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Schicksal impliziert Glauben, für das man Gott dankte. Es existierten zu diesen, seien sie mal so genannt: früheren Zeiten kaum wissenschaftliche Untersuchungen über das Zusammenfallen von zeitlich durcheinander- oder damit auch ineinandergeratenen Ereignissen.
Viele Menschen interessiert diese ganze Chose heute nicht mehr. Sie glauben dennoch nach wie vor ans Schicksal und meinen, sprechen es gar aus: Gott sei Dank ist nichts passiert aufgrund der Verfahrenheit, beispielsweise auf die Autobahn in die falsche Richtung gesteuert zu haben. Sie glauben zwar nicht mehr, führen den da oben aber weiterhin im Mund. Oder aber sie glauben, sie glaubten nichts mehr – und tun es letztendlich doch.
Dabei gab es bereits früh rationale Erkenntnisse, Historiker beispielsweise, aber auch andere nicht nur wissenschaftlich Vernunfttätige haben es herausgefiltert, wenn auch lediglich wahrgenommen von denen, die bereit sind, sich damit auseinanderzusetzen: Man benötigt diesen christlichen, jüdischen oder sonstwie gearteten Gott nicht, Gemeinsamkeit gab es lange vor diesen Lehren. Soziale Ethik, meinte kürzlich ein Freund beim abendlichen Rotwein, habe lange vor der Christen Gott und dessen Sohn existiert. (Dabei revolutionierte sich, diesem scheinbaren Thesenanschläger sei Dank, plakativ heraus, was heutzutage unter Moral verstanden wird.)
Und nach wie vor firmieren Koinzidenzen unter dem Begriff Schicksal, das der Herr eingerichtet habe. Es ist ein geradezu unsägliches Wort, aber manche fallen in diese Sprache zurück. Als ob man sie in eine andere Richtung, möglicherweise gar abseits der Lebensautobahn auf kleine, völlig unbekannte Sträßlein der Bedächtigkeit gelenkt hätte und sie alles neu lernen müßten, auch die Sprache. Zum Beispiel, daß es Koinzidenz heißt.
Mir schwebte ein Büchlein auf den Tisch. Nein, kein Büchlein, auch kein elektrisches, ein richtiges Buch. Damit tue ich mich schwer, weil mein Sehgewerk nicht mehr richtig arbeitet. Deshalb bin ich überhaupt zum eBuch gekommen. Bei dem kann ich die Schrift auf Plakatgröße blasen und lesen wie an einer Litfaßsäule. Daß ich, nachdem meine Liebste, mit mir leidend, weil sie wußte, daß bei mir auch am Ende das Wort würde sein, ich auch noch bei der Verbrennung meinerselbst das Licht der mich verzehrenden Flammen würde nutzen, um das antialttestamentarische Manifest zu studieren, mir ein solches Lesegerät auf den Tisch legte, als wäre es ein Buch, mit einer solchen digitalen Maschine immer eine ganze Bibliothek würde mit mir führen können, darauf bin ich erst später gekommen.
Ich bin nämlich ein Mensch des Buches. Nicht nur, daß ich von kleinst an, begünstigt von dem großen Bücherzimmer meiner Eltern, wobei meiner Mutter als Bibliothekarin die Buchhaltung oblag, immer nur gelesen habe, darunter so manches (verbotenerweise konsumiertes), das ich in diesen sehr jungen Jahren nicht verstanden habe – wobei ich nicht sicher sein kann, ob die neuerliche Lektüre des jeweiligen Buches, der Bücher Jahrzehnte später mich der Unterscheidung zwischen Wahrheit und Wirklichkeit nähergebracht hat –, auch als ich ins sogenanntes Erwachsenenalter kam, widmete ich mich der Literatur. Zunächst geschah das über ein Studium, und später, nach einem längeren Ausflug in den quasi Hörbuch-Journalismus, beim Rundfunk, ergab die geradezu zwingende Koinzidenz: einen Wechsel ins Verlagswesen, wo ich dann selber Bücher produzierte. Ich bin also zum Buch geworden. Nun eben notgedrungen, aber durchaus auch beglückt, elektrifiziert.
Das mir auf den Tisch schwebende ist in einer Schriftgröße und so sorgfältig, das heißt mit einem unmodisch hohen Schwarzanteil, also kontrastreich und in einer mir angenehmen Grotesk gedruckt: Ich kann es noch einigermaßen lesen. Liest man zwischen den Zeilen – was ich ohnehin am liebsten tue –, ist es mindestens doppelt so umfangreich wie die angegebenen 136 Seiten. Es eines von Antonio Tabucchi, einem der von mir am liebsten gelesenen Autoren; den ich lieber im Original läse, doch dazu reicht mein ansonsten passables Italienisch nicht aus. Da verlasse ich mich in diesem speziellen Fall wissentlich auf die großen Könner unter den Übersetzern ins Deutsche. Hierbei handelt es sich um Karin Fleischanderl. Erschienen ist Die Autobiographien der anderen zwar bereits 2003 bei Feltrinelli, aber in dieser Übertragung ist es eine Neuerscheinung, 2012 veröffentlicht; für mich, der ich diesen immer irrer werden Aktualitätenwahn noch nie verstanden habe, allemale. Und dann kommt es auch noch aus der kleinodigen Edition Akzente aus dem von mir seit Jahrzehnten hochgeschätzten Hanser-Verlag.
