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Adrica und ein Wunder

 

Buch 1

 

Diese Geschichte ist frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Handlungsorte sind teils fiktiv

 

Kapitel 01 – Adricas Traum


Tanglewood, ein Ortsteil von Santa Maria in Santa Barbara County, Kalifornien


Tanglewood, ein Ortsteil von Santa Maria im Landkreis Santa Barbara, Kalifornien


Einleitung


Mein Name ist Adrica und ich habe beschlossen, die Ereignisse vor und seit meinem zwölften Geburtstag aufzuschreiben. Die mysteriösen Ereignisse begannen in der Adventszeit in der Gemeinde Tanglewood, einem Teil von Santa Maria in Santa Barbara County, Kalifornien. Als ich wegen einer Kleinigkeit ins Krankenhaus musste, hatte meine Mutter die Chance, das Leben eines anderen zu retten. Damals konnten wir uns nicht vorstellen, was das für unser zukünftiges Leben bedeuten würde. Als ich Daria kennenlernte, hatten wir beide keine Ahnung, was auf unsere Familien zukommen würde. War es Zufall oder Teil eines alten Plans? Gemeinsam mit Daria versuche ich, die Wahrheit herauszufinden. Die Ereignisse, die mir von allen Beteiligten erzählt wurden, bilden die ganze Geschichte, die ich als Adrica aufschreiben werde.


Adrica saß nervös am Küchentisch und schlug hin und wieder die Beine übereinander. Ihre Mutter Ricarda hatte gerade ein Telefongespräch beendet und den Hörer aufgelegt. Adrica drückte mit einem Finger auf ihr Wurstbrot und schaute aus dem Küchenfenster auf den Kalender, der neben dem Kühlschrank hing. Es war der 13. Dezember 2010 und Ricarda war stolz auf ihre Tochter, die seit der ersten Klasse ein besonderes Interesse am Lesen und Schreiben zeigte. Adricas Blick auf den Kalender blieb nicht unbemerkt – es war die dritte Adventswoche.


Sie spülte die Bissen im Mund mit einem Schluck Milch hinunter und wandte sich ihrer Mutter zu. Die Hefte für den Unterricht lagen gut sichtbar auf dem Sideboard, wenn man die Treppe hinunter in den Flur kam. Der Schultag endete selten vor drei Uhr nachmittags. Nicht immer schmeckte das Schulessen und nicht immer waren die Hausaufgaben so, wie man es sich wünschte.


Ricarda hebt das Geschirrtuch von einer Schüssel mit Kuchenteig, daneben liegen vorbereitete Äpfel auf einem Holzbrett. „Mach dir keine Sorgen wegen dem C in Mathe. Ich weiß, dass du dich anstrengst“, sagte sie und schaute auf die grünen Ziffern der Backofenanzeige, die unerbittlich die Zeit anzeigten. „Mir ging es nicht anders, aber das hast du sicher schon von deinen Großeltern gehört.“ Adrica lächelte, ob das eine Bestätigung war oder etwas anderes, darüber sprach sie nie.


„Das mit dem C, daran arbeite ich schon“, Adrica kaute an einem Stück Mandarine. „Habe ich die Aufgabe richtig gelöst? Du hast sie dir doch gestern Abend angesehen.“

„Ja, das habe ich. Und weißt du was?“, antwortete Ricarda. Adrica schüttelte den Kopf und konzentrierte sich auf ihr Sandwich. „Meine Eltern haben mich im Unklaren gelassen, aber deine Großmutter hat mir zugewinkt, als wir zur Schule gegangen sind. Für mich war das ein Zeichen, dass ich ihr eine Extraportion Zuneigung geben sollte, denn ich habe den Wink verstanden.“

Vom Tisch kommt ein „Aha“, dass Ricarda als Zustimmung interpretiert.

„Ich hatte einen wunderschönen Traum“, sagte Adrica und zog damit die Aufmerksamkeit auf sich. „Es fühlte sich so real an. Es war unglaublich.“

„Ich freue mich darauf. Ich hoffe, du hast nach dem Unterricht Zeit, mir davon zu erzählen. Ich weiß, dass du dich sehr gut an Ereignisse erinnern kannst. Besser als ich in deinem Alter und auch heute noch. Einverstanden?“

„Ja, ich freue mich und ich kann dir sagen, dass du das auch unglaublich finden wirst“, sagte Adrica. In den Worten ihrer Tochter hörte Ricarda etwas Verborgenes, etwas, das sie selbst weit in die Vergangenheit zurückführte.


Adrica verließ das Haus und machte sich auf den Weg zur Schule. Neben dem Pausenbrot trug sie eine orangefarbene Plastikdose mit Obststücken. Wie jeden Tag traf sie sich mit ihren Schulfreundinnen, was den gemeinsamen Weg und die Gespräche über Hausaufgaben und das Leben in der Schule betraf.


Zu Hause


Ricarda knetete den Teig und legte ihn in eine Form, die sie mit Apfelstücken belegte. Gleich würde sie die Form in den vorgeheizten Ofen schieben. Erinnerungen aus der Vergangenheit drängten sich in ihre Gedanken und mischten sich mit den alltäglichen Hausarbeiten und der Umgebung. In den nächsten fünfzig Minuten hatte sie Zeit, die Wäsche zu waschen, und der Kuchen konnte nicht anbrennen – dafür sorgte die Automatik des Ofens.


Ricarda notierte viele Ereignisse, die ihre Gedanken beherrschten. Gerade jetzt in der Adventszeit wäre Adrica ein Christkind geworden, aber sie entschied sich, früher auf die Welt zu kommen. Der Wendepunkt in ihrem Leben war die Begegnung mit Carlos. Oft versuchte Ricarda herauszufinden, ob dies zu den Höhen oder Tiefen ihres Lebens gehörte. Carlos war Verkäufer in einem Imbisswagen und arbeitete für einen kleinen Familienbetrieb, um sein erstes Geld zu verdienen. Es war kein schnelles Kennenlernen. An einem regnerischen Frühlingstag ging ihr flüchtiges ‚Hallo‘ über eine einfache Begrüßung hinaus.


In ihrem kleinen Büro setzte sich Ricarda an den Schreibtisch, schaltete ihr Notebook ein und überprüfte die Verbindungskabel von DSL, externem Datenspeicher und Multifunktionsdrucker. Sie hatte noch Zeit, bis Conrad, der Sohn ihres Chefs, ihr Akten aus der Kanzlei zur Bearbeitung brachte. Wieder dachte sie an ihre Studienzeit und an Carlos. Sie öffnete eine Schublade, warf einen Blick in den Flur und wandte sich dann dem Fenster zu. Der Laptop lag bereit, musste aber noch warten, weil sein Benutzer erst ein Fotoalbum auf den Tisch legte. Langsam schob Ricarda das Blatt zur Seite und berührte vorsichtig die Bilder, Erinnerungen an schöne Momente in ihrem Leben, wie diesen, der gut dreizehn Jahre alt war.


~ In Erinnerungen ~


Im Licht der untergehenden Sonne sah Ricarda Carlos. Sie hatten sich vor dem Steakhaus verabredet, an einem der seltenen Tage, an denen sie sich in Rock, Bluse und Weste kleidete, nur um im Gerichtssaal als Beisitzerin von Rechtsanwalt Walker, ihrem Chef und einem sehr guten Freund ihrer Familie, aufzutreten.

Sie blieb stehen, während die Sonne langsam hinter dem Horizont verschwand und Carlos ebenso langsam eine junge Frau, die ihn begleitete, zu sich zog. Ricarda wusste nicht, was sie in diesem Moment tun sollte. Die wichtige Nachricht, die sie für Carlos hatte, hielt sie nicht davon ab, den Heimweg anzutreten. Hatte sie das Richtige getan? Vielleicht war alles nur ... Nein, weiter kamen ihre Gedanken nicht.

