Das Maßband- Anita Jurow-Janßen
Sandra wird von ihren Kolleginnen gemobbt und von ihrer Vorgesetzten gedemütigt. Eines Tages liegt ihre Vorgesetzte, Britta Schuster, die von allen nur ‚der Wallach’ genannt wird, tot in dem Vorratsraum der Bank. Sie wurde offensichtlich mit einem Maßband erdrosselt. Sandras Problem ist, sie hat das Maßband vor dem Mord an Britta Schuster ihrer Kollegin Kathi entwendet. Sie ist über sich selbst schockiert, kann es aber nicht rückgängig machen, weil es plötzlich aus ihrer Schublade verschwunden ist. Mit Hilfe ihrer Tochter Marie und ihrem Kollegen Oliver kommt Sandra nach langer Recherche dahinter, wer den Mord begangen hat. Dabei gerät sie selbst in Gefahr.
Copyright © 2018 Anita Jurow-Janßen – publiziert von telegonos-publishing
www.telegonos.de
(Haftungsausschluss und Verlagsadresse auf der website)
Cover: Kutscherdesign
Kontakt zur Autorin über die Verlagshomepage
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Als Sandra die imposante Eingangshalle der Bürger-Bank in Oldenburg betrat, in der sie schon seit vielen Jahren arbeitete, blieb sie abrupt stehen und dachte ernsthaft daran, auf dem Absatz umzudrehen und wieder nach Hause zu fahren. In dieser Schärfe hatte sie dieses Fluchtgefühl noch nie empfunden. Sicher, sie fühlte sich jeden Morgen schlecht, wenn sie durch den Schalterraum zu ihrem Arbeitsplatz ging. Aber in den letzten Wochen hatte sich der Gedanke, sich einen neuen Arbeitsplatz zu suchen, wie ein Bazillus in ihrem Kopf eingenistet.
Als sie jetzt wie angewurzelt auf den Boden starrte, dachte sie an ihre Tochter Marie, die kurz vor dem Abi stand und auf sie zählte. Das bedeutete: Zähne zusammenbeißen und durchhalten. Sie spürte die auf sie gerichteten Blicke der Kollegen, die sich an ihren Schaltern auf die Kunden vorbereiteten. Mit einem kurzen Gruß und dem Versuch, ihnen ein unbefangenes Lächeln zuzuwerfen, lief sie schnell weiter. Wie schon so oft malte sie sich ein Leben ohne ihre Kolleginnen aus, die ihr immer wieder Steine in den Weg legten. Aber das war nicht das Schlimmste. Ihre unmittelbare Vorgesetzte, Britta Schuster, machte ihr das Leben zur Hölle. Nicht genug, dass man sie vom Schalter in die hinterste Ecke der nach Norden liegenden Büroräume verbannt hatte, nun sollte sie noch eine zusätzliche Tätigkeit übernehmen, obwohl sie schon jetzt vor lauter unerledigter Arbeitsvorgänge ihren Schreibtisch kaum noch sah.
Mit hörbarem Magengrummeln bog sie durch die mit Panzerglas gesicherte Tür in den schmalen Gang zu ihrem Zimmer ein und betete, dass ihr keine der ungeliebten Kolleginnen über den Weg lief. Aber der Gang war lang, und durch eine der vielen Türen kam dauernd Irgendjemand. So auch jetzt. Ausgerechnet ihre ‚zweitrangige Feindin Ivonne’ kam ihr entgegen, sah sie von oben herab, mit nach unten gezogenen Mundwinkeln an, die sogar dann unten waren, wenn sie lachte. Und sie lachte oft. Zu oft, wie Sandra fand. Ivonne trug wie immer einen zu kurzen Rock, hatte aber lange schlanke Beine, um die Sandra sie beneidete, denn ihre eigenen waren eher kurz und zu dick. Ivonne ging ohne zu grüßen an ihr vorbei. Ich hasse sie, dachte Sandra, drehte sich aber spontan nach ihr um und sagte: „Guten Morgen, Ivonne.“ Sie hörte ein leises Grummeln, was sie nicht verstand, und sah, wie Ivonne ihre braunen Locken in den Nacken warf und mit erhobenem Kopf weiter ging.