Der großartige Literat schreibt darin über seine Bücher, die er noch einmal gelesen hat. Das tun wenige Schriftsteller so gekonnt. Er aber fügt seinen ohnehin bei mir ungemein persönlich ankommenden Erzählungen und Romanen noch Empfindungen an, die er beim Wiederlesen erlebte. Sie gehen weit über obligatorische Fußnoten – ich bin vernarrt in Anmerkungen – hinaus, wie man sie hin und wieder in Büchern von anderen Autoren findet.
Im mit Labyrinthis überschriebenen Kapitel hält Antonio Tabucchi über Die Frau von Porto Pim fest, einer Erzählung, die mir immer wieder Rätsel aufgegeben hat, so oft ich es auch gelesen habe:
»... und ich war sehr stolz, weil ich dachte, dass meine Reise endlich Realität geworden sei, wirklich stattgefunden habe. Als ich das Buch nach seiner Veröffentlichung noch einmal las, staunte ich jedoch nicht schlecht, denn alles klang noch phantasievoller. Die Literatur, die die Fähigkeit besitzt, die Realität in eine Hyperrealität zu verwandeln, machte das Ganze noch irrealer, als es mir vorgekommen war.
Ich gab auf. Vielleicht ist die Realität selbst phantastisch. ...«
Aléa Torik, der/dem man teilweise gar vorgeworfen hatte, betrogen zu haben, da ihre/seine Identität nicht der Wahrheit entspräche, schrieb 2013 unter dem Titel Die Wirklichkeit ist der Schatten des Wortes.
»Einer der bevorzugten Witze von David Foster Wallace lautet: ›Zwei junge Fische begegnen einem älteren Fisch. Der fragt: ›Morgen Jungs, wie ist das Wasser?‹ und schwimmt dann weiter. Daraufhin fragt der eine der beiden jungen Fische: ›Was zum Teufel ist Wasser?‹ Entweder gibt es die Wirklichkeit nirgends oder, was auf dasselbe hinausläuft, es gibt sie überall. Was uns abhandenkommt, ist nicht die Wirklichkeit selbst, das Wasser, sondern das Gefühl dafür. Wir können die Wirklichkeit nicht auf eine reine Weise erfühlen, erfahren oder erschwimmen. Wir erfahren sie womöglich, indem wir erfahren, was sie nicht ist, weil fact und fiction als singuläre Erscheinungen in unserer Welt nicht vorkommen, sondern nur im Verhältnis zueinander.«
Ich stand vor der Wand eines Bleibeortes für nicht mehr so richtig in die Gegenwart Zurückfindende oder scheinbar (anscheinend?) keine Zukunft mehr Empfindende, sondern überwiegend nur noch in der Vergangenheit Existierende, in einem Haus mit einem hohen Anteil dementer Menschen. Ich las einen wie in Schönschreibschrift per elektronischer Rechenmaschine ausgedruckten, fein säuberlich eingerahmten Satz von Christian Morgenstern, der mich an eine andere Sentenz von ihm erinnerte, die seit Jahrzehnten alle erdenklichen Kalenderblätter ziert. Meines Erachtens hat der Münchner Abendstern Karl Valentin ihn ohnehin am deutlichsten ausformuliert, indem er aphorisierte: Fremd ist der Fremde nur in der Fremde. Aber ich als Zeit meines Lebens allenthalben immer wieder Fremder will gelten lassen: Heimat, meinte dieser Stern des aufhellenden Tages, den Arno Schmidt als Helios, der seinen Wagen aus der Garage schiebe, bezeichnet hat, sei überall dort, wo man Freunde fände. Doch ausgerechnet an diesem Ort, hier also an einem in von vielen Älteren der niederen Lande möglicherweise nicht unbedingt übermäßig geschätzten deutschen Sprache, las ich ihn in derselben. Ich nahm ihn dort wahr und begann überaus nachdenklich zu werden an einer Stätte, an der häufig ohnehin in der Regel schulterzuckend oder auch hilflos die Sprache des Nicht-mehr-Verstehens, dort, wo, um das Gespräch ingangzuhalten, bisweilen geradezu kleinkindartig geplappert wird. Allerdings kam Morgensterns Kernaussage in diesem Fall sehr viel deutlicher zum Tragen: Zuhause, las ich, sei man überall dort, wo man verstanden werde.
Damit ist man möglicherweise zumindest teilweise heraus aus der angestrebten, allseits empfohlenen, zu praktizierenden Theorie, nach der entscheidend sei, innerhalb welcher Kultur man aufwachse. Unlängst erzählte meiner göttlichen Gattin und mir am Tresen ein Grieche, der mit bald sechzig Jahren sein (Heimat-)Land verlassen mußte, weil er dort, im Ursprungsland der Demokratie, für sein bißchen übriggebliebenes Geld nicht einmal mehr ordentlich zu essen bekam und deshalb abenteuernd oder -lich in eine mittelgroße, vergleichweise kühle und feuchte Stadt Deutschlands auswanderte, obwohl er, wie er meinte, das mittelmeerische Klima ständig in sich, in seiner Mentalität fühle. So besehen ist Multikulturalität tatsächlich perdu, abseits jedweder Diskussion. Oder schon wieder aktuell oder auch, um in die Sprache der (hier psychischen) Mediziner zu wechseln: akut. Von einem gewissen Zeitpunkt an spielt eine bestimmte Sprache keinerlei Rolle mehr. Hauptsache, die Verständnis-Bereitschaft ist vorhanden.
