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Adrica und ein Wunder

 

Buch 1

 

Diese Geschichte ist frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Handlungsorte sind teils fiktiv

 

Kapitel 01 – Adricas Traum


Tanglewood, ein Ortsteil von Santa Maria in Santa Barbara County, Kalifornien


Einführung


Mein Name ist Adrica, und ich habe beschlossen, die Ereignisse vor und seit meinem zwölften Geburtstag aufzuschreiben. Die mysteriösen Ereignisse begannen zur Adventszeit in der Gemeinde Tanglewood, die zu Santa Maria in Santa Barbara County, Kalifornien, gehört. Als ich wegen einer Kleinigkeit ins Krankenhaus musste, hatte meine Mutter die Gelegenheit, das Leben eines anderen zu retten. Damals konnten wir nicht ahnen, was das für unser zukünftiges Leben bedeuten würde. Als ich Daria kennenlernte, hatten wir beide keine Ahnung, was auf unsere Familien zukommen würde. Waren es nur Zufälle oder Teil eines alten Plans? Gemeinsam mit Daria versuche ich der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Die Ereignisse, die mir von allen beteiligten Personen berichtet wurden, bilden die gesamte Geschichte, die ich als Adrica niederschreiben werde.


Adrica saß nervös am Küchentisch und schlug zeitweise die Beine übereinander. Ihre Mutter Ricarda beendete gerade ein Telefongespräch und legte den Hörer auf. Adrica drückte mit einem Finger auf ihr Wurstsandwich und schaute aus dem Küchenfenster zum Kalender, der neben dem Kühlschrank hing. Es war der 13. Dezember 2010. Ricarda war stolz auf ihre Tochter, die schon seit der ersten Klasse ein besonderes Interesse am Lesen und Schreiben zeigte. Adricas Blick zum Kalender blieb nicht unbemerkt – es war die dritte Adventswoche.


Sie spülte die Bissen in ihrem Mund mit einem Schluck Milch herunter und drehte dabei die Augen in Richtung ihrer Mutter. Die Hefte für den Unterricht lagen gut sichtbar auf dem Sideboard, wenn man die Treppe hinunter in den Flur kam. Der Schultag endete selten vor drei Uhr nachmittags. Nicht immer schmeckte das Schulessen und nicht immer waren die Hausaufgaben so, wie man es sich wünschte.


Ricarda hob das Küchentuch von einer Schale, in der sich Kuchenteig befand, und nebenbei lagen vorbereitete Äpfel auf einem Holzbrett. „Mach dir keine Gedanken über das C in Mathe. Ich weiß, du gibst dir große Mühe“, sagte sie, während sie auf die grünen Ziffern der Backofenanzeige schaute, die unaufhaltsam die Zeit anzeigten. „Ich war nicht anders, aber sicher hast du das schon von deinen Großeltern gehört.“ Adrica lächelte, ob das eine Bestätigung war oder etwas anderes, darüber sprach sie nie.


„Das mit dem C, daran arbeite ich schon“, kaute Adrica auf einem Stück Mandarine. „Habe ich die Aufgabe richtig gelöst? Du hast sie dir gestern Abend angesehen.“

„Ja, das habe ich. Und weißt du was?“, antwortete Ricarda. Adrica schüttelte den Kopf und konzentrierte sich auf ihr Sandwich.

„Meine Eltern haben mich im Unklaren gelassen, aber deine Großmutter hat mir zugewinkt, als wir den Schulweg angetreten haben. Für mich war das ein Zeichen, dass ich ihr eine Extraportion Zuneigung geben sollte, denn ich habe den Hinweis verstanden.“

Vom Tisch kam ein „Aha“, dass Ricarda als Zustimmung interpretierte.

„Ich hatte einen tollen Traum“, sagte Adrica und zog damit die Aufmerksamkeit auf sich. „Es fühlte sich so nah und real an. Es war unglaublich.“

„Darauf bin ich gespannt. Ich hoffe, du hast nach dem Unterricht Zeit, mir davon zu erzählen. Ich weiß, dass du Ereignisse sehr gut in Erinnerung behalten kannst. Besser als ich es in deinem Alter konnte und auch heute noch. Einverstanden?“

„Ja, ich freue mich und ich kann dir sagen, dass du das auch unglaublich finden wirst“, sagte Adrica. In den Worten ihrer Tochter hörte Ricarda etwas, das sich versteckte, etwas, das sie selbst weit in die Vergangenheit zurückführte.


