sanft über die schulterlangen Haare.
Hannah war hilflos und wusste sich keinen Rat, wie sie Julia trösten könnte.
Sie fühlte sich zurückversetzt in Situationen in Julias Kindheit, wenn die im Fluss ihrer Tränen sich aufzulösen drohende kleine Menschengestalt bei ihr Trost und Unterstützung suchte, ohne dass sie auch nur eine ungefähre Ahnung hatte, was die Ursache für die Trübsal ihrer Tochter war.
„Hilals Vater war doch ein unbescholtener und unauffälliger Bürger?! Wer bringt so jemand um? Und aus welchem Grund?!“
Julia wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und deutete durch ein übertriebenes Kopfschütteln an, dass auch sie diese Fragen nicht beantworten konnte.
„Hilals Familie und auch die Polizei gingen zunächst von einem Raubüberfall aus, denn ihr Vater kümmerte sich
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 21.06.2019
ISBN: 978-3-7487-0786-8
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