Dies ist ein rein fiktiver Text, der in einer rein fiktiven Welt spielt, die zwar gewisse Ähnlichkeit zu Deutschland aufweist, aber nicht damit identisch ist. Orte, Personen und Ereignisse sind frei erfunden.
Sonntag. Ein ganz normaler Arbeitstag für Loreen. Sie krallte die künstlichen Fingernägel in ihre Handflächen. Das Warten war das Schlimmste. Das Warten machte sie unruhig. Ihr Blick fiel auf die Zigarettenstummel, die in einer Pfütze Wasser aufsaugten. Trostlos. Es war wirklich nicht der schönste Arbeitsplatz, aber die beste Gegend in der sie ihrem Gewerbe nachgehen konnte.
Endlich kam jemand. Ein Freier? Er sah sich um, nickte zufrieden, und blieb einfach stehen. Ein paar Meter neben ihr.
Konkurrenz? Definitiv nicht. Er war klein, ein gutes Stück kleiner als Loreen, und etwas moppelig. Seine Kleidung zeugte von einem völlig fehlenden Sinn für Mode, und seine Haltung war die eines Mannes der vorhatte, sich keinen Zentimeter von der Stelle zu bewegen.
Sie vergaß ihn, als einer ihrer Stammkunden in Sicht kam. Warf sich in Pose, lächelte verführerisch.
Der Fremde drückte ihrem Kunden ein Flugblatt in die Hand, das dieser kurz betrachtete und dann wegwarf.
Dreißig Euro nahm sie für einen Blowjob. Billig, aber es ging ihr nicht ums Geld. Es machte ihr einfach Spaß. Und ohne Zimmer konnte man auch nicht viel mehr verlangen. Mit Kondom sowieso nicht.
Als sie aus der Seitengasse zurückkam, lag das Flugblatt nicht mehr auf dem Boden. Der Fremde stand immer noch da.
Sie pirschte sich an ihn heran. „He Süßer, was verteilst du denn da?“
Wortlos reichte er ihr ein leicht zerknittertes Flugblatt.
Sie las es. Stirnrunzelnd. So einer also. „Zieh Leine. Du verdirbst mir das Geschäft.“
„Ich wünschte es wäre so.“ Er nahm das Flugblatt zurück. „Ich bin gern bereit, Sie für den Verdienstausfall zu entschädigen, falls ich ...“
„Ich brauch keinen religiösen Fuzzi der mich rettet, klar? Ich bin gern hier!“
„Das wollte ich nicht infrage stellen. Sie kennen meine Motive.“ Er wies mit einer Kopfbewegung auf die Flugblätter in seiner Hand.
„Deine christlichen Ehefrauen gehen mir auch am Arsch vorbei. Wenn die nicht blasen wollen ist das ihr Problem.“
Er errötete tatsächlich ein wenig. „Das … darum geht es nicht!“
„Ach nein?“
„Nein. Sie haben das Blatt doch gelesen. Es ist … Prostitution macht Menschen zur Ware, und die Ansicht, irgendjemand hätte ein Recht darauf, dass ihm der Körper eines anderen Menschen zur Verfügung steht, um -“
Diese Ansicht ging ihr auf die Nerven. Sehr. Es war als jucke es sie an einer Stelle die sie nicht kratzen konnte.
Der Kerl beleidigte sie.
„Weißt du was du brauchst?“, unterbrach Loreen ihn mit verführerischer Stimme.
„Nein?“
„Einen Blowjob. Würde dich mal locker machen. Wie wär’s?“ Damit wäre die Ordnung wiederhergestellt.
„Nein danke.“
„Gratis. Du musst nur versprechen danach zu verschwinden.“ Das Angebot konnte er nicht ausschlagen.