Adrica verließ das Haus und befand sich auf dem Schulweg. Neben den Pausenbroten hatte sie auch eine orangefarbene Plastikbox mit Obststücken dabei. Wie jeden Tag traf sie auf ihre Schulfreundinnen, was den gemeinsamen Weg und Gespräche über Hausaufgaben und das, was sie an diesem Tag erwartete, angenehm machte.


Zuhause


Ricarda knetete den Teig und legte ihn in eine Form, die sie mit Apfelstücken belegte. In wenigen Augenblicken würde sie die Form in den vorgeheizten Backofen schieben. Oft drängten sich Erinnerungen aus der Vergangenheit in ihre Gedanken und nahmen teil an den alltäglichen Hausarbeiten und dem Umfeld. In den nächsten fünfzig Minuten hatte sie Zeit für die Wäsche, und es gab keine Chance, dass der Kuchen anbrennen würde – dafür sorgte die Automatik des Ofens.


Ricarda hielt viele Ereignisse fest, die ihre Gedanken beherrschten. Gerade jetzt in der Adventszeit wäre Adrica ein Christkind geworden, aber sie entschied sich dafür, früher auf die Welt zu kommen. Der Wendepunkt in ihrem Leben war das Kennenlernen von Carlos. Oft versuchte Ricarda herauszufinden, ob das zu den Höhen oder Tiefen in ihrem Leben zählte. Carlos war Verkäufer in einem Imbisswagen und arbeitete für einen kleinen Familienbetrieb, um sein erstes Geld zu verdienen. Es war kein schnelles Kennenlernen. An einem verregneten Frühlingstag ging ihr flüchtiges ‚Hallo‘ über eine einfache Begrüßung hinaus.


In ihrem kleinen Büro setzte sich Ricarda an den Schreibtisch, schaltete ihr Notebook ein und überprüfte die Verbindungskabel von DSL, dem externen Datenspeicher und dem Multifunktionsdrucker. Sie hatte noch Zeit, bis Conrad, der Sohn ihres Chefs, ihr Akten aus der Kanzlei zur Bearbeitung brachte. Wieder dachte sie an die Studienzeit und an Carlos zurück. Sie öffnete eine Schublade, warf einen Blick in den Flur und drehte sich dann zum Fenster um. Das Notebook war bereit für seine Aufgaben, musste aber noch warten, da sein Benutzer zuerst ein Fotoalbum auf den Tisch legte. Langsam schob Ricarda die Folie zur Seite und berührte zart die Bilder, Erinnerungen an schöne Momente in ihrem Leben, wie diesen, der gute neun Jahre alt war.


~ In Erinnerungen ~


Im Licht der untergehenden Sonne sah Ricarda Carlos. Sie waren vor dem Steakhaus verabredet, an einem der wenigen Tage, an denen sie sich mit Rock, Bluse und Weste kleidete, um nur als Beisitzerin von Rechtsanwalt Walker, ihrem Chef und sehr guten Freund ihrer Familie, im Gerichtssaal aufzutreten.

Sie blieb stehen, während die Sonne langsam hinter dem Horizont verschwand und Carlos gleichermaßen langsam eine junge Frau, die in seiner Begleitung war, an sich heranzog. Ricarda wusste nicht, wie sie in diesem Moment handeln sollte. Die wichtige Nachricht, die sie für Carlos hatte, hinderte sie nicht daran, den Heimweg anzutreten. Hatte sie das richtig gemacht? Vielleicht war alles nur ... nein, weiter kam sie mit ihren Gedanken nicht.

Als das Telefon klingelte, wusste sie nicht, was sie sagen sollte. Sie nahm sich zusammen, doch es war nicht einfach, mit tränenverschlossener Stimme zu sprechen. Ihre Entschuldigung war formlos, vor Gericht hätte sie keine glaubwürdige Haltung gehabt – warum dachte sie gerade jetzt an ihr Studium? Vom anderen Ende der Leitung hörte sie nur die Frage nach einem neuen Treffen.

Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, legte Ricarda schluchzend das Telefon auf die Station. Ihre Nachricht war zu wichtig, also entschloss sie sich, das nächste Treffen einzuhalten. Noch wusste sie nicht, ob sie Carlos wegen der anderen Frau ansprechen sollte.

Ricarda sah auf das Display des Notebooks.

Carlos war nicht zum nächsten Treffen erschienen, davon war Ricarda überzeugt. Sie wollte es wissen und sprach mit dem Besitzer des Steakhauses. Wieder war diese Frau im Spiel und von ausgetauschten Zärtlichkeiten war die Rede. Ricarda bestellte ein extra großes Steak mit Bratkartoffeln und ein großes Glas Cola.

Carlos meldete sich nicht mehr und die Nachricht, die für ihn bestimmt war, erfüllte sich in Ricardas Mutterglück, und das in jeder Hinsicht.


Ein kurzes dreimaliges Klingeln holte Ricarda in die Gegenwart zurück. Auf ihrem Gesicht wechselten sich Lächeln und Tränen ab.

Ricarda begrüßte den jungen Mann, der vor der Haustür stand: "Es ist früh, komm rein. Entschuldige bitte, ich muss nach dem Kuchen sehen, er sollte längst fertig sein. Wie läuft es im Büro?"

„Dank der Nachfrage, aber es gibt Tage, die sind echt ... hm, der Kuchen riecht gut. Was wollte ich sagen? Ach ja, die neue Verteidigung, ein schwerer Brocken. Ben war sich sicher, aber jetzt kommen ihm Zweifel. Zunächst gab es eindeutige Beweise, aber das kannst du selbst aus den Akten entnehmen. Wie macht sich Adrica in der Schule?“

Nachdem Ricarda den Kuchen auf ein Holzbrett gestellt hatte, zog sie sich die Handschuhe aus und füllte zwei Gläser mit Cola.

„Ich habe noch zwei Sandwiches, wenn du möchtest?“

„Danke gerne, ich hatte noch keine Gelegenheit“, sagte Conrad und griff nach dem Brot. „Ich habe Ben noch nie so ratlos gesehen.“ Mit dem Colaglas in der Hand stellte er sich vor die Terrassentür. Ricarda drückte eine Taste an der Spülmaschine und stand wenige Augenblicke später neben ihrem Besucher.

„Ich schaue es mir an“, sagte sie und warf einen Blick auf die Akten, die auf dem Tisch lagen. „Habt ihr Fotos?“

Conrad nickte und nahm einen Schluck aus dem Glas.

„Viel mehr, Videoaufzeichnungen, Kopien von Überwachungskameras.“

„Ich schaue es mir an und bestelle Ben einen Gruß von mir. Kopf hoch, das wird schon. Du weißt, gemeinsam sind wir ein gutes Team. Zu deiner Frage, Adrica macht sich gut in der Schule. Bisher hat sie in Mathematik und Sport eine C–Note, aber das wird noch besser. Möchtest du etwas sehen?“

Sie bat Conrad, der einen Blick auf seine Armbanduhr warf, in ihr kleines Büro.

„Wenn es nicht zu lange dauert.“

„Nein, bestimmt nicht“, sagte sie und nahm einen Schnellhefter vom Wandregal. „Das ist von ihr. Sie hat mich gebeten, das, was sie geschrieben hat, im Computer zu speichern. Du hättest ihre leuchtenden Augen sehen sollen, als sie zum ersten Mal ihre kleine Geschichte auf dem Bildschirm las. Ich weiß nicht, ob ich es ihr…“

„Sie ist Elf und wird in wenigen Tagen zwölf. Unter deiner Aufsicht kann ich es mir vorstellen. Natürlich darf es nicht zu viel Zeit in Anspruch nehmen, und Hausaufgaben müssen natürlich erledigt sein.“

„Du sprichst verständnisvoll“, sagte Conrad, während er mit den Schultern zuckte und die letzten Sätze im Hefter las. „Das hier ist gut. Sie hat viel Fantasie, aber sie denkt viel an dich. Die Beschreibung der Haushälterin ist witzig, den Namen hat sie wohl dir zuliebe gewählt.“

„Ich weiß es nicht, kann es mir aber denken“, antwortete Ricarda mit einem unsicheren Lächeln. „Sie weiß ja, wie ihre Mutter ist. Ich will dich nicht aufhalten, Conrad, dein Vater erwartet dich in der Kanzlei.“

„Du hast recht, wenn es etwas Wichtiges ist“, erwiderte Conrad und deutete auf das Telefon. Er legte den Hefter neben das Notebook auf dem Tisch.