Um unserem (noch) regierenden Roi François I mal bescheid zu geben, daß das mit der Vergrößerung der Regionen, bis hin zur endgültigen Zentralisierung, zu einem einig einzigen Land keine gute Idee sei, bin ich nach Lutetia gefahren, bis hin zum Elysée, um dort mal wieder auf die Barrikaden zu steigen und anschließend im Marais mit muselmanischen Freunden aus Nordafrika einen ordentlichen Schluck aus dem Barrique zu nehmen. Mit dem TGV bin ich gereist und dann mit der Metro.
Ja, mit der Bahn – nein, ich will nicht auf die leidgeprüften Nachbarn zur Rechten anspielen. Doch die werden es auch nicht mehr lernen müssen, mit Streiks zurechtzukommen, da selbige in Bälde wohl qua Gesetz untersagt werden dürften. Dann fahren eben alle mit Bussen, die benötigen keine Lokomotivführer. Und sicherlich wird Frau Angela demnächst ohnehin unseren demokratisch gewählten König Franz anrufen und sich solche beispielgebenden, jedwedes Wirtschaftswachstum hemmende Unhöflichkeiten für alle Zukunft verbitten.
Ach, was wollte ich nochmals sagen. Richtig. In der Bahn habe ich das getan, was man in der Bahn eben so tut: ein Buch gelesen, Fachliteratur sozusagen, die ich hiermit allen auf die Bahn Wartenden empfehle. Man kann es auch im Wartesaal lesen; dafür ist er schließlich geschaffen worden.
Ich habe Die Zugmaus gelesen.
Auf Krümelsuche im Münchner Hauptbahnhof schlüpft der kleine Mäuserich Stefan in einen Eisenbahnwaggon. Und hier beginnt für ihn eine spannende Abenteuerreise, auf der er nicht nur das Käseparadies Schweiz und die Baguette-Hauptstadt Paris kennenlernt.
Der Kinderbuchautor Ulrich Jackus hat das Buch in den neunziger Jahren besprochen, in dem 1996 verblichenen Blatt von und für sogenannte Erwachsene stand geschrieben:
Aber gottlob haben auch Basler Bahnhofs-Müsli ihre Mythen. Und die lassen nur ein Ziel offen: Frankreich, »unter de Schwyzer Müs e Gheimtip«. (Unter den fein gekleideten Herren im Intercity auch!) Folglich gehen Stefan und Wilhelm gemeinsam auf Achse und landen in Paris. Offensichtlich ist an Schweizer Mythen mehr dran als an deutschen, denn: »Noch an demselben Abend entdeckten wir eine Gewohnheit der Franzosen, die uns entzückte. Die Franzosen pflegen zu allen Mahlzeiten langgezogene Brötchen zu essen [...], wie für Mäuse geschaffen, denn dabei fallen natürlich viele Krümel ab.« Aber die nahmen sie nur als »Zubrot«, denn es gab noch einiges mehr: zum Beispiel in Rotwein eingelegte Oliven. Von denen »lagen viele am Boden, da sie von den amerikanischen Touristen, in der Annahme, sie seien verdorben, meist unter den Tisch geworfen wurden.« Und die erste Lektion in Pariser Lebensart, speziell über die Benutzung der Boulevards, lernen unsere beiden Zugereisten von Pierre (Pariser Bahnhofs-Maus): »Nicht laufen, sondern schreiten. Was huscht, das sieht man.«
Vergangene Nacht fuhr ich mit einer dieser feinen Tram strasbourgeoise, die, nachdem sie an einer Art Grenze abgehängt worden war, sich in ein Gebilde verwandelt hatte, das der Spielzeugeisenbahn gleichkam, die immerhin so groß war, daß ich als etwa Vierjähriger obenauf mitfahren durfte. Im folgenden Bild befand ich mich allerdings im Inneren des Wagens, war der einzige Fahrgast, selbstverständlich schwarzfahrend, hatte ich doch bis auf Tie-Shirt und Unterhose nichts am Leib und mußte mich ohnehin auf der Flucht befunden haben. Irgendjemand, offenbar war doch noch ein anderes Wesen anwesend, dessen ich allerdings nicht ansichtig wurde, teilte mir also aus dem Off eine Männerstimme mit, wir befänden uns nun in den USA. Das irritierte mich, hatte ich doch auch nicht nur annähernd die Absicht, ausgerechnet dort mein müdes Fluchthaupt niederzulegen. Als ich aus dieser Tram-Bahn ausgestiegen und einen Hohlweg hinabgegangen war, richtete sich mein Blick auf eine abfallende, schier endlose Weite mit extrem dichter Bebauung an allesamt einstöckigen ärmlichen Backsteinhäuschen; jetzt, im nachhinein, sehe ich es als bergabfallende, nicht endenwollende Favela-Siedlung. Kurz darauf begegnete ich einem recht häßlich aussehenden Paar mit einem noch häßlicheren, ekelhaft sabbernden, wohl multikulturellen Hund, dessen kleinwüchsiges Frauchen mir kundttat, wir befänden uns keineswegs in den USA, sondern in, irgendwas mit Albuquercdingsserlabums, wohin sie vor vielen Jahren der vielen Flüchtlinge wegen aus Deutschland geflohen sei. Als die drei feststellten, wir vier hätten wohl ein eher eingeschränktes Interesse aneinander, schritt ich den Hohlweg wieder hinan, um mit der Spielzeug-Tram-Bahn zurückzukehren. Doch sie existierte nicht mehr. Somit bin ich verurteilt, fortan als Exilant im Nirgendwo zu leben.
