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Rotlichtkater

Eine jüdisch-ungläubige, im sechsten Arrondissement von Paris lebende Freundin, also eine sogenannte Kulturjüdin, praktiziert seit langer Zeit ein interessantes Auswahlverfahren. Sie nimmt zur Chanukka-Zeit (Licht über Dunkelheit), die in etwa dem vorweihnachtlichen christlichen Freundschafts-Geschiebe und -Getriebe bei Express und Spekulationen gleichkommt und in der Regel von den katholischen oder auch resthugenottischen Franzosen et vice versa häufig nicht, nicht nur kulturhistorisch, unterschieden werden kann, Garderobehaken gezielt vom Eingangsbereich ihrer Wohnung ab, da sie auf diese Weise ihren übermäßig zu werdenden Bekannten-, auch als Freundeskreis (irgendwas mit Medien) bekannt, geringzuhalten, zumindest immer wieder aufs neue zu reduzieren gedenkt, bittet sie Gäste während dieser gemeinhin ungemütlicheren Jahreszeit, die Jacken oder Mäntel auf dem sich ebenfalls in der Küche, dem einzigen geheizten Raum der Wohnung, befindlichen Bett abzulegen. Kommt der etwa 150 Jahre alte Rotlicht-Kater aus den unheimeligen Resträumlichkeiten der Georges-Eugène Baron Haussmann-Behausung der Klasse 2 angeschlichen, um sich auf einer der dortigen Ablagen zu erleichtern, hat der Eigner sich nach dem Facebook-Prinzip selber entfreundet.

Glaubensrichtungswechselversuch

Da sinniere ich geborener Wankelmütiger über einen Glaubenswechsel, weil mir dieses geistige Protestlerum in den niederen Landen, in denen ich zum Zeitpunkt dieser Kulturnotiz lebe, von vielen auch Holland genannt, auch wenn es sich etwa um Fries- oder Gelderland oder Overijssel handelt, schlicht zu langweilig geworden ist, begebe mich also zu einem katholischen, also hier fortschrittlichen Gottesdienst der Danksagung, genannt Eucharistie, zumal im Vorfeld irgendetwas mit Gaudium angekündigt worden war, und was geschieht? Ich langweile mich. Kaum, daß ich einen Unterschied gespürt hätte zu den religiösen Feierlichkeiten der Lutherianer zur kommenden Niederkunft des Christentums. Nichts ist (mehr?) los bei den Katholen. Kein lateinischer Sprechgesang, niemand mehr auf der Kanzel wie weiland Don Camillo. Den dort oben hinaufgehörenden Priester hätte ich ohnehin am liebsten sofort zu einem Rabbiner in den Unterrricht geschickt, nicht nur wegen seiner musikalischen Unterbefähigung, und für seine Predigt wäre ihm im nachhinein ein Rhetorikseminar bei Walter Jens selig anzuempfehlen gewesen.

Nun gut: Einige Damen sowie ein Herr haben immerhin Altes reizvoll zum besten gegeben, wahrscheinlich um mir die fortschreitend nach unten gehende Laune ein wenig anzuheben. Ich hatte allerdings die Eingebung, es auf meinem Weg zum lieben Gott nicht erwarten zu können und deshalb den barocken Aufführungssaal bereits vor Vorstellungsbeginn zu betreten. Da sang eine gregorianische Schola sich ein, bei diesem Vorspiel überkamen mich leichte Gefühlsschauer bezüglich dieses Tags der Freude, nicht zuletzt auch wegen der überaus sinnlichen Stimme einer Dame. Doch als das eigentliche Theater begann, meinte man in dieser fortschrittlichen Kirche, ohne verstärkende Technik nicht mehr auskommen zu können. Und damit war alle in mir aufkommende Spiritualität dahingefahren, allein der Teufel wird wissen, wohin. Nichtmal die Lautsprecheranlage Gottes kriegen sie geregelt. Wie soll ich da zum rechten Glauben finden?

Ich glaube, ich versuch's demnächst mal mit der Religion der Atheisten. Vielleicht ist da mehr los. Allerdings steht die Befürchtung an, die könnten nicht so gut singen.

Bises

Unlängst überschritt mich im Prinzip an Grenzenlosigkeiten eigentlich Gewohnten mal wieder eine Grenze. Im Zentrum, sprich inmitten der wahren Mitte Deutschlands, den Einkaufsmetern des emsländischen Meppen, begegnete mir eine unzweifelhaft aus, früher nannten wir das so, besserverdienenden Kreisen stammende einstige Dame. Nicht mit guten Tag, wie in alten Zeiten, begrüßte sie mich freudestrahlend, sondern mit, wie an der Kasse eines Billigheimers: Hallo! Die zweifellos nach wie vor wohlansehnliche, zumindest äußerlich bürgerliche gehobene Akademikerin hatte offenbar, vermutlich, um sich dem allgemeinen Volk gegenüber zumindest charaktermaskeradisch verständlicher zu machen, nicht nur ihrer ehemaligen sprachlichen Eleganz entledigt, sondern auch ihren Wortschatz aufs wesentliche reduziert. In der Folge begehrte sie, mich recht verblüffend, mit ihrer linken Wange meine rechte, dann die andere Seite, um mich anschließend abzubusseln, wie man das in ihrer Heimatstadt München nennt. Es sollte offenbar den Anschein bieten, das sei eine mir Heimgekehrtem und in der fernen Fremde Angetroffenem angemessene französische Geste der Begrüßung. Als ich nicht sofort darauf gleichermaßen reagierte, schmatzte sie mir, sozusagen politisch ausgewogen korrekt, rechts wie links die Backen voll.

Das Frau gewordene Fräulein Müller ist seit einiger Zeit angekommen im Formularwesen des Internationalen. Wie beim Wiener Hofball der neueren Moderne hält sie ihre linke und rechte Wange hin, um ihre höfische Weltoffenheit, also etwa die des Vierzehnten Ludwigs, zu symbolisieren. Dabei beginnt deren Bildung weit nach dem Einsetzen bezieehungsweise der Neuauflage der deutsch-französischen Freundschaft, etwa seit Gerhard Schröder und dessen französischem Gegenstück Lionel Jospin oder auch dessen monarchischem Oberhaupt, Jacques Chirac. In Frankroisch schmatzt man sich aber eben nicht ab, ja man haucht sich nicht einmal an. Man deutet das rechte und das linke et vice versa Begrüßungsküßlein Wange an Wange allenfalls an, vergleichsweise vielleicht dem nicht einmal hingehauchten, sondern lediglich angedeuteten Handkuß am Hof der nach Griechenland abtrünnigen Sisi. Und das auch nur, wenn man tatsächlich miteinander befreundet ist. Das ist regional unterschiedlich: mal ein-, mal zwei- oder, wie im immerzu besoffenen Cognac in der südlicheren maritimeren Charente, auch schon dreimal auf beide Wangenseiten. Aber eben angedeutet. Und nicht mit Lautstärke oder gar Feuchtigkeit verbunden. Der Rest der Gesellschaft verbeugt sich leicht, wie ich es beispielsweise aus dem großen Britannien kenne, oder reicht sich höchstenfalls die Hand. Einen Kuß auf die linke oder rechte Backe erhält lediglich Fanny, die Galionsfigur des französischen, mittlerweile ebenfalls grenzenlos internationalisierten Nationalsportes Pétanque, und das auch nur, wenn der Delinquent mit null Punkten verloren hat.

Doch die Deutschen, so mein sich zunehmend verstärkender Eindruck, haben ohnehin seit einiger Zeit ein ziemliches Defizit an höfischem Gestaltungswesen; sie haben eben keinen Bürgerkönig wie wir, sondern lediglich einen Bundespräsidenten.

