Cover

Katjuscha

 

Die Private Ermittlerin Svetlana Alexandrova gerät bei Recherchen in einer Kurklinik auf die Spur eines internationalen Frauenhändlerrings. Als Svetlana plötzlich verschwindet, beginnt eine fieberhafte Suche nach ihr. Ist der Direktor der Klinik einer der Drahtzieher? Nachdem Interpol die Suche aufgegeben hat, beginnt Svetlanas Freund Boris zusammen mit einer Reporterin der Sache auf eigene Faust nachzugehen. Die Spur führt ihn über Istanbul, Sewastopol, Saudi-Arabien bis nach Moskau – mitten hinein in ein dunkles Familiengeheimnis. Mehr und mehr breiten sich Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung aus. Doch Boris und Svetlana verbindet eine unglaubliche Fähigkeit ...

 

Thriller von Jean P.

 

Copyright: © Jean P. – publiziert von telegonos-publishing

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(Haftungsausschluss und Verlagsadresse auf der website)

 

Covergestaltung: Kutscherdesign

 

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Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

 

 

I follow the Moskwa down to the Gorky Park

listening to the Wind of Change.

 

(Wind of Change, The Scorpions 1989)

 

 

 

 

 

 

1. Teil

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1

 

Die Nacht war dunkel und stürmisch. Unwillkürlich zog sie den Kragen ihres Trenchcoats fester zusammen und suchte Schutz hinter einem dicken Baum, da sie den ihr verzweifelt erscheinenden Schrei einer jungen Frau hörte. Schnell schaltete sie ihre Taschenlampe aus und lauschte angestrengt in die vom Wind gepeitschte Dunkelheit hinein. Das Rauschen der Baumwipfel des Waldes, welcher ihr Observierungsobjekt umgab, verschluckte beinahe alles und so schloss sie, dass die Quelle des Schreis nicht allzu weit entfernt oder seine Ursache auf übermenschliche Kräfte Auslösendes zurückzuführen war.

Was tun? Ihr Handyakku hatte schon eine ganze Weile seinen Geist aufgegeben, außerdem waren ihre Mitarbeiter ohnehin weit weg. Vorsichtig tastete sie sich an der rauen, rissigen Rinde des Baumes entlang, einer Eiche wohl in dem von Fichten dominierten Waldgebiet, wie ihr ein ihr selbst völlig unpassender Nebengedanke sagte, und versuchte Witterung aufzunehmen wie ein wildes Tier. Den Gedanken an ebensolche ebenfalls verscheuchend, versuchte sie sich zu sortieren. Ob das eines der entführten Mädchen gewesen war? Wenn ja, konnte das dreierlei bedeuten: Erstens war dieses verfallene Haus, das sie schon seit Stunden observierte und einstmals vielleicht ein Waldgasthaus gewesen sein mochte, in der Tat der vermutete Ort, an den die entführten Studentinnen der Akademie verschleppt worden waren. Zweitens: Eines der Mädchen hatte sich befreien können und war wieder eingefangen worden. Drittens: Sie war auf der Flucht in eine dieser teuflischen Fallen getappt, von denen sie bei ihrem Streifzug durch die Gegend bereits einige entdeckt und mit einem Holzstück unschädlich gemacht hatte.

Sollte Letzteres der Fall sein – und sie hielt dies für die wahrscheinlichere Variante, benötigte sie dringend Hilfe. Dass sie sich befreien konnte und wieder eingefangen worden war, würde wiederum zweierlei bedeuten: Der oder die Entführer, beziehungsweise deren Handlanger, waren erstens ganz in der Nähe, was sie nach ihrer bisherigen Observierung eher nicht angenommen hatte, und machten zweitens Fehler. Das gab zwar Anlass zur Hoffnung, nutzte ihr momentan aber auch nicht viel.

Dem Himmel sei Dank, sorgte ein fahles Mondlicht, das durch die soeben aufgerissene Wolkendecke fiel, für ein wenig Orientierung. Doch mehr als schemenhafte Umrisse des alten Gemäuers konnte sie zwischen dem windgepeitschten Geäst der Bäume nicht ausmachen. Ohne Taschenlampe ging gar nichts. Die Gefahr entdeckt zu werden, jagte ihren Herzschlag in die Höhe und sie wunderte sich selbst darüber, dass es erst jetzt der Fall war. Um die Gefahr zu minimieren, beugte sie sich vor, damit die Taschenlampe nur den unmittelbar vor ihr liegenden Bereich des Waldbodens erhellen würde und sie sich allmählich Schritt für Schritt weiterbewegen könnte. Sicher, dass dies ihre einzige Möglichkeit war, schaltete sie die auf den Boden gerichtete Leuchtquelle ein.

Doch was ist das? Erschrocken zuckt sie zusammen und hält erstarrt inne. Ein gleißend helles Licht umgibt und blendet sie. Das kann nicht sein! Wo kommt das her? Etwas reißt sie herum. Orientierungslos taumelt sie zu Boden und ein dunkler Schatten beugt sich über sie. Nein! Mit letzter Kraft versucht sie sich herumzuwälzen und weiß doch, dass sie dem Schattenmann nicht entrinnen kann. Wild schlägt sie um sich.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

2

 

Am dritten Tag ihres Aufenthaltes in der Kurklinik begann sie sich zu langweilen. Es war so friedlich, einfach nur schön. Die Leute waren nett, das Essen sehr gut und die Anwendungen, welche sie bisher in Anspruch genommen hatte, taten gut. Wellness pur, das Ganze.

