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Hüte dich vor deinen Wünschen.

 

Alex klickte sich wahllos durch seine Pornosammlung. Irgendwie reizte ihn heute nichts besonders. Alles schon mal dagewesen, alles zum Gähnen…obwohl…gangrape5673…das hatte er noch nicht angesehen… war zwar noch geiler als das Übliche, aber er hatte das Gefühl, wenn er sich zu viele Männer anguckte, könnte er schwul werden. Blödsinn natürlich, er war hetero – also warum nicht?

 

Er war fast fertig, als seine Mutter irgendetwas rief. Scheiße. Jetzt konnte er noch mal anfangen. Augen fest auf den Bildschirm, bloß an nichts anderes denken.

Zum Glück war er dann doch fertig, als er Schritte auf der Treppe hörte.

 

„Alex? Warum hast du denn abgeschlossen?“

 

Mütter! Er war sechzehn, da hätte er doch wohl das Recht auf ein bisschen Privatsphäre!

 

„Will meine Ruhe haben. Was ist denn?“

 

„Jetzt mach doch erstmal auf, ich red doch nicht durch die Tür mit dir.“

 

Mann, wie nervig. Hatte die nix Besseres zu tun? Widerwillig schlurfte er zur Tür und schloss auf.

 

„Was ist?“

 

„Morgen wird der Restmüll abgeholt. Ist dein Müll wenigstens im Eimer, oder fliegt er auf dem Boden rum?“ Seine Mutter versuchte sich ins Zimmer zu schieben, aber er hielt sie auf. „Bleib draußen, verdammt! Das ist mein Zimmer. Ich bring den Müll gleich runter.“

 

„Gut, dann machs aber auch. Und pack deine Sachen für morgen.“

 

Endlich zog sie ab. Gerade noch mal gutgegangen. Die Taschentücher die zuoberst auf dem übrigen Müll lagen, brauchte sie nicht zu sehen. Besser, er brachte den Müll jetzt gleich runter. Quoll eh schon über.

 

Und dann Sachen packen. Stimmte schon, war besser wenn man das nicht morgens machen musste. Aber viel war es ja nicht. Waffen und Rüstung passten eh nicht in den Koffer. Wäsche? Na, ein paar Unterhosen vielleicht. Socken…warum nicht, konnten ja nass werden. Zahnputzzeug natürlich. Handtuch. Wollte er duschen? War bestimmt voll der Krampf, wie auf Campingplätzen halt…andererseits, Jonas hatte ihm die irrsten Sachen erzählt. Wenn man sich im Schlamm gewälzt hatte, wär’s schon besser, Duschzeug dabeizuhaben.

 

Hatte er jetzt alles? Wahrscheinlich die Hälfte vergessen, wie immer. Zum Glück kümmerte sich Jonas ums Essen und das Zelt…ah, Schlafsack und Feldbett. Auf in den Keller. Wo hatte er das Zeug noch wieder hingeräumt?

 

Endlich hatte er alles zusammen und setzte sich wieder an den Computer.

 

 

„Alex! Aufwachen!“

 

Er schlurfte in die Küche. Fing ja gut an. Er fühlte sich schon wie ein Zombie. Hätte vielleicht als Untoter hingehen sollen?

 

„Ihr benutzt diese Schwerter doch nicht wirklich, oder?“

 

„Mama! Nerv nicht!“ Wie konnte man so blöd fragen?

 

„Wenn du mir schon wieder so kommst, brauchst du auch gar nicht fahren.“

 

Er biss die Zähne aufeinander. Wenn sie nicht unterschrieb, dass Jonas ihn bei der Con beaufsichtigen durfte, dann konnte er’s vergessen. Blöd von ihm, die Einverständniserklärung erst gestern Abend auszudrucken. Also schön…

 

„Doch Mama, die benutzen wir. Deswegen sind sie doch gepolstert. Kann gar nichts passieren, ehrlich.“ War vielleicht doch zu ehrlich. „Also, wir tun natürlich nur so als ob wir kämpfen. Aber falls halt mal was passiert…“

 

„Ach so. Na geht doch, warum nicht gleich so?“

 

Sie würde ihn eines Tages noch in den Wahnsinn treiben. Wie sie schon wieder rumlief! „Du ziehst dich doch um, bevor Jonas kommt?“

 

„Wieso? Bin doch vollständig angezogen?“

 

Ja, wenn man einen rosa gerüschten Morgenmantel als „vollständig angezogen“ bezeichnen wollte...mit ihren wasserstoffblonden Haaren und dem faltigen Gesicht sah sie darin aus wie Märchenprinzessin-Barbie in alt.

 

Alex war heilfroh, als er endlich, die unterschriebene Einverständniserklärung in den Händen, in Jonas’ alter Rostlaube saß. Eine halbe Stunde zu spät zwar, aber das war Jonas’ Schuld.

 

„Siehst du, hat doch geklappt“, meinte Jonas, als sie aus der Einfahrt fuhren. „Hab ja gesagt, du stresst dich ganz umsonst.“

 

„Na ja…es war schon schwer. Ich hab ihr erzählt, dass es wie Theaterspielen ist. Wenn ich die Wahrheit gesagt hätte…“

 

„Nö, wieso, stimmt doch auch.“ Jonas kurbelte das Lenkrad herum. „Deswegen heißt es ja Liverollenspiel und nicht Livespiel. Klar, wir kämpfen die meiste Zeit, aber das ist ja auch nicht gefährlicher als Fußball.“

 

„Wahrscheinlich sogar ungefährlicher.“

 

„Eben. Da braucht sich deine Mutter gar keine Sorgen machen.“

 

Machte sie natürlich trotzdem. Er hatte versprechen müssen, ihr eine SMS zu schreiben wenn er da war. Erst hatte sie gewollt, dass er ihr jeden Tag schrieb, aber der Vorwurf, sie wäre eine Gluckenmutter, hatte gewirkt. Manchmal brachte es doch was, dass er ab und zu mal aus Langeweile in ihrer Sammlung an Erziehungsratgebern blätterte.

 

Bald waren sie auf der Autobahn, und da wurde es wirklich langweilig, obwohl Jonas Musik aufgelegt hatte, die so laut war, dass man sich kaum selbst reden hörte.

 

„Du…“ Ob er wirklich nach dem Bordell fragen sollte, dass es auf der Con angeblich gab? Ob das auch echt war, oder nur so ein lahmes „Stell dir vor, dass du guten Sex hast – macht drei Kupfer, und Tschüss“ Ding…nein, besser nicht. Jonas wusste zwar, dass er noch nie auf einer Con gewesen war, aber so viel Unwissen wäre dann doch peinlich.

 

Jonas drehte die Musik runter. „Ja?“

 

„Kann man da abends auch noch was anderes tun, außer in die Kneipe gehen?“

 

„Naja, es sind Händler da, da können wir mal rumgucken…dann gibt’s da noch so ein Teehaus mit ziemlich üblem Ruf, da könnten wir mal versuchen uns hinzuschleichen, das ist in nem feindlichen Lager.“

 

„Teehaus? Klingt ziemlich öde, ehrlich gesagt.“

 

„Nein…“ Im letzten Moment wechselte Jonas die Spur und erwischte die vom Navi vorgeschlagene Ausfahrt noch. „Es ist ein „Teehaus““ Er nahm eine Hand vom Steuer und machte die „Anführungszeichen“-Geste. „Es gibt mindestens Bauchtänzerinnen. Vielleicht auch mehr…“

 

„Schonmal da gewesen?“

 

„Nö, gibt es erst seit letztem Jahr, und da hab ich’s zu spät erfahren. Wir können ja mal rumfragen, obs die Gefahr wert ist.“

 

Wenn Jonas da so scharf drauf war, wars bestimmt nicht schlecht. Er hatte ja auch nix gegen Erzählen…wenn ihm da eine scharfe Schnalle erzählte, was er im Spiel gerade mit ihr anstellte…so ein bisschen wie Telefonsex…

 

„Scheiße! Ausfahrt verpasst…guck auch mal mit!“

 

 

 

 

Die Con war wirklich riesig. Es sah aus als wäre jeder freie Platz mit Zelten vollgestellt, aber Jonas fand trotzdem noch einen Platz für ihr Zelt und den Grill. Nach dem Aufbau warfen sie sich noch schnell in die Rüstungen, dann gingen sie in die Zeltstadt, wo sich Jonas für die morgige Schlacht noch ein Schwert kaufen wollte.

Alex guckte sich die anderen Waffen an. Da gab es wirklich alles, Keulen, Morgensterne, Speere, kleine Schwerter, große Schwerter - und sogar eine Bratpfanne aus Schaumgummi.

Aber nichts, was ihm besonders gut gefallen hätte. Lieber noch mal woanders gucken…aber so ganz allein…morgen vielleicht, wenn er sich besser auskannte.

 

Jonas war ein schwieriger Kunde. Als er sich endlich für ein großes Breitschwert entschieden hatte, war schon Ladenschluss.

 

„Du kannst dich ja morgen noch umgucken“, meinte er, als Alex sich darüber beschwerte. „Ich lad dich zur Entschädigung auch auf ein Bierchen ein.“

 

„Aber morgen ist doch die Schlacht!“

 

„Du kannst sowieso nicht den ganzen Tag kämpfen. Essen müssen wir auch noch“, erinnerte Jonas ihn. „Man muss sich die Zeit eben nehmen.“

 

„Ist das nicht unlogisch? Ich meine, es ist Krieg…“ Wenn die Untoten versuchten, eine Stadt zu überrennen, dann machte man doch nicht Pause um einen Einkaufsbummel zu machen?

 

„Man darf’s auch nicht übertreiben mit dem Rollenspiel“, meinte Jonas. „Ist doch nur ein Spiel. Wenn du so verkrampft auf Logik machen willst, bist du bei mir an der falschen Adresse.“

 

„Will ich ja gar nicht.“ Obwohl es schon was hatte. Die Elfen die am Stand nebenan Schmuck kauften, sprachen sogar wie die Elben in Herr der Ringe. Wenn man den Nerv dafür hatte…toll anhören tat sich’s schon.

 

Die Kneipe war, wie alle anderen „Gebäude“ auch, nur ein Zelt. Drinnen standen Bierbänke und Tische, und an einer provisorischen Theke bekam man Bier. Alex suchte sich einen Platz und wartete, bis Jonas mit den Bierflaschen kam.

 

„Noch eins gibt’s aber nicht“, warnte er. „Will ja keinen Ärger kriegen, wenn du nix verträgst.“

 

„Schon klar.“ Natürlich vertrug er mehr, aber er wollte keinen Streit anfangen, nicht auf seiner ersten Con.

 

Er sah sich um. Schon der Wahnsinn, was für Kostüme sich manche bastelten…er könnte schwören, er hätte einen Satyr gesehen. Und da drüben – war das nicht ein Zauberer mit Spitzhut?

 

 

Am nächsten Morgen wachte er früh auf. Viel geschlafen hatte er nicht, aber egal. Die Schlacht rief!

 

Er warf sich ins Getümmel, aber es dauerte nicht allzu lange, bis seine Rüstungspunkte verbraucht waren und er die erste Verletzung am Bein kassierte. Er setzte sich ins Gras und wartete.

 

„Magische Heilung, nur ein Kupfer – Interesse?“

 

Neben ihm stand ein Elf in blauen Gewändern, der blonde, lange Haare, aber einen dunklen Bartschatten hatte und sah ihn fragend an.