Ja, ich bin aus dem Traum geflüchtet.
Zwar war es mir via Schillers Räuber-Uraufführung am Mannheimer Nationaltheater klar, daß die Stadt einen markanten historischen Hintergrund haben muß, aber ich hätte nicht gedacht, daß sie über eine solch' reichhaltige Geschichte verfügt. Ich kannte sie, bevor ich dort wieder begonnen hatte, ins Kino zu gehen, lediglich von meinen Besuchen der Kunsthalle und einem früheren Entrée im Theater. Und ich erinnere mich recht gut, wie desorientiert ich der Quadratierungsbezeichnungen wegen war; im übrigen hielt ich diese bislang für eine Maßnahme nach dem zweiten Weltkrieg. Mittlerweile bin ich eines besseren belehrt.
Tatsächlich sehe ich bezüglich der inselartigen Lage zwischen zwei Flüssen durchaus eine gewisse Ähnlichkeit mit Lyon. Ob Mannheim jedoch einen Vergleich mit dem von den Römern geprägten, mit dem außerordentlichen Charme von Lyon standhält, wage ich zu bezweifeln; alleine die unterschiedlichen Größenordnungen – Lyon ist nach Paris und Marseille die drittgrößte Stadt Frankreichs – dürften den verbieten. Es mag vor allem daran liegen, daß kurz hinter dieser Metropole des Nordens des Südens sich eine Art Wettergrenze befindet: etwa ab Vienne beginnt das Licht der Provence zu leuchten, beginnen die Zikaden mit ihrem im Sommer bisweilen ohrenbetäubendem Lärm, der erst endet, wenn Arno Schmidts Morpheus den Wagen in die Garage schiebt, dann jedoch so schlagartig, daß einem fast bange werden kann angehörs dieser Stille.
In Lyon gibt es übrigens auch ein Nationaltheater, nein, korrekt: eine Nationaloper; neben Paris die zweite, also quasi die einzige, denn Paris ist nicht Frankreich. Ich erwähne die deshalb – ich könnte jetzt einen (Liebes-, aber zugleich einen Wut-)Roman erzählen über die von mir sehr gemochte Stadt, dessen wunderschönes Weberviertel Croix-Rousse, im ältesten, auf die Gallier beziehungsweise Römer zurückgehenden Quartier der Stadt, das seit einiger Zeit von den Immobilien-Ganoven-Spekulanten zerstört wird; na klar, man hat's zum UNESCO-Weltkulturerbe ausgerufen –, da dieses Musiktheater neben der atemberaubend schönen, aus alt und neu bestehenden Architektur noch eine Besonderheit aufbietet: Steht man oben an der Basilique Notre-Dame de Fourvière, kann man von dort aus die vielen roten Laternchen auf dem Tonnendach der 1997 von Jean Nouvel neu gestalteten, aus dem Jahr 1756 stammenden Oper blinken sehen. Doch das sind nicht etwa die optischen Signale der Putains, der Bordsteinschwalben, die ihre Freier umschwärmen. Mit diesen blinkenden Rotlichtern wird angezeigt, daß es die Töne sind, die sehr hoch fliegen. In Lyon verkünden diese Rotlichter nämlich die laufende Vorstellung.
»[...] Ich glaube zutiefst antiwagnerianisch und bin der Letzte, der Wagner auf irgendeine Art und Weise vergöttert. Sicher, sprachlich und musikalisch ist er teilweise grandios, aber als Hobby-Philosoph hat Wagner mich immer abgestoßen. Dieser Antisemitismus, diese Deutungen, dieser Versuch, sich selbst als Künstler, als eine gottähnliche Gestalt zu überhöhen, das finde ich sehr schwierig. Was mich unglaublich fasziniert hat, schon immer, ist seine Musik, die ich leidenschaftlich liebe. Ich habe auch schon irgendwann mal gesagt, wie sehr ich Leonard Bernsteins Aussage teile: ›Ich hasse Richard Wagner, aber auf Knien.‹ [...]«
Zitat des Dirigenten Karl-Heinz Steffens aus der mir kürzlich zugesandten Dokumentation Wagners Auftrag. Der Ring des Nibelungen als kulturpolitisches Projekt in Ludwigshafen, 2010 – 2013. Selten habe ich uralter Bühnen- und später zum Buchmensch Mutierter aus dem Theaterbereich ein solches inhaltlich wie gestalterisch überzeugendes, mich geradezu begeisterndes Buch in der der Hand gehabt; darin gelesen, das darf nicht hintenanstehen. Alleine die gedruckten Interviews, die Essays sind eine ungemein spannende Lekture: allen voran erwähnt sei der Aufsatz des Intendanten, des bereits seit den sechziger Jahren von mir überaus geschätzten Hansgünther Heyme (siehe Kauft Käse), der darin brillant eine gleichermaßen logische wie litararische Verbindung zwischen Ludwigshafen und Wagner herstellt, der (nicht nur) die Einheimischen darüber aufklärt, daß Nibelheim eigentlich sehr viel besser seinen Platz in dieser industrialisierten Stadt gehabt hätte. Denn Wagner war (auch) einmal Revolutionär, da existiert ein Bezug zum Zeitgenossen Karl Marx, dessen Eindrücke der Zustände im frühindustrialisierten London ihn (gemeinsam mit Friedrich Engels) zu seinem Hauptwerk Das Kapital vorantrieben.
