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Der Tanz

 

Ano’i ging in die Hocke und riss ein Unkraut aus. Es würde in der Sonne vertrocknen. Ein kleines Leben, beendet bevor es richtig begann.

 

Aber irgendeinen Beitrag musste er leisten.

 

Gelächter schreckte ihn aus seinen Gedanken. Er tat, als bemerke er es nicht. Wenn er nicht reagierte, würde ihnen vielleicht langweilig werden.

 

Vielleicht. Sie mussten von der Jagd zurück sein, und hatten nichts Besseres zu tun. Und sie verfolgten ihn seit Jahren mit ihrem Spott. Es waren nicht immer dieselben Jungen, die Mitläufer änderten sich, aber die Anführer bleiben gleich.

 

Sie hatten früh gemerkt, dass er anders war. Doch so richtig schlimm war es erst geworden, als er öffentlich erklärt hatte, dass er nicht jagen, und stattdessen lieber auf dem Feld arbeiten wollte.

 

„Mann-Mädchen“, riefen sie auch jetzt wieder. „Wühlt in der Erde!“

 

Das waren alles keine Beleidigungen, sagte er sich. Aber es war mit der Absicht gesprochen, ihn zu verletzen, und er fühlte sich verletzt.

 

Wenn sie ihn nur wirklich für ein Mädchen gehalten hätten. Dann, vielleicht … aber die Hoffnung auf auch nur ein paar verstohlene Zärtlichkeiten hinter den großen Farnen war vergeblich.

 

Die jungen Männer des Dorfes mochten ihn nicht. Weil er gegen ihre Regeln verstieß. Junge Männer hatten jagen zu gehen. Fischen wäre akzeptabel gewesen.

 

Aber Ano’i mochte nicht töten.

 

Yams anzubauen war nützlich und wichtig, und der Ältestenrat hatte ihm erlaubt, mit seinen Schwestern auf dem Feld zu arbeiten.

 

Nur weil das traditionell eben nur Frauen taten, bedeutete es nicht, dass das so sein musste, fand Ano’i. Und seine Großmutter hatte ihm zugestimmt. Der ganze Ältestenrat war zu der Übereinkunft gekommen, dass es eine Tradition war, aber kein Gesetz. 

 

Leider scherte das die jungen Männer nicht.

 

Jetzt fingen sie an, mit Beeren nach ihm zu werfen.

 

Es tat weh. Es tat so weh, so ausgestoßen zu werden. Es …

 

Plötzlich spürte er ein Beben unter seinen Füßen.

 

Ein schwaches Beben, aber dennoch. Ano’i legte eine Hand auf die Erde. Ja, da war es. Der Vulkan war wütend.

 

Es war ihm in letzter Zeit häufiger aufgefallen. „Bitte nicht“, flüsterte er. Er wusste nicht, was Athawai wütend machte. Vielleicht ein Streit mit der Meeresgöttin?

 

Geschichten darüber, welche Dörfer in der Vergangenheit unter Lavaströmen begraben worden waren, gab es genug.

 

Ano’i hoffte sehr, dass es seiner Heimat nicht so ergehen würde.

 

Eine weitere Beere traf ihn am Kopf.

 

„He, du - “

 

Sein Peiniger verstummte abrupt. Das Beben war jetzt stärker. Viel stärker.

 

Und endlich ließen sie ihn in Ruhe. Rannten zurück zum Dorf, hoffentlich um dem Ältestenrat Bescheid zu sagen.

 

Falls die Ältesten es nicht ohnehin selbst gespürt hatten.

 

 

Etwas später gesellte sich Arihi zu ihm, seine jüngste Schwester. „Der Ältestenrat ist einberufen worden“, berichtete sie. „Glaubst du, sie werden ihn besänftigen können?“ Sorgenvoll schaute sie hinauf, zum Krater des Vulkans.

 

„Ich weiß es nicht. Erst einmal habe ich ihn wütender erlebt.“ Und das war noch gar nicht so lange her. Ano’i schaute seine Schwester an. Sie wirkte ängstlicher, in letzter Zeit. Vielleicht, weil Athawai so wütend war? Früher war sie furchtlos gewesen. Sie war es, die die wilden Tiere mit ihrer Steinschleuder von den Feldern vertrieb, wenn Ano’i sich nicht dazu bringen konnte, irgendeinem Geschöpf Gewalt anzutun.