Schnell schlüpfte Sandra durch ihre Bürotür und atmete tief durch. Routinemäßig schaltete sie ihren Computer an und öffnete das Fenster. Ihre Jacke hängte sie über den Stuhl, da weder ein Haken noch ein Schrank für diesen Zweck vorgesehen waren. Nach Eingabe ihrer Passwörter blinkte die erste E-Mail, die zu einer Abteilungsversammlung aufrief, und zwar genau in zwei Minuten. Sandra fluchte. Sie versuchte immer, das Frühstück mit ihrer Tochter zusammen einzunehmen, daher war sie selten vor ihren Kolleginnen im Büro. Hastig sperrte sie den Bildschirm wie vorgeschrieben und verließ im Eilschritt ihr Zimmer.
Die Luft im Konferenzraum war trotz der geöffneten Fenster stickig. Es würde ein heißer Sommertag werden. Alle Kollegen und Kolleginnen ihrer Abteilung waren schon anwesend und starrten sie an, als wäre sie der Heilige Geist in einer Horrorversion. Unwillkürlich sah sie an sich herab, und ihre Augen blieben auf ihren Knien haften, die zweifelsfrei zu dick waren. Aber sie liebte das Kleid und hatte nicht an die Möglichkeit einer Versammlung gedacht, die vorher nicht angekündigt war. Ihr fiel ein, dass sie am Morgen keine Zeit gehabt hatte, ihre kurzen blonden Haare zu waschen und vermutete, dass auch das den Anwesenden aufgefallen war. Sie wurde knallrot. Die Blicke ihrer Kollegen und Kolleginnen blieben, wie erwartet, nicht an ihren Beinen hängen, sondern gingen höher und hafteten jetzt auf dem – sollte man es erwähnen – viel zu großen Ausschnitt, der einiges von ihrem üppigen Busen freigab. Noch roter konnte sie nicht werden, daher räusperte sie sich und setzte sich auf den einzigen noch freien Stuhl, der ausgerechnet neben Ivonne stand, was nichts Gutes verhieß.
Frau Schuster klappte ihren offenstehenden Mund zu und sagte: „Guten Morgen, Frau Gossler, schön, dass Sie den weiten Weg zu uns auch gefunden haben.“
Sandra starrte sie an, wollte etwas erwidern, aber wie meistens blieb ihr jedes Wort im Halse stecken, was nicht weiter auffiel, da Frau Schuster, die allgemein ‚der Wallach’ genannt wurde, mit ihrer Predigt über das gute Ansehen der Bank und der Wichtigkeit einer präsentablen Kleidung begann. Natürlich, ohne einen Namen zu nennen. Sandra fragte sich, warum sich nie jemand über die viel zu kurzen Röcke von Ivonne aufregte, aber das lag wohl daran, dass diese dem Wallach immer nach dem Mund redete, um nicht zu sagen, sie anschleimte.
Wie nicht anders zu erwarten, ging es anschließend um die Arbeitsaufteilung, die wegen zweier Krankheitsfälle in der Abteilung ständiges Thema waren und so auch heute allen Anwesenden den Appetit verdarb. Sandra hörte nur halbherzig zu, obwohl es hauptsächlich sie betraf, die einen erheblichen Teil an Mehrarbeit leisten sollte. Sie wusste, jeglicher Protest wäre zwecklos, daher schwieg sie.
Nach einer Dreiviertelstunde verließen alle schwatzend den Raum, bis auf den Wallach. Frau Schuster war vor Sandras Stuhl stehengeblieben und sah auf sie herab. Sie war riesig und hatte etwas Männliches an sich. Sie fletschte ihre großen Zähne, was so ganz und gar zu dem Bild des Pferdes passte, das Sandra in ihrer Phantasie vor sich sah, wenn sie an Frau Schuster dachte. Sandra blickte mit großen Augen von unten in das mittlerweile puterrote Gesicht ihrer ‚Feindin’ und wartete auf das, was kommen würde.