Mir war Ludwigshafen lediglich als eine langweilige, mir geradezu häßlich erscheinende Großgemeinde bekannt, die offenbar über keinerlei Tradition zu verfügen schien. Meine mehrmaligen Besuche, die sich, auch aus persönlichen Gründen, nicht zuletzt, da der von mir zweifelsohne geliebte, seit langem selige Direktor dieses Haus der zeitgenössischen Kunst einst leitete, durchweg auf das Wilhelm-Hack-Museum konzentrierten, scheinen mich, der ich ansonsten gerne abseits der Trampelpfade unterwegs bin und eigentlich nur zu gerne in die Ecken, in die Seitengäßchen schaue, etwas versäumt haben zu lassen. Heyme (und andere) haben mich aufgeklärt: Die BASF-Stadt verfügt nach ihm über eine (auch architektonische, künstlerische!) Tradition, die, historisch betrachtet, die (heutige?) Metropole des Bayern-Königs Ludwigs (-Hafen!) nahezu in den Hintergrund zu drängen vermag. Womit nebenbei auch die Verbindung zu Richard Wagner hergestellt ist.
In Ermangelung einer Verlinkung auf ein Buchangebot untenstehend eine handgemachte Photographie der Dokumentation sowie eine Besprechung aus dem Mannheimer Morgen. Möglicherweise ist das Buch direkt über das Theater im Pfalzbau oder die Stadt Ludwigshafen erhältlich. Ich kann es nur empfehlen, und zwar nicht nur denjenigen, die sich für (Musik-)Theater, letztendlich auch für (über-)regionale (Kunst-)Geschichte interessieren. Daß es sich dabei wegen der außerordentlichen Druckqualität auch im üppigen Abbildungsbereich um einen optischen wie haptischen Genuß handelt, sei nicht nur am Rande erwähnt.
Vor einigen Wochen verblüffte mich in einem rechtsrheinischen Café ein Herr, den ich aufgrund verschiedener Äußerungen eher dem patriarchalisch grundgestimmten Kreis der Einwanderer zuordnete, mit seiner außerordentlichen Begeisterung für Noam Chomsky. Das brachte mich etwas in Verwirrung, da dieser US-Amerikaner in meinen jüngeren, den sechziger und siebziger Jahren in erster Linie als linguistischer Erneuerer des legendären Massachusetts Institute of Technology (MIT) bei mir festgemacht und er sich seither auch als Gesellschaftskritiker als Denkmal der Linken auch nicht von seinem Sockel herunterbewegt hatte. In einer Form der Ursachenforschung sah ich mich gezwungen, meine leicht sklerotisierte Denkapparatur mal wieder in Bewegung zu setzen.
Und ja, so langsam setzte sich etwas in Bewegung in meinem Denkbehältnis, von dem Francis Picabia behauptete, es sei rund, auf daß die Gedanken die Richtung ändern könnten. In Frankreich wird Chomsky wie ein Heiliger verehrt. Anläßlich einer Veranstaltung vor einiger Zeit in Paris war der Andrang groß, die fast 2000 Plätze bietende Halle war rasch gefüllt, und der das Auditorium Begrüßende meinte: Lediglich der Dalai Lama vermöge noch mehr Menschen anzuziehen.
Nun, die politische Rechte hat sich seiner bemächtigt, wie mir scheint, kommt in Deutschland gerade in Mode. Das ist sicherlich auch darauf zurückzuführen, daß der über achtzig Jahre alte, aus einer russisch-jüdischen Familie stammende, mittlerweile als Philosoph Gehandelte in seiner immerwährenden geharnischten Kritik an seinem Land USA unter anderem Israel als »Klientel-Staat« bezeichnet und auch Holocaust-Leugner verteidigt. In Frankreich eint das gleichermaßen unverbesserliche Rechtsextreme und utopistische Marxisten – eine Erscheinung, der Alain Finkielkraut seinen Essay über Die Zukunft einer Verneinung gewidmet hat. So langsam wurde mir deutlich, aus welcher Richtung die Chomsky-Verehrung meines griechischen Gesprächspartners wehen dürfte: Alles, was die Amis platt macht, ist nur rechtens. Da darf es ruhig von linksaußen her heftig herüberwehen. Daß Noam Chomsky eher der Anarchie, meinetwegen dem libertären Sozialismus zuzuordnen ist, ficht meinen vielleicht doch nicht so fein differenzierenden Gesprächspartner offensichtlich nicht weiter an. Gelobt sei, was hart macht.