 

Doch in den letzten Wochen kam sie nur noch auf die Felder weit außerhalb des Dorfes, wenn Ano’i oder eine seiner Schwestern auch dorthin ging. „Sei unbesorgt, es wird eine Warnung geben, bevor er das Dorf unter Lava begräbt. Er hat uns immer gewarnt. Die Ältesten werden den Sud der Seelenblüte trinken und uns von ihren Visionen berichten. Dann werden wir wissen, ob wir das Dorf aufgeben müssen.“

 

Es war seine Heimat, und es würde ihn traurig machen, weggehen zu müssen, aber es war kein Grund, Angst zu haben.

 

„Du weißt, dass sie nicht alle den Sud trinken“, erwiderte Arihi leise.

 

Ano’i nickte. „Aber was macht das für einen Unterschied?“

 

Sie starrte auf den Boden. „Du weißt, wessen Großvater diese Ehre meist zufällt …“

 

Es stimmte, zufälligerweise war der Anführer der Männer, die ihn mit ihrem Spott verfolgten, der Enkel desjenigen Mannes, der nach der letzten Versammlung des Ältestenrates verkündet hatte, was das Problem war. „Aber das ändert doch nichts. Er hat uns gesagt, dass Athawai sich über die Meeresgöttin ärgert, und sich bald beruhigen wird, und so war es doch auch. Vielleicht würde er nicht die Wahrheit sagen, wenn es etwas mit mir zu tun hätte, aber es hat ja nichts mit mir zu tun.“ Er war viel zu unbedeutend, als, dass ein Gott ihn auch nur bemerken würde. Weil die anderen ihn nicht dabei haben wollen, nahm er nicht einmal an den Tänzen bei Ritualen teil, wo ein Fehler die Götter verärgern könnte.

 

Arihi sah ihn zweifelnd an, nickte dann aber.

 

Am Abend versammelte sich das ganze Dorf um zu hören, was die Ältesten herausgefunden hatten.

 

 

Und ganz wie es Arihi befürchtet hatte, verkündete wieder derselbe Mann das Ergebnis wie beim letzten Mal.

 

„Athawai ist wütend, weil man ihm seine Braut vorenthalten hat“, erklärte er. „Er will ein Mädchen aus dem Haus unter dem Papayabaum.“

 

Ano’i sah auf. Sein Herz schlug schneller. Das war das Haus seiner Mutter! Konnte es sein, dass … aber nein. Natürlich war eine seiner Schwestern gemeint. So sehr die anderen Männer auch spotteten, niemand würde ihn wirklich für ein Mädchen halten.

 

„Das Mädchen, das noch nie bei einem Mann gelegen hat.“

 

Das ließ ein Raunen durch die Runde gehen. Alle Blicke richteten sich auf Arihi.

 

„Bist du ganz sicher, dass du ihn richtig verstanden hast“, fragte Großmutter stirnrunzelnd. „Will er nicht lieber eine Frau mit Erfahrung?“

 

„Dieser Teil war das Eindeutigste an der ganzen Vision.“

 

Arihi rannte fort. Ano’i folgte ihr.

 

Er fand sie schließlich weinend zwischen den mannshohen Farnen, wo sie sich stets am liebsten versteckt hatte. „Was ist los, kleine Schwester?“

 

„Er wird mich verbrennen.“

 

Ano’i setzte sich neben sie und legte einen Arm um sie. „Aber nein. Warum sollte er denn seine Braut verbrennen? Es ist eine große Ehre.“ Und er war nicht wenig neidisch.

 

„Es muss ein Irrtum sein. Er will mich nicht. Ich bin ja … ich bin nicht gut genug und er wird wütend sein und mich verbrennen.“

 

„Der Ältestenrat hat uns nie in die Irre geführt. Und selbst wenn. Athawai wird dir nichts antun, da bin ich sicher. Es ist ja nicht deine Schuld, wenn der Rat sich irrt.“

 

Arihi lehnte den Kopf an seine Brust. Tränen liefen über ihr Gesicht. „Du weißt, wie wir ihm Blüten und Früchte geben. Wenn es ihm nicht einfällt mich retten zu wollen …“

 

Dann würde sie in der Lava verbrennen, ja, aber sicherlich … „Du hast gesehen, dass die Blumen nicht verbrennen.“

 

„Manchmal schon.“

 

Das stimmte, es war das letzte Mal passiert als Athawai wütend gewesen war. Ein schlechtes Omen, aber weiter war nichts passiert. „Kleine Schwester, du bist nicht irgendeine Blüte. Er würde dich nicht verbrennen um sein Missfallen kundzutun.“

 

 

Doch trotz all seiner Versuche sie zu beruhigen war Arihi am nächsten Abend außer sich vor Furcht. Zitternd saß sie auf dem Thron, den man ihr auf einer Plattform an Rande des Kraters gebaut hatte. Das weiße Kleid und die Blüten in ihrem Haar vermochten nicht über die nackte Angst in ihren Augen hinwegzutäuschen.