 

„Klar“, er zählte drei Kupfer ab. „Leg los.“

 

Der Elf murmelte ein paar magische Worte. „Das war’s. Zwei Minuten liegen bleiben und Ihr seid wieder wohlauf.“

 

Gegen Mittag – er hatte schon mindestens ein Dutzend Gegner niedergemäht, war fünfmal magisch geheilt worden und einmal nach Betäubung per gespieltem Schlag auf den Kopf operiert – musste er dann eingestehen, dass Jonas Recht gehabt hatte. Keiner konnte den ganzen Tag kämpfen. Er hatte einen Mordshunger.

 

Sonst grillte er gern. Aber während die Schlacht tobte, war es einfach nur langweilig. Endlich war das Fleisch durch. Er schlang sein Stück herunter, schob noch etwas labbrigen Tütentoast nach, und rannte wieder zum Kampfplatz, während sich Jonas noch in aller Ruhe ein Dosenbier genehmigte.

 

Am Abend wurde es ruhiger. Immer weniger Gegner waren da, und, schlimmer, die Heiler machten Feierabend. Jetzt machte sich bemerkbar, dass er keine Freundin hatte. So eine Elfe die ihn magisch heilte, das wäre was.

 

Egal, er wollte ja eh noch die Stadt sehen. Konnte er sich genauso gut gleich auf den Weg machen. Auch mal ohne Jonas. Er war ja nicht mehr fünf Jahre alt, und so schlimm verirren konnte man sich da sicher nicht.

 

Diesmal sah er sich in aller Ruhe um. Waffen konnte man kaufen, natürlich, aber auch Larpklamotten. Ob er sich so eine schwarze Tunika zulegen sollte? Sah endcool aus...war nur leider auch sauteuer. Er hatte hundertzwanzig Euro dabei, die wollten gut eingeteilt sein. Zwanzig Euro für ein bisschen Stoff? Da doch lieber ein zweites Schwert. Das schwarze T-Shirt würde erstmal reichen müssen, sah man unter der Rüstung ja eh nicht.

 

Schon bald hatte er ein Schwert gefunden, das ihm gefiel, aber so ganz zum Kauf entscheiden konnte er sich doch nicht – es hätte ihn sein gesamtes Geld gekostet.

 

Also noch ein bisschen bummeln. Es gab mehr als einen Laden, und woanders war das gleiche Schwert vielleicht günstiger.

 

In einer Seitengasse zog ein leuchtend rotes Zelt seine Aufmerksamkeit auf sich. Es war groß, tiefrot eingefärbt, und davor war ein Schild aufgestellt. „Rahjatempel“

Zögernd ging er ein paar Schritte darauf zu. In der Tischrollenspielrunde die Jonas leitete, war ein Rahjatempel ja nichts weiter Besonderes. Natürlich, wenn Jonas erzählte, dass ihre Helden so einen Tempel sahen, gingen sie rein, spendeten was, und ihre Helden durften dafür mit den Priesterinnen ficken, immerhin war Rahja ja die Göttin der „Freude“ …aber sich das selbst vorstellen zu müssen war ziemlich witzlos. Und genauer beschreiben wollte es Jonas aus verständlichen Gründen nicht, das wäre ja…na ja, schon irgendwie schwul.

 

Wie das hier wohl war? Das Zelt sah ziemlich gut gemacht aus. Und hier auf der Con gab es ja auch total viele Mädchen…hier doch sicher auch…

Er gab sich einen Ruck. Jetzt oder nie. Das Zelt war offen, innen flackerte deutlich sichtbar Kerzenlicht, und er hatte noch haufenweise Spielgeld.

 

„Rahja zum Gruße, Fremder.“

 

Das war ja mal eine heiße Schnalle! Pinkes Kleid, tiefer Ausschnitt…einfach nur wow. Wenn er die knallen könnte... Jetzt bloß nicht verhaspeln…

 

„Rahja zum Gruße. Äh…wie viel muss man spenden um mit Euch „Rahja opfern“ zu dürfen?“

 

Sie antwortete eine ganze Weile nicht. Gerade, als er den Blick von ihrem Ausschnitt losgerissen hatte, sagte sie kühl: „Das Bordell ist zwei Straßen weiter.“

 

„Ähm, aber…“ Was spielte die blöde Schnalle denn eine Rahjageweihte, wenn sie nicht wollte, dass jemand ihre Dienste in Anspruch nahm?

 

„Gibt es ein Problem?“ Einer der Vorhänge, mit denen der Rest des Zeltes vom Eingangsbereich abgetrennt war, bewegte sich. Eine Männerstimme.

Der Rausschmeißer?

Na wenn schon – er konnte verdammt gut kämpfen, besser als Jonas. Sie hatten in den letzten Wochen viel geübt.

 

„Der Junge hier hat die schöne Göttin offenbar nicht ganz verstanden“, erwiderte die Zicke. „Ich wäre Euch sehr verbunden, wenn Ihr Euch um ihn kümmern würdet, Rahjadan.“

 

Alex zog sein Schwert, aber der Mann der hinter dem Vorhang hervorkam, trug keine Waffe.

Oder Rüstung. Oder sonst viel.

„Rahja zum Gruße. Legt doch Euer Schwert ab, niemand greift Euch an.“

 

Alex steckte sei Schwert weg, unfähig den Blick abzuwenden.

Rahjadan trug ein langes Gewand aus einem zarten, roten Stoff, durch den man so gut wie alles sehen konnte. Darüber nur einen Gürtel und, daran befestigt, eine Art Lendenschurz.

So lief doch kein Mensch ernsthaft rum!

 

„Ich denke, eine Entschuldigung bei ihrer Gnaden Isida wäre angebracht. Es war ja sicher nicht Eure Absicht, sie zu beleidigen indem Ihr sie wie eine Hure behandelt.“

 

„Entschuldigung“ murmelte Alex, den Blick auf die beeindruckenden Armmuskeln des Geweihten gerichtet, die unter dem durchscheinenden Stoff deutlich zu sehen waren. Nein, mit dem legte er sich besser nicht an. „Ich dachte nur…“

 

Rahjadan lächelte. „Ich erkläre Euch gern die Aspekte der schönen Göttin. Trinkt Ihr Wein?“

 

„Ja…“ Verdammt, warum hatte er „Ja“ gesagt? Er wollte doch weg hier!

 

„Folgt mir.“ Rahjadan zog einen Vorhang beiseite, und ließ Alex den Vortritt.

 

Drinnen war fast alles rot. Die Zeltwand, die Vorhänge, die flackernden Kerzen, das…Bett?

Ja, ein Bett. Und es sah nicht aus, als sei es zum Schlafen gedacht…sonst hätte es sicher eine Bettdecke.

 

Der Geweihte nahm eine Kanne von dem kleinen Tisch im Zimmer und füllte die zwei Messingbecher daneben.

 

„Setzt Euch doch.“ Rahjadan wies auf das Bett. „Darf man Euren Namen erfahren?“

 

Widerwillig setzte er sich auf die Kante des mit roten Tüchern bedeckten Feldbetts. „Alrik.“

 

„Ah, ein traditionsreicher Name.“ Rahjadan reichte ihm einen der Becher und machte es sich selbst auf dem Teppich bequem.

 

„Ich bin Rahjadan Rauenfels, Geweihter der schönen Göttin seit meinem achtzehnten Lebensjahr. Ihr scheint ein Krieger zu sein?“

 

„Söldner.“

 

„Ah, natürlich. Das Tagewerk eines Söldners ist hart, da bleibt wenig Zeit für die schönen Seiten des Lebens…“ Rahjadan nickte langsam. „Euer Irrtum ist keineswegs ein unüblicher, und es gehört zu meinen Aufgaben, ihn aufzuklären.“

 

„Zu den Aspekten der schönen Göttin.“ Der Geweihte hob seinen Becher. „Wein.“ Er nahm einen Schluck und schloss kurz die Augen. „Eine Komposition aus Pfirsichen und wilden Rosen…mild, aber dennoch rassig...Auch der Rausch ist ein Aspekt der schönen Göttin. Ich habe gelernt, mich an einem einzigen Becher zu berauschen – alles andere wäre Vergeudung.“

 

Alex nippte an dem Becher. Der Wein schmeckte ganz gut, aber von Pfirsichen bemerkte er nichts.

 

„Macht es Euch ruhig gemütlich.“ Rahjadan nahm noch einen Schluck Wein, schloss wieder für einen Moment die Augen. „Die Laken sind seit meinem letzten Rahjaopfer gewaschen worden, falls es das ist…“

 

Wie konnte man nur so versaut…nein, versaut war nicht das richtige Wort für das Lächeln, das diese Worte begleitete. Versaute Sprüche klopfte er selbst gerne.

Das hier war anders. Fast unheimlich.

Er sollte gehen. Aber wie? Er konnte doch jetzt nicht einfach rausrennen…warum hatte ihn Rahjadan nicht angegriffen, oder wenigstens blöd angemacht? Dann wäre alles ganz einfach gewesen…aber so? Abwarten…irgendwann musste der Vortrag ja zu Ende sein. Bis dahin konnte er sich genauso gut gemütlich hinsetzen.

 

„Schönheit“, begann Rahjadan nach einem weiteren Schluck Wein. „Euch ist sicher aufgefallen, dass ihre Gnaden Isida ihren rahjagefälligen Körper mit einem entsprechend ausgesuchten Kleid zur Geltung bringt. Verfallt nicht dem Irrtum, sie tue das, um damit zu zeigen, dass sie für jeden jederzeit verfügbar wäre.“ Noch ein winziger Schluck Wein, wieder die gleiche Zeremonie, begleitet von einem geradezu entrückten Gesichtsausdruck.

„Ihre Gnaden sucht, der Göttin zu gefallen, nicht mehr und nicht weniger als auch ich das tue“, sagte er feierlich.

 

Eine schamlose Lüge. Die Zicke am Eingang trug ein sexy Kleid, okay, aber das war normal. Rahjadan dagegen hatte doch quasi gar nichts an. Außer dem Lendenschurz. Und der hing nur lose am Gürtel…

 

„Aber man würde sich viel Freude versagen, beschränkte man sich auf menschliche Schönheit. Auch die Pflanzenwelt hat viel Schönes zu bieten…ah, ihr solltet einmal den Rosengarten eines Tempels im Sommer sehen…selten habe ich mich der Göttin näher gefühlt…doch ich schweife ab.“

 

Rahjadan trank noch einen Schluck Wein, und Alrik tat es ihm gleich. Jetzt konnte er auch einen blumigen Geschmack erahnen. Der Wein war wirklich gut.

 

„Lust. Sicher der Aspekt der schönen Göttin, der Euch hergeführt hat, aber doch eben nur einer unter vielen. Nun, wenn eine Geweihte – oder ein Geweihter – Lust hat, mit Euch gemeinsam Rahja zu opfern…“

 

Alrik fühlte den Blick des Geweihten auf sich ruhen und rutschte unwillkürlich wieder vor an die Kante des Bettes.