Wie schon so oft in der letzten Zeit hörte sie sich die Litanei an, die ihr zum Halse heraushing. Sie müsse sich mehr Mühe geben, ihr Arbeitspensum sei zu schaffen, die Rückstände müssten endlich aufgearbeitet werden. So lautete der Tenor der Ansprache. Bei dem was jetzt folgte, blieb Sandra aber buchstäblich die Luft weg. Ihre Augen öffneten sich immer weiter zu einem sprachlosen Protest. Sie blieben an den Zähnen des Wallachs hängen, die sie aufzufressen drohten. Alles sollte innerhalb einer Frist von zwei Wochen geschehen, und das war so gut wie unmöglich.
„Aber ...“, brachte Sandra gerade noch heraus, bevor Frau Schuster den Blick vom Busen auf die Beine schwenkte und mit einem verächtlichen Schnauben sagte: „Und in diesem Aufzug wären Sie besser auf Sankt Pauli aufgehoben.“
Mit diesen Worten verließ sie den Raum und Sandra blieb mit Tränen in den Augen zurück. Diese hätte ihr so gern gesagt, dass sie in ihrem kleinen Büro keine Luft bekam und dass sie nicht damit gerechnet hatte, heute überhaupt irgendjemandem zu begegnen. Da das nicht mehr möglich war, schluckte sie ihre Tränen herunter und schlich zurück in ihr Zimmer. Auf dem Weg hörte sie ihre Kolleginnen im Frühstücksraum lachen. Sie verkniff sich ein Lauschen, denn sie wusste ohnehin, worüber die sich lustig machten. Unfähig, sich ihrer Arbeit zu widmen, starrte sie durch das Fenster auf die Mauer des gegenüberliegenden Gebäudes, als es klopfte.
Bevor sie etwas sagen konnte, hatte ihre Kollegin Angela schon ihren Kopf durch die Tür gesteckt und trat ein. Sie ließ ihren Blick über den Schreibtisch gleiten, bevor sie Sandra in die Augen sah, in der ein paar Tränen glitzerten.
„Hat sie dich schon wieder runtergemacht?“
In ihrer Stimme schwebte Mitgefühl mit, und Sandra glaubte, dass es ehrlich war. Angela war die Einzige, neben Oliver, auf die sie zählen konnte.
„Hast du etwas anderes erwartet?“, erwiderte Sandra.
Angela stieß einen hörbaren Seufzer aus.
„Wenn du Hilfe brauchst, ich kann versuchen, dir zu helfen“, bot sie an.
„Du bist doch selbst über beide Ohren belastet, aber danke für das Angebot“, antwortete Sandra und ließ sich auf ihren Schreibtischstuhl sinken.
„Nun, warum ich eigentlich hier bin“, sagte Angela, „Kathi hat neue Umhängetaschen genäht. Sehen super aus. Komm doch mit und sieh sie dir an. Die anderen sind auch da.“
Kathi, eigentlich Katharina, war eine begnadete Handwerkerin. Sie konnte einfach alles, was mit Basteln und Handarbeiten zusammenhing. Neuerdings häkelte sie sogar Mützen, die scheinbar derzeit ‚in’ waren, wenn sie auch nicht gerade Sandras Geschmack trafen.
„Ich glaub’ nicht, dass die anderen Wert darauf legen, mich zu sehen. Sie haben gerade erst wieder über mich gelästert.“
„Dein Kleid ist auch nicht gerade sehr bankfähig“, schmunzelte Angela und ließ ihren Blick über Sandras Busen gleiten. „Zieh doch einfach die Jacke über. Morgen bringt sie die Taschen bestimmt nicht noch mal mit.“
„Und wenn der Wallach mich sieht?“
„Ach was, die ist gerade mit einer anderen Kollegin beschäftigt. Ich hab gesehen, wie sie zum Schalter gegangen ist.“
Sandra nahm ihre Jacke von der Lehne und zog sie über. „Und das bei der Hitze“, stöhnte sie.