Als das Telefon klingelte, wusste sie nicht, was sie sagen sollte. Sie riss sich zusammen, aber es fiel ihr nicht leicht, mit tränenerstickter Stimme zu sprechen. Ihre Entschuldigung war formlos, vor Gericht wäre sie nicht glaubwürdig gewesen – warum dachte sie gerade jetzt an ihr Studium? Vom anderen Ende der Leitung hörte sie nur die Frage nach einem neuen Termin.

Nachdem Ricarda das Gespräch beendet hatte, legte sie schluchzend den Hörer auf die Station. Die Nachricht war zu wichtig und sie beschloss, den nächsten Termin wahrzunehmen. Sie wusste noch nicht, ob sie Carlos von der anderen Frau erzählen sollte.

Ricarda blickte auf das Display ihres Notebooks.

Carlos war nicht zum nächsten Treffen erschienen, davon war Ricarda überzeugt. Sie wollte es wissen und sprach mit dem Besitzer des Steakhauses. Wieder war diese Frau im Spiel und von ausgetauschten Zärtlichkeiten war die Rede. Ricarda bestellt ein extra großes Steak mit Bratkartoffeln und ein großes Glas Cola.

Carlos meldete sich nicht mehr und die Nachricht, die für ihn bestimmt war, erfüllte Ricardas Mutterglück in jeder Hinsicht.


Ein kurzes, dreimaliges Klingeln holte Ricarda in die Gegenwart zurück. Lächeln und Tränen wechselten sich auf ihrem Gesicht ab.

Ricarda begrüßte den jungen Mann, der vor der Haustür stand: „Es ist noch früh, komm rein. Entschuldige, ich muss nach dem Kuchen sehen, er müsste längst fertig sein. Wie läuft es im Büro?“

„Danke für die Nachfrage, aber es gibt Tage, die sind wirklich ... hm, der Kuchen riecht gut. Was wollte ich sagen? Ach ja, die neue Verteidigung, das ist ein harter Brocken. Ben war sich sicher, aber jetzt kommen ihm Zweifel. Am Anfang waren die Beweise eindeutig, aber das kannst du ja selbst in den Akten nachlesen. Wie geht es Adrica in der Schule?“

Nachdem Ricarda den Kuchen auf ein Holzbrett gestellt hat, zieht sie ihre Handschuhe aus und füllt zwei Gläser mit Cola.

„Ich habe noch zwei belegte Brote, wenn du willst?“

„Danke, ich hatte noch keine Gelegenheit“, sagte Conrad und griff nach dem Brot. „Ich habe Ben noch nie so verwirrt gesehen.“ Mit dem Cola–Glas in der Hand stellte er sich vor die Terrassentür. Ricarda drückte einen Knopf an der Spülmaschine und stand wenige Augenblicke später neben ihrem Besucher.

„Ich sehe mir das mal an“, sagte sie und warf einen Blick auf die Akten, die auf dem Tisch lagen. „Habt ihr Fotos?“

Conrad nickte und trank einen Schluck aus seinem Glas.

„Viel mehr, Videoaufnahmen, Kopien von Überwachungskameras.“

„Ich schaue mir das mal an und richte Ben meine Grüße aus. Kopf hoch, alles wird gut. Weißt du, zusammen sind wir ein gutes Team. Zu deiner Frage: Adrica macht sich gut in der Schule. Bisher hat sie in Mathe und Sport ein C, aber das wird noch besser. Willst du mal was sehen?“

Sie bat Conrad, der einen Blick auf seine Armbanduhr warf, in ihr kleines Büro.

„Wenn es nicht zu lange dauert.“

„Nein, bestimmt nicht“, sagt sie und nimmt einen Schnellhefter aus dem Wandregal. „Das ist von ihr. Sie hat mich gebeten, das, was sie geschrieben hat, im Computer zu speichern. Du hättest ihre leuchtenden Augen sehen sollen, als sie zum ersten Mal ihre kleine Geschichte auf dem Bildschirm gelesen hat. Ich weiß nicht, ob ich ihr ...“

„Sie ist elf und wird in ein paar Tagen zwölf. Unter deiner Aufsicht kann ich es mir vorstellen. Natürlich darf es nicht zu viel Zeit in Anspruch nehmen und die Hausaufgaben müssen natürlich gemacht werden.“

„Du sprichst verständnisvoll“, sagte Conrad, zuckte mit den Schultern und las die letzten Sätze des Heftes. „Das ist gut. Sie hat viel Fantasie, aber sie denkt viel an dich. Die Beschreibung der Haushälterin ist witzig, den Namen hat sie wohl deinetwegen gewählt.“

„Ich weiß es nicht, aber ich kann es mir denken“, antwortete Ricarda mit einem unsicheren Lächeln. „Sie weiß, wie ihre Mutter ist. Ich will dich nicht aufhalten, Conrad, dein Vater erwartet dich in der Kanzlei.“

„Du hast recht, wenn es etwas Wichtiges ist“, erwiderte Conrad und deutete auf das Telefon. Er legte den Hefter neben das Notebook auf den Tisch. „Ich richte es aus. Grüße von uns beiden“, sagte Conrad und ging ein paar Schritte.

„Die Geschichte ist gut, von der ersten Seite an. Lass sie weiter schreiben, ohne sie zu drängen. Ich spreche mit dem alten Muff, dem Verleger, der auch unsere Formulare druckt. Er ist besessen von Fantasy– Geschichten.“

„Danke, Conrad“, sagte Ricarda und schloss die Haustür hinter sich. Zurück in ihrem Büro nahm sie den Ordner vom Tisch, schlug ihn auf und las Adricas Geschichte.

„Gar nicht so schlecht“, dachte sie und legte den Hefter neben das Notebook. Sie streckte sich und legte die Hände auf den Tisch. Das Telefon unterbrach die Spannung, die sich zwischen Ricarda und Adrica aufgebaut hatte.

„Ich komme sofort“, bestätigte sie dem Anrufer besorgt. Signaltöne aus dem Keller signalisierten, dass das Waschprogramm der Maschine beendet war. Der Laptop fuhr das System herunter und schaltete den externen Datenspeicher aus. Nach einem kurzen Blick in die Küche verließ Ricarda das Haus.

Kapitel 02 - Im Krankenhaus


„Es ist wirklich nichts Ernstes, gehen Sie zu ihr“, sagte die Ärztin und schaute durch die Glasscheibe der Tür. Dann wurde sie nachdenklich. „Ich habe eine Bitte, eine ungewöhnliche Bitte. Eigentlich dürfte ich das nicht“, sie schaute wieder durch das Fenster.

„Gibt es Schwierigkeiten?“, wollte Ricarda wissen.

Die Ärztin schüttelte den Kopf. „Nicht mit ihr. Kann ich Sie kurz sprechen? Sagen wir, in meinem Zimmer.“

„Ja. Natürlich. Wir kennen uns seit Adricas Geburt, Sie wirken besorgt.“

„Danke, dass Sie sich bereit erklärt haben. Wir werden darüber reden.“


Im Arztzimmer


Es war ein aufwühlendes Gespräch, das die Ärztin mit Ricarda führte. „Das ist im Großen und Ganzen alles, was ich sagen kann“, sagte die Ärztin und klappte die Krankenakte zu. Sie stellte sich rücklings an den Tisch und blickte durch das Fenster auf den Flur. Ihre Gedanken führten sie mehr als dreizehn Jahre zurück. „Ist das schon so lange her?“, flüsterte sie und wandte sich Ricarda zu. „Sie haben sich vor langer Zeit registrieren lassen. So eine Entscheidung muss gut überlegt sein, das braucht Bedenkzeit. Zeit, die der Patient nicht hat. Ich kann nur eines tun ... Nein, falsch. Ich weiß nur, wenn der Patient Glück hat, erlebt er Weihnachten in der Klinik. Wenn er besonders viel Glück hat, erlebt er noch ein paar Tage im neuen Jahr. Das ist schon viel“, die Ärztin dreht die Krankenakte auf dem Tisch und zögert einen Moment.