 

Aber Ano’i konnte nicht an ihrer Seite bleiben. Dieses eine Mal hatte der Ältestenrat bestimmt, dass alle jungen Männer des Dorfes tanzen sollten.

 

Alle. Sonst wäre es ein schlechtes Omen.

 

Die Zahl war ungerade, und als sie sich aufstellten, wurde Ano’i an den Rand gedrängt. Natürlich. Er würde derjenige sein, der keinen Partner hatte. Und ohne Partner konnte man den Tanz, der von Athawais Kampf gegen die Meeresgöttin handelte, nicht richtig tanzen, also würde er für alles Unglück verantwortlich sein, das daraus folgen mochte.

 

Er vertraute darauf, dass nicht wirklich etwas Schlimmes geschehen würde, aber es tat weh, dass es den anderen so gar nichts ausmachte, ihm das anzutun.

 

Doch dann hörte er die Trommeln und vergaß seinen Ärger. Der Tanz begann.

 

Ohne nachzudenken folgte er der jahrelang eingeübten Folge von Bewegungen. Drehte sich zur Seite, schlug mit der Muschelschale die er hielt an die Vulkansteine in den Händen seines Partners, drehte sich wieder nach vorn und stampfte mit den Füßen auf …

 

Da erst wurde ihm bewusst, dass er gar keinen Partner hätte haben dürfen.

 

Doch als er sich das nächste Mal zur Seite drehte, stand da jemand. Ein Lächeln, ein glutäugiger Blick, sie schlugen Muscheln und Steine aneinander und der Tanz ging weiter.

 

Ein Fremder. Aus dem Nachbardorf hierhergekommen? Warum? Das Dorf an der Küste verehrte die Meeresgöttin, ihre Tänze waren andere.

 

Aber ihm blieb nicht viel Zeit zum Denken, und jeder Blick seines Partners ließ ihn noch trunkener vor Glück werden.

 

Noch nie hatte jemand ihn so angesehen. Ein Blick, der versprach, dass sie nachher gemeinsam im Dickicht verschwinden würden, und …

 

Der Tanz endete. Die Gruppe zerstreute sich um den jungen Frauen Platz zu machen. Und Ano’i konnte seinen Partner nirgendwo finden.

 

Als er den Mann, der auf seiner anderen Seite getanzt hatte, danach fragte, erwiderte der nur brüsk, er habe keinen Partner gehabt.

 

Er hatte wohl zu hoffnungsvoll geklungen. Natürlich würden sie ihm nicht helfen, jemanden wiederzufinden, den er mochte.

 

Warum hassten sie ihn so sehr?

 

Ano’i ging zu Arihi, die von ihrem Thron aus den Tänzen zugesehen hatte, und auch jetzt nicht mit den Mädchen tanzte. „Hast du gesehen, wer mit mir getanzt hat?“

 

Sie sah auf und schüttelte den Kopf. „Ich habe gar nicht hingesehen.“  Im Feuerschein sah er Tränen auf ihren Wangen glitzern.

 

„Es wird alles gut werden“, versicherte er ihr abermals. Natürlich würde alles gut werden.

 

 

Aber Arihi weinte bitterlich. Und als Ano’i sie genauer ansah, fiel ihm auf, dass jemand ihre Füße aneinander gefesselt hatte.

 

„Hast du versucht wegzulaufen?“, fragte er leise.

 

Sie nickte und sah ihn trotzig an. „Ich bin zu jung zum Sterben.“

 

Ano’i zögerte. Es war nicht recht, dass man sie in Fesseln gelegt hatte. Und sie hatte solche Angst. „Die Ältesten könnten sich geirrt haben.“ Ihr Name war ja nicht genannt worden in der Vision.

 

„Ja! Eben! Bitte … hilf mir!“

 

Schon trat der Dorfälteste an sie heran. „Es ist Zeit.“

 

Nackte Angst stand in Arihis Augen. Weshalb fürchtete sie sich so sehr? Wäre er auserwählt worden, er wäre trunken vor Glück.

Dass sie ein wenig verlegen war, wäre normal, aber dies hier … sie musste etwas ahnen. Vielleicht hatte sie sich ja doch einmal heimlich mit einem Mann aus dem Dorf an der Küste getroffen, und konnte gar nicht gemeint gewesen sein.

 

Er trat vor sie und breitete schützend die Arme aus. . „Nein! Das muss ein Irrtum sein. Es ging um unser Haus, ja, aber …“

 

„Keine eurer Schwestern kommt in Frage.“

 

Keine ihrer Schwestern. „Hat Athawai wirklich gesagt, dass es um ein Mädchen geht?“

 

„Nein, aber …“ Die Augen des Ältesten weiteten sich.