„Nein, wirklich nicht“, erwiderte er. „Danke für das Angebot, aber nein.“
So langsam ging er ihr wirklich auf den Senkel. „Du stehst also mehr auf kleine Jungs?“
„Nein!“
Immerhin, darauf reagierte er wütend. Vielleicht, wenn sie noch etwas weiter stocherte … „Tun ja viele von deinem Verein …“
„Sexueller Missbrauch von Kindern ist tatsächlich ein Problem in der Kirche, ja. Ich würde es zu schätzen wissen, wenn Sie nicht so leichtfertig darüber reden würden.“
Sie gab es auf. Vorerst.
Es war unmöglich, ihn loszuwerden. Jeden Sonntag stand er da, versuchte ihr das Geschäft kaputtzumachen, und hatte so wenig Erfolg damit, dass er einem fast hätte Leid tun können.
Natürlich hätte Loreen ihn schlagen können. Sie war fast sicher, dass er einfach die andere Wange hingehalten hätte. Und vielleicht gegangen wäre. Aber das war dann doch unter ihrem Niveau. Verbal war er nicht kleinzukriegen.
Schließlich hatte sie die Nase voll, und griff zum extremsten Mittel. Sie ging ein paar Straßenecken weiter, und stupste einen am Straßenrand liegenden Deckenhaufen mit dem Fuß an. „Wach auf, Langschläfer.“
Aus den Decken erschien ein Gesicht. Kim war fünfzehn, sah aus wie dreizehn, und behauptete Freiern gegenüber, zwölf zu sein. Er meinte er sei alt genug für den Job, und Loreen sah keinen Grund, das in Frage zu stellen. Sie hatte in dem Alter auch schon ihre Erfahrungen gehabt.
„Wassis? Isses wenigstens wichtig?“ Kim war gar nicht erfreut, so früh geweckt zu werden.
„Da ist so ein Kerl“, meinte sie. „So ein christlicher Spinner. Steht rum und verteilt Flugblätter. Macht mir das Geschäft kaputt.“
Kim streckte sich. „Und was soll ich da machen?“
„Verführ ihn. Kratz den scheinheiligen Lack von seiner Fassade. Ich beiß bei ihm auf Granit, also …“ Auf irgendwas musste er ja stehen.
Es brauchte das Versprechen von sechzig Euro, damit Kim sich aus seinem Deckenhaufen bequemte und losging. Loreen folgte ihm in einiger Entfernung. Besser, sie ließ den Kerl mit Kim allein. Wenn jemand zusah entwickelte er womöglich Skrupel.
Als der Junge nach einer Viertelstunde nicht zurück war, bog Loreen um die Ecke. Ihr Stammplatz war leer. Ziel erreicht – aber wo war Kim? Wie sie arbeitete er auf der Straße, wo die Halböffentlichkeit etwas Sicherheit bot. Er ging nie mit einem Freier mit.
Bis jetzt. Er kannte das Risiko. Kein Grund, sich Sorgen zu machen. Ein Kerl der sich was auf seine Moral einbildete, würde doch kein Kind umbringen. Das er vorher gefickt hatte. Loreen kaute auf ihrer Unterlippe herum. Kim hatte das Risiko gekannt. Sie hatte ihn nicht angelogen. Und früher oder später hätte es ihn sowieso erwischt. Er war drogensüchtig, was, hatte sie nie gefragt, aber Marihuana war es nicht. Schon etwas Härteres. Er wäre bestimmt bald an einer Überdosis gestorben.
Am nächsten Tag war auch noch der Deckenhaufen verschwunden. Als hätte es Kim nie gegeben. Manchmal, wenn es sehr kalt war, suchte er einen Unterschlupf, aber es war nicht sehr kalt. Außerdem hätte er als erstes Loreen gefragt.
Sonntags stand der Fremde wieder da, als wäre nichts passiert.