„Danke für alles. Eine Frage: Kann ich den Patienten sehen?“, fragte Ricarda und warf einen Blick in die Akte. Ein Gefühl zwischen Kälte und Wärme durchfuhr sie, ein Kribbeln, das sie wie kleine Stiche unter der Haut spürte.


Auf der Station


Das Kribbeln ließ sie vor der großen Glasscheibe des Krankenzimmers erstarren. Dort stand sie, mehr als zwölf Jahre später erkannte sie die Frau an seiner Seite. Ihr Blick fiel auch auf das Mädchen, das mit dem Rücken zu ihr am Fußende des Bettes stand. Was sollte sie jetzt tun? Alles war ihr bekannt, die Stimmen, die sich ihrer bemächtigten, überlagerten die Bilder der Vergangenheit und schoben sich wie ein Traum in die Gegenwart. Ricarda bemerkte nicht, dass sich die Laborantin neben die Ärztin gestellt hatte.

„Von Phoenix ist auch nichts Brauchbares dabei“, sagte die Laborantin und atmete tief durch. „Wenn wir nicht ...“

„Ich weiß es und du weißt es“, unterbrach die Ärztin sie und wandte sich Ricarda zu. „Das ist meine Schwester. Sie wollte schon als Kind in die Medizin gehen. Sie hat uns damals schon mit ihren Experimenten aus dem Chemiebaukasten beeindruckt. Die Wissenschaft ist noch nicht so weit, um diese Krankheit zu bekämpfen.“

„Wenn wir nicht bald einen Spender finden ... Du weißt, wie viel Zeit wir haben.“

Ricarda lauschte dem Gespräch der Schwestern. Wie sollte sie sich entscheiden? Es war eine große Verantwortung. Sie sah das Mädchen an. War es wirklich das, was sie dachte? Die nächsten Worte legten sich wie packende Hände um Ricardas Hals.


„Er verbringt viel Zeit mit seiner Familie“, sagte die Laborantin und wischte sich die Tränen aus den Augen. „Als er von seiner Krankheit erfuhr, war das wie ein Schlag für ihn.“

Die Ärztin übernahm das Gespräch.

„Das muss jetzt fast zwölf Jahre her sein. Er hat seinen Job aufgegeben und ist mit seiner Familie nach Santa Barbara gezogen, wo auch seine Eltern leben. Vor ein paar Tagen sind sie nach Santa Maria zurückgekehrt. Ich kann die Städte nicht mehr aufzählen, in denen sie ... Entschuldigen Sie bitte“, wendet sich die Ärztin an Ricarda. „Die Familie des Patienten ist eng mit unserer befreundet. Einmal, als er noch Essen aus einem Imbisswagen verkaufte, erzählte er, dass er den Traum seines Lebens getroffen habe. Aber vorher ... Das wollen Sie sicher nicht wissen“, die Ärztin sah Ricarda an. „Ich könnte sie mit dieser Frau vergleichen. Er hatte seinen Traum genau beschrieben, wollte die junge Frau nicht mit seinen Sorgen belasten. Er ist froh, dass er bei seiner Familie leben kann.“


Ricarda fühlte sich wie von tausend Nadeln gestochen. Viele Gedanken schossen ihr durch den Kopf, hielten kurz in Form von Erinnerungsbildern inne, flogen weiter und endeten vor der Tür der Pfarrkirche.

Langsam ging sie den Gang entlang. Adricas Stimme drang an ihr Ohr, nicht aus diesem Raum, sondern das, was sie am Morgen beiläufig erwähnt hatte.

‚Ich hatte einen wunderbaren Traum. Es war so nah, so real. Es war unglaublich.‘

„Adrica muss noch ein bisschen warten. Schwester Bea bringt sie zum Röntgen und dann bekommt sie einen Verband“, hatte die Ärztin gesagt.


Nachdem sie die Tür geöffnet hatte, atmete Ricarda tief durch und lächelte ihre Tochter an.

Adrica reagierte nicht wie sonst. Sie schaute auf ihr Bein. Schuldgefühle? Warum? Ihre Mutter schloss die Tür. Noch immer war sie in Gedanken bei Carlos und der jungen Frau.


„Ist alles in Ordnung? Wie ist das passiert? Das kannst du mir später erzählen. Ich will nur wissen, ob es dir gut geht“, sagte Ricarda besorgt und drückte Adricas Knie.

„Ja, es geht mir schon besser“, antwortete Adrica und seufzte.

„Die Hose hat viel abgekriegt, nach dem Waschen sieht sie aus wie neu. Ich sehe nichts, was kaputt ist. Aber jetzt erzähl mir erst mal von deinem Traum. Ich bin so gespannt auf eine unglaubliche Geschichte. Das wird uns beiden guttun“, sagt Ricarda und dreht ihre Uhr am Handgelenk.

„Wir können noch nicht gehen“, flüsterte Adrica leise.

„Gut, ich möchte noch einmal mit deiner Ärztin sprechen. Aber erzähl mir jetzt von deinem Traum. Ich sehe, dass du wieder lächelst“, ermunterte Ricarda sie.

„Da gibt es nicht viel zu erzählen. Es war nur komisch, dass ich heute tatsächlich hier im Krankenhaus bin. Deshalb wollte ich dich nicht beunruhigen“, antwortete Adrica und schwieg einen Moment. „Das Unglaubliche war, dass ich hier auf dem Flur einen Fremden getroffen habe. Er sah unheimlich aus und bat mich um Hilfe.“

„Unheimlich? Was meinst du mit unheimlich?“, fragte Ricarda neugierig.

„Ich weiß nicht. Er hatte ein weißes Nachthemd an und seine Augen waren dunkel umrandet. Dann hat mich eine Ärztin angesprochen und dann bin ich aufgewacht“, erklärte Adrica.

Ricarda wusste, dass der Traum ihrer Tochter der Traum von Carlos war.

„Träume sind nicht immer nur unerfüllte Wünsche. Träume können auch unheimlich sein oder wie ein Märchen wahr werden. Oft träumen wir von Dingen, die wir uns wünschen, oder von Menschen, mit denen wir befreundet sein möchten. Es gibt so viele Dinge, die wir uns selbst erfüllen wollen oder die andere uns erfüllen“, sagte Ricarda und blickte kurz zur Tür. Ihre Gedanken erinnerten sie daran, dass Adrica ihr größter Wunsch war, den sie sich nur mit Carlos‘ Hilfe erfüllen konnte. Jetzt lag er hier und niemand wusste, ob er Weihnachten überleben oder das neue Jahr erleben würde. Ein Karussell aus Liebe, Schmerz, Verantwortung und vielen anderen Gefühlen drehte sich in ihrem Kopf.

„Möchtest du einen Kakao? Im Besucherraum stehen Automaten“, schlug Ricarda vor.

„Kann ich auch einen Schokoriegel haben?“, fragte Adrica neugierig.

Das Lächeln ihrer Mutter war für Adrica ein klares Ja, zumindest für den Teil ihrer Frage.

„Du hattest übrigens recht mit den Hausaufgaben. Also einen Kakao und einen Schokoriegel. Ich muss sowieso mein Bein bewegen“, sagte Adrica.

„Was meinst du mit Hausaufgaben?“, fragte Ricarda und sah auf den Fuß, der den Boden berührte.