 

„…und wenn Ihr auch Lust dazu habt…dann könnt Ihr die Ekstase der schönen Göttin auf diese Art erfahren. Unabhängig davon, wie viel Geld Ihr habt oder zu zahlen bereit seid.“ Rahjadan nahm noch einen Schluck Wein, und stellte den Becher dann wieder auf das Tischchen. „Ihr stürzt Euren Wein zu hastig herunter. Genießt ihn. Lasst ihn im Mund verweilen, schmeckt ihn.“

 

Alrik trank den letzten Schluck Wein und schloss die Augen. Wilde Rosen, ja, er glaubte fast, auch einen Hauch von Pfirsich zu schmecken. Doch da war auch noch etwas Anderes…

„Schmeckt irgendwie nach…Baumrinde?“

 

Der Geweihte nahm den leeren Becher entgegen und stellte ihn beiseite. „Ja, man schmeckt die Lagerung im Eichenfass heraus.“

 

Es folgte ein längeres Schweigen, währenddessen Rahjadan ihn unverwandt ansah. Alrik wurde unruhig, und fragte sich schon, ob er jetzt gehen sollte, als der Geweihte unvermittelt sagte:

 

„Ihr scheint dem Wohlbefinden Eures Körpers nicht allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken.“

 

„Wie meint Ihr das?“

 

„Eure Rüstung ist neu, aber Ihr scheint nach der Schlacht nicht die Kleider gewechselt zu haben. Es klebt immer noch Blut daran. Der Rondra mag solche Härte gegen sich selbst wohlgefällig sein…doch das Schicksal hat Euch hierhergeführt.“

 

Es stimmte, er hatte sich nicht umgezogen. Die Stelle an der Schulter, wo er eine besonders tiefe Wunde gehabt hatte, war immer noch etwas feucht. Bemerkt hatte er es bisher nicht. „Es macht mir nichts aus.“

 

„Weil Ihr die Bedürfnisse Eures Körpers nicht zur Kenntnis nehmt. Tut Ihr das aus Überzeugung?“

 

„Nein…ich…es ist einfach so.“

 

„Ich kann Euch helfen, das zu ändern. Über die Fähigkeit, hart gegen Euch selbst zu sein, verfügt Ihr, sie würde nicht verloren gehen.“ Rahjadan erhob sich, und Alrik konnte nicht anders, als ihn anzustarren. Er musste doch noch etwas darunter tragen…Jeden Moment würde der Gürtel verrutschen, und…

 

„Möchtet Ihr das?“

 

„Ja.“

 

Der Geweihte hob den Vorhang. „Dann legt zunächst einmal Eure Rüstung ab. Ich bin gleich wieder hier.“ Damit verschwand er hinter der Stoffbahn.

 

Alex hatte noch nicht allzu viel Übung darin, die Lederbänder an der Rüstung aufzuknoten. Natürlich hatte er sie zuhause ein-, zweimal ausprobiert, aber da hatte er mehr Zeit gehabt…was tat er hier eigentlich?

Wenn er die Rüstung auszog, würde man den Bandnamen-Aufdruck auf seinem T-Shirt sehen, und das kam bei den Hardcore-Rollenspielern gar nicht gut an. Aber seit wann interessierte ihn eigentlich, was die dachten? Und warum machte er den ganzen Scheiß hier eigentlich mit?

Vorhin hatte er fast vergessen, dass es nur ein Spiel war…besser er ging einfach und…aber dann würde er nie erfahren, was Rahjadan ihm zeigen wollte…

Aber was konnte das schon großartig sein? „Bedürfnisse Eures Körpers zur Kenntnis nehmen“…das war doch…oh scheiße. Scheiße, scheiße, scheiße.

Aus dem Mund eines Rahjageweihten konnte das nur eins bedeuten. Und das Schlimmste war: Trotz des merkwürdigen Gefühls in der Magengrube wollte er eigentlich nicht gehen. Seine Knie fühlten sich sowieso wie Pudding an. Und wo er jetzt seine Rüstung schon ausgezogen hatte…

 

Rahjadan schob sich durch den Vorhang, eine Glasschüssel mit Wasser in beiden Händen haltend.

„Wascht das Blut ab, Ihr werdet den Unterschied spüren.“ Er stellte die Schüssel auf dem Teppich ab und tauchte ein Tuch hinein, das er vorher unter den Arm geklemmt hatte.

 

„Ihr könnt mir Euer Hemd geben“, meinte er, während er das Tuch auswrang. „Ich hänge es draußen auf, der Blutgeruch ist doch etwas unangenehm.“

 

Alrik zog sich sein Hemd über den Kopf und reichte es dem Geweihten. Der gab ihm das feuchte Tuch und verschwand nach draußen.

 

Verdammt, verdammt, was tat er da eigentlich? Alex wischte sich halbherzig das Kunstblut ab, mit dem ihn die Heilergruppe bei der Operation großzügig eingesaut hatte. Das Tuch war angenehm warm, musste heißes Wasser sein…woher bekam man hier heißes Wasser? Die Duschen waren am anderen Ende des Zeltplatzes!

 

„Fühlt sich besser an, nicht wahr?“ Rahjadan war zurückgekehrt und hatte ein weiteres Tuch dabei, das er Alex zum abtrocknen gab.

Während der Geweihte die Schüssel mit Wasser wegbrachte, versuchte Alex, wieder klar im Kopf zu werden. Warum noch mal war er nicht schon längst abgehauen? Noch hatte Rahjadan nichts versucht, aber es war nur eine Frage der Zeit bis…oh, verdammt – da war er schon wieder!

 

Alex spürte ein ungewohntes Kribbeln im Bauch, als Rahjadan sich hinter ihm aufs Bett setzte. Warum war er noch hier? Warum sprang er nicht einfach auf und rannte weg?

„Alles in Ordnung?“

„Ja, klar“, hörte Alex sich antworten.

„Gut. Nicht erschrecken, ich werde Euch berühren. Falls etwas nicht angenehm ist, sagt es mir bitte.“

Eine Hand auf seinem Rücken…das war gar nicht gut, da lief etwas ganz falsch, aber…

„Fühlt sich das gut an?“

„Ja.“ Das stimmte. Es fühlte sich gut an. Angenehm warm. Aber der konnte doch nicht einfach…er konnte doch nicht einfach…

Eine weitere Hand legte sich auf seinen Rücken.

„Konzentriert Euch ganz darauf, was Ihr fühlt. Verbannt jeden anderen Gedanken.“

 

 

 

Im Vorraum des Zeltes hing Isida finsteren Mordgedanken nach. Rahjadan war so ein Idiot! Wie konnte er diesen…diesen…diesen notgeilen, minderbemittelten Teenie auch noch einladen?

Sie war so froh gewesen, jemanden gefunden zu haben, der ihre Vorstellung von Rahja teilte, der mit ihr einen Tempel aufziehen wollte…und jetzt…Gut, er hatte den notgeilen Spinner ruhiggestellt, wahrscheinlich mit viel Alkohol, aber der Versuch, den zu vernünftigem Spiel zu bekehren, war doch zum Scheitern verurteilt. Sie hatte das im Internet bis zum Erbrechen ausdiskutiert. Wenn jemand sich Rahjageweihte als dauergeile Nutten vorstellen wollte, dann ließ er sich davon nicht abbringen.

 

„Guten Abend…“

 

Sie schreckte auf. Da war jemand – eine niedliche kleine Elfe, sah aus wie sechzehn. Ein Glück. Noch so ein Typ und sie wäre Amok gelaufen. „Rahja zum Gruße und willkommen im Tempel.“

 

Die Elfe lächelte verlegen und kratzte sich an einem, etwas schief angeklebten, spitzen Ohr. „Ich...habe einen Aushang gesehen…Ihr bietet Harfenunterricht an?“

 

Isida lächelte. „Ja, genau. Jeden Tag zwei Stunden. Ihr seid die Erste, die danach fragt, also könnt Ihr Euch die Zeiten aussuchen.“

 

„Nachmittags um drei würde mir passen“, erwiderte die Elfe.

 

Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, hörten sie ein lautes Stöhnen. Isida fuhr herum. Es war aus Rahjadans Raum gekommen.

„Tat das weh?“ Das war Rahjadan…was um alles in der Welt trieben die da drin? Jetzt wünschte sie, sie hätte vorher genauer hingehört, statt vor sich hinzusummen um nichts mitzubekommen. Bestimmt war alles ganz harmlos, aber…

„Nein. Es war nur…unangenehm.“

„Das ist normal. Nachher...“ danach war er kaum zu verstehen. „…besser…“

Jetzt sprach er leiser. War ihm eingefallen, dass sie nicht alles mithören wollte?

Zu spät – sie konnte sich vorstellen was…sie wollte sich das nicht vorstellen!

 

Isida drehte sich um. Das Gesicht der kleinen Elfe war rot angelaufen, was einen komischen Kontrast zu den Ohren ergab.

„Äh…nun, ich bin sicher, was immer Rahjadan da treibt, es ist…sehr rahjagefällig.“ Oh ja. Oh verdammt, ja. Das erklärte einiges.

Ihr Typ wäre der Spinner ja nicht, aber Männer hatten da ja oft einen anderen Geschmack…und theoretisch hatte sie ja immer gewusst, dass Rahjadan bi war…aber das war doch Perlen vor die Säue!

 

„Sagt Ihr mir noch Euren Namen?“ fragte sie die Elfe, die drauf und dran war, zu flüchten. „Ich bin Isida.“

 

„Serafaliel Tannengrund. Es war mir ein Vergnügen.“ Und damit war sie verschwunden.

 

Isida seufzte. Hoffentlich kam die Elfe morgen wirklich wieder. Nach dem Schock…

Was dachte sich Rahjadan nur dabei? Konnte er das nicht in seinem Privatzelt machen? Sie dachte sie hätte klargemacht, dass man das trennen musste. Und wie um alles in der Welt hatte er diesen möchtegerncoolen Jeans- und T-Shirt-Träger überhaupt rumgekriegt? War der bi? Ging das? Bei so prolligen Machotypen? Nicht, dass Rahjadan irgendwie tuntig wäre, aber er war doch ein wenig sensibler als…na ja. Solche Kerle eben.

Andererseits, der Junge war notgeil…Im Gefängnis gaben sich Männer ja angeblich auch mit dem zufrieden was da war…

Aber das Gespräch hatte eher so geklungen als ob Rahjadan ihn…genommen hatte.

 

Isida schüttelte den Kopf. Hätte sie mal bloß nicht so viele Slash-Stories gelesen, dann hätte sie sich vielleicht gar nichts dabei gedacht.

 

Sie wartete. Und wartete. Und wartete. Schließlich schaute sie auf ihre Uhr. Schon zehn. So lange konnte doch keiner…also, weder ihr Freund noch einer ihrer Exe hatte jemals so lange durchgehalten.

Außerdem musste sie dringend aufs Klo und konnte den Vorraum nicht unbeaufsichtigt lassen.

Jetzt war es ihr egal, ob und bei was sie störte.

 

„Rahjadan!“

 

 

 

 

Alrik tat was der Geweihte gesagt hatte, und gab sich ganz den Berührungen hin. Es war angenehm, und seine Gedanken konnten sicher bis später warten. Sie waren so verworren…aber es war egal…

 

„Rahjadan!“

 

Die Hände auf seinem Rücken hielten inne, was Alrik mit nicht geringem Bedauern zur Kenntnis nahm.

 

„Die Pflicht ruft“, erklärte der Geweihte. „Ihre Gnaden möchte sicher abgelöst werden. Jemand muss im Vorzelt sein.“ Er stand auf. „Ich hole noch schnell Euer Hemd.“

 

Erst, als er das T-Shirt überzog, erwachte Alex aus dem angenehmen Dämmerzustand. Verdammt, was war das gewesen?