„Ist es dir nicht peinlich, hier noch aufzutauchen?“, fragte Loreen süßlich. Sonst scherte sie sich nicht groß darum, wenn jemand verschwand, sie konnte nicht mit jedem Mitgefühl haben, aber Kim war fast noch ein Kind gewesen, und wenn sie ihn nicht gebeten hätte, etwas zu unternehmen … sie hatte ja aber auch nicht ahnen können, dass der Zettelverteiler so ein Heuchler war!
„Nein. Das ist für Sie.“ Er drückt ihr eine Postkarte in die Hand.
Zu überrascht um anzugreifen starrte sie die Karte an. „Ich probiers mal“, stand da in krakeliger Schrift. „Wenn’s mir zu blöd wird hau ich halt wieder ab. Kann nicht schaden, oder? Schöne Grüße aus der Klapse. Kim.“
„Was ist das?!“
„Eine Postkarte“, erwiderte der Mann. „Was er als Klapse bezeichnet ist natürlich eine seriöse psychiatrische Klinik.“
„Du hast …?“ Es war als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen.
„Ihn in eine Klinik vermittelt. Was hätte ich mit einem minderjährigen Drogensüchtigen sonst tun sollen?“
Ja, was? Loreen wäre so Einiges eingefallen. Aber das … das war so … falsch. Eigentlich war es richtig, aber es fühlte sich falsch an. Es hätte Loreen sein sollen, die Kim half. Nicht dieser Fremde.
Danach gab sie es auf ihn loswerden zu wollen. Immerhin war das Warten jetzt nicht mehr so langweilig. Ab und zu brachte er ihr einen Brief von Kim mit, ansonsten stand er einfach nur herum und bot den wenigen Passanten schweigend seine Flugblätter an. Loreens Stammkundschaft ignorierte ihn einfach. Ab und zu schreckte er ein paar Jungen ab, die wahrscheinlich sowieso wieder gegangen wären, das war alles. Eigentlich war es besser, ihn hier zu dulden, als zu riskieren, dass er seine Missionierungsversuche dahin verlegte, wo die Zuhälter ihn dafür krankenhausreif schlagen würden. Er war nervtötend, aber so etwas hatte er nicht verdient.
„Wie heißt du eigentlich?“, fragte sie, als er wieder einmal einen Brief brachte.
„Christian Weil.“
„Loreen“, sagte sie, obwohl er nicht gefragt hatte. Sie öffnete den Brief und las mit gerunzelter Stirn. Kims Briefe wurden immer länger, immer niedergeschlagener, und immer schwerer zu ertragen. Der Entzug machte ihm offenkundig sehr zu schaffen. „Bist du sicher, dass du Kim einen Gefallen getan hast?“
„Nein.“
Sie sah Christian erstaunt an. „Warum hast du es dann getan?“
„Weil ich glaube, dass er es schaffen kann. Aber völlige Sicherheit gibt es nicht. Ich nehme an, die Suizidgefahr ist relativ hoch.“
„Und wenn er sich umbringt landet er in der Hölle. Das würde dir natürlich einen Strich durch die Rechnung machen.“
„Ich weiß nicht was mit seiner Seele passiert, wenn er Selbstmord begeht“, erwiderte Christian langsam. „Aber ich wäre kein Christ wenn ich nicht an einen gerechten Gott glaubte. Und Kim scheint mir niemand zu sein, der Strafe verdient hat.“
„Nein? Bei seinem sündhaften Leben? Er hat versucht dich zu verführen.“
„So würde ich das nicht nennen.“
„Nein?“ Kim gab sich normalerweise ziemlich provokativ. So früh am Tag war er vielleicht nicht in Hochform gewesen?
„Ich gebe zu, da kein Experte zu sein, aber ich bezweifle, dass der Satz ‚Ich bin erst zwölf’ zu Casanovas Repertoire gehörte. Es war ganz offensichtlich ein Hilferuf.“ Er musterte Loreen. „Woher wissen Sie davon? Ah! Sie haben ihm von mir erzählt!“
„Könnte sein.“
„Und Sie haben ihm gesagt er soll mich verführen?“ Seine Brauen zogen sich zusammen.
