DIE KUGEL DER ZEITEN - GLAUBE (Band 1)
In einer sternenklaren Nacht rast etwas Mysteriöses auf die Erde zu und schlägt schließlich in einen Baum ein ...
Woher kommt es?
Hat es vielleicht sogar jemand geschickt, wenn ja, wer und warum?
Zwei katholische Pfarrer sind im Besitz einer Schatulle, in der das Tagebuch von Jesus Christus verwahrt sein soll. Sie wissen, dass dieses Artefakt vor der verborgen agierenden Macht eines Kardinals, mit Ambitionen auf den Heiligen Stuhl, auch in ihren Pfarreien im Raum Frankfurt nicht sicher ist. Sie übergeben deshalb die Schatulle der jungen Wissenschaftsjournalistin Alina Karlovski, obwohl deren Arbeiten und Veröffentlichungen kirchenkritisch geprägt sind.
Kurz darauf werden die beiden Geistlichen grausam ermordet aufgefunden.
Schnell gerät Alina in den Fokus der Mordkommission.
Auf ihrer Flucht vor der Polizei lernt sie den völlig verwahrlosten Genetiker Thomas Becker kennen, der das mysteriöse Teil in dem Baum findet. Kann er ihr helfen, bekommen sie Unterstützung von ganz oben oder muss sie für eine Tat büßen, die sie vielleicht gar nicht begangen hat?
Verfolgt von der Polizei und weiteren auf den Plan gerufenen Mächten, beginnt auf Alina und Thomas eine Hetzjagd um die halbe Welt und sogar durch die Zeit.
Copyright © 2018 by Peter Egly – publiziert von telegonos-publishing
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(Haftungsausschluss und Verlagsadresse auf der website)
Coverdesign: Yvonne Less – art4artists.com.au
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Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Kontakt zum Autor:
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Für meinen Debütthriller, in dem mein ganzes Herzblut steckt, hatte ich Hilfe von zahlreichen Menschen. Denn ein Buch entsteht nicht nur durch den Autor alleine. Genau deshalb möchte ich mich an der Stelle ganz herzlich bei den zahlreichen Helfern bedanken. Diese Menschen will ich nicht vergessen, denn ohne sie wäre es mir gar nicht möglich gewesen, diesen Roman überhaupt zu schreiben.
Zunächst richtet sich mein Dank an den Telegonos Verlag, insbesondere an den Verleger Heinz Rochholl. Ein großes Dankeschön, weil er an mich glaubt, Geduld mit mir hat und mein Buch verlegt, obwohl ich noch ein Unbekannter bin.
Danke an die großartige Coverdesignerin Yvonne Less (art4artists.com.au), die viel Geduld mit mir hatte und dieses wunderschöne Cover entwarf.
Keinen geringen Anteil an der Fertigstellung hat Karin Ahlert, der ich nicht genug Danke sagen kann. Sie sprach oft mit mir über die Geschichte und hat, wie bereits erwähnt, keinen geringen Anteil an der Fertigstellung dieses Romans.
Ein weiteres großes Danke geht an Ursula Jany und Dr. Marcel Biegler (der mir auch in medizinischen Fragen jederzeit mit Rat und Tat zur Seite stand). Sie halfen mir dabei, aus meinem Geschriebenen einen flüssigen Text zu machen.
Danke an Kriminalhauptkommissar D. L., der mir bei meinen Polizeiszenen immer wieder zur Seite stand.
Vielen Dank auch an das Sekretariat in der Vatikanstadt, ohne das ich in kirchlichen Fragen einfach nicht weitergekommen wäre.
Mein weiterer Dank geht an die Professoren der Johann-Wolfgang-Goethe Universität in Frankfurt, die mir geduldig bei kniffligen Fragen zur Seite standen.
Des Weiteren geht mein Dank an die Journalistinnen und Journalisten, die mir trotz Zeitmangel bei journalistischen Fragen immer unter die Arme griffen. Danke auch an die Historiker, die mir geduldig Auskunft gaben.
Einen weiteren Dank möchte ich noch an meine Testleserinnen und Testleser zum Ausdruck bringen, die mich dazu ermutigt haben, weiterzuschreiben. Hier erlaube ich mir, Ursula Orlović und Tamara Holder ganz besonders hervorzuheben. Ohne all diese Menschen hätte ich es niemals geschafft, diesen Roman zu schreiben.
Vielen lieben Dank an alle – ich weiß diese Hilfe sehr zu schätzen.
Nicht zuletzt danke ich selbstverständlich auch meinen Lesern, denn was wäre dieses Buch ohne sie?
Teil 1
Kapitel 1
Es war schon später Abend, als es aufhörte zu regnen. Ein älteres Ehepaar nutzte die Gunst der Stunde, um mit seinem Hund einen Spaziergang zu machen. Ihr Weg führte die drei über eine wenig befahrene, dunkle Straße am Waldrand. Ab und an leuchtete ein vorbeifahrendes Fahrzeug ihren Weg kurz aus. In der Ferne konnten sie die Skyline von Frankfurt am Main bewundern.
»Mensch Benno«, schimpfte der Mann gereizt mit seinem Labrador. »Zieh doch nicht so. Warte nur ab, wenn du älter bist, dann wirst du auch langsamer werden.«
Die Frau musste lachen.
Plötzlich blieb der Hund abrupt stehen, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Mit Mühe konnte das Ehepaar einen Sturz über den Hund verhindern. Der Labrador blickte nach oben und begann ohne erkennbaren Grund, den klaren Sternenhimmel wie verrückt anzubellen.
»Verdammt, was ist denn heute nur los mit dir?«
Verwirrt schaute das Ehepaar in die Richtung, nach der Benno so massiv anschlug, konnte jedoch nichts Ungewöhnliches entdecken.
Der Mann streichelte dem Hund beruhigend über den Kopf. Auf einmal vernahm das Ehepaar ein immer lauter werdendes pfeifendes Geräusch, das extrem schnell auf sie zuzukommen schien. Ängstlich sahen sie sich an. Panik stieg in ihnen auf, als sie erneut dem Blick ihres Hundes gen Himmel folgten. In diesem Augenblick krachte nicht weit vor ihnen etwas mit einem gewaltigen und ohrenbetäubenden ‚RUUUUMMSS‘ nieder und brachte die Erde zum Beben. »Grundgütiger! Was war denn das?«, fragte die Frau vor Schreck mit zittriger Stimme.
Sekunden später war es wieder still, nur das gewohnte Rascheln der Blätter in den Bäumen war noch zu hören.
Erneut fuhr ein Auto ungebremst vorbei. Der Fahrer hatte offenbar nichts mitbekommen.
Der Mann übergab seiner Frau die Leine. »Bleib du mit Benno hier stehen, ich seh‘ mal nach.« Vorsichtig ging er in die Richtung, aus der sie den Krach vernommen hatten.
»Und?«, wollte sie ungeduldig wissen und sah zu dem Baum, vor dem ihr Mann inzwischen stand und sich die Stirn kratze.
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete er achselzuckend. »Allerdings, dieser Baum hier sieht aus, als wäre er gerade von einem Riesen mit einer Axt von der Krone bis fast zum Boden in zwei Teile gespalten worden.«
Kapitel 2
»Schön, dass Sie wieder bei uns sind, Herr Altmaier«, sagte ein blonder Mann mit markanter Nickelbrille. Er lächelte den älteren Pfarrer, der ihm gegenüber am Schreibtisch saß und gerade aus der Betäubung erwachte, an. »Ich hatte schon die Befürchtung, dass Sie mir zu früh sterben«, stellte er fest und zog Lederhandschuhe an.
Der korpulente alte Pfarrer stöhnte vor Schmerzen.
»Was haben Sie vor?«, fragte er, vom Elektroschock noch immer etwas benommen. »Sind Sie verrückt geworden? Machen Sie mich sofort los!« Wütend zerrte er an den Fesseln.
»Alles zu seiner Zeit, alter Mann. Ganz ruhig! Nicht, dass Sie mir hier noch einen Herzinfarkt kriegen«, entgegnete der Anzugträger in ruhigem Ton. Er öffnete den schwarzen Metallkoffer, den er vor sich auf den Schreibtisch gelegt hatte. »Sie werden mir jetzt erst einmal ein paar Fragen beantworten. Zum Beispiel: Wo befindet sich der Schlüssel für die Schatulle, die Ihr Kollege hat.«
»Welcher Schlüssel? Wovon sprechen Sie? Ich weiß nichts, junger Mann!«, antwortete der grauhaarige Pfarrer wütend und versuchte, seine Hände zu befreien, die hinter dem Bürostuhl zusammengebunden waren.
Der Mann im Anzug schnalzte mit der Zunge, schüttelte dabei den Kopf und erhob mahnend den Zeigefinger.
»Oh, nein, nein, nein! Ich sehe schon, so kommen wir nicht weiter.«
Altmaier schwieg, sah den Mann angstvoll an und versuchte weiter, seine Hände freizubekommen, aber es wollte ihm nicht gelingen. Seine Handgelenke schmerzten dadurch nur noch mehr. Panik ergriff ihn. Ruckartig bewegte er sich hin und her und riss den Stuhl beinahe um.
Diese Gegenwehr beunruhigte den Mann im Anzug nicht im Geringsten, er schien sich vielmehr darüber zu amüsieren.
»Oh, zappeln Sie nur!«, sagte er. »Dadurch ziehen sich die Leinen nur noch fester zu.«
»Sie sind ja total verrückt!«
»Oh, da mögen Sie recht haben«, bestätigte der Mann, nahm eine Pistole aus dem Koffer und schraubte in aller Seelenruhe einen Schalldämpfer darauf. »Aber glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, euer verlogener Haufen ist noch viel verrückter.«
Mit Entsetzen sah Altmaier auf die Waffe und ihm wurde sofort klar, dass es hier um sein Leben ging. Schweiß trat ihm auf die Stirn, lief die Schläfen hinunter und auch in seine Augen. Er riss den Mund auf und wollte um Hilfe rufen, doch der blonde Mann ihm gegenüber war schneller. Blitzschnell hatte dieser sich über den Schreibtisch gebeugt und dem Geistlichen die Mündung der Waffe in den Mund geschoben.
»Sie wollten doch nicht etwa gerade schreien, oder? Das wäre eine ganz dumme Idee«, knurrte er, entsicherte die Waffe und blickte den verängstigten Pfarrer fragend an.
Der alte Mann nickte in Todesangst vorsichtig mit dem Kopf.
»Dachte ich mir«, bestätigte der Mann, zog den Lauf der Waffe wieder aus dem Mund des Pfarrers, näherte sich langsam dessen Gesicht und strich ihm wie einem Kind, das man lobt, übers schüttere graue Haar. »Bis hierher sind wir uns also einig, nicht wahr?«
Altmaier war starr vor Angst und starrte nur in die kalten braunen Augen seines Peinigers.
Der Ton des Mannes mit der Nickelbrille wurde plötzlich aggressiv. Er presste dem alten Mann die Waffe jetzt so fest gegen die Stirn, dass sich ein roter Ring um den Lauf bildete.
»Ich fragte, ‚nicht wahr‘?«
»Ja, ja, ja, bitte, bitte, um Himmels willen! Erschießen Sie mich nicht«, winselte Altmaier. Seine grünen Augen schielten voller Angst auf die Pistole. Jetzt konnte er den Inhalt seiner Blase nicht mehr halten und ließ ihm freien Lauf.
»Oh, keine Sorge, ich habe nicht die Absicht, Sie zu erschießen«, sagte der blonde Mann, lachte und näherte sich dem Pfarrer so sehr, dass zwischen ihre Köpfe keine Hand mehr passte. Der alte Mann konnte sein eigenes Spiegelbild im Glas der Nickelbrille des Peinigers erkennen.
»Sie haben Angst, das ist gut. Das ist sogar sehr gut.« Der Mann im Anzug zog sich seelenruhig einen Stuhl heran und nahm Platz. Sein Opfer musternd zog er die Brille ab und putzte sie.
Der Pfarrer, dessen Hose nun von Urin völlig durchnässt war, bettelte seinen Peiniger an.
»Ja, ich habe Angst. Bitte, tun Sie mir nichts. Ich tue alles, was Sie verlangen.«
»Oh, da bin ich mir ganz sicher.« Der Peiniger zog langsam den Koffer näher zu sich heran, nahm einen weißen Einweganzug heraus und legte diesen auf dem Schreibtisch ab. Anschließend zog er sein Sakko aus und packte es sorgfältig zur Seite.
Altmaier sah dem Mann in die Augen und konnte darin nur kalte und todbringende Abgründe erblicken. Es schauderte ihn und mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass er diesen Tag nicht überleben würde. Er begann stumm das Vaterunser zu beten. »Warum tun Sie das? Was, im Namen des Herrn, habe ich Ihnen denn nur getan?«, fragte er schließlich mit zittriger Stimme. Die vergehende Zeit, in der ihn sein Peiniger nur still anstarrte, trieb ihn fast in den Wahnsinn.
»Nehmen Sie das nicht persönlich, es ist nur ein Job«, antwortete der blonde Mann, nahm einen langen Nagel aus dem Koffer und hielt ihn so, dass der Pfarrer diesen gut sehen konnte. »So, dann fangen wir noch einmal mit einer ganz einfachen Frage an ...«
Nachdem der zwischenzeitlich in den weißen Anzug gehüllte schließlich alles erfahren hatte, was er wissen wollte, stellte er ein Radio an, wählte einen Sender mit klassischer Musik und machte sich ans Werk. Seine Arbeit war noch nicht ganz beendet, da klingelte das Telefon auf dem Schreibtisch. Seelenruhig durchtrennte er im Takt der Musik mit seinem blutverschmierten Skalpell die Leitung und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Hin und wieder zerschnitt er mit dem Skalpell die Luft und ahmte die Bewegungen eines Dirigenten nach.
Als nach einer Weile seine Arbeit abgeschlossen war, betrachtete er in aller Ruhe sein Werk. Anschließend nahm er einen Ohrring und ließ ihn in den Blutsee fallen, bevor er sich sorgfältig umzog und seinen Auftraggeber telefonisch informierte.
Kurze Zeit später verließ er das Haus, packte den Metallkoffer in den Kofferraum, legte seine Nickelbrille ins Handschuhfach und stellte sich den Rückspiegel richtig ein. Sein nächstes Ziel hatte ihm der Pfarrer ja verraten. Dafür blieb ihm allerdings noch ein Tag Zeit.
Kapitel 3
Die Hände in weißen Stoffhandschuhen, nahm Alina Karlovski vorsichtig die Schatulle, wickelte ein Tuch darum und verstaute sie anschließend in der stabilen Fototasche.
»Ich bin sicher, dass Sie bei Ihnen in guten Händen ist«, sagte der alte Pfarrer Ferdinand Beigl und fuhr sich über seine Halbglatze mit grauem Haarkranz. Seine schmächtige Gestalt erbebte leicht.