Als sie Kathis Zimmer betraten, verstummten für einen Augenblick die Stimmen der Kolleginnen, bevor sie sich wieder den Taschen widmeten und weiter schwatzten. Wenn Angela bei ihr war, wagte niemand über Sandra herzuziehen. Angela, eine kleine aber energische Person mit ergrauten, kurz geschnittenen Haaren war die älteste Kollegin und schon viele Jahre bei der Bank. Sie war für Planungs- und Organisationsaufgaben zuständig, war Controllerin und vertrat den Wallach in Personalangelegenheiten, wenn diese nicht vor Ort war. Angela war bei Vorgesetzten und Kollegen geschätzt und dafür bekannt, sich mit scharfen Worten Gehör zu verschaffen, wenn es nötig war. Sandra war überaus glücklich, dass ausgerechnet diese Kollegin ihr wohlwollend gesonnen war.
Sandra gesellte sich in erster Linie Angela zuliebe zu den anderen, denn seitdem Kathi dafür gesorgt hatte, dass Gunda ihren Platz in der Kreditabteilung eingenommen hatte, war sie nicht mehr gut auf Kathi zu sprechen. Es war seinerzeit ein Komplott zwischen Kathi, Gunda und Ivonne gewesen, gegen das Sandra gekämpft aber verloren hatte. Sie gehörte zwar immer noch zu dieser Abteilung, durfte jedoch nicht mehr am Schalter arbeiten, was sie sehr schmerzte, weil gerade der Kontakt zu den Kunden ihr große Freude bereitet hatte. Man verdonnerte sie dazu, ihre Bankgeschäfte über das Telefon abzuwickeln und den drei ‚Grazien’, wie sie sie insgeheim nannte, zuzuarbeiten. Seitdem überprüfte sie die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Kreditkunden und beurteilte deren Zahlungsfähigkeit. Wie sie erst viel später erfahren hatte, war es allein ihr Äußeres gewesen, was die Drei als Argument vorgebracht hatten. Sie hatte es der Schuster nie verziehen, dass sie sich darauf eingelassen hatte. Nachdem sie den Grund erfuhr, gab sie sich redlich Mühe, den Stil ihrer Kolleginnen zu imitieren. Aber sie bekam nur Häme zu spüren, und es dauerte nicht lange, bis sie sich wieder gehen ließ und ihr kleines Zimmer ihre Schutzburg wurde.
Die Grazien sahen erstaunt auf, als Sandra mit Angela das Dreierzimmer betrat. Sie ließen es jedoch kommentarlos zu, dass Sandra jede einzelne Tasche in die Hand nahm und begutachtete. Tatsächlich gefiel Sandra eine der Taschen so gut, dass sie eine kaufte. Viel besser gelaunt kehrte sie in ihr eigenes Büro zurück.
Sandra zitterte leicht, als ihr bewusst wurde, dass sie ganz nebenbei noch etwas anderes hatte mitgehen lassen, und zwar Kathis heiß geliebtes Maßband. Es steckte in einer kleinen silberfarbenen Hülle, die mit einem eingravierten Pferd verziert war, welches sie jetzt ansah, als es vor ihr auf dem Schreibtisch lag. Sie konnte kaum fassen, was sie gerade getan hatte. Es war nur so eine winzig kleine Sekunde gewesen, in der sie zugegriffen hatte. Kathi hatte die von ihr erstandene Tasche auf ihren Schreibtisch gelegt, genau über dieses Maßband, so dass es nicht auffiel, als Sandra danach griff.
Sie nahm das Maßband vorsichtig in die Hand, zog an der kleinen Lasche und das Band spulte sich ein Stückchen aus der Hülle heraus. Sandra staunte, weil es sehr schmal war, man die erhabenen Zentimeterzahlen aber dennoch sehr gut ablesen konnte. Es war wunderschön.
Sie hörte Schritte auf dem Flur. Schnell ließ sie das Band in die Hülle zurückgleiten, während ihr Herz anfing zu rasen und sich Schweißperlen auf ihrer Stirn bildeten. Es klopfte, und wieder war es Angela, die zu ihr hereinkam, während sie das Maßband in die Schublade warf.
„Ich glaub’, du kannst deine Jacke jetzt wieder ausziehen“, sagte Angela und ließ einen prüfenden Blick über Sandra schweifen.