Mit zitternden Fingern band er die Lederriemen seiner Rüstung zusammen.

Das…so etwas hatte er nie…eigentlich hatte Rahjadan nichts weiter getan als seinen Rücken durchzukneten, aber…

 

„Ich halte mir morgen die achte Stunde für Euch frei.“

 

Mit wackeligen Beinen stand Alex auf. „Danke…dann…bis morgen?“

 

„Rahja mit Euch.“

 

Alex rannte los, und kam erst mit schnell schlagendem Herzen zu stehen, als er sein Zelt fast erreicht hatte.

Was war das gewesen?

Rahjadan hatte Recht gehabt, er fühlte sich wirklich besser, obwohl es manchmal fast schmerzhaft gewesen war…aber…irgendwie…es war…anders gewesen als wenn ihm ein Kumpel auf die Schulter klopfte. Ganz anders.

 

Es musste daran liegen, dass er sich so darauf konzentriert hatte. Ja, das war es. Wenn Rahjadan vorhatte, das noch mal zu machen…er würde einfach nur so tun als ob er nicht an etwas ganz anderes dachte.

Natürlich konnte er auch einfach morgen um acht gar nicht kommen…aber das wäre unhöflich.

Blöde Erziehung…da hatte seine Mutter ganze Arbeit geleistet. Was scherte es ihn denn, ob jemand ihn für unhöflich hielt? Nichts!

Trotzdem. Er konnte Rahjadan nicht einfach versetzen.

 

 

Eine ganze Weile nach Sonnenaufgang wachte Alex vom Kampflärm auf. Er drehte sich schläfrig auf die andere Seite. Wenn er jetzt gleich aufstand…er war gestern immer besser geworden beim Kämpfen, heute wäre es sicher genauso…aber das Feldbett war so gemütlich…andererseits hatte er am Abend noch was vor…verdammte Scheiße!

Nein, ganz ruhig bleiben. War sicher nur die übliche Morgenlatte. Aber warum fühlte er sich dann so…so…egal. Wachwerden, an was Anderes denken.

Anziehen. Gut, dass er ein T-Shirt zum Wechseln eingepackt hatte, aber das würde nicht reichen, wenn er wieder an Heiler geriet die ihn mit Kunstblut einsauten.

Das hätte Jonas ihm aber auch sagen können!

 

Frühstück. Jetzt schon was auf den Grill schmeißen? Das würde ewig dauern. Aber es war ja noch eine ganze Tüte Toastbrot da.

Er nahm sich eine Scheibe, biss hinein, kaute sie langsam und sorgfältig…igitt! Das schmeckte ja wie Pappe! Wie hatte er das Zeug gestern nur essen können?

Die Antwort lag auf der Hand: Runterschlingen. Das tat er dann auch, mit dem festen Vorsatz, zu Mittag etwas Ordentliches zu essen.

Aber jetzt wollte er kämpfen.

 

„Bin dann mal auf dem Schlachtfeld.“

 

Jonas brummte etwas und drehte sich auf die andere Seite. Na, egal. Alex fand ja sowieso nicht, dass er beaufsichtigt werden musste. Aber seine Mutter hatte drauf bestanden, dass Jonas immer wusste wo er war.

 

Auf dem Schlachtfeld ging es hoch her. Untote Horden stürmten heran, immer und immer wieder. Alex steckte einige blaue Flecken ein, aber das war schnell vergessen. Immer gekonnter mähte er die Untoten nieder, immer seltener erwischte ihn einer.

 

Es war schon später Vormittag, als ein besonders hartnäckiger Skelettkrieger einfach nicht umfallen wollte. Der schummelte bestimmt…oder war der irgendwas Besonderes, kein gewöhnlicher Untoter? Gut verkleidet war er ja, dünn genug, damit die schwarze Kleidung unter den aus Kunststoff aufgeklebten Knochen nicht zu sehr auffiel…

 

„Aaahhhuuu“ Alex ging zu Boden. Sein Bein tat weh wie Hölle. War der Kerl irre, so fest zuzuschlagen?

 

„Äh…alles okay bei dir?“ fragte der Skelettkrieger und ließ die Streitaxt sinken. „Sorry, war keine Absicht…ist was gebrochen?“

 

„Geht schon“ murmelte Alex und tastete das Bein kurz ab. Nein, gebrochen war es nicht. „Echt!“ Er war ja kein Waschlappen.

 

„Grüß deine Götter von mir, Sterblicher“ intonierte der Skelettkrieger mit hohler Stimme, und holte in Zeitlupe mit der Axt aus.

 

Als er sie ebenso langsam nach vorne schwang, wurde sie von einem Breitschwert aufgehalten.

 

„Fahr zur Hölle!“, knurrte Jonas, und noch während der Skelettkrieger aufs Neue zum Schlag ausholte, hieb er ihm sein Breitschwert in die Seite.

 

Der Skelettkrieger ging in Zeitlupe zu Boden, um kurz darauf mit gekreuzten Armen wieder aufzustehen und wegzugehen.

 

Alex umklammerte derweil sein Bein, in der vagen Hoffnung, es würde dann irgendwie weniger wehtun, und mühte sich ab, nicht zu wimmern.

 

„He, du – Heilerin?“ sprach Jonas derweil eine vorbeigehende Elfe an. „Mein Freund hat eine Streitaxt aufs Bein gekriegt…“

 

„Könnt Ihr zahlen?“

 

Jonas konnte, und man wurde sich einig. Die Elfe kniete sich neben Alex ins Gras und sah sich sein Bein an. „Glatt abgetrennt“, stellte sie fachkundig fest. „Ohhhh…das wird schön…die Meisterin hat mir noch nie erlaubt allein ein Bein wieder anzunähen…nein, keine Sorge, ich kann das.“ Sie winkte Jonas heran. „Sucht mir was zum Schienen. Einen schön geraden Ast. So, dann wollen wir mal…“ Sie legte ein Tuch neben ihn und sortierte fein säuberlich ein riesiges Arsenal von chirurgischen Instrumenten und Nadeln darauf, bei dessen bloßen Anblick Alex etwas mulmig wurde. Gut, dass er nicht wirklich verletzt war.

 

„Könnt Ihr nicht magisch heilen?“

 

Die Elfe schüttelte den Kopf. „Bin da gar nicht begabt. Habe es einmal versucht, die Wunde war schlimmer als vorher. Nein, das machen wir lieber ordentlich…“ Mit geübten Griffen öffnete sie seine Beinrüstung und legte sie neben ihn ins Gras.

 

„Ihr seid noch ein Lehrling?“ krächzte Alrik entsetzt.

 

„Nein, nein, habe gestern meine Meisterprüfung gemacht. Nur die Ruhe. Mehr als jetzt kann es doch gar nicht wehtun, nicht wahr?“

 

Alrik wimmerte leise. „Habt Ihr denn überhaupt kein Betäubungsmittel?“

 

„Ist alle, leider. Aber Ihr seid doch ein tapferer Krieger…“

 

Alrik biss die Zähne zusammen, während die Elfe fein säuberlich abgesplitterte Knochenstückchen aus seiner Wunde zusammensuchte, und ihm dabei genüsslich jedes Detail der Behandlung schilderte.

Endlich war es fast überstanden, und sie machte sich daran, die Haut zusammenzunähen.

 

Jetzt kam auch Jonas wieder. „Geht der Ast da? Seid Ihr noch nicht fertig?“

 

„Eile mit Weile, wie die Meisterin immer sagt…so, noch ein Stich…legt Ihr bitte den Finger auf den Knoten? So, das hätten wir. Jetzt nur noch der Verband“

 

Sie wickelte einen Verband um sein Bein, und dann noch einen um den Ast mit dem das Bein geschient wurde zu stabilisieren.

 

Jonas bezahlte die Elfe, sie bedankte sich und meinte: „Bringt mir doch bitte die Verbände zurück, ja? Serafaliel Tannengrund mein Name, bin meistens im Lazarett zu finden.“

 

Alex versuchte aufzustehen, schaffte es schließlich aber nur mit Jonas’ Hilfe.

 

„Scheiße, jetzt bin ich stundenlang außer Gefecht.“

 

„Konnte ja nicht wissen, dass ne Elfe nicht magisch heilen kann“, meinte Jonas entschuldigend. „Die hat ihre Magiepunkte wohl für was Anderes verpulvert…was solls. Hab eh Hunger, grillen wir uns erstmal was.“

 

Alex überlegte kurz, ob er humpeln sollte, entschied sich aber dagegen. Das Bein war ordnungsgemäß versorgt, also konnte er auch wieder gehen. Nur kämpfen wollte er lieber nicht, bevor er wieder alle Lebenspunkte hatte.

 

Das Mittagessen war ziemlich eintönig. Komisch. Normal konnte er gar nicht genug Fleisch essen, aber so ausschließlich…irgendwie vermisste er doch das Gemüse, das zu essen seine Mutter ihn immer noch zwang.

 

„So, dann wollen wir mal wieder.“ Jonas streckte sich ausgiebig, warf seinen Pappteller in den Müllsack mit Orkmotiv den sie gratis bekommen hatten, und hievte sich aus seinem Campingstuhl.

 

„Ich…muss noch was in der Stadt erledigen“, murmelte Alex.

 

„Warst du nicht gestern einkaufen?“

 

„Doch, schon, aber…“ Inzwischen hatte er klarere Vorstellungen davon, was er wollte. Ein mittelalterlich aussehendes Hemd. Und eine Hose. Die Elfe war ziemlich großzügig mit dem Kunstblut gewesen. „Muss noch die Verbände zurückbringen.“

Die mussten noch irgendwo in einem Haufen in der Zeltecke liegen, er hatte sie gleich abgemacht als sie zum Zelt zurückgekommen waren.

 

„Ah…die Kleine gefällt dir, was?“

 

„Mh.“

 

Die Elfe war vergessen, sobald er die Stadt betreten hatte. Zielstrebig marschierte er auf einen der Stände zu, an denen Kleidung verkauft wurde. Einfaches weißes Hemd, fünfzehn Euro. Einfache Hose, fünfundzwanzig Euro. Eigentlich konnte er sich noch eine Tunika für fünfundzwanzig Euro leisten, aber dann wäre er fast pleite...andererseits, nur Hemd und Hose sah ohne Rüstung so unvollständig aus…

 

„Wieder auf den Beinen?“

 

Er fuhr herum. Die Heilerin von vorhin. „Äh…ja. Bin wie neu, danke.“

 

Sie strahlte. „Ich wusste, ich kann es! Habt Ihr die Verbände?“

 

Er wühlte in seiner Hosentasche. „Ja…hier.“

 

„Danke.“ Sie nahm die Verbände und verstaute sie in ihrer großen Ledertasche. „Ich wünschte, alle meine Patienten wären da so gewissenhaft. Seid Ihr am Einkaufen?“

 

Er nickte. „Mh…ich dachte…“ Nein, keine Schwäche zeigen. Er war Anfänger, da war es in Ordnung, Jeans zu tragen. „Ich kann mich nicht mit blutiger Kleidung im Rahjatempel sehen lassen.“

 

„Oh! Gut, dass Ihrs erwähnt – ist es schon drei?“

 

Er schaute auf seine Armbanduhr. „Zwei.“

 

„Puh, gut. Ich muss noch eine Opfergabe besorgen.“

 

Es dauerte einen Moment, bis sein Gehirn diese Information verarbeitet hatte. „Ihr geht in den Rahjatempel?“

Sie war ungeschminkt, hochgeschlossen gekleidet…eigentlich überhaupt nicht der Typ der…

 

„Ja, krieg dort Harfenunterricht. Gratis!" Sie strahlte. "Muss mich doch irgendwie bedanken, deswegen dachte ich, ich bring ein kleines Geschenk mit."