„So etwas in der Art. Schau mich nicht so an, Süßer – Kim macht das den ganzen Tag. Sich von Männern ficken lassen. Hat das den ganzen Tag gemacht, meine ich. Einer mehr oder weniger, das macht doch keinen Unterschied.“
„Es ist deprimierend zu erfahren, dass jemand eine so niedrige Meinung von einem hat“, meinte Christian nur.
„Kim ist in Wahrheit bald sechzehn. In dem Alter hab ich schon seit zwei Jahren angeschafft“
Die Antwort darauf war ein durchdringender Blick aus braunen Augen. Loreen war beinahe erleichtert, als einer ihrer Stammkunden das Gespräch unterbrach. Nur beinahe. Sie fühlte sich beobachtet wenn Christian in der Nähe war.
Meistens ignorierten die Freier ihn einfach, aber manche sprachen mit ihm. Bei einem dieser Zwischenfälle war schnell klar, dass es hässlich werden würde.
„Was guckst du so?“
Loreen spannte sich an. Der Kerl suchte Streit, ganz offensichtlich. Nicht, dass sie nicht auch mit Christian gestritten hätte, aber das war etwas Anderes. Es war ihre Angelegenheit. Er war ihr nervtötender Gutmensch.
„Hast was gegen Sex, eh?“
„Nein, ich habe nichts gegen Sex“, erwiderte Christian ruhig.
„Und was ist das hier?“ Der Fremde nahm eines der Flugblätter und hielt es Christian vors Gesicht.
„Ich bin gegen Prostitution. Das ist etwas völlig Anderes.“
Als der Kerl Christian das Flugblatt ins Gesicht drückte, entschloss sich Loreen zum Einschreiten.
„He, Süßer, du vergeudest deine Zeit.“ Sie warf ihm einen verführerischen Augenaufschlag zu. „Willst du nicht zu mir?“
„Erst wenn ich mit dem Wichser hier fertig bin.“
Loreen zog einen perfekten Schmollmund. „Eine Dame lässt man nicht warten.“
„Dame? Ha, du bist ne gewöhnliche Nutte!“ Aber er ließ von Christian ab, und folgte ihr in die Seitengasse.
Loreen kniete sich auf den schmutzigen Boden und öffnete routiniert den Hosenknopf des Mannes, und holte ein Kondom aus ihrer Handtasche.
Angestrengt lauschte sie auf Schritte. Hoffentlich besaß Christian genug Verstand, um sich aus dem Staub zu machen. Er war nervig, wie eine schorfige Wunde an der man sich nicht kratzen konnte, aber irgendwie ... er hatte Kim in eine Klinik gebracht. Dafür schuldete sie ihm etwas.
Tatsächlich ja, da waren Schritte zu hören. Endlich. Er war also nicht so blöd wie es manchmal den Eindruck machte.
Loreen sah aus wie ein hübsches Püppchen, mit dem ein achtloses Kind spielte. Die blonde Perücke war etwas verrutscht, weil der Freier seine Pranken darin hatte. Nicht schlimm, aber sie würde das nachher richten müssen. Ihre Fassade musste perfekt sein. Die bis zum Hals zugezogene Jacke musste sich genau richtig über den prallen Brüsten straffen.
Endlich war der Mann fertig und knöpfte seine Hose zu. Loreen stand auf. „Das macht dann dreißig Euro.“ Das Sprechen tat weh. Ihre Kehle war wund, aber das passierte häufiger.
„Zwanzig. Der Moralapostel hat mir den Spaß verdorben.“
Loreen zog einen Schmollmund. Genau deswegen kassierte sie normalerweise im Voraus, aber das wäre diesmal zu riskant gewesen. Mit dem legte sie sich besser nicht an. Sie lächelte strahlend. „Ausnahmsweise. Weil du
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 22.12.2014
ISBN: 978-3-7368-6634-8
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Für Patricia