„Hast du Fieber? Du glühst ja.“
„Nein, nein! Es geht schon. Ich hab nur die schöne Tasche bewundert.“
„Warum bist du denn so schnell verschwunden?“, fragte Angela, während sie Sandra nicht aus den Augen ließ. Irgendetwas lag in der Luft.
Sandra wich ihrem Blick aus.
„Hast du nicht gemerkt, wie die drei Grazien mich angestarrt haben? Ich hab es einfach nicht mehr ausgehalten. Außerdem muss ich mich jetzt wirklich ranhalten, wenn ich die Rückstände in vierzehn Tagen schaffen will. Der Wallach hat mir jetzt auch noch die Leasingverträge aufgebrummt. Als ob es nicht genug wäre, die Lebensversicherungen zusätzlich zu bearbeiten.“
„Ich weiß, ich habe noch versucht, sie davon abzubringen. Deshalb bin ich hier. Ich dachte, wir hängen Freitag ein paar Stunden an. Da hauen alle früher ab und wir können in Ruhe arbeiten. Ich kann dir bei den Leasingverträgen helfen.“
„Wirklich?“
Sandras Augen waren immer größer geworden. Sie zögerte. „Das ist wirklich lieb von dir. Aber ich weiß nicht, was Marie dazu sagt. Ich werde es mit ihr besprechen.“
„Du kannst doch nicht immer nach Maries Nase tanzen. Denk einfach mal an dich selbst.“
„Wahrscheinlich hast du recht.“
Sandra schluckte. „Gut, wir machen das so.“
„Super, jetzt muss ich mich aber sputen, sonst komme ich selbst in Teufels Küche“, erklärte Angela und verschwand so schnell, wie sie gekommen war durch die Tür.
Marie hatte Tee gekocht, als Sandra gegen halb fünf zu Hause ankam. Ein prüfender Blick glitt über den Körper ihrer Mutter, als diese die Küche betrat.
„So bist du heute zur Arbeit gegangen?“ Ein missmutiger Unterton untermalte ihre Worte. „Dann brauchst du dich wirklich nicht zu wundern, dass sie über dich lästern.“
„Ich weiß, das war ein Fehler, aber lass mal gut sein, ich bin deshalb heute schon genug bestraft worden.“ Mit einem Seufzer ließ Sandra sich auf einen Küchenstuhl fallen. „Ein Tee ist jetzt genau richtig. Ich bin fertig.“
„Das ist ja nichts Neues“, antwortete Marie und setzte sich zu ihr an den Tisch.
„Ich habe mir aber eine schöne Tasche gekauft. Schau mal.“ Eifrig ging Sandra in den Flur und kam mit der Tasche zurück. Marie nahm sie ihr aus der Hand.
„Wirklich nicht schlecht. Können wir mit an den Strand nehmen.“
Sandra druckste herum.
„Ist was?“, fragte Marie.
Ihre Mutter schluckte.
„Der Wallach verlangt von mir, meine Rückstände innerhalb von vierzehn Tagen aufzuarbeiten. Deshalb bleibt mir nichts anderes übrig, als am Freitag Überstunden zu machen. Tut mir leid!“
Sandras Augen baten um Verständnis, aber Marie zog scharf die Luft ein und auf ihrer Stirn bildete sich eine Zornesfalte.
„Wir wollten doch nach Dangast. Es war abgemacht!“, sprudelte es aus ihr heraus.
„Ich weiß. Aber Angela hat mir angeboten zu helfen, da konnte ich doch schlecht nein sagen.“
„Angela!... Na gut!... Dann macht mal!“
Missmutig rührte Marie in ihrer Tasse, so dass der Tee beinahe überschwappte. Ihr wütender Blick war in sich gekehrt. Sandra überlegte, was ihre Tochter besänftigen könnte, ihr fiel aber nichts ein. Sie würde ja selbst viel lieber Baden gehen. Wie ähnlich sie ihrem Vater ist, dachte sie, während sie langsam ihre Tasse leerte. Ihr Blick glitt über Maries Körper, die aufgestanden war und ihre Tasse in die Spüle stellte. Marie überragte sie mindestens um einen Kopf und sie war schlank wie eine Gerte. Das blonde Haar war schulterlang und leicht gewellt. Ihre Tochter besaß die Willenskraft einer Löwin. Darum beneidete Sandra sie besonders. Wenn Marie etwas durchsetzen wollte, schimmerten ihre grünlichen Augen türkis, wie das klare Badewasser im Schwimmbad. Sandras Augen waren hellgrau und sahen immer so aus, als lägen sie im Nebel.