Alina zog die Handschuhe aus und verstaute diese ebenfalls in der Fototasche, die sie eigens zu diesem Anlass mitgebracht hatte. Hoffentlich haben wir nun endlich die Beweise, dachte sie und gab Beigl die Hand. »Wann glauben Sie, können Sie mir den Schlüssel dazu geben?«
»Ich werde mich bei Ihnen melden, Frau Karlovski, sobald ich meinen Freund und geschätzten Kollegen erreicht habe. Nur er weiß Näheres über den Verbleib des Schlüssels, wissen Sie?« Beigl nickte mit dem Kinn in Richtung Alinas Tasche. »Er hat Anhaltspunkte dafür, wo sich der Schlüssel jetzt befinden könnte.« Beunruhigt sah der betagte Pfarrer auf seine Taschenuhr und strich sich dabei mit leicht zittrigen Händen über die Halbglatze. »Sehen Sie, er sollte eigentlich schon seit einer Stunde hier sein. Er war noch nie unpünktlich, wissen Sie? Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern. Und offen gestanden, mache ich mir inzwischen Sorgen«, seufzte er. »Seit gestern Vormittag kann ich ihn telefonisch nicht mehr erreichen, und wir telefonieren täglich. Sie können sich nicht vorstellen, Frau Karlovski, was alles passiert ist, seitdem wir diese Schatulle, in der dieses Tagebuch sein soll, gefunden haben.«
Obwohl seine Hände ruhig waren, strahlte er für Alina eine innere Unruhe aus.
»Woher haben Sie die Schatulle, Herr Beigl?«
Beigl zog ein Taschentuch hervor und putzte sich die Nase.
»Wir fanden sie bei einer Pilgerfahrt in Italien, in einer kleinen verfallenen Kapelle, wissen Sie?« Der Alte steckte das Taschentuch weg, faltete seine Hände und schüttelte sie. »Heilige Maria, hätten wir sie doch nie mitgenommen!« Er zögerte kurz. »Wir wurden mit dem Tod bedroht, wissen Sie?«
»Oh Gott, das ist ja furchtbar!«, erschrak Alina und zuckte leicht zurück. »Von wem?« Sie hatte plötzlich das beklemmende Gefühl, dass der Pfarrer ihr nicht die ganze Wahrheit über die Schatulle erzählt haben könnte.
»Mein liebes Kind, wir haben den Fehler gemacht, uns Dritten anzuvertrauen. Jetzt haben wir die Konsequenzen zu tragen.« Der Pfarrer überlegte einen Augenblick, winkte schließlich jedoch ab. Alina entging nicht, dass die kleinen blauen Augen des alten Mannes glasig wurden. Sie sagte nichts, wartete nur, bis der alte Mann wieder das Wort ergriff.
»Ach, lassen wir das. Ich will Sie damit weder verängstigen noch langweilen. Mein Leben ist gelebt, was soll mir noch groß passieren ... Es wäre allerdings besser gewesen, wir hätten die Schatulle nicht mitgenommen.«
»Ich bitte Sie, Herr Beigl, Sie ängstigen mich nicht. Und was die Schatulle mit dem Tagebuch anbelangt«, sie tätschelte ihre Fototasche. »Ich werde selbstverständlich warten, bis Ihr Freund mir den Schlüssel aushändigt.«
»Öffnen Sie sie nur mit dem Originalschlüssel und auf gar keinen Fall mit Gewalt«, ermahnte er sie eindringlich, mit erhobenem Zeigefinger. »Der Herr allein weiß, was dann passiert?«
Alina runzelte die Stirn.
»Ich werde sie selbstverständlich nicht öffnen, also mit Gewalt meine ich«, versicherte Alina, obwohl sie vor Neugierde regelrecht zu platzen drohte.
»Auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, bitte überlegen Sie sehr genau, was Sie damit tun. Seien Sie sich der Gefahr stets bewusst, dass es Menschenleben kosten könnte ... unseres eingeschlossen. Sehen Sie, ich bin ein alter Mann, aber Sie ... Sie sind jung. Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass Sie sich nicht einmal annähernd vorstellen können, wozu der theokratische Klerus fähig sein kann, nur um diese Schatulle in seinen Besitz zu bekommen. Machen Sie nicht den gleichen Fehler wie ich.« Er zögerte einen Augenblick. »Vertrauen Sie in diesem Fall niemandem, nicht einmal der heiligen Kirche«, sagte er plötzlich mit unerwartet lauter Stimme und hob dabei erneut mahnend den rechten Zeigefinger.
Alina stutzte und wich aufgrund der unerwarteten Lautstärke zurück. Der heiligen Kirche vertrauen? Sie war bemüht, ihre Verachtung nicht allzu deutlich zu zeigen.
»Wie meinen Sie das?«
Beigl schüttelte den Kopf. »Mein Kollege und ich ... wir waren so dumm, einem hohen kirchlichen Würdenträger zu vertrauen, von dem wir lange dachten, er sei ein Freund.« Er zögerte erneut, so als suchte er nach den richtigen Worten. »Nachdem wir uns weigerten, ihm die Schatulle auszuhändigen, hat er uns ganz unverhohlen gedroht. Er sagte, wir würden unsere Kirchenämter verlieren, aber das war nicht einmal das Schlimmste. Er hat natürlich auch an unsere Kirchentreue appelliert! In seinen Augen war es Blasphemie, dass wir die Schatulle nicht der Kirche überließen. Ich wollte die Schatulle nicht mitnehmen, aber er ...«, Beigl wies Alina mit leicht zittriger Hand den Weg zur Tür. »Kommen Sie, ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
Alina folgte ihm in den Flur. Der Pfarrer deutete auf ein eingerahmtes Schwarzweißfoto an der Wand, auf dem er in einer Gruppe Geistlicher zu sehen war und fuhr fort:
»Er bestand vehement darauf, dass die Menschheit von diesem Tagebuch erfahren sollte.«
»Wer?«
Der Pfarrer presste kurz die Lippen aufeinander, zeigte dann auf einen Mann, der auf dem Foto zu seiner Linken stand und antwortete schließlich: »Bitte, Frau Karlovski, haben Sie Verständnis dafür, dass ich Ihnen seinen Namen nicht nennen kann. Er bat mich ausdrücklich darum. Er hat genau wie ich große Furcht, darum wollten wir Sie erst persönlich kennenlernen, um uns ein Bild von Ihnen zu machen, verstehen Sie?« Der Pfarrer sah wieder auf die Taschenuhr. »Ich bete zu unserem Herrn, dass ihm nichts zugestoßen ist. Ich weiß nicht warum, aber ich habe so ein Unbehagen.« Seufzend deutete er noch einmal auf das Foto.
»Darf ich mir das Foto mal genauer ansehen?«, fragte Alina.
Der alte Mann nahm es von der Wand und reichte es ihr. Nachdem sie es eingehend betrachtet hatte, gab sie es ihm wieder und er hängte es zurück an seinen Platz. Dass er es schief anbrachte, störte ihn nicht und Alina war gedanklich bereits wieder bei der Schatulle, sodass sie nicht weiter darauf achtete.
»Die meisten meiner Brüder sind leider schon verstorben«, sagte er und bekreuzigte sich.
»Sagen Sie Herr Beigl, wie kamen Sie eigentlich auf mich? Wieso wollten Sie ausgerechnet mir dieses wertvolle Artefakt anvertrauen? Sie wissen doch, wie ich zu der katholischen Kirche stehe.«
Der Pfarrer zögerte einen Moment, dann sah er ihr in die Augen und antwortete: »Ja, das weiß ich. Sie sind eine bekannte Wissenschaftsjournalistin. Sie schreiben zwar kritisch über die katholische Kirche, aber dafür ehrlich, meiner Meinung nach, was ich sehr an Ihnen schätze. Wer weiß, vielleicht bringt Sie der Inhalt auf den rechten Weg. Außerdem kannte ich Ihren Vater, Gott hab ihn selig.«
»Ach tatsächlich?«, staunte Alina völlig überrascht. Sie erinnerte sich sofort daran, wie sie als Kind oft neben ihrem Vater gesessen hatte, während dieser alte Schriften entzifferte. Er war ein bekannter Historiker und Linguist gewesen, der nicht selten von namhaften Archäologen und Universitäten bei der Entschlüsselung alter Schriftstücke als Berater hinzugezogen worden war. Eine Koryphäe auf seinem Gebiet ...
»Hier sehen Sie, ich habe sehr aufmerksam Ihre Veröffentlichungen verfolgt«, sagte der alte Mann und hielt Alina ein aufgeklapptes Wissenschaftsmagazin hin, das er aus der obersten Schublade einer alten Eichenkommode genommen hatte, die direkt unter dem Bild stand.
»Ich fühle mich geschmeichelt«, lächelte Alina.
Der alte Mann legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Sie sind zwar eine Extremistin, wenn ich das so sagen darf, aber Sie werden schon das Richtige tun, davon bin ich überzeugt.«
Wenn Sie sich da mal nicht täuschen. »Ich danke Ihnen sehr für das entgegengebrachte Vertrauen«, sagte sie schließlich und verabschiedete sich. Auf dem Weg von dem kleinen Haus bis zum Wagen dachte sie fieberhaft nach. Ich muss zu Karl und ... und ... Sie riss die Tür des Wagens auf, legte die Tasche behutsam auf den Beifahrersitz, schwang sich auf den Fahrersitz und warf einen letzten Blick auf den Pfarrer, der jetzt innen am Fenster stand und ihr freundlich zunickte. Da ihre Hände vor Aufregung zitterten, hatte sie ein wenig Schwierigkeiten den Schlüssel ins Zündschloss zu stecken. Ihr Smartphone, zwischen Ohr und Schulter geklemmt, startete sie den Motor.
Kaum war Alina angefahren, öffnete nur wenige Meter hinter ihr ein Anzugträger mit blonden kurzen Haaren und altmodischer Nickelbrille die Fahrertür seines schwarzen Audis.
Ein Nachbar von Gegenüber, der offenbar gerade aus der Garage kam, blieb eine Weile stehen und beobachtete, wie eine junge Frau hektisch davonfuhr und ein anderer fast zeitgleich aus seinen Wagen stieg. Dieser Mann hatte wohl nur darauf gewartet, dass sie endlich ging. Der Nachbar machte sich aber keine großen Gedanken, zuckte kurz mit den Schultern und ging schließlich ins Haus.
Der Mann aus dem Audi sah sich kurz um, holte einen kleinen schwarzen Metallkoffer aus dem Kofferraum und betrat das Grundstück des Pfarrers von der Seite.
Alina hatte nicht gesehen, dass der Audi zeitgleich mit ihr angekommen und das Haus seitdem beobachtet worden war.
Der Pfarrer, der noch immer gedankenversunken am Fenster ausharrte, riss nur wenige Momente später vor Schreck die Augen auf, da er plötzlich von hinten überrascht wurde.
Der blonde Mann, der leise ins Haus eingedrungen war, überwältigte den Geistlichen von hinten und betäubte ihn mit einem Elektroschocker. Anschließend, nachdem er seelenruhig die Vorhänge zugezogen hatte, fesselte er sein Opfer mit Schiffsleinen an dessen Bürostuhl. Nachdem er alles unter Kontrolle zu haben glaubte, nahm er sein Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer mit italienischer Vorwahl. Er kannte die Nummer auswendig, aber speichern wollte er sie auf keinen Fall. Der Angerufene ließ offenbar keinen Zweifel daran, was er von ihm erwartete. Ohne Gefühlsregung nahm er die Anweisungen seines Auftraggebers entgegen.
Gleich nachdem er das Telefonat beendet, das Anrufprotokoll gelöscht und sein Aufnahmegerät weggesteckt hatte, nahm der blonde Mann wieder einen weißen Einweganzug aus dem Koffer und zog ihn sich über.
»Oooh«, jammerte der Pfarrer, der allmählich zu sich kam. Erschrocken blickte er sofort in die kalten Augen eines Mannes, der sich lächelnd über ihn gebeugt hatte.
»Großer Gott, wer sind Sie?«, fragte der Pfarrer entsetzt und fing ruckartig an, an seinen Fesseln zu zerren. »Was soll denn das? Machen Sie mich sofort los! Das tut doch weh«, schrie er zornig, weil es ihm nicht gelang, seine Arme zu bewegen.
Alina wartete ungeduldig, während ihr Handy wählte. Aber sie hatte kein Glück, es war immer nur das Besetztzeichen zu hören. Wahrscheinlich liegt der Hörer mal wieder daneben, mutmaßte sie und wählte eine andere Nummer. Aber auch unter dem Eintrag ‚Prof. Jung, Mobil‘ war niemand zu erreichen. Nach mehreren erfolglosen Versuchen warf sie genervt ihr Smartphone neben die Fototasche auf den Beifahrersitz. »Wo zum Teufel sind Sie?«, schimpfte sie laut, während sie weiter in Richtung Frankfurt fuhr.
Plötzlich klingelte ihr Handy und auf dem Display erschien das Bild einer jungen Frau mit dem Hinweis, ‚Melanie Winter ruft an‘.
»Oh, Melanie«, stöhnte Alina, nahm das Gespräch an und schaltete auf Lautsprecher. Noch ehe sie etwas sagen konnte, legte ihre beste Freundin los.
»Hallo Alina, wie geht es dir?«, fragte sie, wartete allerdings keine Antwort ab, sondern redete einfach weiter. »Du, ich wollte nur fragen, ob du Lust hast, morgen zu meiner Party zu kommen? Es kommen nur wenig Leute. Es wird bestimmt schön und mit Sicherheit auch sehr interessant!«
»Oouh, das …«
Melanie ließ sich von Alinas zaghaftem Einwand keineswegs irritieren. »Ein Freund, der lange in Amerika war, will mich besuchen. Ein interessanter Mann, den du unbedingt kennenlernen musst«, flötete sie am anderen Ende während Alina seufzend die Augen verdrehte.
»Oh, du weißt doch genau, dass ich nicht so der ...«,
»Ach was!«, unterbrach Melanie. »Du musst öfter unter Leute! Du bist schon ganz eingestaubt von deinen vielen alten Büchern. Es dauert nicht mehr lang und du hast die Metamorphose zum Bücherwurm abgeschlossen.«
Alina musste lachen. »Tja, Melanie, du kennst mich, was soll ich machen. Ich bin, wie ich bin.« Sie hatte jetzt gar keinen Kopf dafür, mit Melanie über Partys, Männer und andere Dinge zu quatschen. »Du weißt doch, für mich sind Bücher und alte Schriften interessanter als Männer. Männer sind ...«
»Manchmal unverzichtbar!«, vollendete Melanie glucksend den Satz.
»Ja, ja, schon gut.« Alina wusste, dass sie bei Diskussionen mit ihrer Freundin nur verlieren konnte. Dafür hatte sie Melanie in all den Jahren gut genug kennengelernt.