 

„Dann“, entgegnete Ano’i. „Könnte ebenso gut ich gemeint sein, nicht wahr? Er kann uns nicht zürnen, weil wir ihn missverstanden haben, wenn er sich nicht deutlicher ausgedrückt hat.“

 

Er zog sein Messer und durchtrennte das Seil, mit dem man Arihi gefesselt hatte. Dann ließ er es fallen, lief die wenigen Meter zum Krater und sprang ohne zu zögern. 

 

Das „Warte! Du weißt nicht …“ des Ältesten schallte ihm noch in den Ohren.

 

 

Starke Arme umfingen ihn. Ano’i blinzelte. Er müsste eigentlich in der Lava sein, aber das war er nicht.

 

Oder jedenfalls nicht … wirklich?

 

Um ihn herum glühte es rot, aber dann hörte auch das auf, und er stand auf Steinboden. Warmer Stein, wie eine Höhle.

 

Der Mann, der ihn gehalten hatte, ließ ihn los und trat zurück. Seine Augen loderten wie Glut.

 

Ano’i blinzelte. „Du bist …?“ Sein Tanzpartner? Ein Gott hatte mit ihm getanzt? Einfach so?

 

„Der, den ihr Athawai nennt. Ja.“

 

Jetzt würde alles gut werden.  „Sie wollten Arihi zu dir schicken, aber sie hatte Angst, und …“

 

„Ja. Der Ältestenrat enttäuscht mich. Wären meine Worte getreulich wiedergegeben worden … aber jetzt bist du ja hier.“ Athawai schenkte ihm einen zärtlichen Blick.

 

„Ich?“ Sein Herz schlug schneller. Konnte er wirklich hoffen …?

 

„Du.“  

 

„Aber … warum ich? Weil ich …“ Er wagte es nicht auszusprechen.

 

„Oh nein, niemand könnte dich mit einem Mädchen verwechseln.“

 

Er spürte die Blicke wie Feuerglut auf seinem Körper, und fühlte sich in seinem Lendenschurz plötzlich fast nackt.

 

„Warum dann?“

 

Athawai trat näher. „Weil du mich nicht fürchtest.“

 

„Niemand fürchtet dich.“ Wie könnten sie? Er war immer gut zu ihnen gewesen, seit Ano’i denken konnte. Die Lava floss in langsamen, vorhersagbaren Strömen, die Asche düngte die Felder, heiße Quellen halfen den Kranken. Alles war gut.

 

„Niemand gibt es zu, aber du würdest dich wundern, was sie bei sich so denken.“ Athawai berührte sacht seinen Arm.

 

„Arihi hat es zugegeben.“ Arihi. Wie es ihr wohl ging? Würden sie sie nun in Ruhe lassen?

 

„Ja. Sie ist mutiger als andere. Und natürlich hatte sie Recht. Du brauchst dich nicht um sie zu sorgen, eure Großmutter tröstet sie gerade.“

 

„Tröstet sie? Aber …“ Sie hatte doch nichts zu bedauern?

 

„Sie weint vor Erleichterung. Alle haben gesehen, wie ich dich aufgefangen habe, man wird sie nicht mehr behelligen. Bitte schick sie irgendwann einmal hierher, zum Kraterrand. Ich muss mit ihr sprechen. Um den Ältestenrat zu prüfen habe ich ihr viel Leid geschehen lassen.“

 

„Aber jetzt ist sie gerade hier.“

 

„Jetzt möchte sie wohl nicht mit mir sprechen. Und ich hatte eigentlich etwas Anderes mit dem Abend vor …“ Wieder ein feuriger Blick.

 

„Oh. Ja.“ Ihm wurde ganz heiß.

 

„Ich war sicher, sie würden noch zur Vernunft kommen. Es ist also alles vorbereitet.“ Athawai machte eine ausladende Geste.

 

Jetzt erst bemerkte Ano’i das mit Blüten geschmückte Bett. Es war mit Moos gepolstert und statt eines Lakens lagen große Blätter darauf.

Es war sehr offensichtlich, was für die Nacht geplant war.

 

Athawai trat näher. „So wie du meine Stimmungen spürst, spüre ich auch deine. Und du willst es schon so lange, nicht wahr?“ Er legte einen Arm um Ano’i. Eine warme Hand auf seinen Rücken. „Ich hoffe, ich kann dich dafür entschädigen, dass wir nicht hinter den Farnen verschwinden konnten …“

 

Ano’i schmiegte sich an ihn. „Ganz sicher.“

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Tag der Veröffentlichung: 03.03.2020

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