Buch 5
Kadra und das Versteck in den Bergen
Diese Geschichte ist frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Handlungsorte sind fiktiv.
Einleitung
Ich bin Jasmina, die jüngste von drei Schwestern und das vorletzte Kind unserer Eltern vor dem Nesthäkchen Rodin, unserem Bruder. Ab hier und an allen kursiv geschriebenen Stellen gebe ich zusätzliche Hinweise, da ich nicht den Eindruck erwecken möchte, alles nur aus meiner Sicht zu erzählen.
Die Ereignisse, die mir von allen Beteiligten berichtet wurden, bilden die ganze Geschichte.
Eine Mission, die Gründung der Gemeinde Kelowna, die wir ab 1874 im kalifornischen Santa Barbara County begannen, wurde 1881 abgebrochen.
Kadra, die ‚Anführerin‘ unseres Geheimbundes, meine Geschwister und ich gingen zu einer anderen Mission auf die Erde.
Seit den 1960er–Jahren begleiteten wir drei Mädchen durch ihr Leben. Wir waren für ihren beruflichen und privaten Erfolg verantwortlich. Die drei jungen Frauen verloren sich aus den Augen, bis die Zukunft aller Beteiligten von zwei Mädchen entschieden wurde, die 2011 ihren zwölften Geburtstag feierten.
Als Adrica und Daria sich kennenlernen, ahnen sie nicht, dass ihre Schicksale und die ihrer Familien schon lange vor ihrer Geburt, ja sogar vor Urzeiten, in einer anderen Dimension der Erde namens Terra miteinander verwoben waren.
Die mysteriösen Ereignisse begannen in der Adventszeit in der Gemeinde Taglewood, die zu Santa Maria im kalifornischen Santa Barbara County gehört. War es scheinbar nur der Zufall, der ihre Leben miteinander verwob, oder steckte tatsächlich eine unbekannte Macht hinter ihrer Begegnung, die ihre kühnsten Träume zu sprengen drohte? Ohne zu ahnen, dass sie Teil eines uralten Plans sind, versuchen Adrica & Daria der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Wird es ihnen gelingen, dem mächtigen Erbe gerecht zu werden, für das sie von einem Geheimbund auserwählt wurden?
Meine Geschwister und Kadra haben mich ausgewählt, um mit den Mädchen den Kalender von Torak, dem Astrologen und Erfinder, aufzuschreiben, oder besser gesagt, darüber zu sprechen.
Die 2020er Jahre haben begonnen. Adrica, Daria und ihre beste Freundin Linda haben bereits einige Semester ihres Studiums hinter sich. Sie haben den Lernstress hinter sich gelassen und verbringen ihre Freizeit damit, die Ereignisse rund um die kubanischen Inseln und den Kalender eines unbekannten Astrologen aufzuschreiben.
In dem großen Raum, der im umgebauten Glockenturm auf dem Anwesen des ehemaligen Gemeindegründers Giran Tayton eingerichtet wurde, waren wir voller Erwartung. Inwieweit waren unsere neuen Mitstreiter in der Lage, die Geschichte, für die wir lange Gespräche geführt und Notizen gemacht hatten, in eine akzeptable Chronik zu fassen? Keine der neuen Begleiterinnen war je auf Terra gewesen, um so erstaunter waren wir über die Genauigkeit ihrer Notizen, über das zweite Buch unserer Geschichte.
Meine Geschwister, Kadra und ich wollten die Familiengeschichten von Adrica, Daria und Linda in unsere Chronik aufnehmen. Da ich das entscheiden durfte, habe ich dafür das dritte Buch vorgesehen.
Im großen Raum des umgebauten Glockenturms
„Das macht mich fertig“, stöhnte Daria.
„Jetzt schon? Ich kann nicht anders“, bestätigte Adrica und hatte eine Frage an Kadra. „Die Sache mit den Namen bei der ersten Mission. Ich meine, Ricarda, Alejandro, all die Namen, die es in unserer großen Familie gibt, war das wirklich so?“
„Das war wirklich so. Es wird eine und einen Adrian geben. Das ist noch weit weg. Ich habe hier etwas Näheres“, Kadra schob einen großen Umschlag zu Daria, die ihr am nächsten saß.
„Ich habe auch Neuigkeiten“, Linda erhob sich von der Liege und setzte sich an den Tisch. „Die Bauarbeiten an unserer alten Schule sind fast abgeschlossen. So gut wie.“
„Wie wir dich kennen, hast du mit deiner Mutter die Inneneinrichtung gemacht“, Daria schob den großen Umschlag mit dem Zeigefinger hin und her. „Wenn ich mich an den Speisesaal erinnere, als Adrica und ich dich kennengelernt haben. War das auch dort?“
„Der Speisesaal. Nein. Ein bisschen die Geräte erneuern, mehr nicht. Sie machen ein großes Geheimnis um die Nutzung der Räume, oder besser gesagt, des ganzen Gebäudes. Was schiebst du die ganze Zeit vor dich her, Daria? Ich glaube, die Kadra will, dass dieser Umschlag geöffnet wird.“
„Sicher will sie das, meine Cousine macht es wieder spannend. Es steht weder ein Empfänger noch ein Absender drauf“, Adrica stützte die Ellenbogen auf den Tisch und verschränkte die Hände.
Langsam öffnete Daria den Umschlag, zog ein Blatt Papier heraus und legte es auf den Umschlag.
Eine Minute später waren drei Augenpaare auf Kadra gerichtet, die unbeteiligt wirkte: „Ich nehme an, dass ihr drei Interesse habt. Wenn ihr wollt, könnt ihr nach den Semesterferien die Räume sozusagen einweihen. Die Dozenten für diesen Standort, werden sich in den nächsten Tagen ihre ersten Eindrücke verschaffen, Berichte schreiben und sicherlich ihr Okay geben.“
„Darauf kannst du dich verlassen“, sagte Daria.
Adrica setzte das Gespräch fort: „Ich glaube, drei Plätze sind jetzt nicht mehr frei.“
„Ich könnte den Ausbau kontrollieren, es wäre schön, wenn das vor Ort möglich wäre. Ich bin dabei“, beendete Linda das Gespräch.
Kadra schob einen weiteren Umschlag über den Tisch: „Dann braucht ihr nur noch zu unterschreiben. Glaubt mir, ich hätte es auch nicht anders gemacht. Anderes Thema. Unsere Legende. Rodin ist sehr gespannt, was eure Fantasie hervorgebracht hat. Wir haben uns in den letzten Tagen viel ausgedacht.“
„Fantasie? Da war mehr nötig. Was eure Gegner betrifft, so beginnt die Lektüre am besten mit den Ereignissen auf der Insel Paritago, wo sich das größte Geheimnis des Geheimbundes und der Aufenthaltsort der ‚terranischen Familie‘ befindet.“
Die Taida war groß. Und doch waren die Töchter der terranischen Familie näher, als die Gefährten ahnten.
Viele der alten verborgenen Bauwerke gaben ihr Geheimnis erst Jahre nach der Geburt der Zwillinge preis.
Sternenlicht heißt auf kumbalanisch Schor - Nei. Diesen langen Namen mochte sie nicht hören, seine ‚kleine‘ Schwester: Shorny.
Seit einem Jahr waren sie ‚Schüler‘, in der dritten Generation der Familie, auf dem Gelände des alten Senats auf der Kraterseeinsel Paritagos, der gleichnamigen Stadt der unabhängigen Atlantikprovinz.