 

Harfenunterricht? Aber…passte das denn zu…na ja, Musik war schön und machte Freude, so gesehen…

 

„Ich dachte, ich kaufe einen kleinen Rosenquarz…was meint Ihr?“

 

Rosenquarz…da war doch was…ja, das war doch der heilige Stein, oder? „Ja, das passt. Das ist der heilige Stein von Rahja.“

 

„Warum geht Ihr hin?“

 

„Äh…“

 

„Ach, wie dumm von mir, natürlich – es ist nur, ich verehre eigentlich nur die elfische Göttin der Heilkunst, natürlich geht ein echter Gläubiger einfach so in den Tempel.“

 

Sie lächelte verlegen und wandte sich dem Kleiderständer zu, vor dem er stand. „Ich an Eurer Stelle würde die Weinrote nehmen. Das gefällt Rahja bestimmt.“

 

„Ähm…“ Ach ja, er hatte überlegt, eine Tunika zu kaufen. „Meint Ihr?“ Rot war doch irgendwie uncool…war zu nah an rosa…

 

„Außerdem sieht man das Blut da nicht so.“

 

Da hatte sie Recht. Blutfarben passte doch zu einem Söldner, und Schwarz war eh schon ausverkauft. Also gut…

 

„Hervorragende Wahl, der Herr“, meinte die Verkäuferin. „Braucht Ihr eine Tasche?“

 

Er bejahte. Wenn er Jonas begegnete, musste der nicht unbedingt sehen, dass er Klamotten gekauft hatte.

 

Aber er hätte sich keine Sorgen machen müssen, am Zelt war niemand. Jonas war wohl schon wieder auf dem Schlachtfeld.

 

Dort blieb auch Alex eine ganze Weile. Als er das nächste Mal auf seine Uhr sah, war es schon sechs. Noch zwei Stunden…aber er musste sich noch umziehen und…duschen. Ja, wozu hatte er schließlich Duschzeug mit? Und er fühlte sich doch ganz schön verschwitzt, nach der ganzen Kämpferei.

 

Glücklicherweise war außer ihm niemand im Duschraum. Nackte Männer angucken war nicht sein Ding. Wäre ein Grund gewesen, nicht zu duschen, aber so ging es jetzt ja.

 

Kurz darauf, als das Wasser auf ihn herabprasselte, konnte er gar nicht mehr verstehen, warum er in Erwägung gezogen hatte, darauf zu verzichten. Er genoss das angenehme Gefühl des warmen Wassers auf seiner Haut, drehte noch etwas auf…oh, scheiße! Scheiße, seit wann kriegte er so leicht einen Ständer?

Auch egal…er war allein. Wie von selbst fand seine Hand den Weg zwischen seine Beine und führte mechanisch die gewohnte Bewegung aus. Verdammt…ohne Porno ging das nie…aber…wenn er…einfach ganz auf die Berührung konzentrieren, das warme Wasser auf seinem Körper, den harten Griff um seinen…oh, scheiße.

Schwer atmend lehnte Alex sich an die Wand. Er hatte sich doch nicht etwa gerade in…was? Einer Minute? - und ohne Porno einen runtergeholt? In einer öffentlichen Dusche?

Doch, er hatte.

Und verdammt, es war gut gewesen.

 

Recht benommen, aber sauber, stolperte er später aus der Dusche, trocknete sich ab und zog die neuen Kleider an.

Er schaute auf sein Handy. Etwa eine Stunde hatte er noch. Eine Dreiviertelstunde, weil er sein Zeug zurückbringen musste, bevor er in die Stadt ging. Und noch eine Kleinigkeit essen.

 

Am Zelt würgte er etwas Weißbrot hinunter, spülte mit einem Dosenbier nach, und machte sich auf den Weg in die Stadt.

Es war schon deutlich mehr los als am Mittag, und es war schwer, sich seinen Weg zu bahnen ohne jemanden anzurempeln. Endlich sah er das rote Zelt und verlangsamte seine Schritte. Wollte er da überhaupt rein?

Was, wenn die Zicke wieder da war? Und…das Erlebnis in der Dusche…es hatte irgendwie mit seinem Besuch hier zu tun. Klar, es war gut gewesen, aber auch...komisch.

 

„Rahja zum Gruße, Alrik. Wie schön, dass Ihr wieder hergefunden habt.“

 

Er drehte sich um. Rahjadan trug eine Art Bademantel aus rotem Samt, halb offen und lose mit einem Gürtel zusammengebunden. Darunter lugte seine durchsichtige Kleidung hervor.

 

„Kommt rein, ich habe schon alles vorbereitet.“

 

Vorbereitet? Alex stolperte ins Zelt. Es roch nach…nicht Parfüm, etwas Anderem. Ein bisschen rauchig…vielleicht von den vielen Kerzen, die überall flackerten?

 

Die Zicke war da, glücklicherweise in ein Buch vertieft und bemerkte ihn nicht.

Er kramte eine Goldmünze aus der Tasche und legte sie auf den Tisch mit Opfergaben.

 

„Ihr seid zu großzügig, habt Dank.“ Rahjadan legte seinen Mantel ab und hängte ihn an einen Haken an der Zeltwand. „Folgt mir.“

 

Dort, wo vorher der Wein gestanden hatte, war jetzt ein kleines Silbertablett, auf dem drei Pralinen lagen.

Rahjadan bedeutete ihm, sich auf das Bett zu setzen, und ließ sich selbst auf dem Teppich nieder.

 

„Wie war Euer Tag?“

 

„Gut. Das heißt…“ Er erzählte von dem Skelettkrieger, wie der ihn beinahe umgebracht hätte, und wie Jonas ihm gerade noch rechtzeitig zu Hilfe gekommen war.

 

Rahjadan nickte langsam. „Ich bewundere Euren Mut. Nur dank Menschen wie Euch können wir in dieser Stadt in Frieden leben. Wie ich sehe habt Ihr Euer Bein doch nicht verloren?“

 

„Die Heilerin war sehr gut.“ Spielte überhaupt irgendjemand schlechte Heiler? Wäre ja Blödsinn.

„Ihr kennt sie vielleicht. Sie war wegen Harfenunterricht hier, hat sie mir gesagt.“

 

„Ah, ja, Serafiel, nicht wahr?“

 

Er konnte sich nicht genau erinnern, aber so ähnlich hatte es geklungen. „Ja. Ihr gebt Harfenunterricht?“

 

„Ihre Gnaden, die Geweihte Isida, ist sehr versiert im Harfenspiel. Sie gibt den Unterricht. Aber ich verstehe worauf Ihr hinauswollt: Ja, der Tempel versucht Freude in jeder erdenklichen Form zu verbreiten. Dazu gehört natürlich auch Musik…das vergaß ich gestern zu erwähnen.“ Rahjadan schwieg einen Moment. „Ihr seht gut aus, heute.“

 

„Äh…danke?“ Natürlich hatte gehofft, dass er einen besseren Eindruck machen würde als gestern, aber…so ein Kompliment, von einem Mann…und was antwortete man da?

 

„Ihr auch.“

 

„Ich gebe mir Mühe.“ Rahjadan kämmte sich mit den Fingern durch die langen blonden Haare. „Wie ich sehe gönnt Ihr Euch etwas Erholung vom dauernden Tragen einer Rüstung. Ich darf also annehmen, dass Ihr schon besser darin geworden seid, die Bedürfnisse Eures Körpers wahrzunehmen?“

 

„Ja…“ Ihm wurde heiß. Bloß nicht an die Dusche denken.

 

„Sehr schön.“ Rahjadan griff nach dem Tablett.

 

„Dürft Ihr alles essen?“

 

Was? Ach so, ob er Allergien hatte. Er nickte.

 

„Die dunkle, runde ist Marzipan, die viereckige Trüffel und die mit der weißen Schokolade Nougat.“ Der Geweihte hielt ihm das Tablett hin. „Nehmt Euch eine.“

 

Er entschied sich für die mit Marzipanfüllung.

 

„Nicht kauen, auf der Zunge zergehen lassen“, wies Rahjadan ihn an und nahm sich die Nougatpraline. „Feinste Schokolade aus den Dschungeln Meridianas. Sie einfach hinunterzuschlucken wäre Verschwendung.“

 

Alrik tat wie geheißen und schob sich die Praline ganz in den Mund. Noch nie, so schien es ihm, hatte ihm etwas so gut geschmeckt. Ein Hauch von Vanille rundete den herben Schokoladengeschmack ab, und dann, nach endlos erscheinender Zeit, das Marzipan…es war irgendwie gewürzt…Ingwer?

 

Rahjadan sah ihn abwartend an. Schließlich hielt er ihm wieder das Tablett hin. „Mögt Ihr Schokoladentrüffel?“

 

„Nie probiert…“

 

„Versucht es.“

 

„Danke…“ Er nahm sich die letzte Praline und steckte sie ihn den Mund, ließ sie langsam schmelzen.

Diesmal folgte auf die Schokolade etwas Weicheres, Süßeres, das aber ebenfalls diesen herben Kakaogeschmack hatte.

„Und? Mögt Ihr Schokoladentrüffel?“ fragte Rahjadan sanft.

 

„Ja…danke.“

 

„Gerne. Auch das ist meine Aufgabe als Geweihter der schönen Göttin.“

 

Im darauffolgenden Schweigen hörte Alrik leises Flötenspiel, kaum hörbar, wie von weit weg. Er fühlte sich angenehm schläfrig, und erschrak fast ein wenig, als der Geweihte wieder sprach:

 

„Gestern habe ich Euch gezeigt, wie man eine Berührung genießt…heute würde ich gern einen Schritt weitergehen. Seid Ihr bereit?“

 

Alrik schluckte. In seinem Magen flatterte etwas und zwischen seinen Beinen sammelte sich Hitze. Zu einem Geweihten „Nein“ zu sagen…das ging nicht. Das wäre respektlos. Und er war doch bereit… „Ja, Euer Gnaden.“

 

„Gut.“ Rahjadan erhob sich, ging um ihn herum und setzte sich hinter ihn aufs Bett. „Legt Eure Tunika und Euer Hemd ab.“

 

Plötzlich schien es heiß zu sein im Zelt. Er zog sich die Tunika über den Kopf und reichte sie dem Geweihten, beim Hemd zögerte er. Wollte er das wirklich? Er war sicher, es gab einen Grund dagegen, doch die Hitze in seinem Körper machte ihm das Denken schwer. Schließlich legte er doch auch das Hemd ab.

 

„Heute möchte ich über Harmonie sprechen.“ Rahjadans Atem streifte sein Ohr. „Harmonie und Disharmonie gibt es nicht nur in der Musik…“ Eine warme Hand auf seinem Rücken.