„Genieß es doch einfach“, hatte sie Boris am Abend zuvor noch telefonisch ermahnt. „Vielleicht ist ja auch alles ganz anders. Dann hast du wenigstens eine schöne Zeit!“

Der hatte gut reden. Ging vollkommen in seinem neuen Job auf und machte sich keinen Kopf darüber, dass ihre Observation durchaus als heikel zu bezeichnen war. Schließlich stand einiges auf dem Spiel und genau das war der eigentliche Grund, warum sie sich zu diesem Auftrag hatte hinreißen lassen. Irgendetwas passierte da hinter den Kulissen, das die Community zu zerreißen drohte. Die Community ...

„Die Nächste bitte!“, riss die piepsige Stimme von Schwester Asuka sie aus ihren Grübeleien. War wohl nur eine Floskel, denn Svetlana saß ganz allein in dem kleinen Wartebereich vor dem Therapieraum, über dessen Eingangstür das Wort Tiefenentspannung Geheimnisvolles verhieß. Schwester Asuka war eine von drei japanischen Krankenschwestern, die tatsächlich Schwestern waren. Sie arbeiteten im Therapiezentrum, da sie über eine Spezialausbildung in Shiatsu und diverse andere körperorientierte Behandlungsmethoden verfügten. Bei Asukas Schwester Aiko hatte sie am Tage vorher eine hervorragende Fußreflexzonenmassage erhalten und Akina, die Dritte im Bunde, stand auch noch auf ihrem Behandlungsplan. Watsu, eine aus der Shiatsu-Tradition stammende Hydrotherapie war deren Spezialität.

Dass die drei über eine weitere Spezialität verfügten, drängte sich von ganz hinten in Svetlanas Bewusstsein hinein. Deswegen war Boris hier gewesen – zur Probebehandlung, ganz in der Anfangszeit der Klinik. Nun ja, einige Verwirrungen hatte es wahrlich gegeben. Damals, als sie diese Paartherapie mitgemacht hatten. Aber jetzt war ja alles gut ...

 

Vor Schreck wäre ihr beinahe das weiße Badelaken heruntergerutscht, das sie, vom vorherigen Saunagang kommend, um ihren Oberkörper geschlungen hatte. An das Bild, welches der Spiegel ihr anbot, der im Behandlungsraum hing, hatte sie sich obendrein noch nicht gewöhnt und würde es wohl auch nie! Svetlana hatte sich für diesen Job ihre prachtvolle, braune Lockenpracht stutzen und den verbliebenen Rest hellblond färben lassen. Sah das schrecklich aus! Und ob es nutzte? Es war der letzte intuitive Versuch gewesen, möglichst alles zu tun, um nicht erkannt zu werden.

Am Morgen ihrer Abreise hatte sie sich dazu entschlossen. Das Schlimmste war: Boris wusste das noch nicht, da er tags zuvor nach Schloss B. hatte reisen müssen, um die dort neu installierte Haustechnik kennenzulernen und zu kontrollieren. Das war bei all der Überwachungs- und Computertechnik ein Drei-Tage-Job. Ganz gewiss würde er einen Schock bekommen, wenn er sie am Wochenende besuchen käme.

Mein Liebster, ob du mich wiedererkennst? Aber ich trage ja deine Plakette ...

Ob die Tatsache, dass sie bei diesem Gedanken errötete und sich ein verdächtiges Kribbeln und Ziehen im Unterleib einstellte, sie seine Antwort nicht hören ließ? Ihrer beider beinahe telepathische Kommunikation, wie sie es selber nannten, funktionierte meist dann nicht, wenn sie zu sehr mit sich selber beschäftigt waren.

Ja, mein Bärchen, du kannst mich dafür übers Knie legen, wenn du kommst.

Nichts. Funkstille. Vielleicht war er ja gerade auch mit sich selbst beschäftigt? Boris!! Da gab’s ja gelegentlich am helllichten Tag eine dieser netten Präsentationen ...

„Handtuch Sie können da ablegen“, verscheuchte Asuka erneut ihre Gedanken. „Und dann bitte auf Liege.“

Freundlich wies sie in Richtung der Massageliege und vollführte dabei einen angedeuteten Knicks. War das nur japanische Höflichkeit? Es gab da gewisse Verdachtsmomente, doch die waren zu nebulös und sie hatte sich vorgenommen, von Beginn an weder Gerüchte noch sonstige Verschwörungstheorien in ihrer Ermittlungsarbeit miteinzubeziehen. Aber dennoch, die kurzen weißen Krankenschwesternkittelchen, welche diese mandeläugigen Schönheiten trugen ... Verbargen ja nicht viel mehr als ihr weißes Badelaken, das sie nunmehr nicht ohne Scheu und Angst vor neugierigen Blicken oder gar Fragen wegen ihrer Plakette ablegte. Dem Herrn ärztlichen Direktor wurden ja gewisse Vorlieben nachgesagt ...