»Ich weiß ja, dass du deine Arbeit liebst, aber deshalb musst du doch nicht wie eine Nonne leben.«
»Hey! Moment mal, du Luder, willst du mich etwa schon wieder verkuppeln!?«, protestierte Alina und spielte die Empörte.
»Nööö, was denkst du denn von mir? Das würde mir im Traum nicht einfallen«, säuselte Melanie in unschuldigem Tonfall.
»Melaniiieeee?«, Alina verdrehte erneut die Augen.
»Ja, ja, alles gut. Jedenfalls würde ich mich sehr freuen, wenn du morgen kommst.«
Alina stöhnte und runzelte die Stirn, während sie den Blinker setzte und gleich darauf abbog. »Na gut, mal sehen.«
»Schön, ich nehme das jetzt mal als Ja. Ich freue mich jedenfalls sehr auf dich.« Ihre beste Freundin kicherte.
»Gibt es einen besonderen Anlass, oder ...?«
»Oh, deine Frage tut schon ein bisschen weh.«
»Wieso?«, erkundigte sich Alina vorsichtig und wusste, dass sie in ein Fettnäpfchen getreten sein musste, dem Schnauben von Melanie nach zu urteilen.
»Alina, oh nein, du hast ihn tatsächlich vergessen?«
Alina verzog nachdenklich das Gesicht. »Wen denn?«
»Na, meinen Geburtstag! Ich werde achtundzwanzig, aber wen interessiert das schon ...«
Alina schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Sie war verärgert, weil sie tatsächlich den Geburtstag ihrer besten Freundin vergessen hatte. »Natürlich nicht«, log sie hastig. »Was denkst du denn von mir?«
»Ja, ja, schon klar. Also kommst du morgen Abend gegen 19 Uhr?«
»Natürlich komme ich! Das lasse ich mir doch nicht entgehen. Also bis morgen, ich muss jetzt aber Schluss machen. Ich fahre gerade.« Eine Party war eigentlich das Letzte, worauf Alina jetzt Lust hatte.
»Alles klar, ich freue mich. Also bis dann«, konnte Alina gerade noch hören, als sie das Gespräch beendete, um sich auf die eben auf Rot umspringende Ampel zu konzentrieren.
Melanie betrachtete noch eine Weile ihr Telefon und kräuselte schließlich die Stirn, bevor sie den Kontakt ihres Freundes aus Amerika, mit dem sie kurz vor Alina telefoniert hatte, erneut antippte, um ihm eine Kurznachricht zu senden. Gleich darauf ließ sie das Telefon in ihrer Schürzentasche verschwinden und gönnte sich noch einen Moment Ruhe, bevor sie wieder an ihre Arbeit ging. Ihre Gedanken kreisten um ihre Freundin, der sie sehr dankbar war. Denn als ihr Vater vor knapp einem Jahr wegen fortschreitender Demenz immer mehr Betreuung brauchte und in einem Pflegeheim untergebracht werden musste, hatte ihr Alina ohne zu zögern geholfen, die finanziellen Mittel dafür aufzubringen. Melanie war anfangs zwischen der Sorge um ihren Vater und den Schuldgefühlen gegenüber ihrer Freundin hin und her gerissen. Aber Alina hatte es verstanden, ihr die Schuldgefühle zu nehmen. Ihr Vater und Alina waren die einzigen nahestehenden Menschen, die sie noch hatte.
Für Alina war Melanie Winter herrlich naiv und eine Person, die in allem und jedem nur das Gute sah. Aus anfänglicher Sympathie hatte sich schnell Freundschaft entwickelt. Äußerlich waren sich Alina und Melanie sehr ähnlich, nur die Augenfarbe war unterschiedlich. Alina hatte grüne Augen und Melanie braune. Beide hatten langes, braunes und seidiges Haar, das weit über die Schultern reichte. Nicht selten wurden sie für Schwestern gehalten. Jeans oder die bequeme Jogginghose gehörten zu Melanies Lieblingsklamotten, während Alina meistens Leder trug, aber nicht, weil sie es erotisch fand, sondern weil sie es leicht abwischen konnte, ohne groß waschen und bügeln zu müssen. Die erotische Wirkung, die sie dadurch auf Männer hatte, war Alina nicht bewusst.
Sie quälte sich unterdessen weiter mit ihrem grünen Mini durch den Frankfurter Verkehr in Richtung Innenstadt. Offenbar war jeder Frankfurter mit dem Auto unterwegs, wollte einkaufen oder einfach so schnell wie möglich ins Wochenende.
Schließlich hatte sie ihr Ziel erreicht und das Chaos, auf das sie sich kaum zu konzentrieren vermochte, hinter sich gelassen. Nach erfolgreicher Parkplatzsuche eilte sie mit der Fototasche aufgeregt auf ein Gebäude zu, über dessen Eingang in großen Lettern ‚JOHANN WOLFGANG GOETHE-UNIVERSITÄT‘ stand. Sie kannte das Universitätsgelände so gut wie ihre Westentasche, schließlich hatte sie hier studiert und sehr viel Zeit in diesen Gängen verbracht. Ihren Laufschritt beschleunigte sie fast zum Sprint, blieb allerdings plötzlich vor dem Treppenaufgang stehen.
»Du blöde Kuh!«, schalt sie sich plötzlich laut, blieb vor dem Treppenaufgang stehen und schlug sich gegen die Stirn. In ihrer Aufregung und abgelenkt durch Melanie, hatte sie total vergessen, dass die Büros wegen Renovierungsarbeiten verlegt worden waren. Sofort kehrte sie um und raste mit dem grünen Mini zum Institut für Physik, vor dem sie glücklicherweise auch gleich einen Parkplatz fand. Schon während sie aus dem Wagen stieg, sah sie zum Fenster des Büros, das ihr Ziel war, nahm aber nicht wahr, dass dort kein Licht brannte. Sie brauchte keinen Schlüssel, um das Gebäude zu betreten. Normalerweise sollte das Institut ab achtzehn Uhr abgeschlossen sein, was aber so gut wie nie eingehalten wurde, da Studenten oder Lehrer oft verspätet gingen und die Tür einfach offengelassen wurde. Zielstrebig hechtete sie die Treppe hoch und wollte, ohne anzuklopfen, in das Büro stürmen, auf dessen Türschild ‚Prof. Dr. Karl Jung, Studiendekan des Fachbereiches Physik‘ geschrieben stand. Es war bereits kurz nach 21 Uhr, doch Alina war sich sicher, dass sie den Professor noch antreffen würde.
Sein Büro war nämlich selten verschlossen, seit seine Frau verstorben war. Er hatte daraufhin sein Haus verkauft und hielt sich fast ausschließlich im Institut auf.
Heute allerdings hatte Alina Pech. Die Tür war zugesperrt, sodass sie schwungvoll mit der Nase dagegen prallte. »Aua, verdammt!«, fluchte sie und rieb sich verwundert die geprellte Stupsnase. »Nanu? Niemand da? Wo sind Sie, Professor Karl?« Ein weiteres Mal nahm sie ihr Smartphone und versuchte, den Professor auf dessen Handy zu erreichen. Trotz des Freizeichens nahm aber niemand ab. Sie hatte dem Studiendekan zu seinem 61. Geburtstag extra ein Mobiltelefon geschenkt, damit er immer für sie erreichbar war. Meistens ließ er es aber dann doch irgendwo liegen. Dass es auch jetzt so war, konnte Alina rasch feststellen, denn der Klingelton kam aus dem verschlossenen Büro.
Zwischen dem Professor und ihr hatte sich mit der Zeit ein enges Vertrauensverhältnis entwickelt. Er war wie ein Vater für sie und sie für den Professor wohl die Tochter, die er nie hatte. Dr. Karl Jung hatte ihren Vater gekannt und hätte nach dessen Tod Alina und ihren Zwillingsbruder Markus, der in England lebte, am liebsten adoptiert, aber seine Frau war dagegen gewesen. Die Mutter von Alina und Markus hatte seit dem Unfall, bei dem ihr Vater ums Leben gekommen war, im Koma gelegen und war nicht in der Lage gewesen, sich um ihre Kinder zu kümmern.
Der Professor, der von Geburt an im Rollstuhl saß, liebte Alina und hatte keine Geheimnisse vor ihr. Sie genoss sein bedingungsloses Vertrauen, was sie ihrerseits erwiderte. Damit sie in den seltenen Fällen, in denen ihr Mentor mal nicht im Büro anzutreffen war, nicht unverrichteter Dinge wieder gehen oder lange auf ihn warten musste, hatte er ihr einen Zweitschlüssel anvertraut.
Ungeduldig kramte Alina ihren Schlüsselbund aus der Jackentasche, schloss mit dem Zweitschlüssel die Tür auf und schaltete gleich das Licht ein. Sofort entdeckte sie das Handy auf dem Schreibtisch, das leise vor sich hin brummte. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie noch nicht aufgelegt hatte. Sie betrat das Büro und musste lächeln. Es ist wie immer ... chaotisch, ging es ihr durch den Kopf und ging um den Schreibtisch herum. Sie hatte die leise Hoffnung, eine Nachricht für sie zu finden. Alina hatte Glück.
Ein kleiner gelber Zettel klebte am Bildschirm des Computers.
»Na wer sagt‘s denn«, freute sie sich und entzifferte auch gleich das Gekritzel des Professors. Mit Schriften kannte sie sich schließlich aus.
Hi Alina,
bin bis morgen in Essen o
Sei gegrüßt und mach es dir bequem o
Karl o
Da ist wieder der kleine Kreis, stellte sie amüsiert fest.
Die Zeichensetzung des Professors war eine ganz eigene. Er machte grundsätzlich an den Satzenden keine Punkte, sondern kleine Kreise. Das hatte stets zur Belustigung der Studenten beigetragen.
Alina ließ ihren Blick umherschweifen, zog die Stirn kraus und tat so, als würde ihr der Professor gegenübersitzen.
»Bequem!? Das ist ‘n Scherz Professor, wie soll man es sich hier bequem machen?«, schüttelte sie den Kopf und ließ sich rückwärts in den Chefsessel fallen, den ihr Mentor selbst nie benutzen konnte. Erschrocken sprang sie gleich wieder auf, weil sie sich auf ein Buch gesetzt hatte. Sie nahm das offensichtlich schon sehr alte und abgegriffene Buch auf und blätterte darin herum. Mit ihren Gedanken war sie aber bei der Schatulle und wie sie sie ohne Gewalt öffnen könnte. Auf einmal machte sie in dem Buch eine erstaunliche Entdeckung und setzte sich sofort aufrecht hin. »Das gibts doch nicht!« Ich dachte, Sie wären der Einzige, der sowas macht. Das Buch kann doch unmöglich von Ihnen geschrieben worden sein, dafür ist es viel zu alt. Das hat doch bestimmt schon drei- oder vierhundert Jahre auf dem Buckel, wahrscheinlich sogar noch mehr.
Der Verfasser des handgeschriebenen Buches, beendete genau wie Professor Jung, alle Sätze mit diesem kleinen Kreis.
Auch die Schrift irritierte Alina. Hastig nahm sie die Notiz des Professors und verglich sie mit der Schrift im Buch.
»Das ist doch nicht möglich, wie ...?«, kam es ihr überraschend laut über die Lippen. Neugierig las sie einige Seiten quer. Vielleicht finde ich ja im Text einen Hinweis auf den Autor, dachte sie, bis ihr auf einer Seite die Namen, ‚Kopernikus, Luther, da Vinci‘ und das Wort ‚Zeitreise‘ ins Auge sprangen. Was zum Teufel hatten die mit Zeitreisen zu tun? Gespannt suchte sie weiter nach dem Autor, der sich in dem Buch als Zeitreisenden bezeichnete und von einer geheimen Zusammenkunft mit Nikolaus Kopernikus, Leonardo da Vinci und Martin Luther schrieb. »So ein Unsinn!«, sagte sie. »Seit wann lesen Sie denn Märchenbücher, Professor Karl?« Kopfschüttelnd schlug sie es zu und las stumm den Titel. Meine Ergänzungen u. a. zu De revolutionibus orbium coelestium ... Hmmm ... Soweit ich weiß, ist das doch das Hauptwerk von Kopernikus? … Über die Kreisbewegungen der Himmelskörper.
Seufzend und ohne eine Antwort auf ihre Fragen zu erhalten, legte sie das Buch schließlich auf einen Stapel weiterer Bücher neben der Tastatur. Einige Male hatte sie den Professor in dessen Büro aufgesucht und stundenlang mit ihm über dies und jenes gesprochen. Allerdings war ihr erst jetzt bewusst, dass sie dieses neue Umfeld, das eigentlich wegen der Renovierungsarbeiten nur als Provisorium gedacht war, noch gar nicht wahrgenommen hatte. Die Gespräche mit Karl waren so interessant gewesen, dass alles andere unwichtig erschien.
Obwohl der Professor genau wusste, dass dieses Büro nur eine Übergangslösung war, hatte er sich hier häuslich eingerichtet.
Alina lehnte sich zurück, legte die Füße auf eine Tischecke und ließ ihren Blick erneut durch den Raum schweifen. Erstaunlich, dass Sie da mit Ihrem Rollstuhl überhaupt zurechtkommen.
Links neben der Eingangstür standen zwei Schränke, deren Türen abmontiert waren. Sie fungierten als Regale und waren mit antiquarischen Messgeräten und Schriften über Kopernikus, Galilei, da Vinci und anderen Dingen regelrecht vollgestopft. Das kleine Büro hatte links vom Schreibtisch aus betrachtet noch eine zweite Tür. Diese führte in einen Nebenraum, von dem Alina wusste, dass der Professor ihn als Schlafzimmer nutzte. Normalerweise war es im Institut nicht erlaubt, aber da der Professor im Rollstuhl saß, wurde ihm diese Annehmlichkeit zugestanden. Den Zugang hatte man vom Schreibtisch aus gut im Blick. Neben der Tür befand sich ein Waschbecken mit einem Spiegel darüber, der ungewöhnlich tief hing, damit ihn der Professor ebenfalls nutzen konnte.
Alinas Blick wanderte zur Decke, an der Metallschienen mehrere ineinander liegende Ellipsen formten. Im Brennpunkt der Ellipsen war ein Haken geschraubt, von dem aus an einem dünnen Stromkabel eine leuchtende orangene Kugel hing, die unverkennbar unsere Sonne darstellen sollte und gleichzeitig als Lampe diente. An jeder der Schienen war ein kleiner, elektrisch angetriebener Schlitten angebracht, mit dessen Hilfe die daran befestigten Miniaturplaneten um die Sonne bewegt werden konnten. Die Planeten hingen an hauchdünnen fast unsichtbaren Fäden, sodass man den Eindruck hatte, dass sie frei in der Luft schwebten.