In seinem 2000 in deutscher Sprache erschienenen Aufsatz Anarchismus, Marxismus und Hoffnungen für die Zukunft hält Chomsky fest:
»[...] Es ist meines Erachtens vollkommen richtig, in jedem Aspekt des Lebens die jeweiligen autoritären, hierarchischen und herrschaftsbestimmten Strukturen ausfindig zu machen und klar zu umreißen, und dann zu fragen, ob sie notwendig sind; wenn es keine spezielle Rechtfertigung für sie gibt, sind sie illegitim und sollten beseitigt werden, um den Spielraum der menschlichen Freiheit zu erweitern. [...] Natürlich werden damit mächtige Institutionen, die Zwang und Kontrolle ausüben, in Frage gestellt: der Staat, die keiner Rechenschaftspflicht unterliegenden privaten Tyranneien, die den größten Teil der einheimischen und internationalen Wirtschaft kontrollieren und andere, ähnliche Institutionen.[...]«
Chomsky könnte sich dagegen verwahren, er tut es jedoch beharrlich nicht, seit Jahrzehnten. Ich gehe davon aus, daß dies schlicht seiner libertären, also anarchischen, nein, anarchistischen Haltung entspricht und damit seiner Forderung, selber zu denken. Das aber ist genau der Punkt, an dem es vielen mangelt. In manch einem Kommentar in Zeitungen wie Internet gleichermaßen wird das deutlich; mein griechischer, deutlich dem sogenannt konservativen Lager zuzuordnender Gesprächspartner, ist ein beispielhafter Beleg. Ich getraue mich bisweilen nicht, das eine oder andere Mal auf falsche Schlüsse hinzuweisen, da ich befürchte, über lange Zeiträume belehrend tätig sein zu müssen. Da lasse ich den berühmt-berüchtigten Zeigefinger lieber unten; ich bin zudem als Lehrer ungeeignet, das hat meine frühere temporäre Tätigkeit als solcher bewiesen. Und/oder: Gegen Verschwörungstheorien bzw. deren Proklamateure kommt selbst der geduldigste Gutwillige nicht an.
Nach meiner abendlichen Meditativlustwandlung entlang des Canal de la Marne au Rhin zu Strasbourg entstieg dem Gewässer eine Niederländerin, die es an der Europäischen Metropole angelandet hatte. Nachdem ich sie unbedingt vor dem Kältetod retten wollte, indem ich mein schlichtes Samaritergewand schützend um sie legte, erzählte sie mir als Dank von ihrem Glück darüber, einen König zu haben. Als ich mich kurz davor befand, vor lauter Begeisterung zum Monarchismus zu konvertieren, stellte ich gerade noch rechtzeitig fest, daß wir ja bereits einen König haben, und zwar einen, der über weitaus mehr Weisheit und dessen Befugnis verfügt als dieses protestantische apfelbäckig glühende Willemschen.
Unser Monsieur le Président ist schließlich der Stellvertreter des Herrn zu Erden, versehen mit einer geradezu unglaublichen (politischen) Macht. Nun gut, hin und wieder wird er ausgewechselt, doch das geschieht beim Fußball und im Vatikan schließlich auch, in Bälde wohl wieder, weil es dieser eher schlichte Sozialist nicht geschafft hat, die Wege zu beschreiten, die ihm einer seiner Vorgänger bereitet hat: Der Socialiste Mitterand hatte den Conservateur de Gaulle bei weitem überflügelt, was den Erhalt des höfischen Lebens betrifft. Nun, für den französischen Präsidenten ist es jedenfalls ein leichtes, den Himmel zu berühren, leichter noch als für Achternbusch den Boden – doch Gott ist ohnehin Franzose und selbstverständlich Katholik; wenn auch ein laizistischer; was es manchmal etwas verkompliziert.
Ja es ist kompliziert. Michel Houllebecq hat unlängst gar einen Musulman vorgeschlagen, wobei fraglich sein dürfte, ob die einen Mullah in die Engelsburg hineinlassen.
Und deshalb kann unser Monarch auch sphärischer singen als solch ein protestantischer Willem, dem es an musikalischer Pracht fehlt und der ohnehin nichts zu sagen hat. Ich bleibe also, der ich ohnehin war.
Im kleinen Schwimmbad lag ich, drohte einzuschlafen und unterzugehen. Nun ja, nicht so eines wie bei David Hockney. Ich saß, schlichter, in der Sitzbadewanne des Häuschens des zu dieser Zeit noch bewohnten niederen Landen, die heißen nunmal so und nicht etwa Holland, von denen es dafür gleich zwei gibt: eine Provinz im Süden und eine im Norden. Dort gibt es so etwas noch, jedenfalls unter gereformeerten Katholiken; selbst die sind dort bescheidener, profaner Luxus schwebt denen eher als Schwanenhaftes vor, etwa wie beim oberbayerischen Kini Ludwig; der schließlich auch abgesoffen ist, samt Therapeuten.
Doch ich hatte aus selbsttherapeutischen Gründen vorsichtshalber zuvor, um nicht nicht vereinsamt sitzend abzusaufen, ein Entchen mit zu Wasser genommen. Es zog mich in seiner enormen Energie dennoch sitzwannenlandunter. Als ich unter Wasser schließlich wieder zu mir gekommen schien, sprach das Federvieh mit gleichermaßen sonor wie leicht kieksender Stimme: »Ich bin ein Pottwal, und Du befindest Dich auf meinem Rücken. Ich rette Dich.« Der Ton bzw. dessen Fall erinnerte mich an Bernhard Minetti. Der sang einst tief hinabsinkend durch das Meer des Alls, durch die Galaxie. Babelfisch ward er seinerzeit genannt. Nicht allzu lange danach war er tot.
Aus diesem von Douglas Adams gestalteten Namen wurde meines Wissens später ein Übersetzungsprogramm des Internets. Vermutlich habe ich ihn deshalb nur sehr schwierig verstanden; möglicherweise war mir Wasser ins Ohr geraten. Vielleicht war das Säugetierfischlein aber doch nichts als eine (Traum-)Ente.