 

Spiritualität

Sagt da doch ein Mensch fortgeschrittener Jahre nach einem Konzert in einer ouden Kerk zu mir, ich müsse ein Gereformeerter sein, denn nur ein solcher könne so andächtig der Musik lauschen. Wie er denn auf diese geradezu absurde Idee komme, ich könne einer dieser geistig völlig verschlankten Reformatiker sein? Nun gut, hielt er, sich zugleich für sein Fehl(vor)urteil entschuldigend, dann sei ich wohl doch ein Katholik. Gar nicht entrüstet, sondern im Vollbesitz meiner verbalen Bewaffnung schoß ich zurück: Ob er denn grundsätzlich der (w)irren Meinung sei, nur christliche oder andere religionsdurchwirkte Ohren seien in der Lage, die richtigen Töne wahrzunehmen? Zwar operierte ich ungern mit dem Gattungsbegriff Atheismus, weil ich den für eine andere Art, für eine Variante des Glaubenskampfes halte, doch zur Verdeutlichung meines Protestes zöge ich ihn als Wortdegen ausnahmsweise aus der Scheide. Ob denn der Ungläubige grundsätzlich der Wahrnehmung (auch) des Musikgenusses unfähig sei? fragte ich meinen vor der Kirche stehenden, recht gradlinig argumentierenden Gesprächspartner. Schließlich sei er es, mäanderte ich, seinen kanalartigen Verlauf aufbrechend, der kraft seiner Auseinandersetzungsbereitschaft eher noch als der immer nur an das Eine oder meinetwegen den Einen Denkenden zur Unterscheidungsfähigkeit  gelangt sei. Spiritualität könne beispielsweise auch der Melancholiker empfinden, dazu benötige er nicht einmal einen Analytiker, der ihm das bestätige. Geist könne auch anderweitig in einen hineinfahren. Das müsse wahrlich kein Heiliger sein.

Ständig verklebt das angeblich auf dem Christentum basierende Weihnachtsschmalz meine Ohren. Im Radio nölt andauernd jemand mit geschwollener Stimme etwas vom Kindlein, das da komme. Da springt das Roß auf und schaltet ab, legt etwas Ordentliches auf, das mir aufrichtiger, differenzierter erscheint und zudem wohlklingender in meinem Gehör ankommt. Ich assoziiere schlicht den zauberhaft vielsagenden Begriff, der mir vor einigen Tagen zugetragen wurde und der seither allkörperweit durch meine Ganglien schallmeit: Kopfvögeln. Das hat ebenfalls etwas mit Kindlein zu tun, zumindest als geistige Übungsmaßnahme für kommende körperliche. Ich lege eine CD auf, die mich dieser Tage aus der Ferne anflog: Missa festiva von Tobias Breitner. Ein recht junger - völlig anders als dieser schwülstige Pole Górecki (nichts gegen Polen!) - katholischer Komponist. Na und? Den dabei angesungenen lieben Gott ignoriere ich einfach. Bei mir funktioniert Musikgenuß auch ohne den.

 

Musikbeispiel.

 

Quick(l)y

Tagaus, tagein nehmen die Besucher der Quick-Wiederherstellungsstationen den Betreibern die Arbeit ab, ob bei Bratklops zwischen zwei Pappbrötchenhälften in Tristesse oder irgendwo balkanesisch gewickelten original japanischen Fischreisröllchen inmitten edler Hölzer, vermeiden dringend benötigte Geldverdienplätze, maximieren den Ketteninhabern die Gewinne, indem sie ihr Essen nicht nur selbst abholen am Tresen, sich das durch Zusatz von Kohlensäure vom Leitungs- zum Tafelwasser Aufgehübschte am Automaten abfüllen, Flaschen selber öffnen, Besteck nachpolieren et cetera, erst einmal den Tisch säubern und am Ende alles auf-, also brav abräumen sowie beinahe auch noch die Spülmaschine bestücken. Nur so sei das günstige Preisleistungsverhältnis zu halten, heißt es da. Ach ja, die Lohn(neben)kosten.

Dieselben Schnellrestaurantbesucher bedienen dann im Bahnhof beziehungsweise Flughafen den Automaten, wenn sie's nicht ohnehin bereits via Internet erledigt haben wie auch den Kauf der erforderlichen Utensilien für die schönsten zwei, vielleicht drei Wochen des Jahres. Sollten sie die tausend oder zweitausend oder noch mehr Kilometer mit dem Auto absolvieren, wiederholt sich das Sparprocedere in den Raststätten. Gehören sie einer gemächlicheren Gattung an, checken sie ein- bis dreimal an der Autobahn oder Autoroute oder Autostrada oder Autopista ein in Hotels genannte Naßzellen mit angeschlossenen Betten, garantiert frei von lästigem Personal, alles mit Hilfe von Karten und Nummern. Möglicherweise haben sie auch das vorausschauend bereits zuvor übers flotte Netz gebucht, man weiß ja nie während der Hauptreisezeit, und Zeit will man letztlich ja nicht verlieren, was ein Ausritt ins nächste Dörfchen oder gar Städtchen nämlich zur Folge hätte, am Ende gar noch eine wegen des lahmarschigen Kellners und den sonstigen Gängen viel zu lang dauernde Abfütterung in einem Bistrot oder einer Trattoria oder einer Hosteria, nicht auszudenken. Der Strand wartet (nicht).

Gebräunt bis verbrannt und von ein paar Rettungsringen verziert, aber weniger aus dem nautical shop als aus der Gastronomie, somit rundum glücklich zurückgekehrt, berichten sie beseelt von den südlichen Serviceoasen und deren Gemächlichkeit. Herrlich war's, sich den lieben langen Tag reihum bedienen zu lassen. Und so freundlich waren die alle dort. Das bekämen die Hiesigen einfach nicht hin, sie seien einfach kein Volk der Dienstleistung. Da könnten sie noch so schön herbeireden wollen, die Politiker. Schlimm, das alles.

Ein paar Tage nur gehen ins Land, dann helfen sie ihnen wieder sparen, auch sich selbst, Zeit und damit Geld, den schnellen Restauratoren und den Billig- oder Nichtsobilligheimern, reihen sie sich ein in die Kassen- oder sonstigen Warteschlangen, drücken ihnen zur Kostenreduktion und sich zur Zeiteinsparung wieder alle erdenklichen Knöpfe, touchen die Screens, im Nah- oder Fernverkehr, ob öffentlich-rechtlich oder privat gewinnorientiert, updaten Behördenformulare, aus Gründen der Papierersparnis, sagt der mittelalterliche Finanzamtsleiter, und druckt die zweizeilige Email aus, um sie aktenkundig zu machen und schließlich sachgemäß verwahren zu können.

Ich stehe lieber beim Dorfkramer, am liebsten in der Épicerie de nuit, in Berlin oder anderswo auch kurz Späti genannt, beim arabisch-nordafrikanisch Aussehenden in der Stadt an der Kasse, die, wie auch anders, angesichts der europäischen Schwarzgeldkontrolle ebenfalls längst hochelektrisch scannt, der mir allerdings, entgegen der landläufigen Meinung, obendrein keinen höheren Preis abverlangt als der augenwischerische Supermarkt und bei dem's auch nicht länger dauert als dort, obwohl er noch dies und das aus dem Hinterstübchen oder der Kühlung holt, um Sonderwünsche zu erfüllen. Mittlerweile haben ein paar wenige kluge jüngere Menschen sich der Lebensqualität erinnert, die die Älteren mal hatten mit ihrem zeitraubenden Rumgequatsche. Das wäre eine Zukunftsperspektive.