In allen Ecken des Raums standen kleine Tische, auf denen sich Türme von Büchern über Physik und Mathematik, sowie zahlreiche lose Blattsammlungen über die Astronomie befanden. Der Raum hatte vis-à-vis des Eingangs ein Fenster, dessen Fensterbrett ebenfalls voller Bücher war.
Alinas Aufregung wegen der Enthüllungen des Pfarrers und über die Schatulle hatte sich inzwischen gelegt. Die Müdigkeit gewann Oberhand, weshalb sie schließlich aufstand und das Büro verließ.
Zu Hause angekommen, schaltete sie das Smartphone aus und steckte es in die Ladestation. Sie freute sich auf ein entspannendes Bad. Mit geschlossenen Augen lag sie nur kurze Zeit später in der Wanne. Ihre Gedanken kreisten permanent um die Schatulle, die sie vor der Wanne auf einen Hocker gelegt hatte und auf die sie ab und an mal einen Blick warf. Plötzlich schreckte sie hoch und musste laut lachen. Das Schaumwasser, das über den Rand der Badewanne schwappte, störte sie nicht. »Das ist es«, freute sie sich, sah auf die Schatulle und griff dabei nach dem Badetuch. »Ich weiß jetzt, wie ich dich ohne Schlüssel und ohne Beschädigung öffnen kann.« Sie nickte zufrieden. Ja, genau, so könnte es gehen ... zusammen mit Professor Karl ... Sie musste gähnen. Müdigkeit machte sich in ihr breit. Zufrieden stieg sie aus der Wanne, trocknete sich ab und schlief gleich ein, nachdem ihr dunkler Haarschopf das Kissen berührte.
Kapitel 4
Thomas saß in der dunkelsten Ecke einer Dorfkneipe am Stadtrand von Frankfurt am Main. »Irgendwann kriege ich das Schwein«, lallte er in seinen verfilzten Bart, griff nach dem Glas vor sich und kippte den Inhalt in einem Zug die Kehle runter. »Noch so einen, Kurt!«, befahl er, ohne aufzusehen, und zeigte dabei auf das leere Schnapsglas.
Inzwischen war es schon weit nach Mitternacht. Aus dem Lautsprecher an der Wand klang leise Musik.
»Hier Thomas, das ist dann aber endgültig der Letzte«, sagte Kurt, ein Endfünfziger, der die Figur eines Weinfasses hatte. »Der geht aufs Haus ... wie alle«, stöhnte er und gähnte. »Du kannst ja doch nicht bezahlen. Außerdem wird es Zeit. Ich will auch mal nach Hause.«
Thomas hob seinen letzten Wodka wie zum Toast und sah den Wirt mit verdrehten Augen und durch seine langen fettigen Haare an, die ihm vor den Augen hingen. »Danke, mein Freund.« Dann leerte er das Glas auf ex und hielt es sich gleich darauf vors rechte Auge. »Schon wieder leer. Sag mal, hast du denn keine größeren Gläser?«
Kurt verdrehte genervt die Augen. »Du musst endlich mit der Sauferei aufhören und in dein Leben ...« Überrascht unterbrach er den Satz, als sein Telefon so spät noch klingelte. »Wer ist das denn um diese Zeit?«, wunderte er sich.
»Geh ran, dann weißt du‘s«, knurrte Thomas.
Kurt nahm den Hörer ab. »Hallo?« Er sah kurz zu Thomas hinüber, drehte sich aber gleich um und führte das Gespräch fort.
Thomas bekam davon allerdings nichts mehr mit. Er war eingeschlafen.
Nachdem Kurt das Telefonat beendet hatte, spülte er die letzten Gläser und machte den Tresen sauber.
Auf einmal stemmte Thomas seinen rechten Arm auf den Tisch, um den Kopf abzustützen, rutschte jedoch ab und knallte mit dem Gesicht voller Wucht auf die Platte. »Aua! Was ... Was ...?«
Kurt verzog die Mundwinkel.
»Heute ist es genau ein Jahr her«, sprudelte Thomas unerwartet laut los. »Genau ein Jahr, dass Claudia und meine Mädchen umgebracht wurden.«
Kurt stöhnte.
»Ich weiß Thomas, das hast du mir schon tausendmal gesagt. Außerdem wurden sie nicht umgebracht, es war ein Unfall.«
Thomas hob den rechten Zeigefinger und hickste. »Was weißt du schon! Doch, doch, doch, sie wurden umgebracht. Da kann mir keiner was Anderes erzählen«, bestand er energisch darauf. »Es war der dreiundzwanzigste Mai zweitausenddreizehn. Das Datum werde ich nie vergessen ... Genau heute ist es ein Jahr her.« Thomas raufte sich die Haare.
»Ich weiß«, bestätigte Kurt. »Und seitdem durchlebst du jede Nacht denselben Traum. Das hast du mir schon so oft erzählt.«
»Es ist wie ein Film, der in einer Endlosschleife in meinem Schädel abläuft, verstehst du, verdammt nochmal?« Thomas pustete laut die Luft aus. »Sie bekamen nur gottverdammte sieben Jahre auf dieser beschissenen Erde.« Tränen liefen ihm über die Wangen. »Ich stieg gerade aus dem Auto ... auf einmal« Thomas riss die Arme hoch und schrie: »Booom!«
Kurt zuckte regelrecht zusammen.
»Mit einer gigantischen Explosion ist mein Haus in die Luft geflogen. Einfach so. Meine kleinen Engel standen gerade vor der Schaukel. Ich wollte hinrennen, aber dann kam aus dem Nichts diese riesige Feuerwalze und hat meine Engel ... Scheiße! Und ... und Claudia wurde durch die Explosion in der Küche regelrecht zerfetzt.« Er schluchzte.
Kurt setzte sich zu ihm und legte ihm stumm die rechte Hand auf die Schulter.
»Nichts, absolut nichts konnte ich tun, verdammt ... nur machtlos zusehen. So ein Wahnsinn.« Thomas hatte sich regelrecht in Rage geredet und bemerkte nicht, dass er Kurt dabei immer wieder anspuckte.
»Beruhige dich, Thomas«, tröstete ihn Kurt. Gähnend stand er auf, ging zum Tresen zurück, wischte sich mit einer Serviette das Gesicht ab und stellte Thomas anschließend ein Schnapsglas, gefüllt mit Wasser, vor die Nase. »Hier.«
Thomas kippte es sofort und lallte mit feuchter Aussprache weiter.
»Alles ist wie bei einem Atompilz hochgegangen ... und dann in einer riesigen Staubwolke zusammengefallen. Ich habe mir die Seele aus dem Leib geschrien.« Er zögerte einen Moment. »Mehr konnte ich ums Verrecken nicht tun, das ist eine einzige Hölle. Seit diesem Tag schrecke ich immer und immer wieder auf und habe diese furchtbaren Bilder im Kopf. Verstehst du? Verstehst du das verdammt noch mal?«, fragte Thomas energisch.
»Ja, komm jetzt! Ich bringe dich nach Hause.«
»Seitdem ist nichts mehr, aber auch gar nichts mehr so wie es war und es wird auch nie wieder so sein. Jetzt bin ich 34 und ... Scheiße, dann kommt auch noch so ein Scheißkerl von Staatsanwalt und lässt mich verhaften. Dieses Arschloch glaubt bis heute, dass ich sie umgebracht habe.« Er sah Kurt mit eigenartig verdrehten Augen an, tippte sich an die Stirn und zeigte ihm den Vogel. »Stell dir das mal vor!«
Kurt schnaubte. »Ich weiß, Freising hat dich in der Untersuchungshaft besucht und dir ein Angebot gemacht. Du siehst, ich kenne das alles schon.« Dann packte er Thomas an den Schultern und half ihm hoch. »Das reicht jetzt! Ich will nach Hause.«
Da sie nicht weit auseinanderwohnten, brachte Kurt ihn nach Hause.
Gegen Mittag wurde Thomas aus dem Schlaf gerissen, als jemand energisch den Klingelknopf malträtierte. Weil das Läuten einfach nicht aufhören wollte, raffte er sich, vor sich hinbrummelnd, auf und ging schlaftrunken zur Haustür. »Was soll denn das? Ich komm ja schon!«, schalt er und presste seine Hände an den Kopf, der ihm zu platzen schien.
Der Postbote war es inzwischen gewohnt, Thomas in Unterhosen zu sehen. Irgendwie tat ihm der arme Kerl leid. »Ein Einschreiben vom Amtsgericht, dessen Empfang Sie mir hier bitte bestätigen.« Er hielt Thomas ein elektronisches Tablet hin, auf dem, ‚Dr. Thomas I. Becker, 23.05.2014, 11:50 Uhr‘, angezeigt wurde. »Bitte hier unterschreiben«, wiederholte der Postbote und hielt ihm den Stift für das Tablet hin.
Thomas griff gähnend nach dem Stift, unterschrieb, nahm das Einschreiben und kickte die Tür hinter sich wieder zu. Ein Blick auf den Umschlag genügte ihm, um das Schreiben als unwichtig zu qualifizieren. »Wen interessieren schon Schreiben vom Amtsgericht«, sinnierte er und warf den Umschlag ungeöffnet auf den Stapel von Briefen, Mahnungen und Rechnungen, der sich bereits auf der Kommode türmte.
Daneben stand ein Karton, der von Werbeprospekten regelrecht überquoll.
Erschöpft wollte er sich auf sein abgewetztes Ledersofa fallen lassen, hielt aber inne, da kein freier Platz vorhanden war.
Alles Mögliche lag darauf herum und davor, dass kein leichtes Herankommen möglich war.
Vor sich hinmurmelnd schob er die leeren Bierdosen beiseite. Seine Klamotten, die überall verteilt herumlagen, störten ihn nicht. Gar nichts störte ihn, solang man ihn nur in Ruhe ließ. Nachdem er auch die Dosen mit einer Armbewegung vom Tisch gefegt hatte, legte er die Füße hoch. Sein Blick fiel auf die ungepflegten Fußnägel. Er griff nach einer Bierdose, die ihm gerade ins Auge fiel, schüttelte sie, um mit einem Blick ins Innere festzustellen, dass diese bereits leer war. Enttäuscht warf er sie quer durchs Wohnzimmer und ließ sich vor Erschöpfung nach hinten in die Kissen sinken. Im Halbschlaf gab er sich schönen, jedoch schmerzhaften Erinnerungen hin. Er schwelgte in Zeiten, als seine Familie noch lebte und wie stolz er auf seine beiden Töchter Lena und Corinna gewesen war. Schluchzend strich er sich durch den verfilzten Bart. »Warum zum Teufel sie und nicht ich?« Das war die Frage, die ihn Tag und Nacht quälte. »Tot, einfach tot ... Ermordet! Warum verdammt?«
Nur wenige Minuten später schlief er wieder ein. Sein Körper hatte Schwerstarbeit zu leisten und musste schließlich noch den Alkohol der letzten Nacht verarbeiten.
Kapitel 5
Irgendwo in der Vatikanstadt klingelte unter einer roten Kardinalssoutane ein Telefon. Der Kardinal ärgerte sich auch gleich, weil er vergessen hatte, es auf stumm zu stellen.
Strafend blickten ihn die anderen Mitglieder des Kollegiums an. Sie waren am Abend im Domus Sanctae Marthae zusammengekommen, weil sie über etwas Wichtiges beraten wollten.
Der Kardinal entschuldigte sich und erklärte mit einem Blick aufs Smartphone, dass er es noch nicht richtig bedienen könne. Den Anrufer drückte er einfach weg. Demütig verließ er rückwärtsgehend den Raum und wäre beinahe gestolpert. Kaum hatte er die Tür von außen geschlossen, machte er sich verärgert auf den Weg zu seinem Lieblingsplatz. Er nahm dazu den Weg durch die Sakristei, wohl bewusst, dass ihn dort niemand sehen und hören konnte, wenn er Gespräche führte, die nicht für andere Ohren bestimmt waren. Er sah sich auf dem Weg dorthin mehrfach um, um ganz sicher zu gehen, dass ihm auch niemand folgte. Von hier aus konnte er das ganze Domkapitel einschließlich der Sakristei einsehen, ohne selbst gesehen zu werden.
Dieser Bereich war sehr schlecht ausgeleuchtet und durch eine besondere Akustik wurde Gesprochenes so verzerrt, dass niemand, der nicht unmittelbar neben ihm stand, in der Lage gewesen wäre, etwas zu verstehen.
Nachdem der Würdenträger davon überzeugt war, allein zu sein, tippte er eine Nummer mit deutscher Vorwahl ein. Obwohl der Anrufer zuvor seine Nummer nicht übermittelt hatte, wusste der Würdenträger offenbar sehr genau, wem er die Störung zu verdanken hatte. »Was soll das, warum rufen Sie mich an?«, fragte er wütend, noch bevor sein Gesprächspartner etwas sagen konnte. »Ich hatte Ihnen ausdrücklich gesagt, dass Sie mich nur anklingeln und dann sofort wieder auflegen sollen, wenn sich ein Anruf nicht vermeiden lässt. Kapieren Sie das nicht?« Der Kardinal sprach in akzentfreiem Deutsch. Ungehalten zupfte er an seinem Schnurrbart. »Sie wissen doch ganz genau, dass Sie mich nicht anrufen sollen, es sei denn ...?« Er stoppte im Satz und schlug unmittelbar einen freundlicheren Tonfall an. »Sie haben sie, nicht wahr?«, fragte er aufgeregt. »Nun sagen Sie schon, dass Sie sie haben.«
»Nein, noch nicht, Eminenz.«
Die Stimme des Kardinals wurde sofort wieder barsch.
»Ich will diese verdammte Schatulle!« Erneut zupfte er an seinem schwarzen Bart. Nach oben blickend versuchte er, sich zu disziplinieren.
»Keine Sorge Eminenz, sie werden diese Kiste schon bekommen«, versicherte ihm der Mann am anderen Ende der Leitung. »Er war zwar nicht so gesprächig wie der andere, aber ...«
»Er war nicht so gesprächig?«, echote der Purpurträger. »Was zum Teufel soll …«, erschrocken über seine Wortwahl sah er kurz gen Himmel. »Wollen sie mich jetzt jedes Mal belästigen, wenn Sie ein Problem haben? Ich bin doch nicht Ihre Telefonseelsorge.« Genervt schüttelte er den Kopf. »Tun Sie alles, was nötig ist. Ich will diese Schatulle, koste es, was wolle.«
»Geduld, Eminenz. Wenn Sie mich auch mal etwas sagen lassen würden, wüssten Sie bereits, dass die Schatulle dieser Karlovski übergeben wurde.«
»Oooh«, stöhnte der Kardinal und drückte sich den rechten Handballen gegen die Stirn. »Ich fürchte, dann ist es zu spät. Wir haben versagt ... Sie haben versagt!«
»Bei allem Respekt, aber es ist nicht zu spät.«
»Diese blasphemische Journalistin ... Diese alten Narren haben sie ihr tatsächlich gegeben. Hören Sie, sie darf ...« Der Kardinal stockte kurz. »Beeilen Sie sich, sie darf diese Schatulle auf gar keinen Fall öffnen, verstehen Sie? Niemand darf das! ‚Niemand, außer mir!‘«, betonte er die letzten Worte.