Großer Bruder, sprach Shorny von ihm in der Gegenwart von Fremden, er war ihr: Sonnie, die liebevolle Form seines Namens, Sonmo. Klein und groß bedeuteten nichts, nur wenige Minuten Altersunterschied trennten sie. Ihr Prüfungsjahr war seit Tagen vorbei. Kadra, die Weiße Magierin, die auch das höchste Mitglied des atlantischen Geheimbundes „Die Füchse“ war, hatte sie an der Heimreise gehindert.
Sie fanden keine Erklärung dafür, es musste mit dem Reiter zusammenhängen, den sie in der Abenddämmerung vom Fenster aus in der Ferne sah.
Sie stellten sich vor, dass dieser Reiter in der Abenddämmerung den Zugang zur Taida erreicht haben musste.
Der Staub der Ebene hüllte den Reiter ein, vermischte sich mit den Schweißfetzen, die dem Braunen vom Maul flogen, als sie auf den Wald zu galoppierten. Trotzdem wurde der Hengst noch flacher, als sähe auch er die Hügelkette über dem Wald aufragen.
Sitnalta von nun an Atlantis, Insel des ewigen Frühsommers, linde Brisen über weiten Feldern, hier das Korn gerade gekeimt, daneben reife, volle Ähren. Ein einmaliges Paradies auf Erden.
Ein gesegneter Archipel, dessen Völker nicht wussten, dass sie auf den Inseln des ewigen Glücks lebten. Noch war es ein weiter Weg, aber wenn der Zeitplan sich erfüllte, würden auch die Bewohner dieses Inselkontinents frei sein, frei wie die Bewohner des kumbalanischen Archipels, dessen Fauna und Flora mit der der großen Inseln vergleichbar war.
Der Reiter zügelte den Braunen, spürte den Widerstand, wusste, dass auch der Hengst sich nach den Gärten der verborgenen Stadt sehnte.
In den Schatten der riesigen Eichen, in denen Orchideen wuchsen und Weinreben, Phlox und wilde Rosen den Weg wiesen.
Der Reiter zog das Tuch aus dem Gesicht, der Staub legte sich klebrig auf Wangen und Fell des Braunen, doch hinter den roten und gelben Wolken zeichneten sich die ersten Baumriesen ab. Das Pferd schnaubte, als rieche es die Heimat.
Langsam trieb er den Hengst vorwärts, tastete nach den Satteltaschen, alles war da.
Vorsichtig lenkte er das Pferd durch den Schwertbusch, der den Waldrand vor allzu neugierigen, allzu mutigen Abenteurern schützte, die sich von den Legenden nicht abschrecken ließen. Das kam vor. Aber hier, wo die fingerlangen Dornen der wilden Rosen wie Speerspitzen und die langen Blätter der Agaven wie Sägen auf sie entgegen starrten, gaben auch die Letzten auf. So blieb das größte Geheimnis von Paritagos sicher. Nur vor den Nachkommen des letzten atlantischen Königspaares und ihren Gefährten wichen die Büsche zurück und gaben den verborgenen Weg frei, als wüssten sie, wer in der Zuflucht zu Hause war und wer nicht.
Heimat. Das war ewiger Frühsommer, Überfluss an allem, Düfte, Ernten und Liebe. Ein Paradies, verborgen in üppigster Vegetation. Und darüber wachte der Gipfel des Taida, der sich manchmal mit Rauchschwaden krönte und noch diejenigen abschreckte, die sich nicht schon beim Anblick der Schwertbüsche zur Umkehr entschlossen hatten.
Dass es eine Fata Morgana war, die den friedlichsten aller Vulkane zum Leben erweckte, konnten und durften sie nicht wissen. Nicht, wenn Atlantis leben sollte.
Das Wetter schlug um, ein Gewitter zog auf.
Mit Kissen und Decke bewaffnet ging Sonmo in Shornys Zimmer, er kannte ihre Angst bei Gewitter. Beklommen blickte er aus dem Fenster, die Fassade entlang.
Der Anblick des einst prächtigen Gebäudes war schmerzhaft. Wind und Wetter einer langen Zeit nagten an den Gebäuden, in denen der letzte atlantische König und seine engsten Gefährten Zuflucht gefunden hatten. Zuflucht vor den finsteren Plänen des abtrünnigen Hofastrologen und Magiers Jaffard, der Unheil über Atlantis und seine großen Nebeninseln brachte.
Die Hüterin aller paritagischen Berge, bekannt als die Weiße Zauberin, stellte sich Jaffard in den Weg. Sie zog eine natürliche Grenze zwischen Atlantis und den Provinzen Paritago und Kaya – den Atalan, den größten Fluss der Insel. Sie stellte das Königspaar, seine engsten Begleiter und alle Bewohner der Provinzen unter ihren persönlichen Schutz.
Der Regen peitschte über den Hof, spritzte in großen Fontänen von den Dächern und Giebeln.
Noch ein paar Schritte, und der Reiter, der jetzt auf dem Hof stand, war am Stall und schob das Tor auf. Ein letzter Blick über den Hof. Gleißend hell schlug in der Nähe ein Blitz in die Erde. Das Pferd bäumte sich auf und schlug mit den Vorderhufen wild durch die Luft.
Erschrocken wich Sonmo zurück und fiel seiner Schwester in die Arme, die gekommen war, um das Treiben auf dem Hof zu beobachten.
Der fremde Reiter unterhielt sich mit dem Mann, der seit ein paar Tagen in einem der Nebengebäude wohnte, in der Hoffnung, dass niemand auf sie aufmerksam werden würde.
„Netter Empfang“, rief der Reiter.
„Bei diesem Wetter glaubten die Atlanter alles, was man ihnen erzählte, für den Zorn einer unbekannten Macht.“
„Ich warte im Haus auf dich. Komm durch den Stall“, rief der Mann, der ihn zu erwarten schien, aus einem Fenster der Räume über dem Stall.
Das Wetter wollte sich nicht ändern, mürrisch blickte der Reiter auf den Hof.
„Wir haben Glück gehabt, wir haben den Regen gebraucht. Das Korn ist gelb geworden“, er klopfte dem Braunen auf den Hals. „Armes Tier, kennt weder Atlantis noch die Legenden und die Weiße Magierin.“
Shorny und Sonmo waren sich in vielem ähnlich. Sonmo konnte ihre Gedanken lesen, als der Reiter ein mittelgroßes Paket von seinem Pferd nahm. Dass er dabei so schwerfällig war, machte sie neugierig. Das änderte aber nichts daran, dass Sonmo unter keinen Umständen das Haus verlassen wollte. Wäre das Gewitter nicht gewesen, so versicherte er, hätten sie den Inhalt des Päckchens noch am selben Abend erfahren.
Sie hatten keine Ahnung, was die beiden unabhängigen Provinzen und den Rest von Atlantis erwarten würde.
Zeitweise stand Sonmo am Fenster, das schlechte Wetter hatte sich verzogen und er wäre bereit gewesen, mit Shorny auf Erkundungstour zu gehen.
Aus dem Nebengebäude schien noch Licht, das sie wegen des ausreichenden Mondlichts gelöscht hatten. Sonmo war nachdenklich geworden, zu viel Zeit war seit der Ankunft des Reiters vergangen. Wichtiges konnten sie nicht mehr in Erfahrung bringen, ihnen blieb der nächste Morgen.