Madame Reverchon im beschaulich-betulichen hochprovençalischen, etwa eine Autostunde vom Meer entfernten touristenfreien Dörfchen der Haute-Provence, wies einen Freund in einem Gespräch über südfranzösische Gepflogenheiten ausdrücklich darauf hin, es gäbe in Marseille gleich gar keine Papierkörbe. Es würde sie doch ohnehin niemand benutzen. Die etwa fünfzigjährige, sehr gepflegte und nicht minder bürgerliche Dame setzte dann noch ein d’accord drauf: Das sei in Ordnung, da hätten die Menschen Arbeit, und der Dreck komme zweimal täglich wieder von der Straße weg. Und, nebenbei, an vielen Busstationen stünden freundliche, nicht nur auskunftsbereite Helfer, die nicht nur den netten kleinen Französinnen in die Kiste helfen, sondern durchaus auch schonmal der damenbartbehaarten Fischersfrau oder deren Altem nach dem zehnten, sozusagen aus dem Ruder gelaufenen Pastis. Die machten das einfach so, und betasten oder betatschen oder begrabschen täten sie auch niemanden, weder die kleine entzückende noch die Französin mit dem bereits seit Jahrzehnten auf der Oberlippe spriesenden Pflaum.

Dorfelite

Der Begriff Demokratie entstammt dem Altgriechischem und setzt sich zusammen aus den Termini: Demos, das nicht mehr als Dorf bedeutet; Kratein wäre am ehesten mit herrschen zu übersetzen; wie etwa graphein mit schreiben, also Demographie. Bei einer Demokratie handelt es sich demnach um ein sich selbst verwaltendes Dorf.

Deme bedeutete eine Art aristokratische Ordnung, also eine kleine Führungsgruppe oder auch Elite. Das Volk waren die anderen. Aus ihnen herausgefiltert wurden vereinzelt Bürger. Dabei handelte es sich um systemtreue Männer, denen man das Recht zugestand, Waffen zu tragen, die spätere Armee also; der Bürger als Begrifflichkeit sollte in der französischen Revolution wieder auftauchen.

Diese drei Organe Deme, Bürger und Volk machten nur circa zehn Prozent der Bewohner eines Dorfes aus. Die restlichen 90 Prozent wurden als Idios bezeichnet, aus denen sich das heutige Wort Idioten (für Leser des Feuilletons zum besseren Verständnis: Idiotae) ableitet. Die auch Privatmenschen (bei den Römern: Res Privata) Genannten hatten und haben in der antiken wie in der heutigen Demokratie für die Führung oder auch Elite zu schuften.

Ordnungsversuch

Er dürfte hinlanglich bekannt sein, der vielzitierte Blick unter den Teppich, der Ungeahntes zutage fördert. Allerdings bedarf es zu diesem Behufe des Willens, ihn anzuheben.

In unserem Haushalt existieren, bis auf einige Spitzendeckchen aus der Zeit des noch nicht gänzlich verarmten niederländischen Adels, deshalb sehr wenige Verdeckungs- oder auch Verhüllungsmaßnahmen, um sich nicht der Mühe unterziehen zu müssen, etwas sichtbar werden zu lassen, das wir nicht sehen möchten. Über die Zeit haben sich jedoch Surrogate entwickelt. Zwei Schreibtische stehen in unterschiedlichen Räumen unserer Wohnung. Einer dient meiner computer- und auch internetfeindlichen Gattin als Leseunterlage für aktenähnliche Zustände: es stapeln sich fein säuberlich, auch eigene, medizinische Gutachten und Untersuchungen der letzten Jahrzehnte. Als wir vor einiger Zeit die Niederlande verließen, um nach Frankreich um- bzw. rückzusiedeln, kehrten diese Anhäufungen exakt nach der zuletzt in Zwolle angelegten und präzise in mehrere Kartons zwischengelagerten Ordnung quasi zurück auf die neuen Leseplatten. Sollte es ausnahmsweise vorkommen, daß ich meine Frau retournieren möchte, weil sie meine Hausarbeit mal wieder nicht ausreichend gewürdigt hat, sie mir beispielsweise vorwirft, ein aus der guten alten adeligen Zeit ihrer südholländischen Ahnen stammendes Champagnerglas mithilfe der Spülmaschine unsachgemäß gereinigt zu haben, frage ich sie, wann sie den letzten Kunstfehler verursacht habe. Ein paar Schritte und ein Griff in einen der Stapel reichen aus, um die Akte hervorzuziehen, aus der etwa neunzig Seiten lang hervorgeht, sie sei schließlich diejenige gewesen, die den irrtümlich von einem Kollegen abgetrennten Arm eines Patienten wieder angenäht habe, und zwar derartig, daß er, der ehemalige Patient, nicht nur wieder Champagner trinken könne, sondern überdies aus einem sorgfältig, von eigener Hand gereinigten Glas.

Auf meinem Schreibtisch befinden sich außer einem Computer im Sinne der Fortsetzung einer Schreibmaschine für in die Jahre gekommene freizeitdichtende Hausmänner die unterschiedlichsten Papiere; ich gehöre nämlich der Generation der frühgeburtlichen, erst in fortgeschrittenen Jahren mit dieser irritierenden Elektrik in Kontakt gekommen Internetausdrucker an, was daran liegen mag, daß ich ein mehr oder minder direkter Nachfahre Gutenbergs bin, ich also aus der papiernen Welt abstamme. Ein Großteil der abgeholzten Regenwälder dieser Erde lagert folglich auf diesem, meinem Schreibtisch, auf dem sich einige Vorgänge durch automatische Verschiebung in die untere (Ab-)Lagerungsstufe und damit in die Unsichtbarkeit von selbst erledigen.

So sähe mein Schreibtisch denn auch aus, meint meine sicherlich mich, aber in erster Linie vermutlich ihr vermeintlich mathematisch exact vorausberechnetes Chaos* liebende Gattin: wie in einem dieser neuzeitlichen oder auch -modischen Mischwaldbiotope nach deutschem Vorbild. Ich hätte mich offensichtlich über viel zu lange Zeit unter diesen größtenteils leicht seltsamen, gegen ihren vom zweiten Wilhelm ff. in die Gehirnerbfaktoren injizierten Kadavergehorsam ankämpfenden, sich von ihm lösen wollenden und damit widersprüchlichen Menschen aufgehalten und sei deshalb kulturell völlig verbogen. In Deutschland werde nämlich mittlerweile ein Verstoß gegen diese Regel des neuen Ethikkatechismusses mit Haft nicht unter zwei Jahren, und zwar ohne Gewährung einer Bewährung geahndet; dabei handele es sich nämlich um eine schwerwiegendere Straftat als die Hinterziehung von Steuergeldern. Diese Biotope dürften nicht nur nicht betreten werden, sondern man berate seitens der deutschen Regierung, das sei ihr aus gut unterrichteten Kreisen zugetragen worden, inzwischen darüber, für solche Taten wie etwa die Entfernung herumliegenden völlig veralteten, morschen, also unbrauchbaren beziehungsweise nicht mehr nutzbaren Gehölzes die Wiedereinführung der Todesstrafe, auch wenn das der Ordnung der Europäischen Union zuwiderlaufe, ersatzweise also zumindest das Zuchthaus wieder einzuführen. Und da es auf meinem Schreibtisch genauso aussehe wie bald in allen deutschen Wäldern, einem mittlerweile in die Internationalität aufgestiegenen Synonym für Heimat, müsse sie davon ausgehen, ich fürchte mich vor derlei Strafmaßnahmen. Dann dürfe ich allerdings folglich respektive konsequenterweise eine bestimmte Grenze gen Osten nicht mehr überschreiten und müsse standhaft innerhalb der Grenzen des Landes bleiben, von dem die Deutschen meinen, Gott sei dort zuhause**; während man hierzulande sich seit langem frage, ob er nicht längst die Staatsbürgerschaft freiwillig abgegeben habe.