 

„Fühlt sich das gut an?“

 

„Ja.“

 

„Nun möchte ich, dass Ihr Euch vorstellt, Ihr hättet mich dafür bezahlt, dass ich Euch berühre. Stellt Euch vor, ich bräuchte das Geld, und fasste Euch nur deshalb überhaupt an.“

 

Alrik gab sich alle Mühe, den Worten des Geweihten Folge zu leisten, doch er spürte einen gewissen Widerwillen dagegen. Die Hand auf seinem Rücken schien kälter zu werden.

 

„Spürt Ihr es? Das ist nur der Schatten einer Disharmonie, aber es gibt Euch vielleicht einen Eindruck davon.“ Rahjadan legte auch die andre Hand auf seinen Rücken. „Und nun…ruft Euch in Erinnerung, dass ich Euch gern berühre. Versetzt Euch in meine Lage, spürt die warme Haut unter meinen Händen…“

 

Alex wurde schwindlig bei der Vorstellung, dass Rahjadan wirklich…es…war doch nur ein Spiel, oder? Rahjadan tat das hier weil es eben dazu gehörte wenn man einen Rahjageweihten spielte, aber…warum sollte er es nicht angenehm finden? Warme Haut fühlte sich ja eigentlich schon gut an. Nur…er hätte nie einen Mann so angefasst…oder sich selbst so anfassen lass…

 

„Spürt Ihr es?“

 

Er erschauderte. Diese Stimme… „Ja.“

 

„Das ist Harmonie. Jetzt kehrt zu Eure eigenen Empfindungen zurück, aber vergesst nicht, was Ihr gefühlt habt. Ruft es Euch immer wieder in Erinnerung.“

 

Alrik schloss die Augen. Es fühlte sich so gut an…und es bereitete dem Geweihten ebensolche Freude…was es noch besser machte…aber wozu darüber nachdenken? Einfach nur genießen…

Und dann, plötzlich, war es zu Ende.

 

„Ich fürchte, ich muss mich nun wieder meinen Pflichten widmen.“

 

Alrik nickte benommen.

 

„Morgen um die gleiche Zeit?“

 

„Mh.“ Alex nahm sein Hemd entgegen und zog es wieder über. Sollte er wirklich...er konnte doch nicht…aber warum eigentlich nicht?

Rahjadan hatte ihn nirgendwo angefasst wo es wirklich daneben gewesen wäre. War also alles in Ordnung. Dass er sich so…komisch fühlte, hatte damit zu tun, was er mit Rahja assoziierte. Das war alles.

Ja. Genau.

Dennoch zitterten seine Finger, während er sich die Tunika überzog, und seine Knie waren weich, als er aus dem Zelt trat.

 

„Na, das hat aber lang gedauert. Ich dachte, du wolltest nur kurz duschen.“, meinte Jonas etwas vorwurfsvoll. Er hatte noch mal den Grill angeworfen, heute gab es Würstchen. „Bin alleine ins Teehaus gegangen…gibt Bauchtänzerinnen, sind aber ziemlich hässlich. Was hast du gemacht?“

 

„Ich war einkaufen…“

 

„Neu eingekleidet?“ Jonas piff durch die Zähne. „War deine Elfe beeindruckt?“

 

„Mh…“ Eigentlich hatte er nicht vorgehabt zu lügen, aber besser war wohl, er ließ Jonas in dem Glauben… „Hab ein bisschen mit ihr geredet. Sie spielt Harfe.“ Dass er das am Mittag schon erfahren hatte, war ja egal.

 

„Und du hast ihr die ganze Zeit dabei zugehört?“ Jonas schüttelte den Kopf. „Muss Liebe schön sein…ich merk schon, ich krieg dich morgen auch nicht mehr viel zu sehen, was?“

 

„Kann sein.“ Er warf sich in einen Campingstuhl und sah den Würstchen beim Brutzeln zu. Es roch ein bisschen nach Rauch hier, die ganze Zeit über, weil alle grillten. Aber man gewöhnte sich dran.

 

So wie er sich auch dran gewöhnt hätte, den ganzen Tag nur Fleisch und Toastbrot aus der Tüte zu essen, wenn Rahjadan nicht…Rahjadan…oh, verdammt, was machte der Kerl mit ihm? Rollenspiel, schon klar, aber die Rollenspielrunde mit Jonas hatte nie solche Auswirkungen gehabt. Na gut, als sein erster Held gestorben war hatte er fast geweint, aber nur fast. Und selbst das war nicht so…so beunruhigend gewesen.

 

„Ist sie auf Facebook?“

 

„Hm?“

 

„Deine Elfe.“

 

„Serafiel? Keine Ahnung. Hab sie nicht gefragt.“ Sollte er vielleicht mal…so viel hatte er noch nie mit einem Mädchen geredet, außer über Schulsachen.

Noch nie.

Und das fiel ihm jetzt erst auf.

 

„Mach mal. Sonst heulst du nachher rum, dass du sie nie wieder sehen wirst.“

 

„Mh.“ So schlimm wäre das doch auch nicht. Obwohl sie schon ganz nett war. Sie war nur irgendwie kein…kein Mädchen-Mädchen. Keins von denen, die er gern aufgerissen hätte, bei denen er sich aber kein Wort zu sagen traute.

 

Er angelte sein Handy aus der Tasche und überprüfte die Uhrzeit. Zehn. Da würde Jonas bestimmt noch durch die Kneipen ziehen wollen.

 

„Ich geh noch in die Stadt, kommste mit?“

 

Wie auf Kommando. „Nee, lass mal. Bin ziemlich fertig, ich glaub ich geh heut mal früher schlafen.“

 

In Wirklichkeit würde er im Zelt bleiben und sich einen Porno auf dem Handy reinziehen. Miese Bildqualität, aber besser als nichts. Und vor allem besser als diese Gedanken an Rahjadan…ja, besser als das auf jeden Fall.

 

Auf dem Handy hatte er nur ganz harte Sachen. Die er anguckte, wenn’s mal schnell gehen sollte. Aber heute ging es trotzdem nicht. Anfangs. Dann, als er schon beinahe einen Krampf in der Hand hatte, lief es doch. Er war kurz vor dem Kommen, als ihm auffiel, dass er das Handy längst hatte fallen lassen.

Hände auf seinem Rücken. ‚Heute möchte ich über Harmonie sprechen…“ Heißer Atem an seinem Ohr…er kam.

„Scheiße“ murmelte er. „Oh, Scheiße.“

 

Okay, das reichte. Er würde da morgen nicht mehr hingehen. Nie mehr. Übermorgen fuhren sie heim, und dann würde alles wieder normal sein. Ganz normal. Wie immer.

 

Die Rückkehr zur Normalität gestaltete sich am nächsten Tag schwieriger als erhofft. Jonas neckte ihn mit seiner vermeintlichen „Eroberung“, und als sie am Nachmittag am Lazarett vorbeikamen und Serafiel ihm zuwinkte, sah er sich gezwungen, zu ihr zu gehen, um seine Glaubwürdigkeit nicht aufs Spiel zu setzen.

 

„Rahja zum Gruße“, sagte sie. „Setzt Euch doch.“ Sie klopfte neben sich auf die mit einem Tuch verhängte Bierbank. „Ist kaum was los heute“, meinte sie mit Blick auf die paar Verwundeten, die auf den Feldbetten des Lazaretts herumlagen, und, den weiß leuchtenden Verbänden nach zu schließen, schon alle versorgt waren. „Ich hab Euch gar nicht nach Eurem Namen gefragt…Alrik?“

 

Er nickte. „Ja – woher…?“

 

„Ich hab ein bisschen mit der Geweihten über Euch geplaudert, weil Ihr mir doch mit der Auswahl einer Opfergabe geholfen habt. Sie war ziemlich überrascht…seid Ihr erst vor kurzem zu Rahja bekehrt worden?“

 

„Könnte man so sagen“, murmelte er. Scheiße…sie dachte, er würde Rahja verehren…nicht nur als eine der zwölf Götter, sondern als Wichtigste…wie kam er da jetzt wieder raus?

 

„Wie ist das gelaufen?“, fragte die Elfe neugierig. „Hat sie Euch aus Lebensgefahr gerettet, oder so?“

 

Ein quer durch den für das Lazarett abgesteckten Platz gebrülltes „Serafaliel!“ rettete ihn.

 

„Oh, wir haben einen Patienten!“ rief sie fröhlich. „Kommt doch mit und schaut zu!“

 

Da er sowieso nichts Besseres zu tun hatte, lief er hinter ihr her. Neben dem Patienten, einem Riesen von einem Mann, knieten bereits zwei mehr oder weniger kleine, vollbärtige Gestalten. Erst die Helme machten es eindeutig: Zwerge.

„Meisterin, ich glaube, das ist ein Milzriss“, meinte der eine.

„Seht es Euch selbst an“, fügte der andere hinzu.

 

Die Elfe kniete neben dem Patienten nieder. „Stimmt“, meinte sie, nach einem fachkundigen Blick auf das völlig unversehrte Hemd. „Milzriss. Morin, das ist eine gute Gelegenheit zum Üben für dich.“

 

Fasziniert sah Alex zu. Nachdem Serafiel eine aus rotem und hautfarbenem Stoff gebastelte Wunde auf den Oberkörper des Patienten gelegt hatte, konnte man sich fast einbilden, es sei echt.

Während Morin nähte, hielt der andere Zwerg ihm den Bart, der sonst in die Wunde gefallen wäre. Schließlich sah sich Serafiel alles noch einmal an und nickte beifällig. „Kann verbunden werden.“

 

Die Zwerge verbanden den Patienten, sagten ihm, wie lange die Verletzung zum Heilen brauchen würde, und machten es sich auf einem der leeren Feldbetten gemütlich, während Alex Serafiel zurück zur Bierbank folgte.

 

„Also, erzählt, wie war es nun?“

 

„Was?“

 

„Eure Bekehrung.“ Sie sah ihn neugierig an. „Erzählt schon!“

 

„Ähm…“ Hilfesuchend ließ er den Blick über die Feldbetten schweifen. Die Zwerge…Moment, was…?

„Was machen die Zwerge da?!“

 

„Wonach sieht’s denn aus?“ meinte Serafiel unbeeindruckt.

 

Aussehen tat es als würden sie knutschen. „Aber…aber…sind die…das sind doch beides Männer?“

 

„Ach, das sind Zwerge, einer von ihnen ist bestimmt eine Frau, das sieht man bei denen doch nicht, haben ja alle Bärte“, erwiderte die Elfe vergnügt.

 

„Äh…aber, ich meine, in echt…“ So eine tiefe Stimme hatte keine Frau.

 

„Warum so schockiert?“ flüsterte sie. „Hast du da Vorurteile?“

 

Natürlich hatte er nix gegen Schwule. War ja kein Katholik. Also, auf dem Papier schon, aber in der Kirche war er noch nie gewesen. „Sie sehen halt gar nicht danach aus…“

 

„Das ist auch ein Vorurteil“, stellte sie fest. „Das du jetzt begraben kannst.“

 

„Scheint so…Du bist erst seit gestern Meisterin und kannst die Leute schon rumkommandieren?“, versuchte er das Thema zu wechseln.