„Hast du es vergessen? Denk an Oma“, erinnerte Ricarda sie und suchte in ihrem Portemonnaie nach Münzen für die Automaten.

„Wenn du fertig bist, spreche ich mit deiner Ärztin und warte in der Cafeteria auf dich, okay?“, schlug Ricarda vor.

Adrica nickte und folgte Schwester Bea, die gerade den Hörer aufgelegt hatte.


Im Arztzimmer


„Vielen Dank, dass Sie sich noch Zeit genommen haben. Ich würde vorschlagen, Adrica bis zum Wochenende von der Schule zu befreien“, sagte Ricarda.

„Wenn das möglich ist, werde ich das machen“, erklärte die Ärztin. „Sind Sie sicher, dass Sie das machen wollen? Ein Gespräch dauert normalerweise nicht länger als zwanzig Minuten.“

„Ich werde mit Adrica sprechen. Sie ist ein kluges Mädchen und lernt schnell, wenn sie muss. Sie weiß auch schnell, was wichtig ist und was nicht. Ihre Großeltern wohnen nebenan, da ist für Aufsicht gesorgt“, erklärt Ricarda.


Nach dem Gespräch im Besucherraum


Ricarda wirft Münzen in den Automaten, drückt auf den Knopf und der Becher fällt in die Halterung. Aus dem Automaten drang das Geräusch einer Kaffeemühle. Sie blickte zum Tisch, auf dem die Zeitschrift lag, in der Adrica geblättert hatte. Der Besucherraum war leer. Hinweisschilder an der Wand wiesen den Weg zur Cafeteria. Ricarda schüttelte den Kopf und sah sich rasch um. Zum Glück beobachtete sie niemand.

Gedankenverloren blätterte sie in dem Magazin. Die historischen Aufnahmen der Stadt fesselten ihre Aufmerksamkeit. Was war heute noch von der alten Central City zu sehen, die 1885 in Santa Maria umbenannt worden war? Selbst die Flagge vor dem Rathaus hatte weniger Sterne als heute. Woher hatte Adrica die Ideen für ihre Geschichte? Ricarda erinnerte sich an die Randnotizen, die Adrica über den Verlauf der Geschichte gemacht hatte. Es war erstaunlich, wie ein fast zwölfjähriges Mädchen einen roten Faden in ihren Gedanken hatte.


Zuerst ging es um die Geschehnisse im Krankenhaus, dann um die Zukunft und schließlich um Weihnachten. Die Zeit sprang Jahre zurück und die Ereignisse von damals und heute ergaben zusammen ein Bild der Wahrheit.

Sie erinnerte sich an ein Zitat, das jemand im Büro erwähnt hatte: „Ich glaube nichts, was ich höre, und nur die Hälfte von dem, was ich sehe, bevor ich mich nicht selbst überzeugt habe.“ Hatte sie sich von dem, was sie sah, überzeugt? Nein.


Ein unsichtbares Ich setzte sich neben Ricarda und starrte wie sie auf die Seite der Zeitschrift. Auf dem zurückgelehnten Stuhl überlegte sie, welches der abgebildeten Angebote wohl am besten zu ihrer Tochter passen würde. Ja, Adrica sollte zu Weihnachten einen Computer bekommen. Das wäre auch ein Zugeständnis an Bens Vorschlag, den ständigen Geschenkwünsche im Büro ein Ende zu setzen. „Du tust das Richtige“, flüsterte eine Stimme. Ricarda lächelte nur herausfordernd und antwortete leise: „Natürlich mache ich es richtig.“ Ein unausgesprochener Seufzer hatte nur zwei Worte: Oh Mann. PC oder Notebook? Conrad musste helfen.


Ricarda war kurz eingeschlafen.


Auf dem Flur wies eine Schwester einem suchenden Mädchen den Weg in die Cafeteria. „Mama möchte einen Kaffee und ich einen Kakao“, bedankte sich das Mädchen bei der Schwester. Ricardas linke Hand ließ die Zeitschrift, die sie umklammert hielt, über ihre Oberschenkel gleiten, als sie die Augen öffnete. Beim Geräusch einer fallenden Münze blickte sie zum Getränkeautomaten und unterdrückte ein aufkommendes Gefühl. „So ein Mist. Warum geht das nicht?“, fluchte das Mädchen leise und nahm die zurückgewiesene Münze aus dem Rückgabefach.


Ricarda legte die Zeitung aufgeschlagen auf den Tisch. „Warte, ich helfe dir“, sagte sie und griff in ihre Jackentasche, denn Kleingeld hatte sie oft dabei. „Das passiert schon mal, vor allem mit abgenutzten oder ganz neuen Münzen.“

Wie zuvor am Fenster im Flur beobachtete sie das Mädchen von hinten. Ein Schauer durchlief ihren Körper, als sie sich vom Automaten entfernte. Eine Doppelgängerin ihrer Tochter stand vor ihr. „Entschuldigung, sind Sie Adricas Mama?“, fragte das Mädchen.

„Ich bin Adricas Mama“, antwortete Ricarda, noch ganz unter Schock und mit einem freundlichen Gesichtsausdruck.

„Es muss seltsam für Sie sein, Ihre Tochter mit einer Doppelgängerin zu sehen“, begann Daria schüchtern das Gespräch. „Ich musste mich auch erst daran gewöhnen, dass sie aussieht wie ich. Und richtig komisch wird es, wenn ich mich als Neue in der Klasse vorstellen muss. Heute ging das nicht. Ich weiß nicht, wo sie ist? Wir wollten uns hier treffen.

Ricarda steckte eine Dollarmünze in den Automaten, das Mädchen drückte die Auswahltaste und stellte den Becher auf den Tisch. Für den Kakao wiederholte sich der Vorgang. „Danke für die Hilfe“, sagte das Mädchen.

„Wenn ich helfen kann, tue ich das“, antwortete Ricarda.

„Hier ist der Dollar. Ich finde nichts Besonderes daran“, sagte das Mädchen und interessierte sich mehr für die Werbung in der Zeitschrift. „Laptops sind nicht schlecht. PCs kann man aufrüsten. Ich kann mir vorstellen, warum meine Eltern mich gefragt haben. Ich muss los, sonst wird der Kaffee kalt. Und danke noch mal.“

„Schon gut“, erwiderte Ricarda und lächelte das Mädchen an. „Es ist schön, dich kennenzulernen. Adrica ist in deinem Alter und hat sich heute verletzt, nichts Ernstes.“

„Das beruhigt mich“, sagte das Mädchen erleichtert. „Es war Adricas Fahrrad, jedenfalls sind wir zusammengestoßen und sie ist unglücklich gestürzt. Ich würde Adrica gerne in den nächsten Tagen besuchen, wenn das möglich ist?“

„Ja, sicher, wenn deine Eltern es erlauben“, antwortete Ricarda.

„Schon allein wegen der Hausaufgaben, die sie bekommen muss. Ich glaube, sie kann diese Woche nicht zur Schule gehen. Oh je, ich darf nicht an morgen denken. Mein erster richtiger Tag an der neuen Schule.“

„Danke, das ist sehr nett von dir. Hier ist meine Karte, da steht die Adresse drauf und die Telefonnummern“, sagte Ricarda und reichte Daria die Karte.


Daria schaute darauf und sah Ricarda an. Es schien, als wolle sie etwas sagen, aber sie steckte die Karte in ihre Hosentasche. ‚Das ist mehr als ein Zufall‘, dachte Ricarda und Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Sie hatte sich nicht getraut, das Mädchen nach ihrer Familie zu fragen, und als Anwältin war sie nicht vor Gericht.