Anmerkungen

* »Die ›Unvollkommenheit des menschlichen Geistes‹ erfordert Wahrscheinlichkeit und Zufall.« Uni Hamburg (pdf)

** Bei der unter Deutschen beliebten Redewendung leben wie Gott in Frankreich, scheint es sich um eine leicht verunglückte Auslegung (Übersetzung?) der Landesweisheit vivre comme un coq en pâte zu handeln; leben wie ein Hahn in der Pastete kommt eher der deutschen Wendung leben wie eine Made im Speck gleich. Leben wie Gott in Frankreich, ein in Frankreich unbekannter Begriff, scheint eher ein Überbleibsel aus der Zeit zu sein, zu der deutsche Soldaten während der Besatzungszeit in Paris unter einem geradezu ungeheuerlichen Wechselkurs französische Lebensart, bei der Speis und Tank nun einmal eine elementare Rolle spielen, kennen- und genießenlernen durften.

Traumarchitektur

Dieser Tage kamen mir via Historienlektüre mal wieder die po(t)emkischen Dörfer unter, diese virtuelle Architektur, die die große Katharina vermutlich mit ihrem Liebhaber im Schlafgemach entwickelt haben dürfte; wer weiß, vielleicht gar aus postkoitalen Träumen heraus. Solch träumerischer Kreativität, entnahm ich einem mir in einem Antiquariat entgegenkommenden Bilderbuch, soll gar eine ganze Stadt entsprungen sein. Vom verlorenen Fächer einer Dame soll ein badischer oberster Adeliger, von der Waldeslust ermattet unter einem Baum eingeschlafen, geträumt haben.

Fächer. Aha. Ich weiß nicht so recht. Da sind auch andere Assoziationen zulässig, mir schwant da Leda oder das courbetsche L'Origine du monde.
Diese in des Kurfürsten Kopftheater ablaufende Vorstellung habe er nach dem Erwachen sofort skizziert und den Bau anschließend in Auftrag gegeben. Anlaß war, wie konnte es auch anders sein unter den Größtadeligen des 17. und 18. Jahrhunderts, die allesamt dem lustvoll-sonnigen Ludwig aus Frankreich hinterherplanten, ein für die körperliche Liebe vorgesehenes Schlößlein, umgeben von Rabatten und Brünnlein, in dem er manch angenehme Stunde mit ebendieser einen Dame, aber sicherlich noch mit weiteren Dämlichkeiten, zu verbringen gedachte.

Das seinerzeit weit abgelegene bumsfidele Haus bildet heutzutage offensichtlich beinahe das Zentrum nicht nur dieser, mir lediglich vom Hörensagen als recht schläfrig bekannte Beamtenhochburg, sogenannten Fächer-Stadt; zumindest teilweise darin untergebracht ist der deutsche Bundesverfassungsgerichtshof. Zu früheren Zeiten nannte man solche Vorgänge auch schon mal frivol.

Um noch einmal auf die Architektur dieses Traums zurückzukommen, der den badischen Großadeligen überkam während seiner Ermattung von seiner triebhaften Waldeslust. Zwar ist dabei nicht die Welt urentsprungen, aber immerhin Karlsruhe, diese laut Jeera Rabulski »unterkühlte Schönheit«; wer weiß, wer weiß, ob der Herr Markgraf am Ende gar gar nicht so unterkühlt den courbetschen Fächer vorweggeträumt hat. Und wer wird ahnen, ob das dortige, in diesem aus der Lust entstandenen höfischen Gebilde untergebrachte Bundesverfassungsgericht eines Tages noch angerufen werden muß (um es dann möglicherweise nach Strasbourg zur endgültigen Entscheidung über den Fortgang der neuen Alten Welt weiterzureichen), um Begriffe wie Realität, Wirklichkeit und Virtualität, deren Unterschiede definitiv zu klären. Das Baumeister-Paar, der russische Poet Emkin und sein askanisch-anhaltinisches (heute gerne als deutsches bezeichnet) Vögelein drängt sich mir erneut auf, das träumerisch eine eigene, eben virtuelle Welt zeugte. Wanzen dürften zu dieser Zeit zwar obligatorisch gewesen sein im Bett, jedoch keine, die Geheimnisse, Geheimnisvolles übertrugen, also keinen liebesgeflüsterten Weltentwurf abzuhorchen vermochten. Er war ohnehin von der Art des trompe-l'œil, die Sinnestäuschung, wie sie unsere biologische Festplatte fortwährend produziert und uns suggeriert, das Erlebte bestünde aus Realität und/oder Wirklichkeit et cetera oder auch vice versa. Dabei stellen die selbst, klärt uns die neuere Gehirnforschung auf, nichts anderes dar als Virtualität; sie ist das Grundmaterial, aus dem wir die sogenannt wahre, die eigene Welt planen und bauen.

Im heutigen umgangssprachlichen Gebrauch ist alles virtuell, das zwar nicht existent, aber vorstellbar ist. Zur Wirklichkeit erklärt wird all das, was geschieht, das unter der schlichteren, weil leichter versteh-, erfaß-, begreifbaren Formel des Verständnisses von Gegebenem zusammengereimt wird. Doch selbst der Traum ist gegeben, ist wirklich, wenn auch in einer kryptischen Vor-, Zwischen- oder Nachform(el). Wir legen ihn nur unterschiedlich aus, ob in selbsttherapeutischer Maßnahme oder mithilfe anderer geistiger Krücken.

In einem der letzten Bücher des von mir seit langer Zeit überaus geschätzten italienischen Schriftstellers Antonio Tabucchi läßt der uns im Kapitel Ein Universum in einer Silbe, in dem er über das Verhältnis von Literatur und Wirklichkeit nachdenkt, zum Thema Traum wissen:

 

»Die Zufälligkeit und Absurdität der Wirklichkeit bekommen einen Sinn, wenn man dem Subjekt vor Augen führt, daß die Wirklichkeit etwas Vorherbestimmtes, sein ›persönliches Schicksal‹ ist. Im zweiten Fall hingegen, beispielsweise beim Spruch des Orakels im antiken Griechenland, bleibt das ›bedeutungsvolle Bild ein geheimnisvolles Zeichen, dessen Sinn erst viel zu spät verstanden wird‹. (Giordana Charuty) Wie Roger Caillois hervorhebt, erwartet man, daß das später eintretende Ereignis ›den Traum erfüllt‹, es ist dem Traum verpflichtet, den es ›bedingt‹.
[...]
Ob die Träume nun alles bedeuten (Freud) oder nichts (Caillois: aber auch das ist eine Deutung), ob sie unsere Innenwelt widerspiegeln oder einer ›anderen‹ Dimension angehören, die Literatur erzählt von ihnen und
bietet sie ihren Traumdeutern an, uns allen, den Lesern.«

 

Ein Landsmann dieses wahrlich träumerischen Denkdeuters, Gianni Celati, merkte bei anderer Gelegenheit bzw. in einem anderen Buch dazu an: Wozu benötige er Kino, solange es Erzählungen gebe? Er habe schließlich selbst einen Kopf, eine eigene Phantasie. Also: Virtualität ab.