Marie wird es niemals so schlecht gehen wie mir, dachte Sandra. Sie atmete tief durch. Und das ist gut so, auch wenn es das Zusammenleben mit ihr nicht gerade einfach machte. Marie wusste genau, wie sie ihre Mutter um den Finger wickeln konnte. Sandra musste unwillkürlich schmunzeln. Es wunderte sie jedoch, dass Marie jetzt so schnell nachgab. Da musste etwas im Busch sein, von dem sie nichts wusste. Marie hatte ihr immer noch den Rücken zugekehrt und werkelte am Spülbecken herum.
„Du kannst doch mit deinen Freunden im Bornhorster See baden gehen“, wandte sie ein, in der Hoffnung, Marie würde etwas von ihren Gedanken preisgeben. Aber die schwieg beharrlich, und das war so gar nicht ihre Art. Sandra stand auf und stellte sich hinter sie. Als sie ihrer Tochter den Arm um die Schultern legen wollte, wich diese aus.
„Lass mich! Ist schon okay.“
Marie trocknete ihre Hände ab und verschwand aus der Küche. Sandra ließ sich wieder vor ihrer Teetasse nieder und stöhnte in sich hinein.
Oliver, ein schmächtiger Vierziger mit graublauen Augen und dunkelblondem welligen Haar, das sich immer mehr lichtete, schlich vorsichtig über den Flur seiner ehemaligen Abteilung. Er hoffte, der Wallach würde ihm nicht begegnen, denn auch er war ihr Opfer. Sandra und er kannten sich schon aus Kindertagen, so war es nicht verwunderlich, dass sie sich in ihrer Not, das heißt, wenn mal wieder jemand von ihnen vom Wallach runtergemacht wurde, austauschten und Trost zusprachen. Seit jüngster Zeit verspürte Oliver aber das Bedürfnis nach mehr.
Als er Sandra gestern in ihrem unverschämt aufreizenden Kleid gesehen hatte, war seine Erregung so spürbar gewesen, dass er fürchtete, jeder könnte es sehen. Er verschwand schleunigst in seinem Zimmer hinter dem Schreibtisch, um sich wieder zu fangen. Nach einer gefühlt unendlich langen Zeit, in der er Löcher in die Luft gestarrt hatte, gab er es endlich sich selbst gegenüber zu. Er begehrte sie. Aber diese Erkenntnis machte ihm mehr Angst als Freude. Denn, tat sie das auch? Nun gut, sie wusste von seiner Alkoholabhängigkeit und hatte ihn nie fallengelassen. Sie war immer nett zu ihm, freute sich offensichtlich, wenn er bei ihr aufkreuzte, und dennoch, er zweifelte daran. Eigentlich zweifelte er immer, ganz gleich, ob es um berufliche oder private Dinge ging. Aber irgendwie wollte er herausbekommen, ob sie seine Gefühle nicht wenigstens ein bisschen erwiderte.