Sonmo hatte noch keinen Plan. Das leise Röcheln, das den Raum erfüllte, sagte ihm, dass er definitiv bis zum nächsten Morgen warten musste, seine kleine Schwester war in die Traumwelt entführt worden. Er musste sich sagen lassen, dass er schnell einschlafen würde.
Diese Nacht würde er nicht so schnell vergessen. Ein gut gelaunter Tagesbeginn war für ihn das Zeichen, aus einem schönen Traum erwacht zu sein, auch wenn es ihm oft schwerfiel, sich von fantastischen Welten zu lösen. Alles hatte nichts mit dem zu tun, was er in der Nacht erlebt hatte, und am nächsten Morgen, noch im Bett liegend, stellte sich ihm die Frage, ob er schlief oder wach war.
Eine unheimliche Spannung lag in ihnen, schon nach dem Frühstück war der Tagesplan beschlossen. Die Bekanntschaft der beiden Männer war kein Problem. Sie ahnten nicht, dass auch die Männer sich Gedanken machten.
Im Nebengebäude
„Guten Morgen“, noch verschlafen betrat Hariko das Archiv in der Villa, er wunderte sich über Brakan.
„Du bist schon wach? Mir steckt der Ritt noch in den Gliedern“, er trat zu ihm ans Fenster. Brakan hielt ein zusammengerolltes Pergament in der Hand. Sorge zeichnete sein Gesicht.
„Wir kommen in der Sache nicht weiter. Es fehlen weitere Hinweise. Es gibt sicher Aufzeichnungen, die darauf warten, nach vielen Jahren endlich gelesen zu werden. Noch zwanzig Jahre, dann werden die Sterne, die hier aufgezeichnet sind, ihre Konstellation, ihre Position erreicht haben.“
Hariko teilte die Gedanken seines Freundes und überlegte, wie er seinem alten Freund die schlechte Nachricht beibringen sollte.
„Ich kann dich nicht täuschen. Es gäbe kein Erbe, wenn es keine Feinde gäbe. Bisher haben die Senatoren von Atlantis die Provinzen Kaya und Paritago in Ruhe gelassen. Unsere Kinder sind in Piraya.“
„Schande genug, dass die Senatoren die Hauptstadt mit dem Namen dieses Verräters ehren wollten.“
Brakan unterdrückte den aufsteigenden Zorn.
„Stimmt es, dass sich die Senatoren mit Zembra, dem Anführer der Küsten– und Landräuber, verbündet haben?“, wollte er wissen.
Hariko zögerte. Jetzt musste er seinem Freund alle Neuigkeiten mitteilen, die Guten wie die schlechten.
„Zembra, der Anhänger des verräterischen Magiers, hat die atlantischen Senatoren auf seine Seite gezogen. Mehr weiß ich im Augenblick nicht. Wie gesagt, unsere Kinder arbeiten für den Geheimbund in Piraya. Was wir erfahren haben, ist, dass ein großes Interesse an Paritago besteht.“
„Paritago? Das wird gefährlich! Lass uns gehen“, drängte Brakan. „Kadra muss alles erfahren.“
In der großen Villa
Zur gleichen Zeit stand Shorny am Fenster des kleinen Zimmers in der großen Villa, blickte in den Hof und hörte, wie eine leicht krächzende Stimme Sonmo bei seinem Namen rief. Sie glaubte nicht, dass ihr Bruder Selbstgespräche führte. Im Hof war nichts Neues zu sehen, also trat sie vom Fenster zurück, um nach Sonmo zu sehen und ihre Neugier zu befriedigen.
„Was gibt es hier noch?“, ihre Blicke suchten jeden Winkel der großen Halle ab.
Sonmo antwortete nicht, staunend stand er vor einer Stange, auf der ein roter Vogel mit langen Schwanzfedern saß und ihn mit glühenden gelben Augen ansah. Sonmo sah Shorny an.
„Hast du ihn gesehen?“
„Ich kenne hier alles“, sagte sie.
„Dann kannst du mir sagen, was das für ein Vogel ist?“
Shorny war hinter seinen Bruder getreten und schaute ihm über die Schulter.
„Den kenne ich nicht. Seit wann ist der hier?“
Während die beiden den Vogel genau untersuchten, befand sich Kadra im Nebenraum. Langsam schob sie einen der breiten roten Vorhänge beiseite, die anstelle der Saaltür gespannt waren. So konnte sie die beiden ungestört beobachten, bis sie sich entschloss, Shornys Frage an Sonmo zu beantworten.
„Er ist schon sehr lange hier und älter als ihr. Ein Phönix.“
„Hast du uns erschreckt, Kadra. Wir haben uns auf den Vogel konzentriert“, stammelte Shorny. „Ein Phönix? Den können nur Magier sehen.“
Dass Sonmo so wenig Neugier zeigte, störte sie.
„Schwesterchen, du bist seit gestern Magierin“, belehrte Sonmo ihre kleine Schwester und stellte sich neben sie, leicht verärgert presste Shorny die Lippen zusammen.
„Ja, also ...“, versuchte Sonmo zu erklären, Shorny mischte sich nicht in das Gespräch ein und sah sich kurz nach dem Phönix um.
„Wo ist er?“, rief sie. „Der Phönix! Er ist nicht mehr auf dem Gestell.“
Sie stand vor dem leeren Gestell und fand von dem Vogel nur noch ein Häufchen Asche.
„Er ist tot“, zwang sie die Worte über ihre leicht geöffneten Lippen.
„Der verbrannte Phönix ist ein sicheres Zeichen für eure Auserwähltheit“, bemerkte Kadra.
„Es ist an der Zeit, dass ich euch die verborgene Stadt zeige.“
„Eine verborgene Stadt, davon hatten wir noch nie gehört.“
Der königliche Bereich
Bevor sie die Unterkünfte der Gefährten in der verborgenen Stadt erreichten, gab die unsichtbare Macht den Reitern wieder bereitwillig den Weg durch das unwegsame Gelände frei.
Die unsichtbaren Augen des Taida nannten die Atlanter der Region Paritago, die geheimnisvolle Macht der Berge. War die Stadt jahrhundertelang verborgen?
Hier fanden das Königspaar und ihre engsten Vertrauten Zuflucht, hier wurde das letzte Vermächtnis geschrieben, das Atlantis vor dem Untergang bewahren sollte.
Der ehemalige Senatorenpalast wurde auf zwei Ebenen errichtet. Plateaus aus glattem Fels. Von der Balustrade der unteren Ebene schweifte der Blick weit über den Kratersee. Zwei Wasserbecken galten als Prunkstücke - nur vom linken Flügel der Hauptgebäude der oberen Ebene konnte man zu den Wasserfällen hinüberblicken.
Nachdem Shirah den Kratersee betrachtet hatte, hielt sie sich die flache Hand vor die Stirn, um sich vor dem Sonnenlicht zu schützen.
„Ich erinnere mich, wie ich vom Licht geblendet auf das Plateau trat. Hier bin ich deinen Eltern zum ersten Mal begegnet. Die Bewohner von Paritago sprechen von der zornigen Hüterin der Berge. Sie meiden diesen Ort.“
„Ich hoffe, die Hüterin der Berge erkennt uns“, Pedro genoss die Aussicht vom Rücken seines Pferdes.