In diese angespannte Situation hinein ertönte eine Stimme in der Cafeteria: „Frau Alejandro! Mein Name ist Daria!“


Kurz darauf in der Cafeteria


Adrica betrat die Cafeteria und drückte auf ihren Verband. Sie nahm die verschiedenen Gerüche wahr, unter anderem den von Kaffee und Kakao. Auf einem Tisch lagen Zeitschriften, eine Tageszeitung und ein Dollar, mit dem sie sich am Getränkeautomaten einen Kakao kaufte. Sie stellte die Becher auf den Tisch. Zum Erstaunen ihrer Mutter wunderte sie sich, warum die Münze bei Daria nicht funktionierte. Ihre Augen wanderten über die bunten Titelseiten, sie nahm eine Zeitschrift und blätterte darin. Bei den historischen Fotos ihrer Stadt verweilte sie länger und schaute zwischendurch an die Decke.


„Jetzt kann ich mir vorstellen, wie Pedro und Shirah hier gelebt haben“, flüsterte sie leise.

„Pedro, Shirah?“

„Ja, du weißt schon, die Hauptpersonen meiner Geschichte. Übrigens, wann darf ich mal in deinem Laptop schreiben? Ich habe schon einiges aufgeschrieben.“

„Am Samstag. Du kannst auch den Computer benutzen, der Bildschirm ist größer. Ich habe Conrad deine Geschichte zum Lesen gegeben. Bist du nicht böse darüber?“

„Nein. Conrad Walker? Der Sohn deines Chefs?“

„Ja, genau. Die Familien kommen am Wochenende zum Kaffee, freust du dich? Jedenfalls ist er beeindruckt von deinem Talent und meint, ich soll dich so gut wie möglich unterstützen.“

„Dann gibt es wieder deinen berühmten Apfelkuchen.“


Adrica blätterte zur nächsten Seite und bewegte ihre Beine. Ihr Blick wanderte durch die fast leere Cafeteria. In Adricas Augen lag ein sehnsüchtiger Ausdruck, den ihre Mutter nicht übersehen konnte. Dieser Blick sollte nicht sehnsüchtig bleiben, Ricarda erinnerte sich an Conrad und seine Meinung dazu.

„Bist du traurig?“, legte Adrica die Zeitschrift auf ihre Beine. „Ich spüre es. Seit wir über meinen Traum gesprochen haben, was ist, mit dir?“

„Es gibt etwas, das auf deinen Traum hindeuten könnte", versuchte Ricarda ihrer Tochter zu erklären.

„Macht dich das traurig?“ Adrica blickte auf ihren Verband.

„Nicht direkt. Ich würde es dir gerne erklären, aber ich weiß nicht, wo ich anfangen soll“, jetzt musste Ricarda ins Detail gehen und nach den richtigen Worten suchen, aber Adrica wollte das nicht.

„Du kannst damit warten, bis du zu Hause bist.“


„Ich erkläre es dir lieber hier. Es geht um den Mann aus deinem Traum“, Ricarda atmete tief durch. „Die Ärztin hat mir von einem Patienten erzählt, der ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Zuerst schien es mir nicht wichtig zu sein. Sie bat mich um Verschwiegenheit, aber aus der Krankenakte geht hervor, dass der Mann und ich ... Wie soll ich das erklären?“

„Du meinst, dass der Mann und du etwas gemeinsam haben?“

„Ja, das könnte man so sagen", der erhöhte Blutdruck, das spürbare Herzklopfen im Nacken und die veränderten Körpertemperaturen widersprachen dem, was Ricarda ihrer Tochter erklären konnte. Sie war auf sich allein gestellt, musste ihr bisheriges Leben als alleinerziehende Mutter weiterführen oder eine unglaubliche Chance ergreifen. War Adricas Traum ein Hinweis? Eine Tür, die vor Jahren zugeschlagen worden war und nun einen Spalt offen stand? Sie wusste eine Antwort auf Adricas Frage. „Ich habe vor langer Zeit einen Spendertest gemacht. Aufgrund meiner Werte könnte ich dem Patienten helfen.“

„Der Mann in meinem Traum hat mich um Hilfe gebeten“, Adrica schob die Oberlippe über die Unterlippe, klappte die Zeitschrift zu, legte sie auf den Tisch und nahm einen Schluck aus ihrem Becher. „Du könntest dem Mann helfen? Wie denn?“

„Da habe ich meine eigenen Vorstellungen. Deine Ärztin könnte es dir besser erklären, damit du es auch verstehst.“

Adrica fuhr sich mit dem rechten Zeigefinger unter die Nase und drückte erneut die Oberlippe gegen die Unterlippe. „Ich fühle mich, als hätte mich etwas gepackt. Seit wir darüber gesprochen haben, habe ich ein seltsames Gefühl, das ich nicht beschreiben kann.“

„Mir geht es genauso.“

„Mama, wenn ich nach Hause komme, erzähle ich dir etwas über Daria. Sie ist die Neue in meiner Klasse.“

Kapitel 03 - Der Krankenbesuch


Adrica war in ihrem Zimmer und ordnete die Bücher und Hefte auf dem Sideboard, während ihre Mutter mit den Walkers telefonierte, die noch in der Kanzlei waren.

„Sie ist so tapfer“, sagte Ricarda und schaute aus dem Küchenfenster in den wolkenverhangenen Himmel. „Ach ja, du hast ja keine Ahnung. Ich rufe eigentlich an, um mit jemandem zu sprechen. Es ist wichtig für mich. Kannst du kommen? Bring deine Frau und Conrad mit“, sagte sie erleichtert und legte den Hörer auf.

„Ben, Cathrin und Conrad kommen vor dem Abendessen. Ich hoffe, die Brötchen reichen. Ich habe keine Frischen mehr“, sagte sie.

Ricarda öffnete die Packung mit den Aufbackbrötchen, schob sie in den Ofen und stellte ein Programm ein.

Die Zeit verging und die Besucher, Cathrin und Ben, wurden begrüßt.


Ben Walker hatte Cathrin Thomas an der Universität kennengelernt. Die junge Frau mit den dunkelblonden Haaren und den tiefgrauen Augen wollte schon immer Jura studieren. Lange Zeit war sie unsicher gewesen, denn wenn Verdächtige aufgrund des Zwangscharakters polizeilicher Vernehmungen ein Geständnis ablegten, war es für die Verteidigung schwierig, die Unschuld oder berechtigte Zweifel an der Schuld ihres Mandanten zu beweisen. Nach der Anerkennung der Miranda–Regel änderte Cathrin ihre Meinung und schrieb sich für ein Jurastudium an der Universität ein. Ben Walker hingegen entschied sich, die nächste Generation von Anwälten in seiner Familie zu vertreten. Der junge Mann mit den braunen Haaren und den hellbraunen Augen ermöglichte es ihnen, auch außerhalb des Campus zusammen zu leben und zu lernen. Nicht nur auf Fotos machten sie eine gute Figur, beide waren nicht größer als 170 cm, was später nur von ihrem Sohn um fünf Zentimeter übertroffen wurde. Conrad trug seine Haare gern lang, fast schulterlang. Hinter der Sonnenbrille, die er oft trug, verbargen sich braune Augen. Er war Jurist und hatte sich auf Familienrecht spezialisiert. Der Umgangston in der Familie war locker, alle sprachen sich mit dem Vornamen an. Conrad nannte die Mutter Cathrin und Ben den Vater. Zusammen mit Enrique Alejandro, dem Vater von Ricarda, übernahm er als Privatdetektiv die Beweissicherung.


Im Wohnzimmer herrschte Stille, bis Adrica erzählte, was am Morgen auf dem Schulweg passiert war.