„Ich werde es ausrichten. Grüße von uns beiden“, sagte Conrad, bevor er ein paar Schritte ging.

„Die Geschichte ist gut, schon auf der ersten Seite. Lass sie weiter schreiben, ohne sie zu drängen. Ich spreche mit dem alten Muff, du weißt schon, der Verleger, der auch unsere Formblätter druckt. Er ist besessen von Fantasy–Geschichten.“

„Danke, Conrad“, sagte Ricarda, als sie die Haustür hinter sich schloss. Als sie wieder in ihrem Büro war, nahm sie den Hefter vom Tisch, schlug ihn auf und las Adricas Geschichte.

„Gar nicht so schlecht“, dachte sie und legte den Hefter neben das Notebook. Sie reckte sich, stützte dann ihre Hände auf den Tisch. Das Telefon unterbrach die Spannung, die zwischen Ricarda und Adrica entstanden war.

„Ich komme sofort“, bestätigte sie beunruhigt dem Anrufer. Signaltöne aus dem Keller signalisierten, dass das Waschprogramm der Maschine beendet war. Das Notebook fuhr das System herunter und schaltete den externen Datenspeicher aus. Nach einem kurzen Blick in die Küche verließ Ricarda das Haus.

Kapitel 02 – Im Krankenhaus


„Es ist wirklich nichts Ernstes, gehen Sie zu ihr“, sagte die Ärztin und sah durch die Glasscheibe der Tür. Dann wurde sie nachdenklich. „Ich habe eine Bitte, eine ungewöhnliche Bitte. Eigentlich dürfte ich nicht“, sie sah erneut durch das Fenster.

„Gibt es Schwierigkeiten?“, wollte Ricarda wissen.

Die Ärztin schüttelte den Kopf. „Mit ihr nicht. Kann ich Sie sprechen? Sagen wir in meinem Zimmer.“

„Ja, natürlich. Wir kennen uns seit Adricas Geburt, Sie scheinen mir besorgt zu sein.“

„Danke, dass Sie sich bereit erklären. Wir sprechen darüber.“


Im Arztzimmer


Es war ein erschütterndes Gespräch, das die Ärztin mit Ricarda führte. „Das ist im Großen und Ganzen alles, was ich sagen kann“, sagte die Ärztin und klappte die Krankenkarte zu. Sie stellte sich rücklings an den Tisch und sah durch das Fenster auf den Flur. Ihre Gedanken führten sie mehr als elf Jahre in die Vergangenheit zurück. „So lange ist das her?“, flüsterte sie und wandte sich zu Ricarda. „Sie hatten sich vor langer Zeit eintragen lassen und haben die Werte. So eine Entscheidung muss überlegt sein, das braucht Bedenkzeit. Zeit, die der Patient nicht hat. Ich kann nur eins ... Nein, falsch. Ich weiß nur, dass der Patient mit Glück das Weihnachtsfest in der Klinik erleben kann. Wenn er besonderes Glück hat, erlebt er noch ein paar Tage im neuen Jahr. Das ist aber schon viel“, die Ärztin drehte die Krankenakte auf dem Tisch und zögerte einen Augenblick.

„Danke für alles. Eine Frage: Kann ich den Patienten sehen?“, fragte Ricarda und warf einen Blick auf die Krankenakte. Ein Gefühl zwischen Kälte und Wärme durchfuhr sie, ein Kribbeln, das sie als kleine Stiche unter der Haut spürte.


Auf der Station


Das Kribbeln ließ sie vor der großen Scheibe des Krankenzimmers erstarren. Dort stand sie, über zwölf Jahre später erkannte sie die Frau an seiner Seite. Ihre Blicke erfassten auch das Mädchen, das am Bettende stand und ihr den Rücken zuwandte. Was sollte sie jetzt machen? Ihr waren alle Umstände bekannt, die Stimmen, die sich ihrer bemächtigten, überlagerten Bilder aus der Vergangenheit und schoben sich wie ein Traum in die Gegenwart. Ricarda bemerkte nicht, dass sich die Laborantin neben die Ärztin gestellt hatte.