 

Über die Faulheit

otium cum dignitate1

 

Die Müdigkeit vom vielen Nichtstun überkam mich. Da mußte ich mich zu einem Schläfchen niederlegen. Und sogleich kam ein übler Alp über, in mich, vermutlich weil ich solch ein Nichtsnutz bin. Franz Josef Strauß. Er hatte mich persönlich nach Wildbad Kreuth eingeladen, als exemplarischer französischer Fall eines Vortragenden innerhalb eines Symposions über die Faulheit im allgemeinen sowie im besonderen. Zwischendrin legten die Symposionierer, die sich überwiegend aus dem Mittelbau der bayerischen Verwaltungsindustrie rekrutierten, tatächlich sogar einmal eine Tagungspause ein. In der Zirbelstubn des ehemaligen Klosters in einem Tal, dessen Zugang von einer Zugbrücke bewehrt war, versehen mit einem Zolläuschen, bewacht von einem geharnischten und stahlbehelmten Säbelraßler, der für Führer von Fahrzeugen nichtdeutscher Herstellung nur dann die Brückenketten löste, wenn sie die zehnfache der für einheimische Produkte übliche Gebühr (Péage) entrichteten. In diesem hüttenartigen, aus vermutlich tiefem oberbayerisch-salzburgischen Hochgebirgswald gezimmerten hölzernen Loch, das einen Gefechtsgraben vor Verdun vorahnte, reichte man in einer Art Begüßungsritual mir ein Glas mit einer seltsamen Flüssigkeit.

Ein mich anwidernder Geruch stieg mir in die Nase, als ich das Gläschen mit dem streng riechenden Spirit vor sie hielt. Voller Verachtung, jedoch letztendlich aus Höflichkeit gegenüber meinen Gast- beziehungsweise Auftraggebern stürzte ich es in meinen Schlund (vrai gouffre oder auch Gorge: Faß ohne Boden oder so ähnlich) und schluckte es schließlich rasch hinunter, auf daß es nicht so arg wehtäte. Es tat es dennoch, ich war mir nicht darüber im klaren, ob es mein Magen war oder mein Herz, das zu zerreißen schien. Es soll irgendetwas aus einheimischen Gewächsen gewesen sein, aus Wurzeln oder Blüten, aus Bären, deren Tatzen oder anderen seltenen Hochgebirgsgewächsen, die zu pflücken unter Androhung der süddeutschen Höchststrafe, also der Föderalteilung sowie Gansfederung verboten war. Auf jeden Fall war mir, als ob man mich gezwungen hätte, ein ausgewrungenes, quasi gekeltertes Exemplar der traditionell genußfeindlichen Tageszeitung Liberation zu trinken, die sich vor meinen traumgetäuschten Augen in die bei dem Gala-bunten Kunst-Herrn Burda erscheinende deutsche Huffington-Post zu verwandeln schien, die mir zum Abschluß meines Alps dann logischerweise auch noch mein vereinbartes Vortragshonorar verweigerte.

Ich war sehr froh, erwachet zu sein und mich wieder dem gesellschaftlich legitimierten Nichtstun zuwenden zu dürfen.

 

1Tacitus. Immanuel Kant hingegen meinte in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798, § 87), daß von den Lastern Faulheit, Feigheit und Falschheit »das erstere das verächtlichste« zu sein scheint.

 

2»Als die Bourgeoisie noch gegen den von der Kirche unterstützten Adel kämpfte, befürwortete sie freie Forschung und Atheismus, kaum aber hatte sie ihr Ziel erreicht, so änderte sie Ton und Haltung. Und heute sehen wir sie bemüht, ihre ökonomische und politische Herrschaft auf die Religion zu stützen. Im 15. und 16. Jahrhundert hatte sie fröhlich die Überlieferungen des Heidentums aufgegriffen und das Fleisch und dessen Leidenschaften, diese Greueln in den Augen des Christentums, verherrlicht; heute dagegen, gestopft mit Gütern und Genüssen, will sie von den Lehren ihrer Denker, der Rabelais und Diderot, nichts mehr wissen und predigt den Lohnarbeitern Enthaltsamkeit. Die kapitalistische Moral, eine jämmerliche Kopie der christlichen Moral, belegt das Fleisch des Arbeiters mit einem Fluch; ihr Ideal besteht darin, die Bedürfnisse des Produzenten auf das geringste Minimum zu drücken, seine Freude und seine Leidenschaften zu ersticken und ihn zur Rolle einer Maschine zu verurteilen, aus der man pausenlos und gnadenlos Arbeit herausschindet.« Paul Lafargue: Das Recht auf Faulheit, 1848 (1883)

 

Mythos Macht Mythos

Innerhalb eines Themenabends Mitte des Sommerlochmonats August 2016 bei Arte, der, wie sollte es anders sein, aufklärerisch mit Verschwörungstheorien und Geheimbünden aufräumen sollte oder auch nur wollte, kam auch die Freimaurerei (in Wiederholung) zu Bild und Wort. Es blieb dabei nicht aus, auch das ist kennzeichnend für den von den händchenhaltenden Helmut Kohl und François Mitterand in den achtziger Jahren initiierten deutsch-französischen Freundschaftssender, kurz nach Adam und Eva zu beginnen, also quasi spätalttestamentarisch und damit katholisch fundiert mit dem Kreuzzug gen Jerusalem und damit in sozusagen konsequent-logischer Folge mit den Tempelrittern. – Am Rande: Der Historiker Frank Westenfelder hielt fest, die Krieger für das Christentum setzten sich zu großen Teilen aus durch die Lande marodierenden, wegen zu dieser Zeit kaum stattfindenden Kriegen quasi arbeitslos gewordenen und zur Landplage gewandelten herrenlosen Kämpfern zusammen, die man durch den Marsch gen heiliges Land am ehesten los wurde.1 – Nach Schilderung der artigen Autoren, bekräftigt von dem ständig ins Bild gerückten Göttinger Historiker Marian Füssel, mündete deren Geschichte unter anderem in die vom schönen Philip (Philippe IV le Bel, 1268 bis 1314 n. u. Z), der den Orden der Tempelritter mit dem Kreuz auf dem Kreuz in extrem absolutistischer Weise zerschlug, weshalb sich deren Überbleibsel nach Schottland retteten, um als Geheimbund von dort aus bis in die heutige Zeit hinein im Verborgenen weiterzuwirken. Dabei schillerte geradezu ungeheuerlich oder auch unglaublich aufklärerisch durch, daraus hätten sich die Freimaurer entwickelt.

Joachim Kalka zitiert in seinem lesenwerten Aufsatz Das Unterirdische geht so natürlich zu als das Überirdische. Zur Mythologie der geheimen Gesellschaften den Historiker J. M. Roberts aus Oxford.

 

»The Mythology of the Secret Societies (1972) schließt mit dem Fazit: ›Obwohl zwischen 1750 und 1830 in Europa geheime Gesellschaften in großer Zahl existierten und versuchten, die politischen Ereignisse zu beeinflussen, lag ihre hauptsächliche Bedeutung in dem, was die Leute von ihnen glaubten. Dies war stets wichtiger als das, was diese Sozietäten tatsächlich taten, und ihre Mitgliederzahl und politische Wirksamkeit standen in keinem Verhältnis zur Macht ihres Mythos. Hierin liegt ihre wahre Bedeutung, und das macht sie auch für den Historiker interessant; was man von ihnen glaubte, war ein wichtiger Teil dessen, was die Reaktion der Menschen auf große Ereignisse bestimmte.‹«2

 

»Was hatte es auf sich mit den geheimen Gesellschaften?« fragt Kalka in seinem Essay. »Nicht ihre verzwickte, konfuse und tragikomische Geschichte«, setzt er fort, »die nur angedeutet werden soll, ist hier mein Gegenstand, sondern das, was man von ihnen glaubte – und was sie selbst von sich glaubten. Das ist ihre eigentliche Geschichte.« Und genau das blieb bei mir auch als Fazit übrig von diesem Themenabend bei Arte: So, wie bei den karnevalistisch anmutenden Umzügen des Christopher Street Day ein Großteil der Zuschauer gar nicht wissen dürfte, daß es sich dabei ursprünglich um eine gesellschaftspolitische Demonstration für die Freizügigkeit auch innerhalb der sogenannten Freiheit von nach wie vor kirchlich, nicht nur christlich, oktroyierten Direktiven handelte – vergleichbar mit dem, was Kurt Tucholsky bereits in den zwanziger Jahre anmerkte: die Leute wüßten gar nicht mehr, weshalb sie am 14. Juli in den Straßen von Paris tanzten3 –, so scheint mir auch diese Aufklärung des von öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten (im hiesigen Fall vom ZDF) finanzierten Kulturkanals Arte bewältigt zu werden: Was man von ihnen, den Ereignissen, glaubte, war ein wichtiger Teil dessen, was die Reaktion der Menschen auf große Ereignisse bestimmte. Unter dem Deck- oder auch Kardinalsmantel der wissenschaftlichen Aufbereitung wird weniger den historischen Faktoren Bedeutung zugemessen als den Randerscheinungen, die den Mythos befeuern.