 

„Die beiden sind echt klasse“, flüsterte sie. „Die fragen mich immer noch mal und so…da geht das ganz einfach.“ Sie zupfte ihre kunstvolle elfische Zöpfchenfrisur zurecht. „Da fällt mir ein, ich habe auf dem Rückweg vom Tempel eine Abkürzung genommen und einen Rosenstrauch gefunden. Wart Ihr heute schon dort? Sonst könntet Ihr eine Rose als Opfergabe mitbringen…wäre doch passend, oder?“

 

„Mh.“ Wollte er hin? Wer wusste, was Rahjadan heute vorhatte…aber – er wollte es wissen. Ihm flatterte etwas im Magen beim bloßen Gedanken daran, aber er wollte es wissen.

Und ohne hinzugehen würde er es nicht erfahren. „Könnt Ihr mir den Strauch zeigen?“

 

„Sicher – ich sag nur kurz Bescheid. Die Meisterin wird sich eben mal aus ihrem Zelt bequemen müssen, falls noch ein schwieriger Patient kommt.“

 

Wenig später stolperte Alex hinter der Elfe durch das Gebüsch zwischen Stadt und Schlachtfeld.

 

„Hier ist es“, meinte sie schließlich, als sie vor einem Busch standen, den Alex gar nicht als Rosenstrauch erkannt hätte. Die Blüten waren rosa, aber sie sahen ganz anders aus als normale Rosen. Nur fünf Blütenblätter. Komisch…na ja, Serafiel würde es wohl wissen, oder?

„Wilde Rosen verwelken schnell“, erklärte sie. „Ich würde also erst kurz vorher eine pflücken…wann geht Ihr denn hin?“

 

„Um acht.“ Damit war es dann wohl beschlossen. Er würde noch mal hingehen. Ein letztes Mal. Daheim konnte die Normalität ja wieder anfangen. Oder…vielleicht…stand er ja wirklich auf Männer...Serafiel fände das ja wohl gar nicht so schlimm…nicht, dass seine Freunde ein Problem mit Schwulen hatten, aber wenn er plötzlich…

Irgendwie verspürte er den Drang, darüber zu reden. So wie wenn man an einen Pickel aufkratzte. Man wusste, man sollte es bleiben lassen – und tat es trotzdem.

„Äh…hast du den Geweihten schon mal gesehen? Rahjadan?“

 

„Ja…der ist toll, was? Also, Isida ist nicht schlecht, aber bei Rahjadan hat man wirklich den Eindruck, man hat einen echten Geweihten vor sich, oder?“

 

„Mh…er ist sehr…sinnlich.“ Scheiße! Hatte er das jetzt gerade wirklich gesagt? Er hatte dieses Wort noch nie benutzt! War das überhaupt die richtige Bedeutung?

 

„Und das löst nicht deine Homophobie aus?“ Serafiel grinste.

 

Ihm brach der Schweiß aus. Scheiße, was sagte er jetzt? Er konnte doch nicht…er kannte sie gar nicht…„Er ist der Grund für meine Homophobie.“ Jetzt war es raus.

 

Die Elfe sah ihn verwirrt an. „Er hat dich belästigt?“

 

„Nein, nicht…nicht wirklich…Er hat nichts getan, aber…“ Eigentlich hatte er auch nichts Schlimmes gesagt. Trotzdem… „Er ist einfach so…“

 

„Du bekommst bei seinem Anblick Zweifel an deiner Heterosexualität?“ Jetzt lächelte sie wieder.

 

„Genau.“ Auch wenn es nicht wirklich der Anblick war. Obwohl der natürlich auch dazu beitrug. Dieser durchsichtige Stoff…

 

„Kann ich verstehen…und das ist ein Problem?“

 

Serafiel war wieder losgegangen, sie näherten sich dem Schlachtfeld, doch noch war niemand in Hörweite.

 

„Ich weiß nicht…meine Freunde wären…nicht so begeistert wenn ich…sie sind nicht intolerant oder so, aber…“ Wenn er an die ganzen Witze dachte, bei denen er immer mitgelacht hatte…

 

„Aber eigentlich doch, hm? Such dir neue Freunde.“

 

Er war nie gut darin gewesen, Freunde zu finden. Jonas kannte er auch nur vom Rollenspielen, und andere…

 

„Ich kann froh sein, dass ich überhaupt Freunde habe…“

 

„Och komm, du bist doch nett! Weißt du was…“ Sie holte ein kleines Buch und einen Bleistiftstummel aus ihrer Tasche. „Ich geb dir meine Handynummer. Wenn sich die Sache schlimm entwickelt, kannst du dich jedenfalls bei mir ausheulen, auch wenn ich ganz woanders wohne. Du bist nicht zufällig aus München?“

 

„Nein, Berlin.“

 

„Dacht ich mir. Immer wenn ich jemanden kennenlerne, wohnt er ganz woanders.“ Sie riss die Seite aus dem Buch. „Hier.“

 

„Danke.“ Es war schon wieder ziemlich spät… „Man sieht sich dann…ich muss los...“

 

„Bis dann.“ Serafiel lief zum Lazarett zurück, und Alex machte sich auf, sein Duschzeug zu holen.

Er hatte die Telefonnummer von einem Mädchen – und es war ihm mehr oder weniger egal…das war doch verrückt!

 

 

Aber so egal war es ihm eigentlich gar nicht, überlegte er, während er unter der Dusche stand. Mit Serafiel konnte er…reden. Besser als mit Jonas, irgendwie.

Zumindest über Rahjadan und diese Sache…ihm wurde schon heiß, wenn er nur daran dachte…und hart wurde er auch…verdammt, er konnte sich doch nicht auf einen Mann einen…aber er hatte es eh schon mal getan.

Er brauchte sich nur das Erlebnis am vorigen Abend in Erinnerung zu rufen…und zu tun was Rahjadan gesagt hatte…ganz auf die Berührung konzentrieren…

Diesmal stöhnte er leise als er kam. Wenn das mal bloß keiner gehört hatte…aber die Dusche rauschte ja. Verdammt, so gut war es seit Jahren nicht mehr gewesen, nur als er gerade angefangen hatte es sich selbst zu besorgen hatte er mal…aber besser nicht daran erinnern, er konnte es nicht noch mal tun.

Er hatte eine Verabredung einzuhalten. Und eine Rose musste er vorher auch noch besorgen.

Verdammt, das klang schon so schwul!

 

Schließlich kam er sich aber doch gar nicht albern vor mit der Rose in der Hand. Es passte. Hatte Rahjadan ihm nicht von Rosengärten vorgeschwärmt?

Beim Tempel angekommen war er dann richtig in Stimmung, mit dem Rollenspiel mal ordentlich dick aufzutragen. Machte Rahjadan ja auch, also warum nicht?

 

„Rahja zum Gruße, Euer Gnaden.“ Alrik nickte Isida zu und legte die Rose zu den anderen Opfergaben. „Ich möchte mich noch einmal in aller Form für mein Verhalten vorgestern entschuldigen“, sagte er mit einer angedeuteten Verbeugung.

 

„Ich…nehme die Entschuldigung an“, erwiderte sie, sichtlich überrascht. „Rahjadan erwartet Euch schon.“ Sie nickte in Richtung des Vorhangs, der in diesem Moment auch schon geöffnet wurde.

 

„Rahja zum Gruße. Kommt herein.“

 

Diesmal hatte Rahjadan nichts zu essen vorbereitet. Das Tablett von gestern war noch da, aber jetzt lag ein zusammengefaltetes Tuch darauf.

Alrik nahm seinen gewohnten Platz ein und wartete ab.

 

„Wie war Euer Tag?“

 

Alrik erzählte von seinen Kämpfen, und der Operation bei der er hatte zusehen dürfen. Rahjadan hörte aufmerksam zu, und erzählte auf Alriks Nachfrage hin, dass er den Vormittag damit verbracht hatte, einen Besessenen zu heilen, und am Mittag im Badehaus gewesen war.

 

„Eigentlich hätte ich heute Abend Tempeldienst, aber Ihre Gnaden Isida war so freundlich, mich freizustellen.“ Rahjadan griff nach dem Tablett. „Vertraut Ihr mir?“

 

Alrik spürte ein Flattern im Magen. „Ja…?“

 

„Ich würde Euch gerne die Augen verbinden. Geht das?“

 

Er nickte. Das Flattern im Magen wurde stärker. Was hatte Rahjadan vor?

 

Das Tuch fühlte sich glatt und kühl an. Auf dem Tablett hatte es dünn ausgesehen, doch als er versuchsweise die Augen öffnete, stellte er fest, dass er überhaupt nichts sehen konnte.

 

„Ich bin gleich zurück.“

 

Alrik hätte nie geglaubt, dass er eine solche Situation genießen könnte, doch so war es. Er war sicher, dass ihn eine angenehme Überraschung erwartete.

 

Er hörte Schritte, dann Rahjadans Stimme: „Gibt es etwas, das Euch überhaupt nicht schmeckt?“

 

Er musste nicht lange überlegen. „Rosenkohl.“

 

„Der hat gerade keine Saison“ Er konnte das Lächeln förmlich hören. „Öffnet den Mund.“

 

Es war tatsächlich kein Rosenkohl, sondern Vanilleis. Vanilleis mit heißen Himbeeren, wo immer der Geweihte es aufgetrieben haben mochte.

Diesmal bedurfte es keiner Anweisung, er ließ es von selbst langsam auf der Zunge zergehen.

 

„Mehr?“

 

„Ja…bitte.“

 

Der Löffel fühlte sich sehr zierlich an und war aus Metall. Silber?

 

Beim siebten Löffel streiften Rahjadans Finger seine Lippen, was ihm einen lustvollen Schauder über den Rücken jagte.

 

Nach dem zehnten Löffel schließlich… „Das sollte genügen.“ Offenbar hatte der Geweihte wieder seinen üblichen Platz eingenommen. „Die schöne Göttin schätzt die völlige Hingabe des Gläubigen“, erklärte er. „Ihr habt die Fähigkeit, zu sehen was auf Euch zukommt, bereitwillig aufgegeben. Das zeugt von großer Hingabe, zumal Ihr ein Krieger seid. Seid Ihr bereit, noch mehr zu geben?“

 

Noch mehr…worin würde dieses Mehr bestehen? Das Prickeln in seinem Körper, der wohlige Schauder der ihn überlief, waren Antwort genug: Egal worin es bestand, es würde ihm gefallen.

 

„Ja. Ich bin bereit.“

 

Ein Rascheln von Stoff ließ erahnen, dass Rahjadan aufstand. „Zunächst werde ich Euch entkleiden.“

 

Alrik legte die Hände in den Schoß, wo es allmählich Einiges zu verbergen gab. Natürlich war es sinnlos, immerhin würde Rahjadan ihm doch…

 

Aber nein, der Geweihte beschränkte sich auch diesmal auf Tunika und Hemd. „Legt Euch auf den Bauch.“

 

Nachdem er das getan hatte, spürte er, wie Rahjadan sanft seine Hände ergriff und sie ihm auf den Rücken legte. „Seid Ihr bereit, Euch die Hände binden zu lassen? Ich weiß, dass das für einen Krieger schwer ist…“

 

„Ich bin bereit.“ Sein Atem ging schneller. Die Ungewissheit darüber, was geschehen würde, wenn er seine Hände nicht mehr bewegen konnte, war…aufregend.

 

Schmale Riemen aus glattem Stoff…Rahjadan zog nicht fest zu, und Alrik versuchte auch gar nicht, an den Fesseln zu zerren.