„Auch aus Phoenix ist nichts Verwendbares dabei“, sagte die Laborantin und atmete tief durch. „Wenn wir nicht…“

„Ich weiß es und du weißt es“, unterbrach die Ärztin sie und wandte sich dann an Ricarda. „Das ist meine Schwester. Sie wollte schon als Kind in den medizinischen Bereich. Sie hat uns damals schon mit ihren Experimenten mit dem Chemiebaukasten beeindruckt. Noch ist die Wissenschaft nicht so weit, um dieser Krankheit entgegenzutreten.“

„Wenn wir nicht bald einen Spender finden ... du weißt, welchen zeitlichen Spielraum wir haben.“

Ricarda hörte das Gespräch der Schwestern mit an. Wie sollte sie sich entscheiden? Es war eine große Verantwortung. Sie sah auf das Mädchen. Ist das wirklich das, was sie dachte? Die nächsten Worte legten sich wie packende Hände um Ricardas Hals.


„Er verbringt sehr viel Zeit mit seiner Familie“, sagte die Laborantin und wischte sich Tränen aus den Augen. „Als er von seiner Krankheit erfuhr, war das wie ein Schlag für ihn.“

Die Ärztin übernahm das Gespräch.

„Das muss jetzt fast zwölf Jahre her sein. Er gab seinen Job auf und zog mit seiner Familie nach Santa Barbara, wo auch seine Eltern leben. Vor einigen Tagen kehrten sie nach Santa Maria zurück. Ich kann die Städte nicht mehr aufzählen, in denen sie ... Entschuldigen Sie bitte“, wandte sich die Ärztin an Ricarda. „Die Familie des Patienten ist eng mit unserer befreundet. Einmal erzählte er, damals verkaufte er noch Essen aus einem Imbisswagen, er habe den Traum seines Lebens kennengelernt. Doch bevor ... Davon wollen Sie bestimmt nichts wissen“, die Ärztin sah Ricarda an. „Ich könnte sie mit dieser Frau vergleichen. Er hatte seinen Traum genau beschrieben, wollte die junge Frau nicht mit seinen Sorgen belasten. Er ist glücklich, bei seiner Familie leben zu können.“


Ricarda fühlte sich von Tausenden Nadeln gestochen. Viele Gedanken trieben durch ihren Kopf, blieben für einen Moment als Bilder einer Erinnerung stehen, flogen weiter und endeten am Tor der Gemeindekirche.

Langsam lief sie den Flur entlang. Adricas Stimme drang in ihre Ohren, nicht aus dem Raum hier, sondern das, was sie am Morgen beiläufig erwähnte.

„Ich hatte einen tollen Traum. Das war so nah, so real. Das war unglaublich.“

„Adrica muss noch etwas warten. Schwester Bea bringt sie zum Röntgen und danach bekommt sie einen Verband“, hatte die Ärztin gesagt.


Nachdem sie die Tür geöffnet hatte, atmete Ricarda tief durch und lächelte ihrer Tochter entgegen.

Adrica reagierte nicht wie üblich. Sie sah auf ihr Bein. Schuldgefühle? Warum? Ihre Mutter schloss die Tür. Noch immer wurde sie von Gedanken überflutet, die nun bei Carlos und der jungen Frau waren.


„Ist alles in Ordnung? Wie ist es passiert? Du kannst es mir später erzählen. Ich möchte nur wissen, ob es dir gut geht“, sagte Ricarda besorgt und drückte Adricas Knie.

„Ja, es geht mir schon besser“, antwortete Adrica und seufzte.

„Die Hose hat viel abgehalten, nach dem Waschen sieht sie aus wie neu. Ich kann nichts erkennen, was kaputt ist. Aber jetzt erzähl mir erst mal von deinem Traum. Ich bin so gespannt darauf, eine unglaubliche Geschichte zu hören. Das wird uns beiden guttun“, sagte Ricarda und drehte ihre Uhr am Handgelenk.

„Wir können noch nicht gehen“, flüsterte Adrica leise.

„Stimmt, ich möchte noch mal mit deiner Ärztin sprechen. Aber erzähl mir schon mal von deinem Traum. Ich sehe, dass du wieder lächelst“, ermutigte Ricarda sie.