Svetlana, verfällst du gerade doch in Verschwörungstheorien? Liegt es vielleicht daran, dass du diese Mädels selber ganz niedlich findest? – Boris? Was für ein Quatsch! – Boris? Bist du das?

Gelegentlich, so wie jetzt, war sie sich nicht sicher, ob es Boris' oder ihre eigene innere Stimme war, welche da gerade zu ihr sprach. Da war diese Sache mit Silva gewesen und ganz konnte sie sich nicht davon freisprechen, hin und wieder den Empfindungen zum gleichen Geschlecht einen gewissen Platz einzuräumen. Grund zur Eifersucht gab sie Boris wahrlich keinen. Niemals mehr würde sie etwas tun, was ihrer beider inniger Liebe zueinander gefährdete. Gelegentlich wurde einem halt zur Ermahnung ein Spiegel vorgehalten. Die Scheu, sich vor der Mandeläugigen zu entblößen, war wohl einer.

Denn wenn sie sich selbst gegenüber ehrlich war: Boris‘ kleine goldene Plakette, die sie an ihrem Schamlippenpiercing trug, war es nicht. Daran hatte sie sich längst gewöhnt. War doch völlig normal. Außerdem trug sie die Plakette mit seinen Initialen darauf mit Stolz. Und wenn an den Gerüchten etwas dran war, denen sie sich momentan noch verbot nachzugehen, würde die Mandeläugige lediglich erkennen, dass sie halt auch zur Community gehörte – und das machte ihre Mission unverdächtiger, denn die Kurklinik diente ja ursprünglich hauptsächlich der Erholung der Mitglieder der Community.

Die Öffnung für ein allgemeines Publikum war erst unter dem Druck finanzieller Natur entstanden und hatte all jene Dinge nach sich gezogen, die Voraussetzungen für die Zulassung und den ordentlichen Betrieb einer medizinischen Einrichtung waren: Pflegestandards, Qualifikationsanforderungen, Dokumentationswesen und all die anderen Notwendigkeiten, welche die Gesetzgebung regelte. In diesem Zusammenhang war auch die Neubesetzung der Stelle des ärztlichen Direktors erfolgt. Die erforderliche ärztliche Leitungsqualifikation besaß nämlich innerhalb der Community nur einer: Dr. George Klugman, der von allen wegen der verblüffenden Ähnlichkeit nur George Clooney genannt wurde. Der bisherige Direktor übte nun das Amt des Kaufmännischen Direktors aus, was ihm zwar theoretisch alle Macht bescherte, denn die hat normalerweise doch immer der für die Finanzen zuständige, ihn praktischerweise jedoch in seiner Entscheidungsbefugnis einschränkte. Und genau da lag der Hase im Pfeffer begraben.

Während Sir Henry, wie ihn die meisten Mitglieder nach wie vor liebevoll in Anspielung auf sein ehedem patriarchales Führungsgehabe nannten, demokratisch legitimierter Vorstandsvorsitzender der Community war und als solcher deren Interessen im praktischen Klinikbetrieb vertrat, waltete George Clooney unkontrolliert. Der Verdacht, den zu prüfen es galt, wurzelte in dieser Unkontrolliertheit. Da geschah etwas im Verborgenen. Er scharrte Gefolgsleute um sich – vorrangig weiblichen Geschlechts. Was an sich auch kein Sakrileg war - er war halt ein Frauentyp und die Weiber lagen ihm von selber scharenweise zu Füßen. Doch es entwickelte sich zum Politikum, denn es gab erste Indizien dafür, dass er die Community spalten und seine eigene Community aufmachen wollte. Auch das allein wäre ja noch kein Verbrechen, aber es bedeutete nicht nur, dass alle Demokratisierungsbemühungen der letzten Jahre zunichtegemacht würden und der Kampf der internen Frauenbewegung völlig umsonst gewesen wäre. Alle verbliebenen Ewiggestrigen, jene unverbesserlich patriarchalen Elemente würde überlaufen und das Schicksal ihrer Community wäre besiegelt – der Gemeinschaft, in der Boris und sie gemeinsam eine neue Heimat und Boris sogar einen Job gefunden hatten.

„Achtung, nicht erschrecken, das nun etwas warm wird“, machte Asukas Stimme und die gleichzeitige Empfindung des ersten heißen Steins auf ihrem Rücken sie zusammenzucken. Beinahe wäre sie hinweggeschlummert unter den wohltuenden Streicheleinheiten der Ganzkörpermassage. Oder war sie wirklich eingeschlafen und hatte geträumt? George Clooney war so ein attraktiver Mann ...

Svetlana!!

Nun also noch die Hot-Stone-Behandlung. War das gut! Hatte gar nicht auf ihrer Anwendungsliste gestanden. Sie ergab sich nun ganz dem Augenblick, spürte Stein um Stein dazukommen und verinnerlichte die wärmende Tiefenwirkung, nachdem Asuka sie abschließend mit einem großen Laken zudeckte. Konnte man nicht einfach so liegen bleiben und die Zeit anhalten? Es war doch alles gut hier! Alle bemühten sich und gaben ihr Bestes. Am Ende stellte sich alles als Hirngespinst heraus ... War nicht manchmal die pure Fantasie Quelle für Missverständnisse oder gar Verleumdungen?