Nach der großen Krise, wie er sie selbst nannte, wäre er beinahe entlassen worden. Der Wallach hatte eine Flasche Korn hinter seinem Regal entdeckt. Es war ein blöder Zufall gewesen. Britta Schuster war in seinem Büro aufgetaucht und hatte ihr Schlüsselbund so weit nach hinten auf das Regal gelegt, dass es dahinter rutschte, als sie sich dagegen lehnte. Ihm war dabei das Herz stehengeblieben. Aber es kam, wie es kommen musste. Sie bückte sich, blickte hinter das verfluchte Teil und entdeckte die Flasche. Damals war er Gruppenleiter der Kreditabteilung gewesen und er hatte sich ausgemalt, eines Tages in den Vorstand gewählt zu werden. Sicher, wenn das Regal nicht von ihm ein ganzes Stückchen nach vorn gezogen worden wäre, damit er die Flasche, wie schon viele zuvor dahinter verstecken konnte, wäre nichts passiert. Er war also selbst schuld. Mal wieder und wie immer. So dachte er. Aber das war lange her. Er war seit gut einem Jahr trocken und man hatte ihn in die hinterste Ecke der Bank verbannt, fast neben Sandra. Zwischen ihnen befand sich lediglich der Vorratsraum, in dem Papier, Umschläge, Aktenrücken und Ähnliches lagen. Außerdem stand ein großer Kopierer im Eingangsbereich.
Die Vorgänge der Bank wurden seit einiger Zeit in einem gesicherten Computerprogramm gespeichert, dennoch mussten sie auf Papier festgehalten werden. Das Archiv, welches sich unmittelbar hinter dem Vorratsraum angeschlossen hatte, war vor circa einem Jahr ausgelagert worden, weil Platzmangel im Bankgebäude herrschte und man weitere Büroräume brauchte. Es war in einem Nachbarhaus untergebracht worden. Das hatte Oliver noch zusätzlich den Posten als Boten zwischen den Häusern eingebracht.
Britta Schuster war die Leiterin der Personalabteilung. Sie kontrollierte die innerbetrieblichen Richtlinien, wählte das Personal aus und organisierte deren Einsatz und Entwicklung. Neben Angela wurde sie von Johann Johnson, dem Leiter des Rechnungswesens unterstützt, der die Kosten und Erträge der Bank überprüfte und alle Geschäftsvorgänge ordnungsgemäß buchte. Ferner fertigte er Berichte über Verbesserungsvorschläge für die Personalabteilung an.
Als der Wallach die Flasche hinter dem Regal bemerkt hatte, zog sie diese in Zeitlupe hervor und zischte in einer Tonlage, die Oliver bis dahin noch nie von ihr gehört hatte: „Habe ich es doch gewusst!“ Sie rannte mit der Flasche in der Hand aus dem Zimmer und kam nach einer Weile mit dem Ersten Vorstand der Bank, der intern nur der Direx genannt wurde, zurück. Oliver wollte ihnen erklären, dass so ein Problem wie seines das Leben auffrisst wie die Dunkelheit das Sonnenlicht. Aber sie ließen ihn gar nicht erst zu Wort kommen. Er musste sofort seine Sachen packen und die Bank verlassen. Zumindest vorerst, wie sie sagten. Nachdem man sich beraten und seine Arbeitsvorgänge ausgiebig geprüft hatte, stellte man fest, dass er trotz seiner Alkoholabhängigkeit keine groben Fehler gemacht hatte. Er durfte wiederkommen. Er bekam die Auflage, einen Entzug zu machen und anschließend eine Kur. Nachdem er das hinter sich gebracht hatte, verbannte man ihn in die Beschaffungs- und Materialstelle. Seitdem war er der Herrscher über das Vorratslager und sorgte dafür, dass immer Nachschub vorhanden war. Er war mit dieser Aufgabe völlig unterfordert und sichtbar frustriert. Vor allem sah er keine Chance, in seine alte Position zurückzukehren. Das einzig Gute war, sein kleines Büro lag in unmittelbarer Nähe zu Sandras.
Oliver nahm allen Mut zusammen und klopfte so leise wie möglich, es war überhaupt seine ganz eigene Art, immer dezent, leise und unauffällig zu sein, an Sandras Tür und trat ein. Unter Kollegen war es nicht üblich, auf das ‚Herein’ zu warten, aber es war das Gebot der Höflichkeit, anzuklopfen. Sandra sah von ihrem Bildschirm auf und blickte ihn an.
Es schien ihm so, als blitzten ihre Augen freudig auf, aber er war sich nicht sicher. Sandra trug ein Kleid
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 15.10.2018
ISBN: 978-3-7438-8373-4
Alle Rechte vorbehalten