„Willst du mit dem Pferd nach oben? Steig endlich ab. Die Wirtschaftsgebäude sind rechts vom Quergebäude. Ich erinnere mich wegen der Ausgänge zu den kleinen Gärten und zum ehemaligen Gasthaus. Wir müssten dort hinten rechts die Treppe hochgehen. Das will ich nicht. Ich will stolz wie eine Königin die breite Treppe in der Mitte hinaufgehen. Vorbei an den Göttinnen der Gerechtigkeit und des Glücks. Wenn du mich suchst, weißt du, wo du mich findest. “
Shirah lief die Treppe hinauf, auf der letzten Stufe vor dem oberen Stockwerk rief sie freudig.
„Du glaubst nicht, wie aufgeregt ich war vor ...“, sie sah Pedro an, der langsam die Stufen hinaufstieg.
„Es ist das Gebäude auf der linken Seite. Erinnerst du dich?“
Shirah stieg weitere Stufen hinauf, sie stand auf dem Außengang des Gebäudes mit Blick auf den Wasserfall. Vor einer der Türen blieb sie stehen: „Hier sind wir richtig, ich erkenne alles wieder.“
„Shirah, ich ...“
„Alter Gauner. Wir werden es gleich wissen“, sie schob den Riegel auf und steckte ihren Kopf durch den geöffneten Spalt. „Ich wusste es“, freudig umarmte sie Pedro und küsste ihn. Ein dumpfes Geräusch ließ sie zusammenzucken. „Das war die Eingangstür des Quergebäudes, ob du es glaubst oder nicht“, flüsterte Shirah.
„Die Haustür?“, zischte Pedro.
Mit gesenktem Blick ließ sie Pedro los, für sie war der Blick aus dem Fenster das Ereignis, auf das sie lange gewartet hatte: „Wunderschön. Und noch nichts im Vergleich zur Morgen– und Abenddämmerung“, erklärte sie, wobei ihre Stimme immer mehr versagte. Nicht ohne Grund suchten ihre Blicke immer wieder den Raum ab. Abgetrennt durch einen Vorhang befand sich neben der Tür ein winziger Raum. Derjenige, der die Pläne für den Bau dieses Raumes entworfen hatte, sah in dieser Nische eine Möglichkeit, verschiedene Dinge zu lagern – das waren Shirahs augenblickliche Gedanken. Ihre Augen fixierten einen Punkt im Raum, vergangene Ereignisse schoben sich in ihr Gedächtnis und weckten Gefühle.
„Ich weiß, woran du denkst“, bemerkte Pedro.
„Dann haben wir die gleichen Gedanken“, flüsterte Shirah und fühlte sich in Pedros erneuter Umarmung geborgen.
„Ich will sie endlich wieder in die Arme schließen. Das war das erste Jahr in ihrem Leben, in dem sie niemandem einen Streich gespielt hat.“
„Du starrst auf die Betten.“
„Du auch. Das ist mir aufgefallen. Du denkst an die letzten Tage vor unserer Abreise. Ich wollte es dir sagen, jetzt muss ich es. Wenn es nach mir gegangen wäre, ich meine, ich hätte nach einem Weg gesucht ...“
Ein lautes Geräusch drang aus den Gängen. Shirah versuchte, ruhig zu bleiben.
„Ich habe Stimmen gehört. Oder ist das die Aufregung?“, ihr Atem stockte. „Vor der Tür. Ich bilde mir das nicht ein. Erst die Haustür - und dann hier - wir sind nicht allein.“
Ihr Herzschlag verdoppelte sich.
„Du hast doch keine Angst?“, flüsterte Pedro.
„Nein“, bestätigt sie mit einer Kopfbewegung.
Pedro lächelte: „Dein Mäuschenblick verrät mir, dass das nur die halbe Wahrheit ist.“
Jetzt wurde es deutlich, jemand näherte sich dem Zimmer. Vor der Tür wurde gesprochen.
„Hier ist es? In diesem Zimmer?“
Shirah und Pedro starrten sich an, erleichtert erkannte sie die Stimme ihrer Tochter. Mit einem Blick wies Shirah an, sich hinter dem Vorhang in der kleinen Abstellkammer zu verstecken. Sie hatten nicht viel Platz und hofften, nicht gleich entdeckt zu werden.
Die Tür ging auf, Kadra führte Shorny und Sonmo in den Raum.
„Orangenöl. Ich kenne nur eine Schülerin, die das benutzt hat“, sagte sie.
Shorny schnupperte am Handrücken, Sonmo lächelte.
„Du hast eine gute Nase, Kadra. Shorny riecht schon den ganzen Morgen nach Orangenöl.“
„Ich bin überrascht, dass du es bemerkt hast.“
Shorny fühlte sich nicht mehr angesprochen und rief sich jeden Schritt ins Gedächtnis, den sie getan hatte, seit sie das Stockwerk betreten hatte.
„Sonnie, ich ahne etwas.“
„Ich habe es bemerkt.“
„Dass die Tür nicht abgeschlossen war?“
„Was noch?“
Jetzt wussten die Zwillinge, wer außer ihnen noch im Zimmer sein musste.
„Dir kann man nichts vormachen, Kadra“, Shirah trat hinter dem Vorhang hervor, Sonmo erkannte das Zeichen seiner Mutter und hielt Shorny zurück.
„Hast du es nicht vergessen, Kadra?“
Wie lange hatte Shorny sich zurückhalten müssen? Längst wäre sie ihrer Mutter um den Hals gefallen und hätte ihr überglücklich erzählt, dass Sonmo und sie die Zauberprüfung bestanden hatten. Sonmo unterbrach das Schweigen.
„Was ist das für ein Geräusch?“, er lief auf Zehenspitzen zur hinteren Wand, auf die alle starrten.
Wenige Minuten zuvor
Zum letzten Mal an diesem Tag betraten die Gefährten ihre Unterkunft.
Der Steinblock, der neben der Treppe zu den oberen Stockwerken aus der Wand ragte, gab den Weg frei und erregte ihre Aufmerksamkeit.
„Das war keine gute Idee. Die Spinnweben sagen mir, dass wir seit Jahrhunderten die Ersten sind, die hier oben waren.“
„Sehr beruhigend, Hatiem. Wenn du mir mit dem Luna-Zauber helfen würdest, müssten wir nicht im Halbdunkel herumtappen.“
„Wer wollte schon neugierig sein, Schwester. Luna!“
Harifa blickte in das klägliche Licht: „Du solltest bei Großvater Unterricht nehmen. Luna!“
„Meine Schwester ist eine helle Erscheinung. Zu hell. »Knack«, was war das?“
„Was glaubst du, wie es hier nach Jahrhunderten aussieht?“
„Harifa. Ich will nicht viel sagen, die Treppe ist aus Stein. Das hier ist ein Absatz.“
„Ich schau mal, ob es noch höher geht.“
Harifa trat auf eine Steinplatte. Mit dem zweiten »Knack« löste sie einen Mechanismus aus, der einen Teil der Plattform drehte und sie aus dem Gleichgewicht brachte. Vergeblich versuchte sie, sich an Hatiem festzuhalten. Mit weit aufgerissenen Augen sah Harifa den Punkt, mit dem sie unweigerlich kollidieren musste: Sonmo.
Harifa und Hatiem. Beide waren buchstäblich in das Leben ihrer Gefährten hineingeworfen worden. Gleichaltrige Geschwister, gleichaltrig mit Shorny und Sonmo.