„Ich nun kleine Geschichte vorlesen und Sie weiter entspannen.“

Asukas Einladung zur in ihrer Anwendungsliste angekündigten Fantasiereise passte irgendwie und Svetlana nahm sich nunmehr endgültig vor, Boris‘ Anweisung aus dem gestrigen Telefonat zu folgen. Die Dinge würden sich schon irgendwie klären. Manches klärt sich doch, wenn man reist – und sei es in der Fantasie.

 

Stell dir vor, deine Liege ist ein fliegender Teppich. Er trägt dich in ein fremdes und doch wohlbekanntes Land aus dem Reich deiner Träume. Ganz entspannt liegst du darauf. Dein Atem geht ruhig und trotz der Bewegungen des Teppichs fühlst du dich ganz sicher. Du schwebst durch den tiefblauen Himmel. Kleine weiße Wolken säumen deinen Weg. Tief unter dir wechseln die Landschaften. Alles ist klein, winzig beinahe, und doch siehst du manches Detail.

Auf einem Gipfel der Berge, die du soeben überquerst, steht ein Wanderer. Er winkt dir zu. Erkennst du ihn? Es ist ein stattlicher, starker Mann. Zwinkert er dir zu? Dein Herz beginnt zu pochen und wird von Sehnsucht erfüllt, doch schon geht die Reise weiter. Du hast das Gefühl, er begleitet dich und du bist wieder ganz entspannt.

Ruhig geht dein Atem. Ein und aus. Ein und aus. Deine Glieder sind wohlig schwer, doch mit Leichtigkeit schwebst du weiter, sicher getragen von deinem Traumteppich.

Nun überquerst du ein weites Meer. Du erkennst Schiffe und kleine Inseln. Wer wohl dort leben mag? Das Meer ist ruhig. Nur winzige Wellenberge kräuseln sich hier und da. Siehst du auch den Schwarm Delfine, der dort seine Bahn zieht? Sie tauchen auf und wieder ein. Auf und ein. Wie dein ruhiger Atem. Der Rhythmus deiner Reise, der dich weiter antreibt, gelassen und voller Energie.

Schon erblickst du am Horizont das ferne Land. Ist es das Land deiner Träume? Das unentdeckte Land? Dann entdecke es! Sieh, unter dir die Hafenstadt. Erkennst du die Minarette und Kuppeln der Moscheen? Ein großer Basar mit alten Karawansereien ist voller Leben. Dein Traumteppich kreist ruhig über der orientalischen Stadt. Immer tiefer zieht er seine Bahnen und landet schließlich sanft auf der Dachterrasse des prachtvollen Sultanpalastes hinter der Stadtmauer. Ganz unerschrocken, so als ob alles vertraut wäre, erhebst du dich langsam. Du wunderst dich einen Moment lang über deine Nacktheit, da du erst jetzt bemerkst, dass dein weißes Laken und die Steine unterwegs verloren gingen. Doch du schämst dich nicht. Im Gegenteil, du bist stolz auf deinen makellos schönen Körper. Deine Brüste heben und senken sich im Rhythmus deines erwartungsvollen Atems. Du bist entspannt und erregt zugleich, denn du weißt, dass du für diese Nacht die Ikbal des mächtigen Sultans sein wirst. Trotz der Wärme der untergehenden Nachmittagssonne fröstelt es dich ein wenig. Du musst an den Wanderer auf dem Berg zurückdenken und ein kalter Schauer läuft dir über den Rücken.

Doch schon eilen zwei Eunuchen mit einer Sänfte herbei und fordern dich auf, Platz zu nehmen. Deine Reise geht weiter. Tief hinein geht es ins Innere des Palastes. Voller Staunen und doch mit Selbstverständnis nimmst du alles wahr.

Der heilige, der unverletzliche Ort, er öffnet sich für dich. Tritt ein und lass dich verwöhnen, lass dich waschen und salben von den Odalisken des Harems ... sie bereiten dich vor, sie öffnen dich, sie liebkosen dich. Sie kleiden dich mit einem Hauch aus schwarzem Chiffon und hüllen dich in alle Wohlgerüche Arabiens. Die Erwartung des Kommenden verleiht deiner Lust Flügel. Dann wirst du ihm zugeführt. Nein, du schwebst ihm entgegen. Seine dunklen Augen strahlen Güte aus, doch auch Begierde. Du hast das Gefühl, du kennst ihn schon. Sein graumeliertes Haar, das unter dem Turban hervorlugt, und sein voller Bart zeugen von Erfahrung. Du bist erregt und greifst doch ganz gelassen nach seiner mit einem auffallend großen, schwarzen Onyx-Ring geschmückten Hand, die er dir entgegenhält, obwohl doch ein Araber so etwas nicht tut. Du bist etwas Besonderes. Lass dich fallen. Denk an Roxelane. Weißt du noch? Roxelane ... Gib dich hin und lass dich fallen. Fallen in einen tiefen Traum ...

 

 

 

 

 

 

 

 

3


Da war noch etwas dahinter. Hinter der Dunkelheit. Kälte war da jenseits der absoluten Schwärze, die sie umgab. Zittern durchfuhr sie. Es war das Zittern des Erschreckens. Was war da? Sie war so unendlich müde. Da stimmte etwas nicht. War das ein Traum?