»Schon klar und was mache ich mit dem Pfaffen?«
»Was soll diese Frage?«, raunte der Kardinal und verdrehte die Augen. »Ich dachte, ihr Deutschen seid Schnellmerker.«
»Pe ...«
»Ja«, unterbrach ihn der Kardinal augenblicklich.
»Ich werde Sie nicht enttäuschen. Wäre es aber nicht besser, die Journalistin ...?«
»Nein, nein, nein! Nichts dergleichen«, entgegnete der Kardinal entschieden und beendete das Gespräch. Seine Geduld war erschöpft. Nervös schaute er sich um und ließ sein neues Smartphone wieder unter der Soutane verschwinden. Erleichtert stellte er fest, dass ihn wohl niemand belauscht hatte. Den Blick kurz nach oben gewandt, bekreuzigte er sich. »Vergib mir, oh Herr«, flüsterte er und eilte daraufhin in Richtung Domus Sanctae Marthae davon.
Der Deutsche schaltete, wie nach jedem Gespräch mit dem Kardinal, Handy und Diktiergerät aus und ging zurück in den Raum, in dem er den Pfarrer an einen Stuhl gefesselt hatte. Den Gefesselten fixierend, öffnete er den Koffer, den er mitgebracht hatte, nahm einen seiner weißen Einweganzüge heraus und zog ihn sich über. Anschließend holte er einen Nagel aus dem Koffer und hielt ihn so, dass der Gefesselte diesen gut sehen konnte.
Der Blonde verließ einige Zeit später das Haus durch den Garten. Mit einem großen Schritt über die halbhohe Gartenmauer hinweg, trat er auf dem Bürgersteig direkt in einen Hundehaufen.
»Pfui Teufel!« Angeekelt drehte er sich, die Nase rümpfend, weg, zog seine Schuhe aus und warf sie in den Kofferraum. »Das ist ja widerlich.«
In Strümpfen stieg er in den Wagen und drehte sich den Rückspiegel so, dass er seine Haare gut sehen konnte. Plötzlich klingelte ein Telefon im Handschuhfach.
»Scheiße!«, stellte er mit Blick auf die Uhr fest. »Schon so spät ...«
Kapitel 6
Es war schon später Nachmittag, als Thomas das zweite Mal an diesem Tag wegen einer Klingelattacke hochschreckte. Jemand ließ den Schalter offensichtlich nicht mehr los.
»Dieses Drecksding reiß‘ ich irgendwann aus der Wand. Haben denn alle Klebstoff an ihren Scheißfingern? Ich komm ja schon, verdammt!«, schrie er durch das kleine Haus und hielt sich zugleich seinen dröhnenden Kopf. Am liebsten hätte er die Glocke mit einem Hammer zum Schweigen gebracht, aber dafür hätte er eine Leiter gebraucht. Das war ihm viel zu anstrengend. Da er auf der Couch nicht gerade bequem gelegen hatte, massierte er seinen steifen Nacken und schüttelte seine Beine, da das rechte offensichtlich immer noch schlief. Es kribbelte schrecklich und kleine Nadelstiche verschlechterten seine Laune nur noch mehr. So schleppte er sich mühselig zur Tür. Vergeblich hatte er gehofft, dass die Nervensäge an der Klingel vielleicht doch noch verschwinden würde. Aber Thomas hoffte umsonst. Beharrlich malträtierte jemand weiter die Klingel und sein Trommelfell. Widerwillig öffnete er schließlich Tür, was sofort Erlösung für seine Ohren brachte.
Die Glocke verstummte augenblicklich.
»Ach du Scheiße!«, ächzte der Mann im Flur und legte sich gleich darauf vor Schreck die rechte Hand auf den Mund.
Thomas sah zeitgleich nach oben auf die Glocke, danach auf die verschwommene Gestalt, die vor ihm im Türrahmen stand. Gähnend rieb er sich die Augen. »Leck mich ... Was machen Sie überhaupt so einen Lärm hier? Es ist mitten in der Nacht!«
»Na das nenn‘ ich mal ‘ne herzliche Begrüßung ... Und was heißt hier mitten in der Nacht? Es ist nach sechs ... aber am Abend.«
»Ohhhh«, jammerte Thomas dazwischen. »Geht‘s vielleicht ein wenig leiser?« Wunderte sich aber gleich darauf über die Stimme, die ihm irgendwie vertraut schien. Krampfhaft versuchte er, sich den Schlaf aus den Augen zu reiben, und schob sich auch gleich darauf die Haare aus dem Gesicht, um den Mann anzusehen.
»Mann, siehst du scheiße aus.«
»Das sagten Sie ... Ralf!?«, wurde Thomas plötzlich überraschend laut.
»Ja, in der Tat, ich bin‘s, dein großer Bruder.«
Vor Thomas stand tatsächlich sein zwei Jahre älterer Bruder Ralf. Er sah nicht viel anders aus, als Thomas ihn in Erinnerung hatte, nur sein braunes Haar hatte sich etwas gelichtet und die Stirn lief in leichten Geheimratsecken aus. Das Braun wechselte an den Schläfen bereits ins Graue, aber es stand ihm gut, wie Thomas zugeben musste.
Ralf war schlank und gut gestylt. Genau wie Thomas früher war Ralf lässig in Jeans und Sakko gekleidet, unter dem er ein dunkles T-Shirt trug.
»Bist du nur gekommen, um dich über mein Aussehen zu beschweren? Ich habe heute noch nicht geduscht. Wenn es dem ehrenwerten Herrn so nicht gefällt, kann er ja wieder gehen«, konterte Thomas abfällig und strich sich dabei durchs zerzauste Haar. »Was willst du hier?«
Ralf zog die Augenbrauen hoch. »Na, dich sehen.«
Thomas zuckte zusammen. »Sag mal, kannst du nicht leiser reden, Mann? Warum klingelst du bei mir, als wäre der Teufel hinter dir her?«
»Von wegen Teufel, ich habe nur zweimal ganz normal geklingelt!«, antwortete Ralf in gedämpftem Ton und klopfte Thomas mit der Hand auf die Schulter.
»Was? Mir kam es so vor, als ... egal.« Thomas winkte ab. »Hauptsache, das Scheißding ist endlich still. Du hast dich ja ewig nicht mehr blicken lassen. Wie lange ist das her ... 10 Jahre oder 20? Dann tauchst du hier auf, nur um mir zu sagen, dass ich scheiße aussehe?«
»11 Jahre.«
»Was?«
»Es waren 11 Jahre. Ich kam erst letzte Nacht aus den Staaten zurück und rief noch vom Flughafen aus bei Kurt in der Kneipe an. Von dir habe ich leider keine Nummer. Jedenfalls sagte er mir, dass es besser wäre, mich erst gegen Abend bei dir zu melden.« Ralf zögerte einen Moment. »Na ja, jetzt kann ich mir auch denken, warum.«
Thomas fuhr sich mit der rechten Hand über den Kopf. »Aha ... Flughafen!? Ach ja, ich erinnere mich, da war was mit Amerika.«
»Ja, Kalifornien, um genau zu sein, und ...«
»Kalifornien?«, fragte Thomas verdattert. »Oh, dieser verfluchte Alkohol macht mich noch kaputt.«
»Da kann ich dir nicht widersprechen. Ich war vorhin bei Kurt und er hat mir erzählt, dass du völlig neben aus der Spur bist, seit ...« Ralf machte eine kurze Pause und suchte nach den richtigen Worten. »Na ja, ... dem Unfall deiner Familie. Es tut mir sehr leid, Thomas. Wenn ich es früher gewusst hätte, wäre ich natürlich sofort gekommen.«
Thomas winkte ab.
»Um dann was zu tun? Mir die Hand halten oder was? Außerdem war es kein Unfall, das war Mord ... feiger hinterhältiger Mord!«
»Mord!?« Ralf schluckte hörbar und riss die Augen auf. »Bist du sicher? Kurt sprach von einem Unfall.«
»Ach, lasst mich doch alle in Ruhe!«, winkte Ralfs kleiner Bruder erneut ab.
Ralf zuckte mit den Schultern. »Kann ich wenigstens reinkommen oder muss ich vor der Haustür stehen bleiben?«
Thomas drehte sich wortlos um, schlurfte ins Wohnzimmer und kickte dabei eine leere Bierdose weg, die perfekt in einem Wäschekorb landete, der links neben der abgewetzten Ledercouch stand.
Für Ralf war nicht erkennbar, ob die Sachen im Korb sauber waren oder erst noch gewaschen werden mussten. Entsetzt über den Zustand der Wohnung raufte er sich die Haare. »Also, deine Putzfrau musst du unbedingt feuern. Hier wohnst du also? In diesem Chaos?«
»Was willst du von mir?«, entgegnete Thomas gleichgültig.
»Du solltest ‚die‘ mal abgeben«, sagte Ralf mit Blick auf die leeren Bierdosen. »Ich bin sicher, das Pfand würde für einen guten Staubsauger reichen.«
»Zum dritten Mal, was willst du?«, knurrte Thomas in gereiztem Ton.
Ralf, der nicht erwartet hatte, seinen Bruder so anzutreffen, kämpfte wohl noch immer mit seiner Fassung.
»Thomas, bitte, bleib ruhig. Reg‘ dich nicht auf. Ich hatte oft das Telefon in der Hand und wollte dich anrufen.«
»Pfffff«, blies Thomas hörbar Luft aus. »Und dann hast du einen Krampf in der Hand gehabt oder wie muss ich mir das vorstellen?«
»Ich will unseren Streit endlich begraben«, antwortete Ralf stöhnend. »Was sagt denn dein Sibyllchen dazu?«, wollte Thomas wissen und griff nach einer noch ungeöffneten Bierdose. Ralf nahm ihm diese aber einfach weg. »Thomas, bitte komm doch erst mal aus deiner Verteidigungshaltung. Ich bin so froh, dich endlich wiederzusehen, kannst du das denn nicht verstehen?« Thomas wollte seine Dose zurück, aber Ralf ließ sie hinter sich verschwinden.
»Sibylle und ich ... wir haben uns schon vor zwei Jahren getrennt. Es gab aber keinen Streit oder sonst irgendwie Stress. Nein, nein, nichts dergleichen, ganz im Gegenteil. Wir verstehen uns besser denn je. Na ja, zumindest so lange wir nicht über dich reden.« Er seufzte. »Sibylle ist jedenfalls nach Deutschland zurück und lebt jetzt in Hamburg. Kinder haben wir ja keine, was die Trennung sehr vereinfachte. Also habe ich mir gedacht, sobald mein letztes Projekt beendet ist, gehe ich ebenfalls nach Deutschland zurück und versuche, mich mit meinem kleinen Bruder zu versöhnen.«
Ralf breitete die Arme wie zur Umarmung aus. »Und wie du siehst, jetzt bin ich hier.«
Thomas schüttelte den Kopf.
»Ich konnte deine Frau noch nie leiden ... Egal. Was hast du in den Staaten überhaupt gemacht?«
»Ich bekam ein lukratives Angebot, weißt du?«
»Nein, weiß ich nicht, und?«
»Na ja, ich habe eines der besten Sicherheitsprogramme der Welt mitentwickelt, sodass ich heute beruflich und finanziell völlig unabhängig bin.«
»Ha, mein Bruder der Informatikingenieur schreibt Schnüffelsoftware für die NSA?«
»Ich sprach von Sicherheitssoftware, nicht Schnüffelsoftware.«
»Natürlich«, spottete Thomas und winkte erneut ab. »Ist ja auch egal.«
Die beiden Brüder redeten, stritten und versöhnten sich noch gut zwei Stunden lang, bis sich schließlich Ralfs Telefon lautstark meldete und sie unterbrach.
»Hi Melanie«, begrüßte er die Anruferin.
»Aha, Melanie«, flüsterte Thomas und sah seinen Bruder grinsend an.
»Klar bin ich morgen Abend da, was denkst du denn?« Ralf warf seinem Bruder einen Blick zu. »Sag mal, hättest du vielleicht etwas dagegen, wenn ich meinen kleinen Bruder mitbringe?«
Thomas schüttelte den Kopf. Er hatte nicht die geringste Lust irgendwohin zu gehen.
»Großartig, also dann bis morgen. Du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich freue. Ach übrigens, nochmal vielen Dank dafür, dass du das mit der Mietwagenfirma für mich gemanagt hast. Es hat alles super geklappt, du bist einfach ein Schatz, Melanie.«
Thomas sah seinen Bruder mit hochgezogenen Brauen an. Ralf steckte sein Telefon wieder ein, nachdem er das Gespräch beendet hatte. »Ich habe Melanie ...«
»Melanie, Melanie?«, unterbrach Thomas. »Wer soll das sein?«
»Komm mit, dann erfährst du‘s. Außerdem ist auch noch eine Freundin von ihr da, die Melanie angeblich sehr ähnlich sehen soll.«
Er tippte Thomas gegen die Schulter.
»Und frei«, ergänzte er lächelnd. »Melanie Winter und ich haben uns vor gut einem halben Jahr über das Internet kennengelernt. Vor ein paar Tagen habe ich ihr mitgeteilt, dass ich wieder nach Deutschland komme. Und wenn sie real so aussieht wie auf dem Bild ... alter Schwede.«
»Was wird das hier?«
Ralf gähnte. »Boah, bin ich kaputt. Ich brauch‘ echt ‘ne Mütze voll Schlaf, Bruderherz. Du weißt ja, der Jetlag. Ich schlage vor, ich penne mich erst mal richtig aus und morgen früh reden wir weiter. Was meinst du?«
Thomas verdrehte die Augen.
»Vielleicht erzählst du mir dann mehr von dir.« Ralf gähnte erneut.
»Mal sehen, vielleicht. Du kannst hier pennen, wenn du ...«
»Nee, nee lass mal, aber danke für das Angebot. Kurt hat schon ein Zimmer für mich.«
»Tatsächlich? Wenn ich gewusst hätte, dass du kommst, dann ...«
Ralf winkte ab und nahm seinen Bruder einfach in den Arm.
»Weißt du was, kleiner Bruder?«, fragte er, ließ Thomas los und sah ihm in die Augen. »Wir beide starten gemeinsam ganz neu durch. Na, wie klingt das für dich?«
Thomas zuckte unentschlossen mit den Schultern und meinte schließlich: »Hm, warum nicht, mir ist schon klar, dass es so jedenfalls nicht weitergehen kann.« Seine innere Anspannung und die Wut auf Ralf hatte sich inzwischen verflüchtigt.