„Es gibt nicht viel zu erzählen. Es war nur seltsam, dass ich heute tatsächlich hier im Krankenhaus bin. Deshalb wollte ich dich nicht beunruhigen“, antwortete Adrica und schwieg einen Moment. „Das Unglaubliche war, dass ich einem Fremden begegnet bin, hier auf dem Flur. Er sah unheimlich aus und hat mich um Hilfe gebeten.“

„Unheimlich? Was meinst du mit unheimlich?“, fragte Ricarda neugierig.

„Weiß nicht. Er trug ein weißes Nachthemd und hatte dunkel umrandete Augen. Dann hat mich eine Ärztin angesprochen und dann bin ich aufgewacht“, erklärte Adrica.

Ricarda wusste, dass der Traum ihrer Tochter der Realität nahekam.

„Träume sind nicht immer nur unerfüllte Wünsche. Träume können auch unheimlich sein oder wie ein Märchen wahr werden. Oft träumen wir von Dingen, die wir uns wünschen oder von Menschen, mit denen wir befreundet sein möchten. Es gibt so vieles, was wir uns erfüllen möchten oder was uns durch andere erfüllt wird“, sagte Ricarda und schaute kurz zur Tür. Ihre Gedanken erinnerten sie daran, dass Adrica ihr größter Wunsch war, den sie nur mit Hilfe von Carlos erfüllen konnte. Jetzt lag er hier und niemand wusste, ob er das Weihnachtsfest überleben würde oder ob er das neue Jahr erleben könnte. Ein Karussell aus Liebe, Leid, Verantwortung und vielen anderen Gefühlen drehte sich in ihrem Kopf.

„Möchtest du einen Kakao? Im Besucherraum gibt es Automaten“, schlug Ricarda vor.

„Kann ich auch einen Schokoriegel haben?“, fragte Adrica neugierig.

Das Lächeln ihrer Mutter war für Adrica ein eindeutiges Ja, zumindest für den Teil ihrer Frage.

„Ach übrigens, du hattest recht mit den Hausaufgaben. Also einen Kakao und einen Schokoriegel. Ich muss sowieso mein Bein bewegen“, sagte Adrica.

„Was meinst du mit den Hausaufgaben?“, fragte Ricarda und sah auf den Fuß, der den Boden berührte.

„Hast du es vergessen? Denk an Großmutter“, erinnerte Ricarda sie und suchte in ihrem Portemonnaie nach Münzen für die Automaten.

„Wenn du fertig bist, werde ich mit deiner Ärztin gesprochen haben und warte in der Cafeteria, okay?“, schlug Ricarda vor.

Adrica nickte und folgte Schwester Bea, die gerade den Telefonhörer aufgelegt hatte.


Im Arztzimmer


„Vielen Dank, dass Sie sich noch Zeit genommen haben. Ich würde vorschlagen, Adrica bis zum Wochenende von der Schule zu entschuldigen“, sagte Ricarda.

„Wenn es möglich ist, werde ich das tun“, erklärte die Ärztin. „Sind Sie sicher, dass Sie das übernehmen möchten? Ein Gespräch dauert normalerweise nicht länger als zwanzig Minuten.“

„Ich werde mit Adrica reden. Sie ist ein kluges Mädchen und lernt schnell, wenn es sein muss. Außerdem findet sie schnell heraus, was wichtig ist und was nicht. Ihre Großeltern wohnen nebenan, also ist für Aufsicht gesorgt“, erklärte Ricarda.


Nach dem Gespräch im Besucherraum


Ricarda warf Münzen in den Getränkeautomaten, drückte die Auswahltaste und der Becher fiel in die Halterung. Das Geräusch einer Kaffeemühle drang aus dem Automaten. Sie sah zum Tisch, auf dem die Zeitschrift lag, in der Adrica geblättert hatte. Der Besucherraum war leer. Hinweistafeln an der Wand zeigten den Weg zur Cafeteria. Ricarda schüttelte den Kopf und blickte schnell in die Runde. Zum Glück hatte niemand sie beobachtet.