Verdammt, ich will aufwachen! Aber ich bin zu müde dazu. – Schlaf doch und lass dich fallen. – Nein, ich will nicht fallen. Ich will ... Ich will ... – sei vernünftig und wehr dich nicht. – Aber der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer.

Das Ungeheuer! Jetzt war es wieder da. Es hatte sie ... Warum war sie nur so unendlich müde? Die hatten ihr was gegeben! Die? Ja, es waren mehrere gewesen. Jetzt tauchten sie wieder auf. Die Erinnerung sickerte bröckchenweise in ihre Gedanken. Aber dachte sie wirklich? Träumte sie nicht vielleicht doch?

Ich muss das herausfinden. Wie find‘ ich das heraus? – Versuch, dich zu bewegen. Dreh dich um, das ist die beste Methode aufzuwachen. – Aber ich bin so müde ... – Reiß dich zusammen, es ist deine einzige Chance!

Aber da war etwas dahinter, hinter dem Dunkel. Als ob sie etwas fesselte, fixierte. Was war das? Dieser Druck auf ihren Augen! Es war, als ob ... Sie bekam die Augenlider gar nicht auf. Von ganz hinten her wuchs das Erkennen: Ihre Augen waren verbunden! Ja, jetzt war sie sich sicher.

Nein, keine Panik, bleibe ruhig, denk nach und beweg dich!

Die Schwärze entstand also durch die verbundenen Augen. Hinter dem Dunkel war das, was sie nicht sehen konnte. Sie spürte nur, dass es kalt war.

Beweg dich endlich! – Und wenn das Ungeheuer ... – Es gibt kein Ungeheuer! Du hast geträumt!

Vorsichtig, aber mit großem Kraftaufwand, wie es ihr erschien, bemühte sie sich, die rechte Hand zur Faust zusammenzuballen. Da war etwas im Weg. Was war das? Fühlte sich kalt an, wie Metall. Metall? Prüfend versuchte sie es noch einmal, jetzt auch mit der linken Hand. Sie war so kraftlos. Aber ... Nein! Doch, jetzt war sie sich sicher. Das war ... Das waren ...

Nimm dich zusammen! Rüttele daran!

Tatsächlich, das waren Ketten. Es rasselte! Schlagartig jagte die Panik Lebensenergie in sie zurück. Die hatten sie in Ketten gelegt! Der verzweifelte Schrei, der sich über ihre Lippen zu drängen suchte, katapultierte die nächste Erkenntnis empor: Sie war auch geknebelt!

Wie ein Blitzgewitter wurden jetzt die weiteren Reize zu bewussten Wahrnehmungen, die in der Gewissheit der absoluten Ausweglosigkeit ihrer Lage gipfelten. Ihr Herz pochte, dass es weh tat. Der kalte Angstschweiß machte alles klebrig. Klebrig?

Wieso klebt alles?

Als ob sie an irgendetwas festklebte! Der Rücken, die Arme, der Po, die Oberschenkel, die Unterschenkel, die angeketteten Füße. Sie klebte an einer kalten, glatten Fläche fest! Wieso spürte sie das? Warum ...? Das konnte doch gar nicht sein! Das war unmöglich!

Nein ...! Hilfe! Nein ...

Jäh ließ der Fluchtreflex sie aufbäumen. Aber es half nichts. Sie klatschte zurück wie ein nasser Sack.



























4


Erschrocken fuhr Svetlana hoch. War sie noch mal eingeschlafen? Ihr war, als ob da etwas gegen die Fensterscheibe ihres Zimmers geklatscht war. Ein Vogel vielleicht? Oder hatte sie geträumt? Da war doch was ... Aber nein, der Traum war entschwunden, so sehr sie auch nachsann. Wahrscheinlich war sie mit ihren Gedanken zu schnell bei dem gewesen, was als Nächstes anstand.

Nachdenklich begann sie sich zurechtzumachen. Große Freude wollte bei ihr nicht gerade aufkommen, obwohl diese Abendveranstaltung bestimmt ein tolles Event würde. Aber so alleine ... Vielleicht war es auch nur die Müdigkeit, die Svetlana in den Knochen steckte. Diese ganzen Anwendungen hatten sie regelrecht groggy gemacht. Zuletzt, am Nachmittag hatte auch noch Nordic Walking auf dem Programm gestanden! Und irgendetwas Verwertbares in Erfahrung gebracht hatte sie auch noch nicht ...

Sie war schon dabei, die Strümpfe überzustreifen, als sie ernsthaft in Erwägung zog, noch einmal unter die Dusche zu gehen. Doch mit einem Blick auf die Uhr verwarf sie das. Es wurde Zeit. Sie kam nicht gerne zu spät. Da wurde man nur angestarrt. Boris hatte immer angenommen, dass sie das liebte und war deswegen oftmals sehr eifersüchtig gewesen. Dabei war es in Wirklichkeit ganz anders.

Mein Schatz, war doch gut, dass wir damals diese Paartherapie mitgemacht haben, oder?

Hm. Funkstille.

Und die Strümpfe zieh ich nur für dich an, weißt du?