»Na dann. Ehrlich gesagt, kann ich mir auch nicht vorstellen, dass Claudia es gewollt hätte, dass du dich so gehen lässt.«
»Woher willst du das wissen?«, erwiderte Thomas in barschem Ton und war auf den Füßen, ehe er es selbst richtig begriff.
»Bleib locker«, gähnte Ralf abermals. »Also dann bis morgen.« Im Flur drehte er sich nochmals um und sah Thomas wie ein Häufchen Elend auf der Couch sitzen. »Mach dir keine Umstände, ich find‘ alleine raus.«
»Du mich auch«, winkte der kleine Bruder mit beiden Händen ab. Da fiel auch schon die Haustür ins Schloss und Thomas war wieder allein. Kurz darauf raffte er sich auf, schwankte ins Bad, schaltete das Licht ein und erleichterte sich im Stehen. Anschließend stellte er sich vor den Spiegel und sagte zu seinem Spiegelbild: »Ralf hat recht, du siehst echt scheiße aus.« Zurück im Wohnzimmer holte er, frustriert über sein Aussehen und darüber, dass sein Bruder ihn so gesehen hatte, eine neue Bierdose hinter der Couch hervor, öffnete diese und führte sie an seine Lippen. Ohne jedoch nur einen Schluck zu trinken, setzte er die Dose wieder ab. »Nein, verdammt!« Plötzlich sah er Claudia vor sich stehen. »Ja, ich weiß, ich muss damit aufhören«, sagte er seufzend zu ihr und fing an zu weinen.
Thomas I Becker das geht so nicht, hörte er sie schimpfen, und sah sie ganz deutlich so vor sich stehen, wie sie die Fäuste in die Hüften stemmte.
Weil Claudia das ‚I‘ immer so explizit betont hatte, war es ihm zur Angewohnheit geworden, es ebenfalls zu tun, obwohl er seinen zweiten Vornamen, Ingolf, nicht mochte. Schnell wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht und schnappte sein zehn Jahre altes Handy, das noch nicht einmal ein Farbdisplay hatte. Er sah es einen Moment lang an, bevor er schließlich Sonjas Nummer anrief.
Sonja war Friseurin und eine langjährige Freundin der Familie Becker. Sie hatte früher immer der ganzen Familie die Haare geschnitten.
»Hallo?«
»Oh, hallo Sonja, ich bin‘s Thomas.«
»Thomas?!«, keuchte die Angerufene völlig überrascht. Sie hatte seine Stimme sofort erkannt. »Das ist aber schön, dass du dich mal meldest. Wie geht es dir?«
»Na ja, frag lieber nicht.«
Sonja schwenkte sofort um und sagte in ernstem Ton: »Es tut mir sehr leid, was passiert ist.«
»Danke. Hör zu, ich äh ... hab‘ ein kleines Attentat auf dich vor.«
»Aha ... Na, dann schieß mal los?«
»Ich wollte dich fragen, ob du mir vielleicht die Haare schneiden würdest?«
»Was für eine blöde Frage! Klar! Wann?«
»Na ja, jetzt kommt das eigentliche Attentat. Vielleicht heute noch?«, erkundigte er sich verlegen und verzog dabei den Mund.
»Heute noch!? Hm, na gut, aber nur, wenn du bis spätestens halb 11 hier bist. Schaffst du das? Die Adresse kennst du ja, oder?«
Thomas schaute auf die Uhr über dem Fernseher und antwortete: »Dreiviertelzehn ... Du wohnst zwar etwas außerhalb von Frankfurt ... aber ja, ja klar, das schaffe ich.«
»Okay bis gleich, aber fahr vorsichtig.«
»Alles klar.« Schnell sprang Thomas nach dem Gespräch in Jeans und Pulli, schnappte sich die Autoschlüssel und seine schwarze Lederjacke, die ihm seine Frau mal zu Weihnachten geschenkt hatte und machte sich auf den Weg.
Zum Glück sprang Emma, wie Thomas sein altes Auto liebevoll nannte, gleich an. Weil der Tank fast leer war, tankte er noch kurz für zehn Euro und düste weiter. Gerade als er mit ziemlich hoher Geschwindigkeit durch ein Waldstück in Richtung Neu-Isenburg fuhr, klingelte sein Handy. Bei dem Versuch, es aus seiner Hosentasche zu fummeln, rutschte es ihm aus der Hand und fiel in den Fußraum der Beifahrerseite, wo es weiter klingelte. »Idiot!«, fluchte er, beugte sich zur Beifahrerseite und versuchte, nach dem Handy auf dem Boden zu greifen. Er merkte nicht, dass er in seiner Blindfahrt immer weiter nach rechts und allmählich von der Fahrbahn abdriftete. Plötzlich streifte er den Bordstein. Erschrocken riss er das Lenkrad herum und steuerte auf die Gegenfahrbahn zu. Genau in diesem Moment kam ihm ein LKW mit Fernlicht entgegen, dessen Fahrer offenbar vergessen hatte, wieder abzublenden. Thomas wurde kurzzeitig geblendet und sah für einen Moment nur noch eine weiße, helle Wand auf sich zukommen. Reflexartig versuchte er, mit seinem linken Arm die Augen zu schützen, riss aber gleichzeitig das Lenkrad wieder in die andere Richtung. »Hey, du Idiot! Träumst du?«, schrie er noch, dann knallte es auch schon.
Emma schlug mit voller Wucht gegen den Bordstein, fuhr darüber hinweg und raste über den schmalen Fußgängerweg, direkt auf den Waldrand zu. Mit einem ohrenbetäubenden Lärm krachte Emma gegen einen Baum und kam abrupt zum Stehen.
Da das Auto keine Airbags hatte, knallte Thomas mit voller Wucht mit dem Kopf aufs Lenkrad. Seine Stirn fing sofort zu bluten an. Ihm wurde schwarz vor Augen, als ob jemand am helllichten Tag die Rollläden heruntergelassen hätte. Das Leben mit seiner Frau und den Kindern raste blitzartig an ihm vorbei, bis er schließlich das Bewusstsein verlor.
Kapitel 7
Zur selben Zeit, als Ralf Becker bei seinem Bruder aufgetaucht war, stand Kriminalhauptkommissar Harald Berglander an einer Imbissbude und biss genüsslich in seine Currywurst. Während er darüber sinnierte, dass er inzwischen schon vierzig war und seit über zehn Jahren bei der Mordkommission in Frankfurt am Main arbeitete, beobachtete er seinen neuen Kollegen, Kriminalkommissar Jürgen Zimmermann.
Zimmermann stand etwas abseits und führte ein offensichtlich sehr emotionales Telefonat. Ständig strich er sich dabei über seine Glatze. Er hatte kein einziges Haar auf dem Kopf und war tadellos rasiert. Mehrmals am Tag rasierte er sich Kinn und Haupt, womit er seinem Vorgesetzten, dem Hauptkommissar, gewaltig auf die Nerven ging.
Während Berglander kaute, ließ er seinen neuen Kollegen keine Sekunde aus den Augen.
Kurz darauf kam Zimmermann zurück.
Schmatzend fragte ihn der Hauptkommissar, ob alles in Ordnung wäre.
Zimmermann nickte nur und schob sich ein Stück seiner mittlerweile kaltgewordenen Currywurst in den Mund.
Berglander überkam das Gefühl, dass mit seinem Kollegen etwas nicht stimmte. »Bist du sicher? Du wirkst so angespannt«, hakte er nach, als plötzlich sein Handy klingelte.
»Hallo Harald, hier ist Dani«, meldete sich die Anruferin.
Zimmermann konnte mithören, da Berglander den Lautsprecher aktivierte.
»Oh nein, Daniela, was willst du?«, schmatzte Berglander betont laut, um ihr zu zeigen, dass sie ihn gerade störte.
»Charmant wie immer«, spottete sie. »Außerdem weißt du genau, dass ich es nicht mag, wenn du mich ‚Daniela‘ nennst. Ich bin einfach nur Dani.«
»Komm zum Punkt! Was willst du?«
»Ihr müsst sofort nach Ferchenheim. Ein anonymer Anrufer meinte, es sei etwas Schlimmes passiert. Eine Frau soll in ziemlicher Eile aus einem Haus gestürmt sein. Es hätte auch tätliche Auseinandersetzungen gegeben ...«
»Du machst doch jetzt Witze, oder?«, brummte der Kriminalist genervt dazwischen. »Du weißt aber schon, was das Wort ‚Feierabend‘ bedeutet?«
Dani holte tief Luft, blieb dann aber lieber ruhig. »Ihr müsst da jetzt ...«
»Wie ... Was müssen wir? Was geht uns das an, wenn sich zwei streiten und irgendeine Verrückte aus dem Haus rennt? Wir sind die Kripo, schon vergessen?«
Zimmermann und Berglander tauschten spöttisch die Blicke.
»Sag mal, musst du mir so ins Ohr schmatzen?«, fauchte Dani mürrisch, fuhr aber gleich fort, da er ihr nicht antwortete. »Tut mir leid, aber ihr müsst da jetzt hin. Als der Anruf einging, dachten wir zunächst auch, dass es sich um eine harmlosere Streiterei handeln würde und haben erst einmal nur eine Streife hingeschickt, die in der Nähe war. Der Kollege hat sich gemeldet, war total neben der Spur und stammelte etwas von Mord. Er wirkte völlig ...«
»Mord!?«, ächzte Berglander hustend. Er hatte sich im selben Augenblick an seiner Currywurst verschluckt.
»Ja, davon müssen wir im Moment ausgehen.«
»Okay, informier‘ die Spusi. Vielleicht kommt ja Igelschnitt. Den habe ich schon ‘ne Weile nicht mehr gesehen.«
»Schon erledigt, Chef! Die Adresse schicke ich dir aufs Handy.«
»Scheiß Job!«, schimpfte Berglander und schmiss den Rest seiner Currywurst in die Tonne.
Zimmermann, der gedanklich völlig abwesend wirkte, ließ einfach alles stehen.
»Sag mal, ist wirklich alles in Ordnung mit dir?«
»Ja, ja«, antwortete Zimmermann. »Mich stören nur meine Haare auf dem Kopf und im Gesicht. Ich muss mich rasieren ... meine Allergie.« »Was denn für eine Allergie?« Kopfschüttelnd zahlte Berglander hastig für beide die Zeche. »Willst du fahren?«
»Nein, nein, fahr nur. So kann ich mich wenigstens rasieren«, lehnte der Glatzkopf ab.
Natürlich, ging es Berglander durch den Kopf und er musste dennoch lächeln. Typisch!
Sie fuhren in Richtung Ferchenheim, einem Stadtteil von Frankfurt, der rund zehn Kilometer außerhalb lag.
Zimmermann klappte die Sonnenblende herunter, holte den Akku-Rasierer aus der Seitenablage und begann mit der üblichen Prozedur.
Berglander warf ihm einen kurzen Blick zu und schüttelte den Kopf. »Kannst du das nicht zu Hause erledigen?«
»Ich habe dir doch schon erklärt, dass ich eine Haarallergie habe«, rechtfertigte sich Zimmermann.
Berglander strich über seinen Dreitagebart und warf erneut einen kurzen Blick auf den Beifahrer.
»Ich sehe nicht ein Haar auf deinem Kopf. Du spinnst doch.«
»Doch, doch, siehst du das nicht? Die wachsen wie Unkraut«, stöhnte der Glatzkopf und neigte seinem Kollegen den Kopf zu.
»Ich kann immer noch sehen wie ein Adler und da ist nichts, nothing, niente. Verstehst du? Was hast du eigentlich für ’ne eine Haarfarbe?«
»Blond, warum?«
Als sie schließlich in die Zielstraße einbogen, sahen die beiden Kommissare schon von weitem das Blaulicht des Einsatzwagens und mehrere Leute zwischen Haus und Straße herumstehen.
Das unscheinbare alte Haus hatte eine kleine Eingangstreppe, auf der ein junger Streifenpolizist stand und mit zittrigen Händen telefonierte. Auf dem Namensschild seiner Polizeiuniform stand in weißen Großbuchstaben ‚H. KELLER‘.
»Hören sie H Punkt Keller. Was soll diese Scheiße hier? Warum laufen überall Gaffer herum?« Berglander drehte sich um und deutete auf die Leute. »Schon mal was von Polizeiabsperrung gehört?«, bellte er den jungen Polizeimeister an und hielt ihm seinen Dienstausweis unter die Nase.
Keller zuckte regelrecht zusammen, steckte sofort sein Smartphone weg und stotterte: »Oh, Entschuldigung ... Ja, also ..., also ja. Das ... das habe ich jetzt ganz vergessen, ich dachte ...«
»Hey, ganz ruhig, Junge! Nicht stottern und jetzt mal ganz langsam der Reihe nach, okay?« Der Hauptkommissar sah den jungen Polizeimeister erwartungsvoll an. »Also, was ist hier los?«
Der junge Mann räusperte sich und versuchte, die Gedanken zu sortieren. »Also, ich war erst allein hier, ich ... ich hatte noch nie einen Einsatz am Tatort eines ...«
»Eines was?«
Der junge Polizeimeister schnappte nach Luft, wischte sich mit einem Tuch die Stirn ab und zeigte aufs Haus. »Also ... also da ... da drin«, würgte er die Worte regelrecht heraus.
Berglander verdrehte die Augen.
»Ja ... also ... ich hatte noch nie einen ... also einen Mord, meine ich.« Keller hielt sich die Hand vor den Mund, um sein Würgen zu kaschieren.
Der Kriminalist wollte bereits ins Haus, blieb aber abrupt stehen, drehte sich nochmals zu dem jungen Polizisten um und sagte zu ihm: »Kümmern Sie sich jetzt um die Absperrung und sorgen Sie dafür, dass die Leute dahinter bleiben. Nehmen Sie dann von allen die Personalien auf.« Berglander deutete dabei zur Menschenmenge, die auf dem Grundstück war. »Fragen Sie diese Gaffer, ob sie vielleicht etwas oder besser noch, eine Person gesehen haben und ob sie diese vielleicht beschreiben können. Haben Sie alles verstanden? Schaffen Sie das?«, fragte er nach und ging, ohne eine Antwort abzuwarten, ins Haus.
»Die erste Tür rechts«, rief Keller hinterher. »Soll ich das alles alleine machen?«, wandte er sich an Zimmermann.
Zwei weitere Polizeifahrzeuge hielten vor dem Grundstück.
Zimmermann drehte sich um und schlug sich gegen die Stirn. »Natürlich nicht, Sie Idiot. Sehen Sie, es sind doch wohl inzwischen genug Kollegen hier ... Woher wissen Sie überhaupt, dass es Mord war?«
»Ich glaube nicht, dass sich jemand so das Leben nimmt«, antwortete der junge Polizist. »Ich dachte anfangs, dass es hier eventuell nur um einen Ehestreit oder so etwas gehen würde. Hätte ich gewusst ...«
»Ja, ja, schon gut, schon gut! Kümmern Sie sich jetzt mit den Kollegen um die Absperrung.«
In diesem Augenblick kam Berglander wieder aus dem Haus. »Scheiße, kommst du Jürgen?«
»Muss ich da jetzt wirklich rein, Harald? Mir reicht es schon, wenn ich deinen Gesichtsausdruck sehe.« Zimmermann wurde schlagartig bleich und kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn.