Meine geliebte Gattin kommt zu meinem Leidwesen des öfteren sehr erschöpft, arg müde nachhause, da sie immer wieder Menschen reparieren muß, die die Überwachung ihrerselbst verloren zu haben scheinen. Dieser Tage schob man ihr nächtens einen Deutschen in ihre Nothilfewerkstatt hinein, dem die fünf Promille offensichtlich nicht so gut bekommen waren, die er im Laufe eines Tags samt des Abends, möglicherweise gar nur in wenigen Stunden in seinem Körper angesammelt hatte und die ihn dazu getrieben haben müssen, spätnächtens oder auch frühmorgens noch die Grenze (zum Westen hin) zu überschreiten, um einen Coffeeshop (auf-)zusuchen, um noch einen Hoffnungsschimmer zu erfahren, da er von der irrlichternden Annahme ausging, unbedingt noch eine Tüte Lachgras zu benötigen, weil alles nur nur schallend lachend zu ertragen sei; Thema: Alkohol und weitere Drogen. Da es sich bei meiner Frau um jemanden handelt, die nicht sofort die rigidesten Wiederherstellungsmaßnahmen ergreift, hat sie dem machthabenden Kollegen ausgeredet, am Patienten eine Auspumpung des Magens samt anschließender Darm-Spiegelung vorzunehmen und ihn schlicht oder geradezu liebevoll zur Ausnüchterung nicht etwa in eine Zelle, sondern in ein sanft beleuchtetes. von Barockmusik beschalltes Krankenzimmer umzusiedeln.
Mehr noch: Beim nächsten Dienstantritt hat sie, eigentlich für Notfälle allerarten zuständig, als erstes nach ihm gesehen. Das anschließende Gespräch mit ihm muß bei ihr den Anschein erweckt haben, er könne wieder klar denken. Viel schien er davon geredet zu haben, die Welt sei ohnehin nur noch in Rausch und Rock zu ertragen. Das sei der Grund, weshalb er (hoch-)aktives Mitglied der Partei DIE PARTEI geworden sei; als dieses habe er sich am Vortag vor, während und nach einem Konzert mit Rock die Kante gegeben, und da er dem Rock nicht beigekommen sei, habe er unbedingt noch wenigstens was zum Lachen gebraucht. Alles andere war ihm offensichtlich vergangen.
Das Lachen, sogar das Lächeln hat es mir nun verhagelt. Meine Frau, mit der ich mich außer Haus in der Regel in niedlichen Theatern des rokokoigen Barock beziehungsweise bei süßen Stimmen von Kastraten hingebungsvoll vergnüge (und mit der ich gemeinsam deshalb auch schonmal weitere Reisen antrete respektive durchaus enorme Entfernungen bewältige), will mich nun auf ein Rockkonzert schleppen; mich, der ich seit meiner Jugend oder gar Kindheit nicht einmal die optimalisierte Lautstärke einer Elektrogitarre ertrage, geschweige denn den hämmernden Rhythmus eines Schlagwerks dieser Musikgattung.
Das Schlimmste aber kommt noch: Meine Frau, die aus dem niedlichen Städtchen in der niedlichen Provinz der niederen Landen stammt, in das sie vor einiger Zeit nach dem Studium in der großen Stadt (samt mir im Gepäck) zurückgekehrt ist und mittlerweile dort Menschen repariert, weil sie sie, sowohl die Provinz als auch die Menschen, mag und deshalb am Leben erhalten will, trägt sich nach dem intensiven Gespräch mit ihrem besoffenen Patienten mit dem Gedanken, in den niederen Landen einen Ableger der Partei DIE PARTEI zu gründen und auch noch gegebenenfalls für ein eventuelles Amt zu kandidieren. Sie begründet das damit: Anders als im Rausch sei Politik nicht mehr zu ertragen; gar in einem Land, das, jedenfalls nach Außenansicht, einmal eines der fortschrittlichsten, der menschlichsten Europas gewesen sei, gewesen sein soll. Die Niederlande, gemeinhin bekannt auch unter dem Namen zweier seiner Provinzen, nämlich (Süd- bzw. Nord-)Holland, seien das jedoch im Landesinneren, also außerhalb Amsterdams, nie gewesen.
Und was hat sie (mit mir) getan?! Gestern abend hat sie sich mit diesem am Vortag von ihr geretteten, aus dem Schwäbischen stammenden und im nordwestlichen Deutschland niedergelassenen oder auch -gefallenen Rockvollkosowski in die Bahn gesetzt und ist mit ihm von Zwolle aus auf Reisen gegangen, zum – man stelle sich diese Ungeheuerlichkeit vor! – baden-württembergischen Landesparteitag der Partei DIE PARTEI in Stuttgart, also im meines Wissens gereformeerden – irgendwie assoziiere ich Rudi Dutschke samt Gretchen – Schwäbischen. Nun fühle ich mich leicht absenthiert.
Also werde ich mich (notgedrungen?) meiner jahrzehntelang gepflegten Tugenden besinnen: Ich fange wieder zu saufen an; vielleicht finde ich gar irgendwo noch ein paar Fitzelchen Lachgras. Aber ich werde mir nie und nimmer anhören, was im allgemeinen von diesen Mitgliedern der Partei DIE PARTEI bevorzugt gehört zu werden scheint: sogenannte Rockmusik. Ich lausche weiterhin den Gesängen der Kastraten; die sind zumindest stimmlich, klanglich näher am Saum einer Frau. Anders werde ich diese plötzliche Einsamkeit, diesen Zusammenbruch meiner Welt nicht ertragen.