Ob Arte damit endlich die immerwährende Hürde mangelnder Zuschauerzahlen nehmen wird, darf bezweifelt werden. Auch wirft das die Frage auf, ob dem sich seit Jahren zunehmend, sich nahezu verzweifelt volksnah gebärdenden Kulturkanal deshalb am Ende gar nicht auch der letzte, noch halbwegs treue Zuschauer von der Fahne geht.

 

1 Kriegsreisende

2Leseprobe SINN UND FORM 1/2011, S. 93-111

3Kurt Tucholsky: Paris, den 14. Juli, Gesammelte Werke 1925 – 1926, Rowohlt, Reinbek 1811993, Bd. 4, S. 179

Schwertanz (nicht olympisch)

Männer seien ohnehin die schlechteren Menschen, schnodderde es mir unlängst als nachhallende Fußnote entgegen, als ich mal wieder aus dem verbalen Takt geraten war. Nachdenkend stimme ich dem zu und verbinde es mit dem Tanz, der gerade wieder zu recht technisch anmutenden, eher wenig anmutigen Klängen outre-rhin öffentlich aufgeführt wurde. Sie sind in der Regel obendrein die schlechteren Tänzer. Ich muß also nicht einmal mehr nach Brasilien reisen, wo mir karnevalskurzreisende Deutsche und Franzosen mehrfach aufgefallen sind, die in der festen Überzeugung diese weite Reise angetreten waren, sie könnten mittels ungelenken Salsa-Versuchen tatsächlich eine der einheimischen Tänzerinnen betören. Doch zum einen sind diese mischblütigen Gazellen ohnehin nicht zu erjagen, es sei denn, man ködert sie mittels Heiratsversprechen; denn erst nach katholischem Vollzug ... Andererseits ehelichten sie ohnehin nie und nimmer einen Mann mit eingegipsten Hüften.

Und es sind dabei wahrlich nicht nur die Dicken, von neusprachlischen Altsprachlern die Adipösen geheißen, denen es an Rhythmusgefühl bzw. am entsprechenden Ausdruck mangelt. Im Gegenteil. Häufig habe ich erlebt, vor allem in Lateinamerika, wo es ebenfalls immer mehr Fettleibige gibt, als ob die Historie des sklavischen Zuckerrohranbaus ihr Recht auf Beachtung einfordern wollte, daß es häufig die Korpulenten sind, die während des Tanzes eine geradezu ungemeine, bei deren erstem Anblick nie vermutete Grazie an den Tag – und nicht einmal unbedingt zur Schau, wenn es sich auch durchaus häufig als eine solche darstellt – legen.

Die Grazie spielt im Aufsatz Über das Marionettentheater von Heinrich von Kleist1, den ich nach bald fünfunddreißig Jahren wieder einmal gelesen habe – und zwar ebenfalls unter den Gesichtspunkten des Figurenspiels (im April 1982 setzte ein kleines Münchner Kellertheater des deutschen Dichters Essay an Fäden in Szene), eine entscheidende Rolle; wobei ich eingestehen muß, auch durch die Lecture von Gatien de Courtilz de Sandras' Mémoires de Monsieur d’Artagnan, capitaine lieutenant de la première compagnie des Mousquetaires du Roi angeregt worden zu sein2 ein wenig wohl auch, aus welchem Grunde auch immer, da mir dabei das Bild von Isaac de Portau, bei Dumas Porthos genannt, durchs Hirnkino schwebte.

 

»Der Bär stand, als ich erstaunt vor ihn trat, auf den Hinterfüßen, mit dem Rücken an einem Pfahl gelehnt, an welchem er angeschlossen war, die rechte Tatze schlagfertig erhoben, und sah mir ins Auge: das war seine Fechterpositur. Ich wußte nicht, ob ich träumte, da ich mich einem solchen Gegner gegenüber sah; doch: stoßen Sie! stoßen Sie! sagte Herr v. G... und versuchen Sie, ob Sie ihm eins beibringen können! Ich fiel, da ich mich ein wenig von meinem Erstaunen erholt hatte, mit dem Rapier auf ihn aus; der Bär machte eine ganz kurze Bewegung mit der Tatze und parierte den Stoß. Ich versuchte ihn durch Finten zu verfuhren; der Bär rührte sich nicht. Ich fiel wieder, mit einer augenblicklichen Gewandtheit, auf ihn aus, eines Menschen Brust würde ihn ohnfehlbar getroffen haben: der Bär machte eine ganz kurze Bewegung mit der Tatze und parierte den Stoß. Jetzt war ich fast in dem Fall des jungen Herrn v. G... Der Ernst des Bären kam hinzu, mir die Fassung zu rauben, Stöße und Finten wechselten sich, mir triefte der Schweiß: umsonstl Nicht bloß, daß der Bär, wie der erste Fechter der Welt, alle meine Stöße parierte; auf Finten (was ihm kein Fechter der Welt nachmacht) ging er gar nicht einmal ein: Aug in Auge, als ob er meine Seele darin lesen könnte, stand er, dieTatze schlagfertig erhoben, und wenn meine Stöße nicht ernsthaft gemeint waren, so rührte er sich nicht.«

 

Gerne hätte ich das mit einem dickleibigen Tänzer aus dem gestrigen, in Mannheim getanzten Christopher Street Day illustriert. Doch ich war nicht dort, weshalb ich von Vorstellungen lebe, und photographieren kann ich obendrein nicht. Am liebsten wäre mir ohnehin ein dreizentriger Solist aus dem Ballett; was mir, der ich nicht nur gerne die Musik-, sondern auch die Tanztheater besuche, allerdings die Erfahrung verbietet. Hinzu kommt die schlichte Eintönigkeit des Internets, vermutlich dem dualistischen Denken der Bildungsgemeinde Alte Welt geschuldet, die nicht unterscheiden kann oder will zwischen dem seit gut zweihundertfünzig Jahren nicht mehr gültigen (formal-)ästhetischen häßlich bzw. schön, sie gibt sie nicht her; oder ich verweise auf mein Recht auf Faulheit und suche nicht weiter. Deshalb hier ein Ersatz: Ich stelle mir vor: Emil Naucke tanzte das Solo des Pas de deux wie eine nußknackende schwule Primaballerina.

 

 

1https://www.lernhelfer.de/sites/default/files/lexicon/pdf/BWS-DEU2-0075-03.pdf

2Chez Pierre Marteau, Cologne 1700; siehe auch: Alexandre Dumas, Die drei Musketiere, aus dem Französischen übertragen von August Zoller, Fischer Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 2010

Niveau und Nivellieren

»wenn wir die getrüffelte rauchschwalbenwangen an natternzungensorbet-region betreten«, so Karl-Heinz Biebl, »wie ich die hoch(preis)gastronomie gerne nenne, spätestens. dass natternzungen nicht das lispel-werkzeug der kriechlinge sind, sondern auch in europa heimische farne, ändert daran nichts. gutes essen muss nicht teuer und schon gar nicht ›exotisch‹ sein.«

Der Freund selig ...