»Du bist bei der Mordkommission, schon vergessen?«
Es dauerte keine Minute, bis Zimmermann wieder aus dem Haus stürmte. Er hatte sich seine Hände auf den Mund gepresst und kämpfte damit, sich nicht übergeben zu müssen.
Kurz darauf gingen drei Männer in weißen Plastikanzügen auf das Haus zu.
Berglander kam ihnen seufzend entgegen.
»Harald, was ist los?«
»Das ist schon ziemlich starker Tobak, Igelschnitt«, warnte Berglander und verzog dabei angewidert das Gesicht.
»Na toll!«, jammerte der Igelschnitt, von der Spurensicherung. »Da wartet wohl eine Menge Arbeit auf uns?«
»Ich fürchte ja. Mir passt das ebenfalls nicht«, antwortete der Polizist kopfnickend. »Ich rufe den Affen an und informiere ihn.
»Den Affen!? Ach so, ja, verstehe. Du meinst den Staatsanwalt.« Bevor Igelschnitt seinen Kollegen in ihren weißen Anzügen ins Haus folgte, legte er seinem Freund die rechte Hand auf die Schulter und raunte: »Harald, wenn ich dir einen Rat geben darf, kümmere dich mehr um deine Familie.« Dann nickte er kurz. »Denk mal drüber nach.« Er klopfte ihm ein paar Mal leicht auf die Schulter und ging schließlich ins Haus.
Berglander sah ihm einen Augenblick nachdenklich hinterher und erinnerte sich daran, wie er Klaus Kesselhut, dem Chef der Spurensicherung, der jetzt kurz vor der Pensionierung stand, auf einem Grillfest den Spitznamen Igelschnitt verpasste.
»Was um alles in der Welt ist das? Welches kranke Arschloch macht denn so was?«, hörte der Kriminalist Igelschnitt ausrufen, räusperte sich und blätterte den Kontaktspeicher seines Smartphones durch, bis ‚STA Affe‘ auf dem Display erschien.
»Staatsanwalt Doktor Senner«, meldete sich eine tiefe Männerstimme.
»Herr Doktor Senner ...« Berglander informierte den Staatsanwalt, mit knappen Worten. Es war eigentlich nicht seine Aufgabe, direkt mit dem Staatsanwalt zu kommunizieren, aber sein Dienststellenleiter und Vorgesetzter, Hartmut Weiß, lag zurzeit wegen einer Operation im Krankenhaus.
Beim Reinigen der Dachrinne war dieser von der Leiter gestürzt.
Da Berglander die Stellvertreterfunktion innehatte, musste er nun neben seinem Chef im Krankenhaus auch den Staatsanwalt auf dem Laufenden halten.
Igelschnitt und seine Kollegen waren zwischenzeitlich in einem Raum zugange, der anscheinend ein Büro war.
Die Wände waren gänzlich mit überfüllten Bücherregalen zugestellt. Die Decke schien aus dem gleichen Holz zu sein, wie die Regale. Vor das einzige Fenster in dem dunklen Raum war ein schwerer, lichtundurchlässiger Vorhang gezogen worden, davor stand ein schwerer Tisch aus massiver Eiche, der ziemlich abgenutzt wirkte.
»Schon schräg, auf welche Ideen solche Spinner kommen«, bemerkte Igelschnitt zu Berglander, der inzwischen im Türrahmen stand und den Kopf schüttelte.
Auf einem Bürostuhl hinter dem Schreibtisch saß ein älterer Mann mit vor Angst entstelltem Gesicht. Mit Schiffsleinen hatte man seine Beine am Stuhl befestigt. Die Arme waren unnatürlich nach hinten gezogen und zusammengebunden worden. Im weit geöffneten Mund des Toten steckte ein Knebel aus undefinierbarem Material. Unter der Leiche hatte sich eine Lache aus Blut und Urin gebildet, die noch nicht ganz getrocknet war. Die Kleidung des Toten war vom Hals bis zum Schritt aufgetrennt und mit einfachen Holzklammern seitlich festgemacht worden. Im Rumpf der Leiche, der somit frei war und unweigerlich alle Blicke auf sich zog, hatte man ein auf dem Kopf stehendes breites Kreuz eingeritzt. Die Haut des Kreuzes war komplett entfernt worden, sodass das rohe Fleisch zu sehen war. Das eingeschnittene und mit Blut getränkte Kreuz begann an der Halsgrube und endete beinahe im Schritt. Der Bauchnabel befand sich genau im Schnittpunkt der auf dem Kopf stehenden Crux immissa. An den gleichen Stellen, an denen Jesus mit den Händen und Füßen ans Kreuz geschlagen worden war, hatte man dem Opfer ins Kreuz auf seinem Körper lange Nägel geschlagen. An der Stelle, die der Fixierung der Füße Jesu entsprechen musste, war leicht schräg durchs Brustbein ein Nagel direkt ins Herz des Toten getrieben worden.
»Sag mal, hat der Typ noch gelebt, als ihm diese ... diese ...?«, fragte Berglander zögerlich und nach den richtigen Worten suchend. Er deutete auf die Wunden, verzog angeekelt das Gesicht und sagte: »Ich meine, als ihm diese Schnitzerei und die Nägel verpasst wurden.«
»Ich fürchte ja, aber da musst du August fragen. Er müsste eigentlich jeden Moment eintreffen.« Kaum hatte Igelschnitt das ausgesprochen, stand der Gerichtsmediziner auch schon hinter ihnen.
»Was muss er mich fragen?«, erkundigte er sich mit Blick auf den Toten.
Berglander sah Casparius an und kratzte sich am Kopf.
»Sag‘ du‘s uns, Professor Doktor August Casparius. Du bist der Rechtsmediziner. Ein Ritual vielleicht?«
»Was haben wir doch für eine kranke Welt«, bemerkte Casparius und trat kritisch dreinschauend näher an die Leiche heran. »Ein Ritual? Nein, ich glaube nicht«, sagte er und ließ den Blick umherschweifen. »Man sieht keine Kerzen, keine Kräuter oder sonst irgendwelche Symbole oder Zeichen.« Er stockte kurz, deutete auf den Rumpf der Leiche und fuhr fort: »Abgesehen von diesem Kreuz hier natürlich.«
Berglander ließ ein Pfeifen hören. »Ein Kreuz, das auf dem Kopf steht. Was hat das zu bedeuten?«
Casparius stülpte sich Gummihandschuhe über. »Keine Ahnung, find‘s raus! Du bist der Kommissar«, antwortete er und stellte seine Tasche ab. »Ich habe ja schon einiges gesehen, aber es wundert mich immer wieder, zu welchen Taten manche Menschen fähig sind. Ich frag‘ mich nur, wie ich da hinkommen soll, ohne im Blut zu stehen.«
Berglander schnalzte mit der Zunge und ging hinaus in den Flur.
Igelschnitt sicherte unterdessen mit seinen Kollegen akribisch sämtliche Spuren im Büro sowie im Rest des Hauses. Überall stellten sie kleine Tafeln mit Nummern auf, um sie anschließend für die Beweisaufnahme zu fotografieren und zu katalogisieren.
Berglander wollte nochmals ins Büro zurück, machte jedoch augenblicklich auf dem Absatz wieder kehrt, da ihm ein Bild aufgefallen war, das im Flur schief an der Wand hing. Auf dem alten Foto war eine Gruppe von Geistlichen abgebildet. Das Bild war zwar schon älter und in Schwarzweiß, aber Berglander konnte den Toten gut darauf erkennen. Mit dem Smartphone schoss er ein Foto von dem Bild, ehe er Igelschnitt zu sich rief und diesen bat, es genauer zu untersuchen.
»Warum?«, wollte Igelschnitt wissen. »Was ist damit?«
»Keine Ahnung, nur so‘n Gefühl«, antwortete der Hauptkommissar und ging nochmal in den Arbeitsraum des toten Pfarrers zurück.
Casparius stand über den Toten gebeugt auf einer kleinen Holzbrücke. Diese hatten Igelschnitts Leute gebaut, damit der Gerichtsmediziner bei der Untersuchung der Leiche nicht im Blut stehen musste.
»Kannst du mir sagen, wie lange der arme Kerl schon tot ist?«, fragte Berglander.
»Nun, nach meiner vorsichtigen Schätzung, eine, vielleicht zwei Stunden. Genaueres kann ich dir aber erst nach der Obduktion sagen«, antwortete Casparius, während er dem Toten in den Mund sah.
»Und die Todesursache?«
Casparius hob genervt die linke Augenbraue, entgegnete aber in ruhigem Ton: »Immer wieder stellst du mir dieselben Fragen, obwohl du die Antworten darauf kennst.«
»Und, kannst du?«
»Hörst du mir nicht zu, verdammt nochmal? Ich kann noch nichts Genaueres sagen! Das wird die Obduktion ergeben ...« Casparius deutete mit der Pinzette, die er in der rechten Hand hielt, auf das Kreuz. »Allerdings können wir davon ausgehen, dass dem Opfer das hier nicht post mortem angetan worden ist. Der arme Kerl musste ganz schön leiden. Die Nägel und das Kreuz wurden ihm bei lebendigem Leib zugefügt. Das sieht man an dem Blut, das ...«
»Schon gut, schon gut!«, unterbrach ihn Berglander und rieb sich den Bauch, da sich seine Currywurst mit extra viel Ketchup bemerkbar machte. »Eines noch ...«, deutete er auf den Toten.
»Mann, Harald, du nervst! Lasst mich doch einfach mal meine Arbeit machen.«
»Die Kleidung ... Das war definitiv ein Pfaffe, oder?«
Casparius, der gerade seine Pinzette am Mund des Toten ansetzte, gab keine Antwort.
Berglander deutete auf eine der Markierungstafeln direkt neben dem Stuhl des Toten und brummte: »Was ist das hier bei der Acht?«
»Ein Ohrring«, sagte Igelschnitt.
»Ein Ohrring!?«, wiederholte der Kripobeamte und ging in die Hocke, um sich den Ohrring, der in der Blutlache lag, näher anzusehen. »Hat der Mann etwa Ohrringe getragen?«, fragte er stirnrunzelnd.
»Nein, ganz sicher nicht. Er hat keine entsprechenden Löcher oder Druckstellen an den Ohrläppchen«, verneinte Casparius. »Vielleicht gehörte der Ohrring ja seiner Frau, der Haushälterin, einem Gemeindeschäfchen oder gar dem Mörder ...«
»... Oder der Mörderin. Ich schätze mal, dass das kein Ohrring ist, der von Männern getragen wird?«, beendete Berglander Casparius‘ Aufzählung.
»Seiner Frau!? Ich dachte, der Mann ist ein Pfarrer?«, fragte Igelschnitt, während er von der Seite des Schreibtisches aus in die Schublade sah.
»Es gibt doch auch evangelische Pfarrer, oder nicht? Allerdings, der hier war keiner«, konterte Casparius genervt und tippte auf die Kleidung des Toten. »Wer auch immer das hier angerichtet hat, ich bin mir sicher, der hat nicht viel für Gott und die Kirche übrig.«
»Da muss sich einer medizinisch gut ausgekannt haben, oder?«, hakte der Kriminalkommissar nach.
»Nicht unbedingt. Das kann man auch aus dem Internet haben, dazu bedarf es keiner besonderen medizinischen Kenntnisse. So, und jetzt würde ich gerne weitermachen, wenn‘s recht ist ... ohne ständig Fragen beantworten zu müssen!«
Plötzlich erhellte ein Blitzlichtgewitter den Raum und das schnelle Klicken einer Kamera war zu hören.
Berglander drehte sich um. »Was machen Sie da?«
Eine junge Frau, die ihre rechte Hand gerade aus der Hosentasche zog, schaltete schnell die Kamera in ihrer Linken ab und wollte sofort auf dem Absatz kehrtmachen.
»Halt!«, befahl der Kriminalist und bekam die Frau gerade noch am Handgelenk zu fassen. »Einen Augenblick!« Dann erkannte er sie. »Matak ... die schlimmste Hyäne von allen. Das hätte ich mir ja gleich denken können!«, höhnte er und riss ihr auch gleich die Kamera aus der Hand. »Wie zum Teufel sind Sie hier reingekommen?«, knurrte Berglander, während er die Memory Card aus der Kamera nahm und sie zerbrach.
»Hey, was soll das? Sind Sie verrückt geworden?«, fauchte die Journalistin. »Mann, Sie wissen ganz genau, wie das läuft.«
»Ja, das weiß ich«, antwortete er mit aufgesetzter Freundlichkeit und reichte ihr die zerbrochene Speicherkarte und die Kamera. Matak verschränkte trotzig die Arme.
Mahnend hielt Berglander ihr den rechten Zeigefinger ganz dicht vor die Nase. »Hören Sie«, drohte er. »Sie verschwinden jetzt auf der Stelle von hier, sonst lasse ich Sie festnehmen und wie einen Verbrecher vor aller Augen abführen. Haben Sie mich verstanden?«
Matak zuckte zusammen. »Klar und deutlich, Herr Kommissar. Ich bin ja nicht schwerhörig«, fauchte sie.
»Gut.« Die Journalistin griff nach ihrer Kamera, warf über Berglanders Schulter hinweg noch einen Blick auf den Toten und wollte den Raum verlassen, da hielt sie der Hauptkommissar erneut auf.
»Einen Augenblick noch!«, forderte er sie auf, führte sie vor die Haustür und winkte einen Streifenpolizisten zu sich heran. »Begleiten Sie diese ...« Berglander stockte kurz und warf ihr einen abfälligen Blick zu. »... diese Dame hier unverzüglich hinter die Absperrung.«
Der Beamte nickte und bat die Journalistin, ihm zu folgen.
Im selben Moment kam einer von Igelschnitts Männern und übergab Berglander die Brieftasche des Toten, die er im Flur in einer Kommode gefunden hatte. Berglander öffnete sie, um sich einen Überblick über den Inhalt zu verschaffen.
Matak blieb stehen, in der Hoffnung, ebenfalls einen Blick in die Brieftasche werfen zu können. Grimmig ging Berglander den Polizisten an, ohne Matak auch nur eines Blickes zu würdigen. »Worauf warten Sie? Brauchen Sie noch einen Lageplan? Schaffen Sie diese Hyäne endlich weg!«
Rückwärts blickend folgte Matak dem Streifenpolizisten, der sie am Arm gepackt hatte. Sie ließ Berglander nicht aus den Augen.