Nichts. Vielleicht war er ja auch in einem Einsatz, der hundertprozentige Konzentration erforderte. Erst neulich hatte er von einer haarsträubenden Geschichte erzählt, welche arge Zweifel in ihr hatten aufkommen lassen, ob sie die Bachelor-Ausbildung an der communityeigenen Akademie wirklich antreten sollte – auch, wenn es wohl unumgänglich war. Von der Sklavin eines leitenden Mitarbeiters der Community erwartete man das ... Worauf hatte sie sich da nur eingelassen? Aber Boris hatte es so bestimmt! Irgendwann hatte er die Dinge in die Hand genommen – und das war richtig klasse! Danach hatte sie sich so lange gesehnt ...

Inzwischen war Boris zum Leiter der SBS aufgestiegen, der Schloss B. – Security, und man nahm das sehr ernst. War ja irgendwie naheliegend gewesen, denn auch früher schon hatte er ähnliche Jobs gehabt. Für einen ganz kurzen Moment musste Svetlana an die Zeit zurückdenken, als sie sich kennengelernt hatten. Türsteher an einer Disko war er da gewesen. Sie war sofort verknallt, aber er, er hatte ewig gebraucht, sie überhaupt anzusprechen. War der schüchtern gewesen ... Erst viel später, als er bei seiner ersten Security-Firma angefangen hatte, hatte er sich getraut. Weil er sich da schon als etwas Besseres vorkam, wie er ihr später verraten hatte. Der Standesunterschied hätte ihn blockiert ... So ein Blödsinn!

Und als Boris sie das erste Mal heimbegleitet hatte, wollte er sich tatsächlich höflich verabschieden und wieder gehen! Er war das erste, aber nicht das letzte Mal gewesen, dass sie ihn ins Bett gezerrt hatte.

Ach, Bärchen, bin ich an allem schuld? – Schuld? Quatsch, das ist ein Überbleibsel unserer russischen Erziehung! – Boris??

Nein, das war wohl eher ihre eigene innere Stimme gewesen. Sie sprachen gelegentlich immer noch darüber. Boris war der Meinung, das läge in den russischen Genen. Aber das hielt Svetlana für Unfug. Boris, der 1986 geboren war, hatte seine Kindheit noch in der ehemaligen Sowjetunion verbracht und da wohl ein gehöriges Maß von Schuldkomplexen mit auf den Weg bekommen, zumal er in eher ärmlichen Verhältnissen groß geworden war – und das auch noch als einziger Junge mit älteren Schwestern.

Svetlana kannte Russland nur vom Hörensagen und von zwei kurzen Reisen während ihrer Kindheit. Und einmal war sie mit Boris drei Tage lang in Moskau gewesen. Da hatte sie zum ersten Mal ein Plombir gegessen ...

Ihrer beider Familien waren 1993 in den Westen gekommen – ziemlich zeitgleich, wie sie später festgestellt hatten, aber Svetlana war erst dort, 1994, geboren und wohlbehütet aufgewachsen, da ihre Eltern eine nicht unerhebliche Erbschaft gemacht hatten. Ihr Vater, ein ehemaliger russischer Diplomat, war gestorben, als sie noch ein ganz kleines Mädchen war. Seitdem hatte Svetlana zusammen mit ihrer Mutter in der geerbten, riesigen Jugendstilvilla gelebt und alle Freiheiten der Welt besessen – schließlich sogar die, mit Boris dort in einer abgetrennten Wohnung ungestört zusammenleben zu können. So ganz glücklich war Boris damit nicht. Das spürte Svetlana seit langem. Doch gab es eine Alternative? Sie hatte einfach das Geld, während Boris kämpfen musste – immer hatte kämpfen müssen ...

Ach, Boris, vielleicht können wir ja irgendwann einmal ...

Sie verbot sich das Weiterdenken. Boris träumte davon, irgendwann nach Russland zurückzukehren und etwas vollkommen Neues zu beginnen. Wenn sie ganz tief in sich hineinblickte, musste sie zugeben, dass da eine gewisse Sehnsucht durchaus vorhanden war. Ob es doch so etwas wie russische Gene gab? Vielleicht hing ihre Sehnsucht auch nur damit zusammen, dass sie recht wenig über ihre Familie wusste. Ihre Mutter redete nicht von früher und ihre Großeltern waren auch schon tot. Manchmal schon war da der Gedanke aufgetaucht, etwas über ihre Wurzeln herauszufinden.

Aber alles hier aufgeben? Allen Luxus, den sie von Kindesbeinen an gewohnt war? Sie hatte nie arbeiten müssen. Der neue Job als Private Ermittlerin war, bei Lichte betrachtet, ihr erster richtiger Job. Ursprünglich hatte sie das eigentlich nur Boris zuliebe getan. Immerhin, sie war froh über diesen Schritt. Es war ein tolles Gefühl, endlich etwas zu leisten. Es begann ihr Spaß zu machen.

Bei ihrem letzten Fall hatte sie mitgeholfen, die Verbindungen des Chefs des Satiremagazins Gazzetta sotto Copertura, einer recht angesehenen und stetig gewachsenen Lokalzeitung, zu einem russischen Mädchenhändlerring auffliegen zu lassen. Der hatte das zwar vehement abgestritten und letztendlich hatte ihn der Richter aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Doch war nicht die Tatsache, dass er kurz darauf dem öffentlichen Druck nachgebend, seine Zeitung aufgegeben hatte, ein indirektes Schuldeingeständnis? Manche munkelten später, er habe das nur getan, um sich endlich mit voller Energie auf seine dunklen Geschäfte zu konzentrieren und wieder andere spekulierten über Verstrickungen mit der Russenmafia, in deren Fängen er zum willenlosen Handlanger geworden sei.