„Wo soll ich anfangen? Es begann vor dem Haus der Millers. Die Kette sprang ab, Mathew half mir und ich schaffte es bis zur Schule. Dort ist es wieder passiert“, sagt sie und tastet ihren Verband ab. „Der Rücktritt hat nicht funktioniert, ich habe zu stark am vorderen Bremszug gezogen. Dann bin ich gegen die offene Tür des Sekretariats geknallt und auf dem Rasen gelandet. Daria stand mit Mister Zeeman, dem Hausmeister meiner Schule, hinter der offenen Tür und wurde von meinem Fahrrad an der Schulter getroffen und in seine Arme geschleudert. Beide halfen mir. Daria reichte mir ihre Hand und versuchte, mich aufzurichten. Unglaublich, aber wahr, sie sieht mir sehr ähnlich“, fährt Adrica fort.

„Das kann ich nur bestätigen“, sagt Ricarda und erzählt von ihrer eigenen Begegnung mit Daria. „Sie kommt übrigens morgen und bringt dir deine Hausaufgaben. Und zwar die ganze Woche. Conrad, holst du morgen das Fahrrad ab? Melde dich bei Mister Zeeman, dem Hausmeister.“

„Mach ich. Aber vielleicht können wir das zusammen machen. Die Bestellungen für die Kanzlei müssen im Town–Center abgeholt werden. Dann können wir das Fahrrad abholen und zu Daniel bringen. Ich schaffe das nicht, es ist alles so kompliziert geworden“, sagt Conrad.

„Und Adrica? Ihre Großeltern haben einen Fall in Las Vegas übernommen und kommen nicht in Frage. Sie muss ihr Bein schonen und ist nicht umsonst von der Schule befreit“, sagt Ricarda.

„Man ist ja nicht tagelang weg. Das schaffe ich schon allein, auch nur für ein paar Stunden“, drängte Adrica.


Nachdem Cathrin den Tee umgerührt hat, macht sie Adrica einen Vorschlag: „Ich komme morgen früh mit Conrad. Er geht mit deiner Mutter einkaufen und wir beide warten und machen das Mittagessen. Was hältst du davon?“

„Hackbraten mit Gemüse, Kartoffelbrei und Pudding? Mein Lieblingsessen“, antwortete Adrica und wartete auf die Bestätigung ihres Menüvorschlags.

„Hackbraten. Ich weiß nicht, was deine Mutter im Kühlschrank hat“, sagte Cathrin.

„Im Gefrierfach ist Hackfleisch, das muss ich nur rausholen.“

„Der letzte Hackbraten, den wir bei euch gegessen haben, war besonders lecker. War das ein neues Rezept?“

„Das wirst du nicht glauben, warte mal“, sagte Ricarda und suchte etwas in einem Schrank. „Hier, das ist aus diesem Tagebuch. Das haben wir auf einem Garagenflohmarkt gekauft. Unsere Nachbarin Hannah, die ihr ja kennt, hat uns beim Lesen geholfen, weil es in Sütterlin geschrieben war.“

„Auf solchen Flohmärkten findet man oft kleine Schätze“, sagte Cathrin, als sie das Buch von Ricarda bekam. Sie las darin: „Ehrlich gesagt, haben wir anders schreiben gelernt. Was steht denn da neben den Rezepten?“

„Hannah hat alles in ein neues Buch abgeschrieben. Wie du siehst, ist es nicht viel. Daraus geht hervor, dass die junge Frau, um die es geht, die Tochter des Gemeindegründers war. Das war vor über hundert Jahren. Soweit ich weiß, war das 1881. Nachdem Adrica alles gelesen hatte, nahm sie die Tagebuchaufzeichnungen als Vorlage und schrieb eine Fantasiegeschichte. Conrad hat alles gelesen, was sie bisher geschrieben hat“.

Cathrin nahm das Buch in die Hand. „Kennst du den Namen des Ortes, an dem das passiert ist?“

„Wie war der Name? Ich komme gleich drauf.“

„Kelowna“, bemerkte Adrica. „Siehst du, die Autorin behält den Überblick. Nicht wahr? Dein Lächeln sagt mir alles. Ich hoffe nur, dass Daniel nicht überfordert ist und mit dem Fahrrad zurechtkommt.“

„Ich habe das Fahrrad zu Beginn des Schuljahres bekommen“, sagt Adrica und drückt wieder auf ihren Verband. „Das hätte ich nicht tun sollen.“

„Mein Fahrrad steht im Keller. Wahrscheinlich ist es verstaubt und die Reifen haben keine Luft mehr.“

Cathrin schüttelte den Kopf. „Das ist doch alles Massenproduktion. Ob da überhaupt noch Schläuche in den Reifen sind? Die Gangschaltung und der Dynamo sind irgendwie alle im Hinterrad eingebaut. Ich kann verstehen, dass Conrad damit überfordert ist. Er kennt sich mit allem aus, was mit PC–Untersuchungen zu tun hat.“

„Das Telefon“, rief Adrica und ihre stille Erwartung erfüllte sich. Glücklicherweise befand sich Las Vegas in derselben Zeitzone. „Nein, Oma, du brauchst dir keine Sorgen zu machen, alles ist in Ordnung. Das freut mich. Ich gebe dir Mama. Oma, sie will dir etwas sagen. Es geht um ihren Fall.“

Zuletzt war Ben an der Reihe und sprach mit Enrique, der nun am anderen Ende der Leitung war.

Adrica freute sich über den Besuch, der zwei Stunden vor dem Schlafengehen kam: „Gute Nacht. Ich freue mich schon auf nächsten Samstag. Mama hat gesagt, ihr kommt zum Kaffee.“

„Du hast vergessen, zu sagen, dass du meinen Computer benutzen darfst. Aber schreib nur drei oder vier Seiten ab, sonst wird es zu viel“, sagte sie, hoffte, dass ihre Mutter die falsche Betonung nicht bemerkte, und rutschte vom Sessel. „Gute Nacht, wir sehen uns am Wochenende.“ Adrica winkte von der zweiten Stufe der Treppe.


„Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Soll ich noch etwas zu trinken bringen?“, fragte sie und stellte das Abendbrotgeschirr auf ein Tablett.

„Ich helfe dir“, sagte Cathrin und stand auf, um Ricarda durch die Schwingtür zu folgen. „Es geht nicht nur um Adricas Verletzung. Ich kenne dich schon lange.“

Ricarda räumte das Geschirr in den Geschirrspüler, gab den Reiniger dazu und schaltete das nützliche Küchengerät ein.

„Da ist etwas“, fuhr sie fort. Auf dem Tablett standen Gläser, Limonadenflaschen und eine Schüssel mit selbstgebackenen Keksen. „Du wirst es nicht glauben, aber Ereignisse aus meiner Vergangenheit sind mir heute wieder begegnet. So unglaublich das klingt.“

„Ich bin gespannt und Bill sicher auch“, sagte Cathrin.

Ricarda nickte und stellte das Tablett auf den Tisch. Jeder schenkte sich ein.

Ricarda erzählte gerade in groben Zügen, wie der Tag verlaufen war, als Bill sie unterbrach.

„Also, Adricas Vater“, sagte er, nahm einen Keks aus der Schale und legte ihn auf den Tisch. „Es geht nicht nur um dich, sondern auch um Adrica. Damit meine ich nicht nur das medizinische Problem. Die Behandlung ist hervorragend. Ich sage nicht, dass sie immer zum Erfolg führen.“

„Ja. Du kannst dir gar nicht vorstellen, welche Gefühle in mir aufkamen, nachdem die Ärztin mit mir gesprochen hatte. Andere Gefühle überkamen mich, als ich mit einer Laborantin sprach. Eine Frau, eine Tochter und der Mann hinter der Glasscheibe“, senkte Ricarda den Kopf. „Daria ist so alt wie Adrica. Ich konnte der Kleinen im Besucherraum helfen.“

„Wie lange hat der junge Mann noch?“, fragte Bill.