Dieser zwinkerte ihr nur höhnisch zu, drehte sich um und sah sich die Papiere des Toten nun genauer an. »Ferdinand Beigl«, las er laut und ging daraufhin zurück ins Haus. »Igelschnitt, hast du den Ohrring schon fotografiert?«, fragte er Kesselhut, der mittlerweile vom Büro Fotos machte.
»Was soll diese blöde Frage? Natürlich habe ich das«, antwortete der Chef der Spurensicherung brüskiert. »Du siehst doch die Nummerntafel danebenstehen, oder nicht?«
»Ich will dieses Teil schnellstens auf meinem Schreibtisch haben und alles, was du darüber herausfinden kannst. Hörst du?«
»Die Nummerntafel?«
»Sehr witzig«, entgegnete Berglander und starrte gedankenversunken ins Leere. »Vielleicht kann ich da ja ansetzen.«
Casparius verdrehte die Augen und murmelte: »Mann, ist das ein Sklaventreiber.«
»Schon klar, kein Problem. Wenn‘s geht noch gestern«, stöhnte Igelschnitt.
»Ich sehe, wir verstehen uns.« Berglander drehte sich um und ging.
Casparius wandte sich Igelschnitt zu und stichelte: »Unser Soziopath, Sherlock Holmes, ist ein richtiges Arschloch.«
»Wieso? Heute war er doch ganz moderat«, bemerkte Igelschnitt.
»Das hab‘ ich gehört!«, bemerkte Berglander, ohne sich umzudrehen. Vor der Haustür streifte er sich die Latexhandschuhe und Überschuhe ab und stellte zufrieden fest, dass der junge Polizist seine Arbeit inzwischen erledigt hatte.
Alles ums Haus war mit rotweißem Band abgesperrt. Inzwischen war es fast dunkel und einige Polizisten eifrig dabei, Scheinwerfer aufzustellen.
Der Kriminalist sah sich die Leute, die hinter der Abgrenzung ausgeharrt hatten, ganz genau an und versuchte, in den Gesichtern zu lesen und sie sich einzuprägen. »Na, du Arschloch, du stehst bestimmt hier irgendwo und genießt noch mal so richtig die Show«, mutmaßte er leise vor sich hin. Langsam ging sein Blick durch die Menschenmenge. Wann ist es endlich erlaubt, diese Gaffer zu filmen? Das könnte uns die Arbeit manchmal erheblich erleichtern, Datenschutz hin oder her, dachte er. Wohlwollend registrierte er die Beamten, die sich unter die Zuschauer gemischt hatten, diese befragten und Personalien aufnahmen. Er massierte sich den Nacken und winkte Polizeimeister Keller, der gerade das restliche Absperrband in seinem Einsatzfahrzeug verstaute, nochmals zu sich. »Ich gehe mal davon aus, dass Ihnen so etwas nicht noch einmal passieren wird?«
»Auf keinen Fall«, versicherte Keller und sah dabei verschämt zu Boden. »Das ist grauenvoll. Es wird schwer, dieses Bild wieder aus dem Kopf zu bekommen.«
»Du bist ‘n Bulle, Junge.« Berglander legte dem Streifenpolizisten eine Hand auf die Schulter. »Wenn du das nicht abkannst, hast du den falschen Beruf.«
»Meine Schwester ist da härter als ich. Ihr würde das viele Blut nichts ausmachen.«
»Aha, tatsächlich und wieso macht ihr das nichts aus?«
»Die sieht jeden Tag Blut, wissen Sie? Sie ist Rettungssanitäterin beim Arbeiter-Samariter-Bund. Aber eigentlich haben wir keinen Kontakt.«
Berglander schlug sich plötzlich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Scheiße verdammt! Weil Sie gerade von Familie sprechen, das hab‘ ich ganz vergessen.«
»Was denn? Habe ich noch was falsch gemacht?«
»Nein, nein. Oh, so ein verdammter Mist! Tobias ... das habe ich total vergessen.«
»Tobias?«, fragte Keller dazwischen.
»Mein Sohn ... Ich wollte heute Abend da sein, egal was passiert. Scheiße verdammt!«
»Tut mir leid.«
Sofort versuchte Berglander, seine Frau zu erreichen, hatte jedoch kein Glück. Ihr Handy war offenbar ausgeschaltet. Verärgert presste er die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Ihm war bewusst, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis er seine Familie endgültig verlieren würde. Ständig kam sie zu kurz. Er erinnerte sich daran, dass er seinem Sohn, der gerne Fußball spielte, immer wieder versprochen hatte, beim nächsten Spiel dabei zu sein. Er kam allerdings entweder gar nicht oder zu spät. Erst heute Morgen noch hatte seine Frau Karin ihm ein Ultimatum gestellt. Sie hatte von ihm verlangt, dass er am Abend zum Spiel von Tobias kommen sollte, anderenfalls würde sie ihn endgültig verlassen. Immer wieder hatte ihm Karin vorgehalten, seine Familie schon gar nicht mehr richtig wahrzunehmen. Leider musste er ihr Recht geben. Berglander versuchte, sich an das letzte Gespräch mit seinem Sohn zu erinnern. Er erkannte schnell, dass das auch schon wieder einige Monate zurücklag.
Tobias hatte voller Begeisterung von seinem Freund Toni berichtet, dass dieser selbst eine Drohne konstruiert, gebaut und sie mit einer hochauflösenden Kamera ausgestattet hätte. Diese Drohne hatten sie zusammen über die Häuser fliegen lassen und einen riesigen Spaß daran gehabt, sich die Aufnahmen aus der Luft zusammen am Computer anzusehen. Toni sei ein richtiger Computerfreak, hatte Tobias ganz aufgeregt erzählt, was der mit seinem Computer und der Drohne so alles machen könnte.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Keller und riss Berglander aus seinen Gedanken.
»Äh … ja, natürlich. Wo ist eigentlich Jürgen?«
»Also, wenn Sie mit ‚Jürgen‘ den Kollegen meinen, der mit Ihnen zusammen gekommen ist ... Der ist vorhin ums Haus geeilt. Ich glaub‘, der musste sich übergeben.«
»Was? So lange? Das gibts doch nicht. Hat der‘n Pferd verspeist oder was?«, schüttelte Berglander verwundert den Kopf und machte sich gleich auf den Weg ums Haus.
An der Seite des Hauses war ein Wasserhahn montiert, aus dem sich Zimmermann gerade Wasser über den Kopf laufen ließ. »Entschuldige, tut …«, würgte Zimmermann.
Berglander drehte sich weg. »Ich kenne das. Mir ging es anfangs genauso. Aber sag mal, warst du etwa die ganze Zeit hier?«
Zimmermann wischte sich das Gesicht sauber, nahm auf dem Boden neben dem Wasserhahn Platz und lehnte sich gegen die Hauswand. »Ja, tut mir leid. Ich konnte nicht mehr da rein.«
»Der Tote war ein Geistlicher. Sein Name war Ferdinand Beigl.«
»Es muss ein katholischer Pfarrer gewesen sein«, ergänzte Zimmermann und fuhr sich mit den Fingern über die Glatze.
»Ach, tatsächlich? Und woher weißt du das?«
»Jemand rief vorhin: ‚Ich glaube, der alte Katholik ist tot!‘« »Weißt du, wer das war?«, starrte Berglander in die Menge, als er das fragte.
»Nein, ich konnte es nur hören.«
»Okay.« Der Hauptkommissar sah erneut zu den Voyeuren hinter der Absperrung und stellte fest, dass ein paar Leute eifrig mit Kameras und Mikrofonen zugange waren. »Diese verdammten Hyänen! Woher wissen die das immer so verdammt schnell?« Plötzlich klingelte sein Smartphone. Er meldete sich und hörte kurz schweigend zu, bevor er seine freie Hand zur Stirn schnellen ließ und laut losbellte: »Das ist doch ...«
Zimmerman zuckte zusammen. »Was ist?«
»So eine verfluchte Scheiße.« Aufgebracht massierte sich der Hauptkommissar die Stirn. »Okay, okay, verstanden. Alles klar! Wir sind schon unterwegs.« Er packte seinen Kollegen am Arm und sagte: »Los komm, wir müssen los, ich informier‘ dich unterwegs.«
Am Wagen, direkt an der Fahrertür, stand Vanina Matak.
»Oh nein, nicht Sie schon wieder«, raunzte Berglander und verdrehte genervt die Augen.
Matak hielt ihm gleich, als er die Wagentür öffnete, ihr großes Mikrofon unter die Nase.
»Kein Kommentar! Hauen Sie ab«, bellte er die Journalistin an und schob dabei das Mikrofon von sich weg. Er hasste diese Dinger!
Zimmermann war inzwischen auf der Beifahrerseite eingestiegen und hatte das Fenster geöffnet.
»Ach, kommen Sie, geben Sie mir irgendetwas«, bettelte Matak und ließ nicht locker. »Sie kennen mich und wissen genau, dass ich es sowieso herauskriege.«
»Viel Glück!«, knurrte Berglander, stieg ein und zog die Tür zu. Matak huschte schnell um das Auto herum, in der Hoffnung etwas von Zimmermann zu erfahren, blieb allerdings abrupt auf der Seite stehen, als ein Gespräch der beiden Kommissare gut vernehmlich durch das offene Fenster an ihr Ohr drang.
»So eine Schweinerei … also den Mord, meine ich. So etwas habe ich noch nie erlebt. Du etwa?«, fragte der Glatzkopf schließlich und wischte sich den Mund mit einem Taschentuch ab. »Leider ja«, antwortete sein Chef und startete den Wagen. »Ich fürchte, du wirst dich daran gewöhnen müssen, und zwar schneller, als dir lieb ist.«
»Was soll das heißen?«
»Wir haben offenbar noch einen zweiten toten Pfarrer. Ein gewisser Knott.«
»WAS?«, keuchte Zimmermann geschockt und stieß ruckartig die Wagentür auf, um sich erneut zu übergeben.
Matak hatte Pech. Sie bekam Kellers restlichen Magenschleim auf ihre lackschwarzen High-Heels. Angewidert zog sie die Nase kraus.
»Oh, Entschuldigung, das wollte ich nicht«, sagte Zimmermann kleinlaut, hielt sich eine Hand vor den Mund und sah zu der Journalistin hoch, die angeekelt ihr Gesicht verzogen hatte.
Berglander zerrte seinen Kollegen mit einem Ruck in den Wagen zurück und gab Gummi. Durch die Wucht, mit der er anfuhr, fiel die Beifahrertür von allein zu.
Völlig perplex und noch immer angewidert sah die Journalistin stumm auf ihre Schuhe und dann dem davonbrausenden Wagen nach. Vom schwarzen Lack der High-Heels war nicht mehr viel zu sehen. Sowas hatte sie noch nie erlebt! Es hatte ihr, einer eloquenten Journalistin, zum ersten Mal die Sprache verschlagen.
Der Kameramann bog sich fast vor Lachen. Blitze aus Mataks Augen ließen ihn allerdings sofort verstummen.
»Los komm, wir müssen sofort hinterher, da ist was im Busch. Die haben von einem zweiten toten Pfaffen gesprochen!« Matak putzte hastig ihre Schuhe im Gras ab und eilte zum Übertragungswagen. »Du glaubst wohl, dass du mich abhängen kannst, da hast du dich aber gewaltig geschnitten, Herr Hauptkommissar Berglander«, versprach sie und fuhr ihren Kameramann an, der den Wagen lenkte, die beiden Kommissare nicht zu verlieren.
Matak kramte derweil ihr Smartphone aus der Tasche und betrachtete sich die Fotos, die sie von dem Toten gemacht hatte, ehe sie diese an ihr Nachrichtenstudio weiterleitete. »Du glaubst wohl, du bist schlauer als ich, Harald Berglander«, lächelte sie.
Kapitel 8
Thomas kam langsam wieder zu Bewusstsein. Laut stöhnend wischte er sich mit beiden Händen von oben nach unten übers Gesicht, als könnte er damit die Schmerzen wegwischen, die er empfand. »Scheiße!«, fluchte er, als er sich gleich darauf die Hände ansah. Wie in Trance griff er mit blutverschmierten Fingern nach dem Handy, das im Display ‚02:21 Sa‘ und zwei verpasste Anrufe von Sonja anzeigte. Da offenbar niemand etwas mitbekommen hatte, quälte er sich allein aus dem Wagen. Allmählich kam seine Erinnerung zurück. Er entsann sich, dass er geblendet worden war und die Kontrolle verloren hatte. »Dieser blöde Idiot! Wo ist er? Natürlich ... abgehauen. Womöglich hat er nicht mal was gemerkt. Ooooh, mein Kopf«, klagte er. »Ich bin ja selber schuld! Was muss ich auch nach diesem blöden Telefon fummeln.« Langsam ging er ums Auto, um sich ein Bild vom Unfall zu machen, konnte aber zumindest vorne nicht viel erkennen, da es zu dunkel war. Das Hecklicht brannte, allerdings nur noch ganz schwach. Die Autobatterie schien sich nach und nach zu verabschieden. »Tut mir leid, Emma, ehrlich«, tröstete er sein Auto und strich über das Autodach. Dann versuchte er, sich den Baum genauer anzusehen, der Emma zum Stillstand gezwungen hatte. Im Dunkeln konnte er aber kaum etwas erkennen. Das gibts doch nicht, wunderte er sich. »Der Baum ist ja gespalten.« Verdutzt warf er einen Blick auf sein Auto, das mit der Motorhaube den Baum so umklammerte, als versuchte es, die beiden Teile zusammenzuhalten. »Scheiße«, fluchte Thomas, als er sich sein Gesicht im letzten noch vorhandenen Stück des linken Außenspiegels betrachtete. Mit verdrehten Augen sah er an sich runter und stellte, trotz schwachem Licht schnell fest, dass er total mit Blut verschmiert war. Abgesehen von den Bienen im Kopf und der Platzwunde auf der Stirn, hatte er keine weiteren Schmerzen oder Verletzungen. Just in dem Augenblick, als gerade ein Auto vorbeifuhr und alles kurz aufhellte, fiel sein Blick auf ein seltsames schwarzes Etwas, das in dem Baum zu stecken schien. Es sah für Thomas so aus, als wäre dieses schwarze Etwas, die Ursache für die Spaltung des Baumes gewesen. Das wollte er jetzt genauer wissen. Er suchte in Emma sofort nach einer Taschenlampe und hatte Glück. Dieses war allerdings nur von kurzer Dauer, da die Taschenlampe nicht funktionierte.
So nahm er schließlich sein Handy und versuchte, das merkwürdige schwarze Loch im Baum mit dem Display auszuleuchten. »Da klemmt doch irgendwas«, stöhnte er, konnte aber mit dem schwachen Licht seines alten Handys außer Schwarz nicht viel ausmachen. Dieses schwarze
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 08.07.2018
ISBN: 978-3-7438-7457-2
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