Hatiem hielt sich an einem Ring fest, der an der Wand befestigt war, und blickte auf seine Schwester, die zu Boden gefallen war.
„Du siehst niedergeschlagen aus, Sonmo“, rief Shorny ihrem Bruder zu.
„Ich wusste nicht, dass Geräusche hier feste Formen haben. Was liegt auf mir?“
„Frag lieber, wer auf dir liegt.“
Sonmo schaffte es nicht, sich aufzurichten.
„Mach dir keine Sorgen. Bleib liegen.“
Shornys Hilfe endete mit einem zweiten Missgeschick, das Gelächter im Raum auslöste, Hatiem eilte seiner Schwester zu Hilfe und stieß mit Shorny zusammen.
Der Aufprall ließ sie für einen Moment alles vergessen. Shirah unterdrückte ihr Lachen, hatte die Arme vor dem Körper verschränkt und blickte zum Vorhang.
Niemand bemerkte Pedro, der sein Versteck verlassen hatte.
„Das gibts doch nicht!“, rief er mit verblüffter Miene, so kannte ihn niemand.
Nachdem alle wieder aufgestanden waren, blickte Pedro, die Hände fest auf die Schultern des Jungen gelegt, starr in Hatiems Augen.
„Entschuldige“, Pedro ließ ihn los.
„Mein Name ist Hatiem“, dieser Moment hatte alle erdenklichen Gefühle. Nichts wünschte er sich mehr als die Hilfe seiner Schwersten, in der Hoffnung, dass sie seinen ängstlichen Blick bemerkte, zögernd entschlüpften die weiteren Worte seinen Lippen: „Meine Schwester Harifa“, sein Atem beruhigte sich, nach einem gequälten Lächeln konnte man fast sagen, dass Pedro allen im Raum bekannt war.
„Das ist unmöglich, das ist Vergangenheit“, flüsterte Pedro und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare.
„Pedro, was ist los mit dir?“
„Schau Shirah an, seine Haare!“
Pedro verließ den Raum, gefolgt von Shirah, und Shorny schlich sich leise an die halb geschlossene Tür.
„Du hast recht, das Mädchen hat ein Mahl am Bauchnabel. Ich weiß nur zu gut, was dich bedrückt“, gab Shirah zu verstehen.
„Ich weiß, dass sie es nicht sind. Es sind so viele Jahre vergangen. Ich hatte mich auf unsere Kinder gefreut, das Treiben hinter dem Vorhang machte mich neugierig. Sofort sah ich die weiße Haarsträhne bei dem Jungen und überreagierte, musste mich auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Unser Freund konnte es nicht sein, ich musste mich unbedingt bei ihm für mein Verhalten entschuldigen. Shirah, es ist schrecklich. Warum sie? Warum wir? Wir haben doch alles, was uns glücklich macht. Die Kinder, die wir nie aufgeben müssen.“
„Lass uns wieder reingehen.“
Shornys Aufmerksamkeit richtete sich auf das Geschwisterpaar.
Was wusste sie? Siranie. Ihre Eltern hatten von ihr erzählt, aber Miguel? Dann fiel ihr ein, dass der Junge eine weiße Haarsträhne hatte, deshalb nannte man ihn Weiße Feder. Unmöglich, der Junge ist so alt wie Sonmo und sie. Das Mädchen. Unauffällig blickte sie auf ihren Bauchnabel. Das hätte sie nicht tun sollen. Nicht, dass sie ihn bemerkt hätte, nein. Aber das kleine Mahl, die hatte sie. Wärme stieg in Shorny auf, was war hier los? Sie gab zu, dass sie die Neugier ihrer Mutter geerbt hatte, bald würde ihre Mutter alles herausfinden.
Nachdem Shirah sich im Zimmer umgesehen hatte, wurde Shorny unruhig, würde sie ihre Beobachtungen mit Pedro besprechen? Warum sollte sich Shornys unterkühlter Körper erwärmen?
„Dein Bruder ist nervös, kannst du das erklären?“, neckte Shirah.
„Ja. Ich kann dir auch sagen, warum es in mir kribbelt. Sprich bitte etwas leiser.“
„Aha, ich glaube, ich kenne den Grund“, neckte Shirah weiter.
„Ich weiß es, du siehst ihn direkt an, und er – er – beobachtet mich – die ganze Zeit unauffällig.“
„Darf ich dich stören? Besser gesagt entführen“, fragte die fremde junge Frau.
„Auf mich brauchst du keine Rücksicht zu nehmen, geh ruhig mit deiner Schwägerin“, neckte Shirah.
„Mutter!“, zischte Shorny und verzog ihren spitzen Mund zu einem breiten Lächeln.
In der Hoffnung, dass Harifa nicht zu viel gehört hatte, stimmte sie zu.
Harifa führte Shorny in den Flur, hinter der kleinen Tür führte eine Treppe in den angrenzenden Seitenflügel.
„Dieser Flur führt in das gegenüberliegende Gebäude der ehemaligen Gesellenunterkünfte, dort wohnt der Rest der Familie. Links von dir ist Hatiems Zimmer, aber ich zeige dir jetzt meine Unterkunft. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße Harifa.“
„Ich bin Shorny und mein Bruder heißt Sonmo – oder einfach Sonnie.“
Shorny betrat den Raum, eingehüllt von einem kühlen Luftzug, hob sie die Nase.
„Die Gerüche. Schon auf dem Weg zum Kratersee sind sie der erste Willkommensgruß. Ich kann dir gar nicht sagen, aus wie vielen Pflanzen sie sich mischen. Es ist wunderschön hier.“
„Dann solltest du die Umgebung näher kennenlernen. Den ersten Eindruck bekommst du, wenn du aus dem Fenster schaust.“
„Bist du nicht neugierig, Harifa? Ich würde platzen. Dein Bruder und du habt den Geheimgang doch erst heute entdeckt. Hat man den Zugang nie gesehen?“
„Nein. Hatiem konnte sich das auch nicht erklären. Eine Klappe, wie man sie für Kellerzugänge benutzt. Wir öffneten sie, stiegen ein paar Stufen hinunter. Mit dem Luna–Zauber machten wir uns Licht. Ein kurzer Gang führte uns zur Treppe. Sicherlich hat sie seit Jahrhunderten niemand mehr benutzt, außer Spinnen und Mäusen, nehme ich an. Shorny, wenn ich dir alles gezeigt habe, erkunden wir diese Geheimtreppe, sie führt bestimmt weiter nach oben.“
„Hast du daran gedacht, dass diese Treppe auch nach unten führen könnte? Die Aussicht ist wunderschön. Ich kann nicht einmal das Ende des Wasserfalls sehen.“
„Nein, das kannst du nicht, der Berg ist sehr hoch. Das Wasser fließt in den Atalan. Die Abende sind besonders schön, ich beobachte gerne die Vögel, die aus den Bäumen fliegen. Wenn die Sonne alles in rotes Licht hüllt. Heute haben wir einen anderen Weg dorthin entdeckt. Einen schmalen Pfad. Den sagen wir Kadra, dann müssen wir nicht mehr durch die Kanäle. Langweile ich dich?“
„Nein, Harifa.“
„Du solltest mal ein Gewitter erleben. Wie sich das grelle Licht der Blitze im fallenden Wasser spiegelt.“
Shorny brach ab, sie hatte andere Erfahrungen mit Gewittern gemacht.