„Ich weiß es nicht, Cathrin. Die Ärztin hat gesagt, bis zum Ende des Jahres. Vielleicht auch darüber hinaus, wenn er sehr viel Glück hat.“

„Bist du damit einverstanden?“

„Bill, deshalb wollte ich mit euch reden. Ja, ich bin einverstanden. Adrica wollte mir schon heute Morgen von einem seltsamen Traum erzählen. Sie wusste nicht, wie weit dieser Traum in die Wirklichkeit reichen könnte. Für mich war es wie ein Zeichen. Als würde Gott mir eine verpasste Chance zurückgeben“.

„Verpasst oder ungenutzt. Betrachte die Ereignisse als Zeichen. Oft müssen wir im Leben Entscheidungen treffen. Nicht nur für uns selbst. Für die, die uns lieben, für unsere Freunde, sogar für die, denen wir durch unsere Arbeit begegnen“, sagte Bill.

„Ich weiß“, sagte Ricarda nervös und bewegte die Hände vor ihrem Körper. Ihre Gedanken schienen nach etwas aus der Vergangenheit zu suchen, das sie mit ihrem Besucher besprechen wollte. „Du kennst Ben. Ungläubig habe ich die Vorladung auf den Tisch gelegt. Du hast nur kurz darauf geschaut und mit den Schultern gezuckt. Dann hast du mir erklärt, wie wichtig das für die Entscheidung über die Schulden sei und dass ich viel daraus lernen könne. Und so geschah es. Zusammen mit elf anderen stand ich vor der Entscheidung: schuldig oder nicht schuldig. Nach Stunden, in denen wir ohne Kontakt zur Außenwelt zusammen saßen, verkündete der Richter unser Urteil. Ohne Bens Hilfe saß ich zum ersten und bisher letzten Mal auf dem Platz, der weder den Zuschauern noch den Anwälten vorbehalten war. Jeder von uns zwölf war sich seiner Verantwortung bewusst. Die Protokolle der Polizei, die Gutachten der Sachverständigen, die Aussagen der Zeugen und schließlich die Plädoyers der Staatsanwältin und der Verteidigerin. Es war unsere Aufgabe, alle Zweifel auszuräumen. Zwölf unvoreingenommene Bürger dieser Stadt“.

Ben legte die Hände in den Nacken. „Das habt ihr getan. Ein Zeuge hat sich bei seiner Aussage, die von der Polizei aufgezeichnet wurde, verplappert und ist dann in einem wichtigen Punkt abgewichen. Am Ende wurde der Zeuge der Tat überführt.“


Cathrin forderte Ricarda auf, sich neben sie zu setzen. „Mit solchen Entscheidungen müssen wir immer rechnen, ob als Geschworene oder als Verteidigerin.“

„Ich bin mir der Verantwortung bewusst. Ich könnte mir nicht vorstellen, auf der anderen Seite der Justiz zu stehen. Wie oft erfahren wir, dass Ermittlungen der Justiz ...“, unterbrach Ricarda an dieser Stelle. „Ich muss jetzt für mich selbst herausfinden, wie ich das Gestern mit dem Heute zu einem richtigen Ergebnis zusammenbringen kann. Ich weiß nicht, was die Ärztin weiß, aber ich hoffe, dass sie ihre eigenen Schlüsse aus den Laborergebnissen und meinem ganzen Verhalten zieht. Hinzu kommt ihre eigene Bekanntschaft mit Carlos‘ Familie. Es geht darum, den richtigen Weg zu finden. Carlos hat keine Ahnung, nur Angst. Wenn die Behandlung anschlägt, wird er sich bei seinem Retter bedanken wollen. Das ist die Stunde der Wahrheit.“

„Ich verstehe, du willst nicht aufdringlich sein. Deine Eltern sind in Las Vegas. Du weißt, dass wir für dich da sind, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert. Bill und ich werden dich nach der Behandlung vom Krankenhaus abholen. Vielleicht solltest du vorher mit der Ärztin sprechen? Nein, vielleicht ist es besser, ihr einen Brief zu geben. Schreib alles auf. Vergiss nicht, eine Einladung für Carlos und seine Familie zu erwähnen. Hat sie deine Telefonnummer?“

„Ja, für den Notfall. Was würde ich nur ohne euch machen? Ich muss euch etwas zeigen und schäme mich, dass ich es nicht schon längst getan habe. Wartet“, sagte Ricarda und verließ ihren Platz. Im Wandschrank hatte sie schon lange eine Metallkassette, in der sie ihre Schätze aufbewahrte.


Aufgeregt und mit einem Lächeln im Gesicht öffnete sie die Kassette, nahm ein paar Dinge heraus und legte sie auf den Tisch. „Einer der Dollarscheine von meinem ersten Gehalt“, sagte sie und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Das ist es“, fügte sie flüchtig hinzu und spürte, wie ihr heiß wurde. Wie lange hatte sie diesen Umschlag nicht mehr in der Hand gehabt? Seit sie ihn in die Kassette gesteckt hatte? „Das ist er.“

Cathrin nahm das Foto entgegen. „Ein gut aussehender junger Mann.“

„Cathrin hat recht. Adricas Vater? Schwer zu sagen, was sie von ihm hat. Ihr habt einige Ähnlichkeiten“, sagte Bill und legte das Foto zu den anderen „Schätzen.“

„Adrica sagt nie etwas. Wenn ich sie von der Schule abhole, schaut sie ihre Klassenkameraden an“, sagt Ricarda und stellt die Schatzkiste zurück in den Schrank. „Wenn das Wort ‚Eltern‘ fällt, fährt sie sich mit der Zunge über die unteren Zähne. Hier ist es.“

„Noch einer deiner ‚Schätze‘? Ein Fotoalbum?“

„Ja, Bill. Ich habe alle Fotos auch auf DVD.“

„Wenn du willst, können wir sie auch auf einen Datenträger brennen.“

„Das wäre toll. Adrica wird älter und irgendwann wird sie in Erinnerungen an ihre Kindheit schwelgen. Wir sehen uns oft die Familienvideos an. Bill macht das für euch.“

„Ich will nicht zu weit in die Zukunft planen. Wir wissen nicht, was auf uns zukommt. Aber Weihnachten soll etwas Besonderes sein, etwas Unvergessliches, an das wir uns immer wieder freuen können.“


Im Obergeschoss waren die Gespräche im Wohnzimmer nur leise zu hören. Alle Türen waren mit fünf Zentimeter breiten pastellfarbenen Streifen verziert, der orangefarbene markierte den Zugang zu einem Zimmer, hinter dem seine schlafende Bewohnerin auf den neuen Tag wartete. Das Mondlicht fiel durch die hochgezogenen Lamellen der Jalousien und weckte einen Traum, der in dieser Nacht das Leben des Mädchens verändern sollte.


Im Wohnzimmer schaute man sich Fotoalben an und sprach über vergangene Zeiten, über die Planung von Adricas Geburtstag und Weihnachten.

„Was war das?“, fragte Cathrin ihren Mann.

„Keine Ahnung“, antwortete er knapp.

„Ich dachte, du hättest es auch gesehen“, murmelte sie.

„Ich habe auch nichts bemerkt. War etwas Besonderes? Ich hoffe, Adrica schläft und läuft nicht im Haus herum“, sagte Ricarda, nicht beunruhigt, aber unsicher, wie sie antworten sollte.

„Das ist gut möglich, Ricarda. Ist sie unempfindlich gegen Gewitter?“

„Was meinst du damit?“, antwortete Ricarda, als es wieder blitzte und donnerte. „Ach so, das meinst du. Ja, natürlich. Bisher hat es ihr nichts ausgemacht, wenn sie eingeschlafen ist“, sie warf einen flüchtigen Blick zur Treppe und bemerkte auch das helle Licht im Flur.