Etwa vierzig Jahre ist es her, daß ich unter anderem in vergleichenden Geschichten der Literaturen bzw. Kulturen Ausgebildeter, also so etwas ähnliches wie ein Prä-Transkulturalist (damals hieß das noch geistige Weltenbummelei) einem einige Jahre älteren, nur auf der Bühne agierenden Kollegen aus dem Flüsterkasten der Dramaturgie heraus etwas über die Geschichte des Begriffes Arroganz richtigstellen wollte, der sich über die Hochnäsigkeit des spiritus rector genannten Regisseurs beklagt hatte. Ich hatte ihn darauf hingewiesen, daß die von ihm beklagte Hochmut als Gegensatz zu Demut eher in die Religionsgeschichte gehöre, sie sich im Laufe der Moderne überdies ein wenig weiterentwickelt habe und von einem Stolz zu unterscheiden sei, der sich auf das eigene Können und nicht etwa, beispielsweise, auf die Zugehörigkeit zum Theater einer Nation beziehe, der ein -ialist rein zufällig angehöre.

»Perspektive des Grases« nannten wir es, manchmal lese ich es heute noch verniedlichend als die des Frosches, also im Gegensatz zum Blick von der Burg. Es sollte mir einige Jahre später wiederbegegnen. Der Freund selig gab es als gesellschaftlich wertende und bedeutende Metapher mir gegenüber 1977 zum besten. Freund war er geworden über meine damals noch überwiegende Tätigkeit am Theater, das seinerzeit auch politische Bedeutung hatte; von mir dramaturgisch betreute Stücke wie Armer Mörder von Pavel Kohout gehörten zu den europaweit vielgespielten mit gesellschaftlicher Brisanz. Wir hatten erhebliche Gemeinsamkeiten entdeckt in Denkansätzen, dazu gehörte diese Perspektive des metaphorischen Grases. Ausgangspunkt war eine festgespielte Aufführung des goetheschen Ritters Götz von Berlichingen, der mit seinem Möge er mich im Arsche lecken nach wie vor sozusagen in aller Munde ist, das lange vor der sensiblen, später zum Elegischen neigende Kreativität des Namensgebers deutscher Dichtung ein geflügeltes Wort war; im Französischen klingt es (in deutschgewohnten Ohren?) nach wie vor feiner (abgeschmeckter?) als das deutsche Allerweltsgericht: Va te faire enculer. (Kurzformendung: Cul). Wir saßen vor Beginn der Vorstellung für das Volk – ein in Maßen bekannter, wahrhaft großartiger Schauspieler sprach mir einen solchen Anlaß mal ins Mikrophon, allerdings erst, nachdem ich seiner Bitte gefolgt war und es ausgeschaltet hatte: Das ist für mich Afterkunst. Ich mache es nur des Geldes wegen. Ein anderer, des Fernsehens wegen weitaus bekannterer Mime säuselte mir an einem anderen Festspielort im selben Jahr ins eingeschaltete: Ist es nicht wunderbar, wenn die Kostüme kommen?! Ich glaube kaum, daß man den Cyrano de Bergerac, den ich hier spiele, auf einer normalen Bühne schöner realisieren kann als hier auf dieser Felsenbühne. Die hier gemeinte kostümierte Aufklärung würde auf der Frei(lufttheater-)treppe von Schwäbisch Hall vor ungefähr tausend Zuschauern kommen. Aber zuvor saßen wir, der Freund selig und ich, noch friedlich auf dem Balkon eines für den lieben Theatergast ländlich herausgeputzten Hauses, in der Landschaft, wo im 16. Jahrhundert die Bauernkriege ihre anfänglichen Fetzen hatten fliegen lassen, in einer Zeit, in der auch ein anderer Lieblingsheld der Deutschen angesiedelt war, letztendlich wie dieser Ritter Götz von Goethe ein Fürstenknecht, der mit dem Sprichwort gewordenen Rülpsen und Furzen.

Wir waren beide aus sogenanntem guten Haus. Er hatte sich von der Mathematik und Physik ab- und dem Beruf des Schauspielers zugewandt, da er der Meinung war, über diese Tätigkeit mehr für die Gesellschaft tun zu können und näher an ihr dran zu sein. Ich war mittlerweile von der theatertheoretischen Praxis der Dramaturgie zur Gegenseite übergelaufen, hatte in den kritischen Rängen Platz genommen und hielt sein, im übrigen von Übervater Adorno strikt untersagtes, Anliegen aufgrund meiner beobachtenden Erfahrung für ein an der Wirklichkeit vorbeigehendes Hirngespinst (ein späterer deutscher Bundeskanzler sollte das in etwa so umschreiben: Wer Visionen habe, der solle gefälligst zum Arzt gehen). Er ist seinem Ideal bis zum Ende, ein Herzinfarkt am Steuer, noch bevor er losfahren konnte zu dem Theater, an dem er Rousseau deklamieren wollte, treu geblieben und hat die Botschaft von der Revolution bis zur bitteren Neige hinausgetragen in die Welt der kleinen Leute, denen heutzutage vor allem eines abgeht: die Klasse, aus immer wieder wiederholten Fehlern hinzuzulernen und nicht unten stehenzubleiben, sondern sich im Niveau mit nach oben zu begeben – und nicht fortwährend bewundernd hinaufzuglotzen zu denen da oben, sei es im Adelsfernsehen oder in der gehobenen Fernsehküche.

Er hatte für uns, ich als sein Besucher, beide seinen Einheitsbrei gekocht, gemäß des andauernden Klassenkampfes in und aus ihm: Eintopf aus Kartoffeln, Kraut und Rüben, gewürzt mit Salz und Pfeffer, davon jedoch möglichst wenig, denn das waren schließlich sündhaft teure Spezereien, die ein schlichter Mensch des ausgehenden 18. Jahrhunderts sich nicht leisten konnte. Andere Kräuter und Gewürze, die zwar schon in den ausgehenden Siebzigern sowohl über den Handel zu beziehen waren und (noch) in den Gärten wuchsen, in Bälde sollten sie zugunsten pflegeleichten, grüngestrichenen Betons verschwunden sein, kamen für den Kämpfer für eine bessere Welt deshalb wohl nicht infrage. Und er aß konsequent dieser seiner (?) Natur, der Sache gemäß: Wie er es von in Heimatmuseen gezeigten Gemälden kannte, die die gute alte Zeit zeigen, knapp über dem Teller hängend und äußerst geräuschvoll, geradezu, als wolle er seine Solidarität mit den Tieren bekunden, die er vermutlich aus diesem Grund nicht in seinem Topf haben wollte. Ihm gegenüber saß einer, dem Benimm in einer Form beigebracht worden war, die heutzutage nicht nur von Amnesty International als Folter angeprangert würde, und der unbedingt für Erleichterungen innerhalb dieser Gefangenschaft war. Aber nicht für die völlige Aufgabe von Haltung, sondern zugunsten einer evolutionären Entwicklung, für eine Anhebung des Niveaus, die da heißen könnte: besser machen.