„Dann stehst du hier am Fenster und siehst dir das an? Na ja, wenn es dunkel ist, sitze ich zusammengekauert auf dem Bett. Spätestens nach dem dritten Donner steht Sonmo mit seinem Kissen in der Tür, er weiß, wo er dann hingehört, neben mir im Bett.“
„Wie kommt ihr beide miteinander aus? Streitet ihr euch?“
„Das muss Harifa sein. Ich glaube, sonst fehlt etwas. Wenn es richtig heftig war, wollte keiner den anderen je wieder sehen. Nach dem letzten Sonnenstrahl haben wir uns gesucht.“
„Auch an den Tagen, an denen ihr euch heftig gestritten habt?“
„Besonders an diesen Tagen. Und ihr?“
„Wir haben viel Unsinn gemacht, Strafen gab es genug dafür, wir haben uns auch nicht gegenseitig verraten“, Harifa blickt über den kleinen Wald, sie erinnert sich an den Abend.
„Heute ist Markt und Hafenfest. Ich bekomme Hatiem nicht aus dem Haus. Er hat immer Ausreden. Warte, ich habe etwas für dich“, Harifa öffnete ihren Schrank.
„Probier das mal an.“
Shorny lächelte.
„Ich habe nicht nur die dunkelblonden Haare, die dunkelbraunen Augen und die Schlagfertigkeit, sondern auch die füllige Figur meiner Großmutter. Vaters Mutter. Im Aussehen und in der Figur komme ich nach meiner Mutter, sie ist sogar etwas größer als ich. Sonmo ist nicht größer. Das ist schön, aber ich glaube nicht, dass es mir steht.“
Harifa warf Shorny einen Blick zu und nickte.
„Bedank dich bei deiner Großmutter. Warte mal. Ich habe noch etwas anderes. Es ist mir zu groß.“
„Das Oberteil passt, mehr kann ich nicht nehmen. Mit der Hose habe ich Schwierigkeiten. Aber die passt auch“, bemerkte Shorny.
„Hier ist noch etwas. Das brauchst du nicht mitzunehmen. Ich trage es gerne“, Harifa hielt Shorny ein orangefarbenes Haarband hin.
„Das gefällt mir. Orange, Blau und Schwarz sind meine Lieblingsfarben. Sind das Adlerfedern? Ich ziehe es an. Hast du einen Spiegel?“
„Ist das nicht etwas gewagt?“ Harifa war die Frage ein wenig unangenehm, aber sie hatte sie gestellt.
„Ich weiß, was du meinst, Harifa, ich sollte das Band lockerer binden.“
„Warum? Ist es zu eng?“
„Nein, es ist nur ...“, jetzt war es Shornys Antwort, die sie mit einem gezielten Blick untermalte.
„Ich weiß, was du sagen willst, Shorny.“
Hatiem sah aus dem Fenster: „Das kann dauern, ich kenne meine Schwester. Ich schlage vor, ich zeige euch mein Zimmer. Bei der Gelegenheit lernt ihr auch den anderen Flügel dieser ehemaligen Gesellenunterkunft kennen.
Über die Treppe am ersten Wasserbecken der unteren Ebene gelangt man zu einem Gasthaus. Besonders lecker sind die Früchte aus den kleinen Gärten, die hinter einem Nebengebäude bis an die Mauern der Anlage angelegt wurden.“
Shirah lächelte.
„Ich weiß“, sie sah Pedro an. „Pedro konnte meine Neugier nicht bändigen, und so haben wir vieles entdeckt. Auch die kleinen Gärten. Wächst dort Obst?“
„Ja, Pfirsiche“, Hatiem drehte sich um. „Die sind besonders schön. Innen leuchtend gelb und saftig.“
Shirah musste lachen, sie stellte sich ans Fenster.
„Es tut mir leid. Das muss meine Schuld sein. Die Früchte sind einzigartig, überhaupt alles auf der Taida. Pedro und ich haben hier zerbrochene Kerne gepflanzt, wir hätten nie gedacht, dass daraus etwas wachsen würde. Ich schlage vor, wir besichtigen die Räume, dann hätte ich Appetit auf Pfirsiche.“
„Unglaublich“, Shirah stand vor den Pfirsichbäumen. „Deine Familie hat sich bestimmt viel Mühe mit den Gärten gegeben.“
Hatiem verzog die Mundwinkel.
„Da hast du recht. Du meinst, Pedro und du ...“
„Ja. Sie müssen noch ein bisschen reifen. Jetzt, wo wir viel gesehen haben, würde ich vorschlagen, dass wir mal nachsehen, was Harifa und Shorny so machen. Was ist los? Was hast du?“
Hatiem hob den Kopf und blickte gen Himmel.
„Heute ist Hafenfest.“
„Da sind wohl alle Männer gleich. Deinem Blick nach zu urteilen, muss es für dich ein ‚besonderes Vergnügen‘ sein.“
„Wenn du dich mit deiner Schwiegermutter vertragen willst, gibt es nicht viel zu sagen“, flüsterte Pedro Hatiem zu. „Und entschuldige mich wegen vorhin. Wir möchten eure Eltern kennenlernen. Ich denke, wir bleiben, bis sie kommen, auch wenn das Wochen dauern wird.“
Hatiems Gefühl war an der Röte ihrer Wangen zu erkennen.
„Das hast du gemerkt? Ob ich in eurer Familie willkommen bin, nein, ob wir in eurer Familie willkommen sind? Ich freue mich, dass ihr meine Familie respektiert und kennenlernen wollt. Hier ist genug Platz. Es gibt so viele Zimmer. Schade, die Früchte sind noch nicht reif. “
„Dann ist ja alles geregelt. Heute Abend ist das Hafenfest, da werden wir uns alle besser kennenlernen. Wenn ich alle sage, meine ich auch alle“, Shirah wusste, was Pedro hinzufügen würde.
„Da sind wir, Männer.“
„Willkommen in der Familie“, Sonmo blickte an den Wänden des Hauses entlang, nur das Quergebäude hatte Fenster. „In der nächsten Zeit wird es für Shorny und mich viel zu sehen geben.“
„Gilt das auch für deine Eltern?“, neckte Shirah ihren Sohn.
„Hafenfest“, stöhnte Hatiem. „Ich gebe mich geschlagen. Harifa wird sich an den Tag erinnern, an dem ihr Bruder freiwillig in die Stadt ging.“
„Lass uns nach unseren Schwestern sehen. Du wirst dich in Zukunft an vieles gewöhnen müssen.“
„Ich weiß nicht, Shorny.“
„Ich werde deinen Bruder überreden, zum Hafenfest zu kommen. Oder meinst du meinen ...“, sie hatten das zaghafte Klopfen an der Tür überhört, die sich öffnete.
Shirah zog Pedro an sich.
„Ich weiß, es ist an der Zeit, sich von ihnen zu trennen“, sagte Shirah leise.
Eine andere Art der Trennung mussten Shorny und Sonmo erleben. Das Ereignis fand zwischen ihrem elften und zwölften Lebensjahr statt, und ihre Doppelgängerstreiche endeten an einem Markttag.