 

„Gut…nicht erschrecken…“ Eine warme Flüssigkeit auf seinem Rücken…Öl? Rahjadan verteilte es mit den Händen. „Nun kommt der schwierige Teil.“

 

Schwierig? Er konnte doch ohnehin gar nichts mehr tun!

 

„Ich kann mit Euch tun was ich will. Macht Euch das klar. Nehmt es an. Liefert Euch ganz aus.“

 

Alrik erschauderte. Schon die Anweisung löste Gefühle in ihm aus…aber er würde sie befolgen…Hände auf seinem Rücken…Hände die überall hin wandern könnten…

Hitze sammelte sich zwischen seinen Beinen, aber nicht nur dort. Heiße Schauder überliefen ihn, wieder dieses flattrige Gefühl im Bauch…plötzlich wusste er mit Gewissheit, dass er kurz davor war, zu kommen. Hier und jetzt.

 

„Nein!“

 

Er zerrte an den Fesseln, schüttelte sie mühelos ab. Gerade als er nach der Augenbinde greifen wollte, nahm Rahjadan sie ihm schon ab.

 

„Entschuldige…ich…“

 

Rahjadans verunsicherter Blick half ihm, zur Besinnung zu kommen.

 

Alex setzte sich auf, bemüht, die immer noch vorhandene Beule in seiner Hose zu verbergen. „Schon gut, es wurde mir einfach…zu viel.“

 

„Nein, ich hätte…“ Rahjadan reichte ihm sein Hemd. „Du…wirst gehen wollen?“

 

„Ja. Danke.“ Hastig zog er sich an. Rahjadan wandte sich zum Gehen. „Warte!“

 

Der Geweihte drehte sich um und sah ihn fragend an.

 

„Ich…“ Er schluckte. „Darf ich Euch auf ein Bier einladen? Um zehn? Im „Torkelnden Drachen“?“

 

Rahjadan schien eine Weile zu brauchen, um die Fassung wiederzugewinnen. „Sehr gerne. Ich werde dort sein.“

 

Alex fühlte sich etwas schwindlig, als er aus dem Zelt trat. Was war das gewesen? Er wäre fast gekommen, nur von…besser nicht daran erinnern.

Was jetzt? Kalt duschen?

Warm duschen und sich noch mal einen runterholen?

 

Es entschied sich, als er beim Ausziehen einen Rest von Öl auf seinem Rücken spürte. Plötzlich war die Erinnerung wieder da. Alex stolperte schon halb besinnungslos in die Duschkabine und drehte das Wasser auf.

Was wäre geschehen, wenn er geblieben wäre? Diese Hände…wären vielleicht an seinem Rücken nach unten gewandert, zwischen seine Beine…

 

Er zitterte, als er aus der Dusche stieg. Das war nicht normal, das war wirklich nicht mehr normal.

 

 

Der „Torkelnde Drache“ war brechend voll. Rahjadan stand bereits vor dem Zelt und wartete auf ihn. Er hatte wieder diesen roten Samtmantel an, den er wohl immer trug wenn er in die Stadt ging.

Alex begrüßte ihn und sie gingen zusammen zur Theke. Jetzt erst wurde ihm klar, dass das irgendwie als Date zählen könnte…ach Quatsch. Er ging mit einem Freund ein Bier trinken, weiter nichts. Jedenfalls sah es bestimmt nach nichts Anderem aus.

Als sie ihre Flaschen hatten, sah Alex sich um, ob vielleicht doch noch irgendwo an einem der langen Biertische zwei Plätze frei waren. Da war Jonas…oh Scheiße, er hatte ihn auch bemerkt und winkte ihn her…na wenn schon. Da waren noch zwei Plätze frei, und Rahjadan würde schon nicht darauf zu sprechen kommen, wie sie sich genau kennengelernt hatten. Ungenau wäre ja in Ordnung.

 

Als er und Rahjadan sich setzten, war Jonas schon wieder dabei, zu erzählen, wie ihr Söldnertrupp ein feindliches Dorf überfallen hatte. „Und dann zappelt die Magd so, und ich sag zu ihr „Beschwer dich nicht, die Männer fallen, du wirst nur aufs Kreuz gelegt““.

Die Männer johlten. „In dem Dorf laufen in ein paar Jahren mindestens ein Dutzend Jungen mit meinem Gesicht rum“, fuhr Jonas fort.

 

„Ach?“ warf Rahjadan ein. „So ein großer Verführer seid Ihr?“

 

„Na, mit verführen hab ich mich nicht groß aufgehalten. Dem Sieger gehören die Weiber.“ Lautes Lachen allerseits…nur Rahjadan war still. Auffällig still.

 

„Was seid Ihr eigentlich?“ fragte Jonas ihn. „Magier?“

 

„Ich bin“, erwiderte Rahjadan mit bebender Stimme „Ein Geweihter der schönen Göttin.“ Er stand auf. „Und ich werde nicht mit Frevlern, die der Herrin der schwarzfaulen Lust huldigen, an einem Tisch sitzen.“

 

„Jetzt komm aber mal auf den Boden, wir hatten nur ein bisschen Spaß…“

 

„Spaß?“ brüllte Rahjadan. „Spaß? Du hast gerade gestanden, dass du eine Magd geschändet hast, Frevler!“

 

„Nach ner Weile hats ihr bestimmt gefallen!“ warf einer der am Tisch Sitzenden ein. Inzwischen waren fast alle Blicke im „Torkelnden Drachen“ auf Rahjadan gerichtet.

 

„Leugnest du es?“ fragte der Geweihte scharf.

 

Jonas war auch aufgestanden und hob abwehrend die Hände. „Heyheyhey…immer langsam…ne einfache Vergewaltigung hat doch noch nichts mit Belkelel…“

 

„Du leugnest es also nicht?“

 

„Ich bin ein Söldner, verdammt, ein Mann hat Bedürfnisse, und die Trosshuren sind alt und…“

 

„Ich zeichne dich“, sagte Rahajdan ruhig und machte einige Handbewegungen. „Ich zeichne dich mit dem Mal des Frev…“

 

„He!“ Jonas griff nach dem Arm des Geweihten. „Sag mal, spinnst du? Du kannst mir doch kein Mal des Frevlers aufhalsen, bloß weil…“

 

Am Nebentisch griff jemand zur Waffe. „Der greift einen Geweihten an!“

 

„Stadtwache!“

 

Die Stadtwache kam, in Form einer Frau mittleren Alters, die fast so breit wie hoch war. „Auseinander!“ verlangte sie. „Was geht hier vor?“

 

„Der hat einen Geweihten angegriffen!“

 

„Der wollte mir ein Mal des Frevlers aufhalsen!“

 

„Dieser Mann“, erklärte Rahjadan grimmig „Hat damit geprahlt, dass er Mädchen schändet!“

 

Die Wache sah von einem zum anderen. „Dagegen gibt es kein Gesetz“, beschied sie Rahjadan. „Wenn er das Verbrechen selbst nicht in der Stadt begangen hat, kann ich nichts tun. Und was ist dieses Mal des Frevlers?“

 

„Jeder Geweihte würde mich als Frevler ansehen“, erklärte Jonas. „Dabei hab ich doch bloß…“

 

„Als Frevler ansehen? Weiter nichts? Das ist kein Grund, jemanden tätlich anzugreifen. Geht nach Hause.“

 

Der erste, der diesem Befehl Folge leistete, war Rahjadan. Alex folgte ihm.

 

„War das ein Freund von Euch?“ fragte der Geweihte auf halbem Weg.

 

„Äh…na ja, wir sind im gleichen Söldnertrupp…“

 

„Ich rate Euch, ihn in Zukunft zu meiden. Frevler sind schlechte Gesellschaft.“ Rahjadan beschleunigte seine Schritte, und Alex hatte Mühe, mitzukommen.

 

„Also…die Sache ist…“

 

„Ja?“

 

„Ich bin erst sechzehn und er ist meine Aufsichtsperson. Nächstes Jahr bin ich also mit ihm hier…oder gar nicht.“

 

Rahjadan blieb stehen. „Du bist erst sechzehn?“

 

„Ja…?“

 

„Ich…du siehst älter aus.“ Noch immer machte er keine Anstalten, weiterzugehen.

 

„Ist das ein Problem?“

 

„Nein. Natürlich nicht. Das heißt, du wirst dir was überlegen müssen. Warum Alrik mit so jemandem herumzieht. Vielleicht findest du einen Grund, der Rahjadan überzeugt.“

 

„Du hast also kein Problem damit? Dass ich mit Jonas rumhänge?“

 

Rahjadan setzte sich wieder in Bewegung. „Warum sollte ich? War nett mal ein bisschen Konfliktspiel zu machen. “

 

Das war also alles nur gespielt gewesen. Ein Glück. So sauer wie Rahjadan ausgesehen hatte…Alex hätte nicht derjenige sein wollen, der ihn verärgert hatte.

„Wo kommst du eigentlich her?“

 

„Ursprünglich aus dem Süden, aber ich studiere in Berlin.“

 

„Da wohn ich auch.“ Alex biss auf seiner Unterlippe herum. Fragen oder nicht fragen? „Man kann ja vielleicht mal zusammen was trinken gehen…“ Schnell, bevor ihn der Mut verließ! „Krieg ich deine Handynummer?“

 

„Klar…müsste nur grad was zu schreiben holen…“

 

„Tipp sie einfach ein.“ Er fischte sein Handy aus der Hosentasche und gab es Rahjadan. „Ist an.“

 

„Na, mal gucken ob ich das schaffe“, meinte der und machte sich ans Werk. „Technik ist nicht mein Fall…blöde kleine Tasten…da wollte ich doch gar nicht hin…“

 

Alex musste sich ein Grinsen verkneifen. Dass Rahjadan in irgendwas so unbeholfen sein konnte, hätte er sich bis eben gar nicht vorstellen können.

 

„Du hast Filme auf dem Handy? Das geht?“

 

„Klar, kann ich dir ja gleich mal zeigen.“

 

„Nicht nötig.“

 

Jetzt erst fiel ihm auf, dass Rahjadans Stimme irgendwie anders klang. Kälter.

 

„Mit „schoolgirlrape235“ ist mein Bedarf gedeckt.“ Rahjadan hielt ihm das Handy hin.

 

Alex nahm es, und öffnete sein Telefonbuch. Da war gar kein neuer Eintrag…

 

„Raus.“, sagte Rahjadan leise.

 

Alex blickte auf. „Was ist los?“

 

„Mit jemandem der sich an Vergewaltigungen aufgeilt, will ich nichts zu tun haben.“

 

„Aber – es sind doch nur…“

 

„Raus.“

 

Alex verbrachte einen Großteil der Nacht damit, Dateien auf seinem Handy zu löschen. Als würde es noch etwas bringen. Als könnte er sie jetzt noch gegen Rahjadans Nummer eintauschen.

Aber da war noch ein Zettel in seiner Hosentasche…Serafiels Nummer. Lisa hieß sie im wirklichen Leben. „Wenn sich die Sache schlimm entwickelt“…tja, das hatte sie jetzt wohl.

 

 

 

 

 

Anmerkungen

 Sowohl die Personen, als auch die "Film"namen die in diesem Buch erwähnt werden, sind frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten mit real existenten Personen oder Namen wären reiner Zufall.

Impressum

Texte: Sionon Klingensang
Bildmaterialien: Yephire
Tag der Veröffentlichung: 09.10.2014

Alle Rechte vorbehalten

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