Wie dem auch war, ein pikantes Detail bereitete Svetlana Kopfzerbrechen. Wenn sie ehrlich war, machte es ihr sogar ein wenig Angst. Dieser Typ war nämlich langjähriges Mitglied in der Community gewesen, bevor man ihn aufgrund dieser Machenschaften nach einem internen Gerichtsverfahren rausgeschmissen hatte. Wenn der mal nicht auf Rache sann, zumal seine bisherige Chefreporterin seine Zeitung, samt angeschlossenem Verlag im Handstreich übernommen hatte. Und Esther, so ihr Name, ihres Zeichens zusammen mit ihrem Mann Felix ebenfalls Mitglied in der Community, war entscheidend an seinem Ausschlussverfahren beteiligt gewesen.

Prinzesschen, denk nicht so viel. Du versäumst dich! – Bärchen ...!

Das war er gewesen, da war Svetlana sich ganz sicher, just in dem Moment, als sie gedankenverloren in ihrem dunkelblauen, knielangen Etuikleid vor dem Spiegel stand und überlegte, ob sie wirklich so gehen konnte.

Du bist schön! – Oh, Bärchen, Liebster, darf ich? – Ja du darfst!

Boris hatte ihr das Kleid selbst ausgesucht und geschenkt und sie hatte nur dieses in ihrem Kurgepäck mitgenommen, weil es praktisch zu verstauen war. Etwas zum Ausgehen musste man doch dabeihaben. Und zum Tanzabend in Hosen gehen? Nein ...

Danke, Liebster, du weißt ja, dass ich es nur für dich trage ...


Während sie Lippenstift auftrug und mit dem Kajal einen dezenten Lidstich zog, musste sie daran denken, wie befreiend es für Boris und sie gewesen war, als sie anlässlich jenes Falles Esther und Felix kennengelernt und sich mit ihnen angefreundet hatten. Mehr oder weniger zufällig und ohne dass sich irgendeiner von ihnen getraut hätte, darüber zu sprechen, denn über so etwas spricht man nicht, war ihnen klar geworden, dass die beiden über die gleichen telepathischen Fähigkeiten wie sie verfügten. Und sie hatten sich schon ein wenig für verrückt gehalten ... Damals war es so, als ob sie gegenseitig etwas von den anderen aufgeschnappt hatten. Richtig erklären konnten sie es sich beide nicht und es war seither auch nicht wieder vorgekommen. Jedenfalls hatte es sie zu intensiven Gesprächen und einer vertrauten Freundschaft geführt. Letztendlich waren es vielleicht sogar Esthers Erzählungen über ihre Erlebnisse als Undercover-Reporterin gewesen, welche zum entscheidenden I-Tüpfelchen geworden waren, dass sie mit ihrem Job als Private Ermittlerin weitergemacht hatte. Denn ihr war schon manchmal nach Hinschmeißen gewesen ...

Außerdem spielten die beiden ein ähnliches Spiel wie Boris und sie und auch das war irgendwie beruhigend. Es tat doch immer gut, Gleichgesinnte zu finden, die ansonsten völlig normal sind ...


„Achtung, eine Durchsage!“, scheuchte die Lautsprecherdurchsage der Empfangsdame, die vom Gang her in ihr Zimmer drang, sie endgültig zum Aufbruch. „In wenigen Minuten beginnt unsere Abendveranstaltung, bei der auch die Begrüßung der in dieser Woche neu hinzugekommenen Patienten stattfindet.“

Svetlana strich sich noch einmal ihr gar nicht glatt zu streichendendes, hautenges Kleid glatt, hängte sich ihre kleine Umhängetasche über und sah zum wiederholten Mal wehmütig auf das Foto von Boris und ihr, das sie auf die Anrichte neben der Tür gestellt hatte. Es zeigte sie beide beim letzten Kostümball auf Schloss B.: Boris hatte seine hinreißende amerikanische Cop-Uniform an und sie nur dieses seidene rote Cape. Gott sei Dank war das Foto in dem Moment geschossen worden, als Boris ihr das Cape gerade übergeworfen hatte. Darunter hatte sie nämlich lediglich die roten Dessous von ihrem Auftritt als Tortengirl an. Eine verrückte Sache war das gewesen, aber schön.

Mit einem letzten Blick auf den neben der Tür ebenfalls auf der Anrichte liegenden Veranstaltungskalender verließ sie ihr Zimmer. Tanzabend mit Showeinlagen stand da. Klang doch ganz vielversprechend. Dann trat sie auf den Gang hinaus.




