Vertieft in ihre Gedanken blätterte sie in der Zeitschrift. Die historischen Stadtfotos fesselten ihre Aufmerksamkeit. Was von dem damaligen Central City, das 1885 in Santa Maria umbenannt wurde, war heute noch erkennbar? Sogar die Flagge vor dem Rathaus hatte weniger Sterne als heute. Woher hatte Adrica die Ideen für ihre Geschichte? Ricarda erinnerte sich an die Randnotizen, die Adrica über den Verlauf der Geschichte gemacht hatte. Es war erstaunlich, wie ein fast zwölfjähriges Mädchen einen roten Faden in ihren Gedanken hatte.


Ihre Gedanken schweiften zunächst über das, was sich gerade im Krankenhaus ereignete, dann gingen sie in die Zukunft und blieben am Weihnachtsfeiertag stehen. Die Zeit flog Jahre zurück und die damaligen und heutigen Ereignisse zeichneten zusammen ein Bild der Wahrheit.

Sie erinnerte sich an ein Zitat, das jemand im Büro erwähnt hatte: „Ich glaube nichts, was ich höre, und nur die Hälfte von dem, was ich sehe, bevor ich mich selbst überzeugt habe.“ Hatte sie sich von dem, was sie sah, überzeugt? Nein.


Ein unsichtbares ‚Ich‘ setzte sich neben Ricarda und starrte wie sie auf die Seite der Zeitschrift. In dem zurückgelehnten Stuhl überlegte sie, welches der abgebildeten Angebote für ihre Tochter geeigneter wäre. Ja, Adrica sollte einen Computer zu Weihnachten bekommen. Das wäre auch ein Zugeständnis an Bens Vorschlag, die ständigen Geschenkanfragen im Büro zu beenden. „Du machst das richtig“, flüsterte eine Stimme. Ricarda lächelte nur trotzig und antwortete still: „Natürlich mache ich es richtig.“ Ein nicht ausgesprochener Seufzer hätte nur zwei Worte: Oh Mann. PC oder Notebook? Conrad musste helfen.


Ein kurzer Moment des Einschlafens hatte Ricarda ergriffen.


Auf dem Flur erklärte eine Krankenschwester einem suchenden Mädchen den Weg zur Cafeteria. „Mutti möchte einen Becher Kaffee und ich Kakao“, bedankte sich das Mädchen bei der Krankenschwester. Ricardas linke Hand ließ die umklammerte Zeitschrift über ihre Oberschenkel rutschen, als sie die Augen öffnete. Durch das Geräusch einer fallenden Münze sah sie zum Getränkeautomaten und unterdrückte ein aufkommendes Gefühl. „So ein Mist. Warum geht das nicht?“, fluchte das Mädchen leise, als es die abgelehnte Münze aus dem Rückgabefach nahm.


Ricarda legte die aufgeschlagene Zeitung auf den Tisch. „Warte, ich helfe dir“, sagte sie und griff in ihre Jackentasche, da sie oft Kleingeld dabei hatte. „Das passiert schon mal, besonders bei abgenutzten oder ganz neuen Münzen.“

Wie zuvor am Fenster im Flur betrachtete sie das Mädchen von hinten. Ein Schreck durchfuhr ihren ganzen Körper, als sie sich vom Automaten wegbewegte. Vor ihr stand eine Doppelgängerin ihrer Tochter. „Entschuldigung, sind Sie Adricas Mama?“, fragte das Mädchen.

„Ich bin Adricas Mutter“, antwortete Ricarda, immer noch den Schrecken verarbeitend und mit einem freundlichen Gesichtsausdruck.

„Es muss seltsam für Sie sein, Ihre Tochter in Begleitung einer Doppelgängerin zu sehen“, begann Daria schüchtern das Gespräch. „Ich musste mich auch erst daran gewöhnen, dass sie wie ich aussieht. Und das wird erst richtig komisch, wenn ich mich als Neue in der Klasse vorstellen muss. Heute ging das nicht. Ich weiß nicht, wo sie ist? Wir wollten uns hier treffen.“

Ricarda steckte eine Dollarmünze in den Automaten, das Mädchen drückte die Auswahltaste und stellte anschließend den Becher auf den Tisch. Der Vorgang wiederholte sich noch einmal für den Kakao. „Danke für

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Peter Fleischer
Bildmaterialien: Pixabay
Cover: Gestaltung: Peter Fleischer
Tag der Veröffentlichung: 28.11.2013
ISBN: 978-3-7396-1145-7

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