„Und das im Dezember“, sagte Bill, legte seine Lesebrille auf das Fotoalbum und rieb sich mit beiden Händen die Augen. „Wir haben wirklich Glück mit dem Wetter hier. Denkt nur an die Ostküste.“

„Oh ja“, unterbrach Ricarda. „Ich weiß gar nicht, wie lange es her ist. Adrica war noch nicht einmal auf der Welt. Es muss mit meinen Eltern gewesen sein“, sie wirkte nachdenklich in ihren langsamen Worten, was ihr fragwürdig erschien, sagte sie als Antwort an sich selbst. Was dann kam, war fließend und voller Erleichterung. „Ich war jedenfalls froh, nach einer Woche New York wieder zu Hause zu sein.“


Cathrins Erinnerungen führten sie zurück in ihre Kindheit und Jugend: „Meine kleine Schwester kam immer mit ihrem Kissen in mein Zimmer und verkroch sich unter der Decke. Wenn wir heute darüber sprechen, können wir nur lachen. Wäre ja auch zu komisch, als Analytikerin in einer Wetterstation“.

Im Gegensatz zu Cathrins Schwester stand Ben am Fenster und beobachtete den Blitz und den anschließenden Donner. Zugegeben, wenn es heftig krachte, zuckte er zusammen. Er hatte in seinem Berufsleben schon andere Gewitter über sich ergehen lassen müssen, und trotz allem zog er eine positive Bilanz.

„Musstest du jetzt damit anfangen? Das war jetzt dicht und mein Herz, ich weiß nicht, wo es ist, es klopft bis zum Hals“, Cathrin konnte an der Wohnzimmeruhr ablesen, dass es bereits zehn Uhr fünfunddreißig abends war. „Es ist spät geworden.“

„Bevor du ... wie soll ich sagen? Ihr könnt bei mir übernachten.“

„Wenn wir dir nicht zur Last fallen? Das große Bett im Gästezimmer ist gemütlich, dass du Nachthemden und Pyjamas hast, wissen wir. Warum schaust du mich so fragend an? Hast du vergessen, dass wir letztes Silvester bei euch übernachtet haben?“

„Ach was!“

„Egal, deine Gedanken sind bei Adrica und Carlos. Conrad kann im kleinen Gästezimmer schlafen. Dann ist das Haus besetzt. Die Autos stehen vor der Garage. Um ehrlich zu sein, ich will jetzt auch nicht raus. Nicht wahr, Ben?“

„Dreistimmige Bestätigung. Dann würde ich sagen, schnell ins Bad und ins Bett.“


„Ich muss sie nach dem Weichspüler fragen, der ist wirklich gut. Und es riecht hier im Zimmer nach ...“

„Nach Orange und Kakao, aber nicht aus der Küche. Ricarda gießt ihre Duftkerzen selbst. Eine Kleine steht auf ihrem Schreibtisch im Büro. Cathrin, was ist mit dir?“

„Nichts“, sie schlug die Bettdecke ans Fußende. „Das Gewitter scheint sich zu legen.“

„Ich kenne meine Frau, dich bedrückt etwas.“

„Ja, du hast recht.“

„Ist es wegen der Kleinen?“

Bevor seine Frau etwas sagen konnte, führte die Natur den nächsten Akt ihres Schauspiels auf.

„Ich hoffe, das war das letzte Mal“, rief Cathrin und atmete tief durch. „Langsam glaube ich, der Himmel will uns wirklich ein Zeichen geben. Der geheimnisvolle Tag ist noch nicht vorbei. Ich lege mich erst wieder hin, wenn das Gewitter aufhört“, sagte sie trotzig.


Nachdem Ricarda die Fotoalben geschlossen und in den Schrank zurückgestellt hat, schaut sie im Flur nach dem Rechten und nimmt ein Taschentuch aus der Box auf der Anrichte.

In wenigen Tagen würde Adrica ihren zwölften Geburtstag feiern. Der kleine Kreis, bestehend aus Cathrin, Bill, Conrad und ihr als Mutter, hütete ein vorläufiges Geheimnis, das nach ihrer Rückkehr mit den Großeltern geteilt werden sollte.


‚Wie werden meine Eltern reagieren‘, fragte sich Ricarda. Adrica ist das einzige Enkelkind, und nun stehen zwei Ereignisse bevor, die das gesamte Familienleben beeinflussen werden. Fast dreizehn Jahre sind genug, genug der Vorurteile und Belastungen. Er ist ihr Vater! Natürlich drängt sich nach all den Jahren ein Problem auf. Wie wird Carlos reagieren?

Auf dem Sideboard neben der Tücherbox stand in einer Vase der bunte Blumenstrauß, den sie in dem kleinen Blumenladen im Einkaufszentrum gekauft hatte, und ein blauer Ordner, den sie völlig vergessen hatte.

Es war still geworden im Haus. Cathrin lag neben Bill, Ricarda hatte das Bad verlassen. Im Schlafzimmer schaute sie auf den Radiowecker und widmete sich vor dem Schlafengehen noch ein paar Minuten der Lektüre des Ordners.

Null Uhr, ein neuer Tag war angebrochen. Laut Wettervorhersage sollte die Tagestemperatur siebzehn Grad erreichen. Ricarda legte den Ordner auf den Nachttisch und schlief wenig später zu dem monotonen Trommeln der Regentropfen an der Fensterscheibe ein. Das Unwetter hatte die Gegend verlassen.


Ein sonniger Tag


Der Morgen brachte die ersten Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg durch die zerrissenen Wolken bahnten, in Adricas Zimmer und in den Wohnbereich des Hauses.

„Ben“, flüsterte Cathrin. „Das kann nicht sein, wenn er nicht schnarcht, schläft er fest wie ein Stein“, murmelte sie. „Ben“, versuchte sie es noch einmal, aber vergeblich.

Sie hob die Beine aus dem Bett, suchte nach ihren Hausschuhen und spitzte die Ohren. „Das muss Ricarda sein, die konnte bestimmt nicht ruhig schlafen“, flüsterte Cathrin sich zu und ging zur Tür, ohne Ben zu stören. Sie warf einen Blick zurück zum Bett und schüttelte den Kopf.

Das Licht aus der Küche drang durch das Wohnzimmer in den Flur, es roch nach frischen Brötchen und Kaffee. „Ist das Frühstück fertig?“, sagte sie leise, lauschte den Geräuschen aus dem Bad, ging dann ins Wohnzimmer und stieß gegen die Pendeltür.

„Das ging aber schnell“, sagte Conrad, drehte sich um und wollte gerade „Cathrin?“ sagen, als sein Name schon fiel: „Conrad?“

„Das ist heute schon das zweite Mal, dass mich eine attraktive Frau vor Tagesanbruch erkennt. Guten Morgen, Cathrin.“

„Ja, guten Morgen“, erwiderte sie und winkte ab. „Ich hoffe, die Gästetoilette ist frei. Dann können wir ans Frühstück denken.“

„Geh nur, ich mache das Frühstück fertig“, sagte Conrad.

„Ich muss, bevor Ben aufwacht. Ricarda ist schon im Bad.“


„Als hätte ich es geahnt, erst schlafen wie ein Stein und dann ... Muss ich nach oben, auch wenn Adrica nicht mehr schläft, sie wird kaum Bad und Gästetoilette gleichzeitig benutzen.“

Glücklicherweise wurde sie aus ihrem Selbstgespräch gerissen, als die Badezimmertür aufging.

„Cathrin! Hast du mich erschreckt!“

„Schon möglich, Ricarda, in meinem Aufzug. Also,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Peter Fleischer
Bildmaterialien: Pixabay
Cover: Gestaltung: Peter Fleischer
Tag der Veröffentlichung: 20.11.2021
ISBN: 978-3-7554-0150-6

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