Sonmo warf die Münzen für die Waren auf den Tisch, schaute sich um und ging langsam ein paar Schritte weiter. Shorny blieb länger an einem anderen Stand stehen, dann folgte sie ihrem Bruder, nahm den Apfel, den Sonmo schon bezahlt hatte, vom Tisch – zu ihrem Unglück hielt sie ein Händler fest, um sie zur Rede zu stellen. Seine Frau hob die vom Tisch gerollten Münzen vom Boden auf und bat ihren Mann, das Mädchen gehen zu lassen. Sonmo lief Shorny schlaksig entgegen, zum ersten Mal beobachtete sie alles an ihm, zupfte an seiner Jacke, bemerkte etwas und begann zu lachen. Für sie war die Frage geklärt, in Zukunft würde sie niemand mehr für einen Jungen halten.
Jahre vergingen. Der tägliche Umgang ließ Sonmo die Attraktivität seiner Schwester erkennen.
Eine Anziehungskraft, die Sonmo auch an Harifa bemerkte, während Hatiem an Shorny Gefallen fand.
„Wir gehen zum Hafenfest.“ Shorny war erleichtert, etwas über die Lippen gebracht zu haben, sie wusste, dass all die Blicke, die auf sie gerichtet waren, nicht nur ihrer Kleidung zuzuschreiben waren. „Konntet ihr Hatiem überzeugen?“
„Habe ich dir schon erzählt, wie meine Mutter ...“, flüsterte Pedro.
„Was glaubst du, woran ich gerade gedacht habe?“, Shirah sprach ihre Gedanken weiter aus.
„Seid ihr bereit für neue Wege?“, rief Kadra in den Raum. „Es gibt einen alten Hirtenpfad an den Rand des Taida, durch eine Höhle gelangen wir zur letzten Biegung des Atalan vor Paritago. Ein Geheimnis, das nur wenige kennen.
Gegen Mittag auf dem königlichen Anwesen
Mixendra atmete tief durch.
„Der Taida. Warum kommen wir so selten hierher? Ich habe die Wasserbecken und die Kaskaden der Wasserfälle nie gezählt. Wer vermisst ein Bad?“
„In der großen Halle?“
„Nagero und Giran sahen es nicht als Frage, die ihnen fast gleichzeitig über die Lippen kam, sondern eher als Hinweis.
„Alter Brummbär. Im letzten Becken. Ist dir zu kalt? Ich verstehe, der Fußmarsch. Aber morgen kommst du nicht drumrum. Ehrlich gesagt bin ich zu müde. Ich will wissen, warum Kadra uns einen Hafen früher vom Schiff geholt hat. Keiner von uns kannte diesen Weg auf den Taida. Sie wird ihre Gründe haben. Ich will die Augen unserer Enkelkinder sehen. Sie wissen nicht, dass wir kommen. Hat jemand Kadra gefragt, ob Shirah und Pedro ... Was frage ich, sie werden Zeit finden. Sie werden kommen, ich weiß es. Ein paar schöne Wochen liegen vor uns“, Mixendra verstummte und machte ein ernstes Gesicht. „Nein, ein unmöglicher Gedanke“, bemerkte sie.
„Was ist unmöglich?“, wollte Janea wissen, die nun in das lächelnde Gesicht ihrer Freundin blickte. „Ich verstehe. Ich glaube nicht, dass wir uns darüber Sorgen machen müssen. Wenn unsere Männer bereit sind, brauchen Kadra und unsere Zimmer nicht mehr zu warten.“
„Unsere Zimmer. Jetzt weckst du Erinnerungen in mir.“
„Hast du das gehört?“
„Die Haustür wurde geschlossen, Mixendra. Ich dachte, Janea und Giran wären in ihren Zimmern.“
„Sicher. Wahrscheinlich ist es Kadra. Sie ist oft geheimnisvoll. Weißt du, warum sie uns vor Paritago vom Schiff geholt hat?“
„Nein. So wie ich uns kenne, wären wir auf dem Hafenfest gewesen, das an den großen Anlegestellen gefeiert wird. Lass uns mit Janea und Giran reden“, Mixendra legte Kleider in den Schrank.
„Du wirst unsere Männer überzeugen, Janea wird sich freuen.“
„Du meinst, es gibt eine Überraschung für die Kinder? Es könnte bedeuten, dass Shirah und Pedro in der Stadt sind, und Kadra weiß das. Aus welchem Grund sollten Shorny und Sonmo nicht hier sein?“
„Weg“, scherzte Nagero und spürte, wie seine Frau ihn anstarrte.
„Natürlich, alter Brummbär! Kadra lässt uns fahren ... obwohl ich mich schon lange nach Taida sehne. Erinnerst du dich noch an den Hof?“, Mixendra zögerte. „Das bringt mich auf eine Idee. Bist du fertig?“
Sie musste ihren Gedanken mit Janea teilen, sofort waren sich die Frauen einig, als sie sich auf dem Außengang trafen. Schritte und halblaute Stimmen drangen von der Hoftreppe herauf.
„Da bist du ja“, flüsterte Mixendra und blickte sich um, etwas belegte ihre Stimme. „Das kann nicht Kadra sein.“
Janea schüttelte den Kopf.
„Ich sage dir, die Gegenstände gehören zusammen. Der Geheimbund ist von der Bedeutung des Fundes überzeugt. Die Legende spricht von ...“, das Gespräch brach ab.
„Ich komme gleich“, rief Kadra vom Plateau zu den Unterkünften hinunter, „es ist alles in Ordnung. Geht ins Kinderzimmer.“
„Ich habe Brakan und Hariko auch nichts von dem kurzen Weg hierher gesagt.“
„Hariko?“, Nagero erhob sich von seinem Platz. „Ich kannte einen Hariko, als ich noch ein Kind war. Seine Eltern lebten auf einem Anwesen ganz in unserer Nähe. Wenn mein Sohn wüsste, was wir alles ...“
„Ach, es gibt Dinge, von denen ich nichts weiß? Dann ist mein Brummbär ...“, Mixendra sah den Mann an, der ihnen als Hariko vorgestellt wurde. „Das kann ich mir gut vorstellen, das hat Pedro nicht von mir.“
„Nagero? Das gibt es doch gar nicht!“
Das Wiedersehen nahm die Zeit von Jahrzehnten in Anspruch.
„Hariko! Wie lange ist es her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben?“
„Seit der Bitte meiner Eltern, bei der Erfüllung einer Legende behilflich zu sein. Ich folgte dieser Bitte und wurde der glücklichste Mensch auf Erden.“
„Aha. Nur du“, Mixendra erhob sich, sie musste ein paar Schritte gehen. „Es gab eine junge Frau und ein Kind, die unsere Prüfung abgeschlossen haben. Nicht zu vergessen unsere Freunde, die wir hier kennengelernt haben, und die vielen Verbindungen, von denen wir erfahren haben. Kaum zu glauben, dass sich unsere Kinder auf der Taida wiedergefunden haben. Shirah und ...“
„Shirah?“, wollte Brakan wissen, der sonst keine Gespräche unterbrach, das war ihm wichtig.
„Ja. Eigentlich Schei – Rah. Erwähne das nicht in ihrer Gegenwart, sonst kriegst du strafende Blicke“, Janea lächelte.
„Jetzt wird mir vieles klar. Meine Tochter heißt Siranie, schon als Kind sprach sie nur von Sira. Die Stadtwache. Shirah, Sira. Wenn ich an diesen Morgen denke, der unser ganzes Leben verändert hat. Kadra und die dunkelblonden Helferinnen des Geheimbundes waren bei uns. Wir erlebten die erste Begegnung Rodins mit seinen Schwestern. Wir erfuhren, dass der dunkle Magier sich Kadras Gestalt bemächtigt hatte, Rodin konnte die verdächtigte Kadra entlasten. Nur unser Gefährtenkristall zeigt die Wahrheit“.