5


Der abrupte Lichtwechsel irritierte sie. Der Gang war dunkel. Wieso ging kein Licht an? Kälte kroch an ihr hoch wie ein Haufen Ameisen. Man führte sie zu den andern. Mehr wusste sie nicht. Warum nur hatte sie sich auf diesen Job eingelassen? Der nutzlose und ständig wiederkehrende Gedanke zerrte an ihr wie die Kette, an welcher der Vermummte sie hinter sich herzog.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der sie nur hin und wieder einen Schluck Wasser bekommen hatte, war sie aus ihrem finsteren Verlies befreit worden, um sie zu den anderen zu schleppen. Von einem Gefängnis in das nächste. Hatte das erste nur dazu gedient, sie mürbe zu machen, sie zu brechen? Nein, vergewaltigt worden war sie nicht. Dessen war sie sich ziemlich sicher, auch wenn längere Bewusstlosigkeitsphasen die Wahrscheinlichkeit nahelegten, dass es so gewesen sein könnte. Es hatte aber auch so gereicht, sie an den Rand des Wahnsinns zu treiben: nackt und in Ketten, entblößt und dargeboten. Stets erwartend, dass genau das passieren könnte.

„So Süße, ab jetzt darfst du alles sehen und du kannst dir die Lunge aus dem Hals schreien, es hört dich sowieso niemand!“, hatte der Vermummte sie angeschnauzt, nachdem er ihr die Ketten von den Hand- und Fußfesseln gelöst, Knebel und Augenbinde entfernt und sie unsanft von der Pritsche gezerrt hatte. Für einen kurzen Moment konnte sie einen Blick in ihr Verlies werfen. Es war noch schlimmer, als sie es sich zurecht fantasiert hatte. An den lehmigen Wänden sickerte die Feuchtigkeit herab und ein Kellerschacht, der wohl in früheren Zeiten dazu gedient hatte, hier etwas hineinzuschütten, sorgte für fahlen Lichteinfall, der sie allerdings nach all der Dunkelheit geradezu blendete.

Da war also eine Öffnung gewesen – eine Verbindung zur Außenwelt. Ihr Schreien hätte irgendwann irgendwer gehört – so, wie sie den verzweifelten Schrei der Frau gehört hatte. Ob sie in einem ähnlichen Kellerraum gefangen gewesen war und sich irgendwie ihres Knebels entledigt hatte? Machten die alle erst in diesen Kellerlöchern kirre, bevor sie sie woanders ...

Das Erschaudern war heftig, aber kurz. Der Vermummte ließ ihr keine Zeit. Er befestigte eine Kette an ihrer Halsschelle, nachdem er ihr einen samtartigen Poncho übergeworfen hatte, und zerrte sie hinter sich her. Erst draußen fiel ihr ein, dass sie das mit dem Schreien ja wenigstens noch hätte probieren können. Doch hätte es etwas genutzt? Der anderen Frau hatte sie ja auch nicht helfen können.


Der Poncho sollte sie wohl etwas wärmen. Konnte man das als positives Signal werten? Sie kam sich noch nackter vor als vorher und ihr wurde mit jedem Schritt, den sie tat, kälter. Sie hatte nicht wirklich gefroren, jetzt fror sie. Der nackte, kalte Beton des Ganges stach regelrecht in ihre bloßem Füße. Plötzlich wurde es wieder hell, so dass sie unwillkürlich die Augen schloss. Der Vermummte hatte einen Lichtschalter betätigt.

„Mach die Augen auf und schau, wo du hintrittst!“, fauchte er sie an. Ihr war, als ob sie einen funkelnd-bösen Blick durch die Schlitze seiner Terroristenmütze ausmachen konnte. Pechschwarze Augen waren das!

Es ging eine steile, enge Treppe ohne Handlauf hinunter. Also noch ein Keller unter dem Keller? Oder ein ehemaliger Luftschutzbunker? Der grobe, graue Beton legte diese Vermutung nahe. Sie zwang sich, die Stufen zu zählen, um ihre Sinne zu schärfen. Doch sie verlor immer wieder den Faden, weil der Vermummte sie erbarmungslos zog. Der Faden der Ariadne ging ihr durch den Sinn. Hätte sie nur einen ...

Endlich gelangten sie an eine dunkelgraue, mächtige Stahltür. Fünfzig Stufen mochten es gewesen sein. Würde sie nun die anderen zu sehen bekommen? Was hatten die nur vor? War es noch schlimmer, als ihre sämtlichen Verdachtsmomente zusammengenommen zu befürchten nahelegten? War das ein Zwischenlager, wo die entführten Mädchen zusammengepfercht und gefügig gemacht wurden, bevor man sie – wohin auch immer – verkaufte?

Unterdrück‘ dein Hecheln. Mach dich schwer, damit dein Zittern aufhört. Man darf deine Angst nicht sehen. Das ist deine einzige Chance. Egal, was kommt!

Der Vermummte tippte einen Code auf das Tastenfeld neben der Tür ein. Als es summte, stieß er die Tür auf. Ihr Zittern drohte ihr die Sinne zu vernebeln. Jeder verdammte Muskel stach ihr kontrahierend ins Herz.





























6

 

Fest entschlossen und gesammelt trat sie ein. Es war dunkel, aber plötzlich wurde es hell. Wohl ein Bewegungsmelder. Was war das denn? Überrascht hielt Svetlana sich die rechte Hand vor den Mund, so als wolle sie sich selbst daran hindern, etwas zu sagen. Das war ja ...

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Jean P.
Cover: Kutscherdesign
Lektorat: Nathalie C. Kutscher
Tag der Veröffentlichung: 30.03.2019
ISBN: 978-3-7487-0070-8

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