Eine Kollegin meiner Gattin hat auf dem Dachboden ihres in einer grenznahen Kleinstadt in der Ortenau gelegenen Elternhauses erinnerungsverklärend auf dem Dachboden nach Photographien aus ihrer Vergangenheit gesucht. Sie war mit einem Elsässer verheiratet, der vor einiger Zeit in die Karibik geflohen war, weil man dort noch so leben könne wie Gott in Frankreich. Aus der Ehe ging ein Zwergschnauzer hervor, dem sie als dann Alleinerziehende mithilfe von vegetarischem Trockenfutter in die ewigen Jagdgründe verhalf. Während ihrer Suche nach der guten alten Zeit ist sie auf einen umgefallenen Sack Mehl aus napoleonischer Zeit gestoßen und hatte sozusagen eine göttliche Eingebung: Waffeln würde sie daraus herstellen, wie ihre Ururgroßmutter. Die wurde als Ehefrau eines Bäckers von ihm gezwungen, an Wochenenden dieses Gebäck in der Verkaufsstube frisch zuzubereiten und vor allem an jene zu verkaufen, die es partout nicht ausstehen konnten. Diese Tradition wollte sie wieder aufleben lassen, und zwar in Strasbourg, zum Marché de Noël. Bei dieser Gelegenheit würde sie zudem endlich die während der Schulzeit ihrem Ururgroßvater eingebleuten Rachegelüste gegenüber allem Französischen in die Tat umsetzen können, dem es nie vergönnt war, einen dieser Froschfresser umzubringen, obwohl er doch so grenznahe an ihnen dran war; man schickte ihn, da er während der Schießübungen ständig das Ziel verfehlte, einfach nicht an die Westfront und ließ ihn in der Heimat die Bevölkerung mit Brot versorgen, von dem es der enormen Löcher wegen immer hieß, dort habe der Bäcker seine Frau durchgejagt. Eine der guten alten Zeit gemäße, einstmals und nach der mehrfachen sanften Handwäsche dann wieder blütenweiße Schürze mit anmutigen Rüschen und auch ein dazu passendes Häubchen waren ebenfalls bald gefunden. Mit geradezu unglaublichen Methoden gelang es ihr, die aus deutscher Perspektive eigentlich unüberwindbare französische Bürokratie zu überlisten und eine Genehmigung für das Aufstellen eines Schildes zu erlangen, das Ururgroßmutters deutsche Traditionswaffeln anpries, obwohl die deutsche Sprache in französischen Medien seit langem nicht mehr gelitten ist.
Gestern am späten Abend wurde die Frau am östlichen Ende der Europa-Brücke von der Polizei wegen vorsätzlicher Massenkörperverletzung an Deutschen festgenommen.
Ich bin empört. Von wegen, das Internet gebe alles preis.
Da will ich einmal mehr Aufklärungsarbeit leisten und die geeinigten Völker mit dem beglücken, die es ohnehin nicht interessiert, seine Vergangenheit nämlich, will meine erforderlicherweise weit ausholenden Beschreibungen untermalen, da die Menschen ohne Bildchen gar nicht mehr hinschauen, weil das reine Wort erbfaktorisch der Lügenpresse, also der Sünde angehört, einen Beleg vorlegen. Doch dieses hochgepriesene Zwischennetz, dieses angeblich unerschöpfliche Archiv des Zurückliegenden verweigert sich mir. Ich wollte die frühere Illumination Frankreichs zeigen, allerdings nicht nur in der Wartezeit auf den katholischen jungen Herrn, sondern das Land in seiner Alltäglichkeit: Gelbe Autoscheinwerfer. Die Vergangenheit Frankreichs ist ausgelöscht, es gibt sie nicht mehr.
Ich weigere mich, als Beweismaterial ausgerechnet einen popeligen Golf von einem Maulwurf-GTI-Treffen dafür heranzuführen, und dann noch einen mit einem Heidenheimer, also schwäbischen Kennzeichen, hinter dem ein offensichtlich glücklich tiefergelegtes Pilotengesicht sichtbar wird. Das ist nicht Frankreich!
Bis 1993 waren selektivgelbe Autoscheinwerfer in Frankreich Vorschrift. Eingeführt wurden sie vor dem 2. Weltkrieg, um die herannahende deutsch-französische Feindschaft besser erkennen zu müssen. Nachdem das Deutsche Reich ausgelöscht worden war, begründete man den Vorteil mit der besseren Erkennung bei schlechten Sichtverhältnissen durch dieses Licht; gemeint war die bessere Durchdringung des Nebels, in dem sie sich ja immer noch leichter anschleichen könnten, die später zu Freunden Gewordenen. Doch dann kam Europa und führte endlich die Egalité ein, wenn schon nicht beim Recht, so doch wenigstens beim Automobil. Die anheimelnden gelben Lichter wurden ausgepustet, wie Kerzen zu christlichen Vorzeit. Dafür bekam Frankreich aber zunächst einmal, lange, bevor Frau Merkel eine ihrer überraschenden Entscheidungen traf, die Abwrackprämie und anschließend den TÜV; Lehrmeister war die deutsche DEKRA geworden, genannt wurde diese von Strasbourg und Bruxelles adoptierte Frucht der deutsch-französischen Freundschaft ›Le contrôle technique‹. So bleibt mir allein, zu zeigen, wie dunkel es geworden ist im Land: le feux des projecteurs eines französischen Denkmals.
Texte: © Didier Calme. Verlag: BookRix GmbH & Co,. KG Sonnenstraße 23, 80331 München
Bildmaterialien: © Didier Calme. Bei anderen Aufnahmen sind die Quellen verlinkt.
Tag der Veröffentlichung: 03.12.2016
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