„Du hast also einen Sohn“, Hariko forderte seinen Freund auf, ihm nach draußen zu folgen. „Meine Familie ist damals in den Süden von Centrino gezogen, ich habe meine Frau kennengelernt und wir haben einen Sohn. Eines Tages kam Kadra mit ihren dunkelblonden Helferinnen. Sie erklärte uns zu ihren Gefährten und bat uns, ihr bei der Erfüllung einer Legende zu helfen. Seitdem hat sich unser Leben verändert. Es war seltsam. Als wohlhabende Kaufleute waren wir in der Zukunft. Kadra nannte unseren Sohn nach einer weißen Haarsträhne: Weiße Feder. Er kann sich an nichts aus dieser Zeit erinnern und wir werden ihm nie etwas davon erzählen. Erst hier, in unserer Zeit, lernte er Siranie kennen. Dann kamen Shirah und Pedro ... Jetzt ist alles klar. Wir leben in drei Generationen auf der Taida. Brakans Tochter und mein Sohn sind ein glückliches Paar.“
Nagero unterbrach seinen Freund.
„Sira, die Freundin von Shirah und Pedro?“ Auf Harikos Nicken hin fuhr Nagero fort. „Drei Generationen? Das würde bedeuten ...“
„Dass ich Großvater bin? Nenn mich nicht so, unser junges Aussehen und unsere Langlebigkeit als Kadras Gefährten verraten nicht viel davon. Das ist eine Geschichte für alle, im Zimmer warten deine Frau und jetzt hoffentlich auch die Freunde von Brakan und mir.“
„Ich freue mich, Janea, Mixendra und Giran endlich besser kennenzulernen. Wir hatten bisher so wenig Zeit. Wisst ihr, was das bedeutet? Barit und Tabea werden Augen machen. Wir erwarten sie in den nächsten Stunden“, Hariko senkte den Kopf.
„Setzt euch“, bat Kadra. „Eure Lieben werden beim Hafenfest in Paritago einen Abend erleben, den sie so schnell nicht vergessen werden. Deshalb war es notwendig, euch vorher vom Schiff zu holen. Während Brakan und Hariko auf dem Kanalweg hierher kamen, gingen eure Enkel auf einem versteckten Pfad in die Stadt.“
Wieder fügen sich Teile eines Ganzen zusammen, aus scheinbaren Zufällen ergibt sich die weitere Erfüllung der Legende.
Die Herberge am Hafen von Paritago
„Ich bin ganz schön erschöpft, das sehe ich auch meinem lieben Brüderchen an, nicht wahr Sonnie? Der Heimweg liegt noch vor uns.“
„Leider muss ich dich enttäuschen, Shorny. Wir haben uns entschlossen, die Nacht im Gasthaus zu verbringen. Es ist gemütlich, dein Vater und ich konnten uns von der Gastfreundschaft überzeugen. Die Händler sagen, dass noch ein Handelsschiff kommen wird. Wenn wir schon einmal in der Stadt sind, sollten wir uns das kleine Fest nicht entgehen lassen, das immer stattfindet, wenn ein Schiff anlegt.“
Shirahs Rat war nicht von der Hand zu weisen, aber sie bemerkte, dass ihre Zwillinge sich unbehaglich fühlten, weil sie nicht daran dachte, dass die freien Zimmer für Reisende bestimmt waren.
Shorny blickte aus dem Fenster, das direkt auf die Anlegestelle der Schiffe zeigte.
Die Wirtin kam an den Tisch und sprach sie an.
„Deine Eltern haben für euch bestellt. Aber ich glaube, du hast einen besonderen Wunsch, Shorny.“
„Ich vertraue meinen Eltern“, antwortete sie nichtssagend und versuchte, das Lagerfeuer zu sehen, das auf dem Marktplatz angezündet wurde. Die Tochter der Wirtsleute kam an den Tisch. Sie war etwa acht Jahre alt, auf einem kleinen Tablett standen zwei Pfirsichhälften und ein gefüllter Becher.
„Ich bringe es ihr“, flüsterte sie ihrer Mutter zu.
„Geh nur. Und du, Shorny? Willst du Medina nicht begleiten?“
Wie aus dem Nichts begann Shornys Gesicht zu glühen, erst jetzt begriff sie, was ihre Eltern mit der Einladung ins Wirtshaus wirklich meinten. Sie erinnerte sich an das Erlebnis, das sie mit einem Gasthaus verband. Sonmo lächelte sie an, er hatte die Wirtsleute erkannt.
Es begann ein Kampf zwischen ihrem Herzen und ihrem Magen, bei dem das Herz den Sieg davontrug. Aber nur bis zu dem Moment, als sie die Tür zur Dachkammer öffnen sollte, hinter der der schönste Moment des Abends auf sie wartete.
Shorny hörte die gegenseitigen Blicke der Wirtin und ihrer Tochter, Medinas Lächeln deutete sie falsch. Sie hob den Riegel. Vorsichtig schob sie die Tür auf und steckte den Kopf durch den Spalt. Ein herumfliegendes Kissen traf sie genau auf der Nasenspitze, damit war die Begrüßung beendet und das Lächeln von Medina und ihrer Mutter erklärt.
„Was siehst du?“, wollte Medina wissen.
„Ein unsichtbares Monster, das mit Kissen wirft.“ Nur die Decke auf dem Bett, das neben dem Fenster stand, bewegte sich.
„In dem Zimmer ist normalerweise ein kleines Mädchen. Abends isst sie immer Obst. Wenn du sagst, da ist ein Monster, dann lass uns schnell von hier verschwinden.“ Die Wirtin zwinkerte Shorny zu. Medina hielt sich die Hand vor den Mund und Shorny verkniff sich das Lachen.
Shorny stieß unbedacht die Tür auf, kein Kissen flog, es klapperte unter der Decke, die nun so schwungvoll zu Boden fiel wie zwei Beine, die sich berührten.
Shorny schlug die Hände vors Gesicht, für fast alle Gefühle fand sie einen sicheren Ort, nur für ein paar Tränen nicht.
Vor vier Jahren lernten Shorny und Sonmo Medina und ihre Eltern auf ungewöhnliche Weise kennen. Medina war vier Jahre alt. So alt wie das Mädchen, das zögernd durch den Raum auf Shorny zukam. Ihr geistiges Auge stellte bildliche Vergleiche zu den Schwestern her.
Melina blieb vor ihr stehen und hob den Kopf. Als Shornys Hände den tränenverschmierten Blick freigaben, blickte sie in große, dunkle Augen und einen leicht gespitzten Mund, der sich zwei– oder dreimal bewegte. Sie gab sich Mühe, und Shorny tat so, als bemerke sie nicht, wie sie heimlich, fast hilflos, zu ihrer Mutter und ihrer Schwester schaute. Shorny beugte sich einer Gewalt, die sie nicht kannte.
„Ich stelle das Essen auf den Tisch“, rief Medina im Vorbeigehen, sehr geschickt, ihre Schwester war neugierig
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Peter Fleischer
Bildmaterialien: Pixaby
Cover: Gestaltung: Peter Fleischer
Tag der Veröffentlichung: 17.12.2023
ISBN: 978-3-7554-6452-5
Alle Rechte vorbehalten
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