Der Freund selig also unterlag meines Erachtens dem Fehler, den die meisten sich als links Bezeichnenden fortsetzen. Er setzte, bis ans Ende seiner Tage, auf die bleibende Verbreitmassung. Er berücksichtigte nie die Individualität, die in jedem einzelnen Wesen ihre Entfaltung sucht, beim einen mehr, bei der anderen weniger ausgeprägt; et vice versa. Fragte man mich, wie ich politisch einzuordnen sei, käme dabei eine zögernde Antwort heraus: links. Das Zögern aber nur deshalb, da ich mich in dieser Schublade ebenso nicht wohlfühle wie in der des (verkommenen) Liberalen, ich grundsätzlich nicht vor und gar nicht hinter all dem, sondern auf Seiten oder auch, je nach Anlaß, inmitten derer stehe, die sich für Gemeinsamkeit, für Gemeinwohl aussprechen; ohne jedes Zögern stehe ich zur Seite des italienischen Publizisten Sergio Benvenuto. Also nicht das uninformierte oder desinformierende Nach- oder überhaupt Geplappere sogar sogenannter seriöser, aus der Wissenschaft kommenden Journalisten und Frankreich-Korrespondenten wie Gero von Randow von einer Gleichheit, die es selbst in der, nenne ich sie mal so, als Gesetzgebung aus der französischen Revolution hervorgegangenen Égalité nicht gegeben hatte; sie bedeutetete und bedeutet nunmal nichts anderes als Gleichheit vor dem Gesetz. Doch nicht einmal die hat man hingekriegt. So liegt es nahe, daß der Mensch sie sich wenigstens im oberflächlich betrachteten gesellschaftlichen Status herbeizuträumen versucht, vor allem dort, wo man es mit den sprachlichen feinen Unterscheidungen nicht sonderlich genau nimmt, genau nehmen kann, da die Bildungsbereitschaft auf einem Niveau verharrt oder bewußt gehalten oder gezielt dorthin abgesenkt wird, das mich bisweilen an das Jahrhundert der Revolution erinnert.

Das Halten oder Absenken fand in Deutschland überwiegend seit den achtziger Jahren statt, als die Nachdenklichkeiten vollends aufgegeben worden waren, nicht zuletzt, weil es versäumt wurde, auf das Individuum einzugehen, auch weil die neu entstandene Klasse der sich intellektuell höher Wähnenden intern aufgerieben oder auch kein wirkliches Interesse an Aufklärung hatte, wie es etwa zu Zeiten der Diderot und d'Alembert et coll. geschah. Beispielsweise über Kosmetik oder die Empfindung eines Akkords und sonstige Banalitäten wie Biblomanie aufzuklären überließ man mehr oder minder ungerührt und auch weil man vielleicht selber aus der Klassenlosigkeit heraus im Niveau eine Stufe emporgestiegen war, der alltäglichen Journaille. Den Klassenkampf hatte man aufgegeben und es dem kohlschen Verständnis von Aufklärung überlassen, eine Gemeinschaft zu bilden. Das Privatfernsehen schuf sie schließlich. Das schuf eine (Wirtschafts-)Macht, die das Bildungsniveau gezielt absenkte. Das deutsche (das französische oder italienische und so weiter nicht minder) Volk begann vollends zu verblöden, nicht zuletzt deshalb, da die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten sich in Ihrer Programmgestaltung zunehmend an die Privaten anzupassen gezwungen sahen und Bedürfnisse befriedigten, die ich nur als niedere bezeichnen kann. Die Märkte sollten fortan alles bereinigen, eine mehr als fragwürdige Gleichheit herstellen.1983 hieß es in einer Sendung des Westdeutschen Rundfunks fragend:

Wieviel Arbeit, wieviel Freizeit also wieviel Zweitkühlschränke, Dritt-Trimm-dich-Jogging-Anzüge aus Goretex und Viertfernsehgeräte benötigen wir denn? Wieviele Sonderangebote, also leichtfertig gekauften und nach (meist baldigem) Nichtgefallen schwierig zu (wie sich ein euphemistisches, von Politikern geprägtes Modewort abzeichnet) entsorgenden Sperr-Müll, also Überflüssigem aus dem Baumarkt, der sich, bezeichnend für unser Geschichts- und Geschmacksverständnis und mit seinem kleinteiligen, um nicht zu sagen kleingeistigen Ornamentsangebot völlig gegenläufig zur klaren Struktur dieses Mutterhauses der Vernunft-Form verhält, vielerorts Bauhaus nennt?! Wieviel hat denn die Industrie, der Handel seinerzeit bei den überall propagierten Zweitbremsleuchten innerhalb einer kürzesten Zeitspanne umgesetzt – 15 Millionen Mark. Da hat man den ewig Sicherheitsbedürftigen gewaltig auffahren lassen.

Der Club of Rome hatte einige Zeit zuvor bereits darauf hingewiesen, daß es mit dem Wirtschaftswachstum seine Grenzen habe. Nun merken es wieder ein paar wenige, wieder die Jüngeren, daß da irgendwie was schiefgelaufen sein muß. Aber über die Jahrzehnte hin war es diesen Gewinnmaximierern längst gelungen, jedwede kritische Sichtweise in den Hintergrund zu drängen. Sie war in der Masse versunken, die man angeblich (?) zu erreichen versuchte. Die Zweitkühlschränke, Dritt-Trimm-dich-Jogging-Anzüge aus Goretex und Viertfernsehgeräte haben lediglich andere Namen. Die Masse plappert längst den Sprach(re)formern aus Indusrie und Handel nach, anstatt selber mal wieder in die Wirtschaft zu gehen und sich mit anderen zusammenzusetzen. Aber selbst wenn Sie's täten, erzeugten sie Transparenz, indem sie nebeneinander am runden Tisch hockend sich gegenseitig Kurzmitteilungen unverständlicher Art zusendeten, die via Gefühlsglyphen genannten Strichgesichtchen dann auch noch erklärt werden müssen.

À propos Sprache. Erst kürzlich hörte ich es wieder, und immer noch erschüttert es mich: Zur sogenannten besten Sendezeit sprach so ein öffentlich-rechtliches Reporterinnen-Lieschen davon, die Mütze für das Hartz-Vier-Kind in der privat betriebenen Kleiderkammer sowie die Lebensmittel der örtlichen Tafel seien von den Händlern Soundso »gesponsert« worden. Weiß eine vermeintlich gut ausgebildete Journalistin nicht einmal mehr, daß Sponsoring nichts anderes ist als der ökonomische Einsatz von Finanzmitteln mit dem Ziel der Gewinnmaximierung, also zur Förderung des Absatzes? Wenn sie wenigstens noch gesagt hätte, es sei mäzent worden. Diese ganzen Medicis wollten zwar auch nicht anderes als Kohle machen wie die Fugger in Augsburg, aber sie haben wenigstens, ohne das an die große Glocke zu hängen, ein paar Künstler am Leben erhalten oder auch reich gemacht oder ein paar Wohnhäuser gebaut, weil sie so etwas wie gesellschaftliche Verantwortung empfanden oder zumindest so taten.

Das ist versäumt worden. Die Masse hat sich im schieren Massenmateriellen aufgelöst und bekommt Individualität vorgegaukelt, die käuflich zu erwerben sei. Ich bleibe in Deutschland. Lieschen und Fritzchen Müller schauen und fahren massenweise in die Ferne. Man spielt ihnen via Fernsehen und Internet virtuell die Möglichkeit der Identitätsfindung zu. Man hätte sie nicht unbedingt an die Region der getrüffelte(n) rauchschwalbenwangen an natternzungensorbet heranführen müssen. Man hätte ihnen unter anderem vermitteln sollen, daß gutes Essen und Trinken zum normalen Lebensstandard gehört, den man gegebenfalls nur dann erreichen kann, indem man auf anderes verzichtet, das eben mehr Wert bedeutet als den neuesten Drittflachbildschirm in Söhnchens Zimmer. Man hätte Lieschen und Fritzchen klarmachen müssen, daß sie im Zweifelsfall auch ein Recht auf das haben, was ihnen als Spitzengastronomie vorgeführt wird und oftmals nichts anderes zeigt als ein durchschnittliches französisches Abendessen. Nein, die beiden regten und regen sich lieber darüber auf, daß so ein Linker einen Porsche fährt und gerne gut ißt. Anstatt sich mit ihm zu freuen. Ich habe im Lauf meines Lebens sehr viel Geld in der Gastronomie gelassen. Es hat mir Freude bereitet. Ich möchte es, nicht zu vergessen die dazugehörende Geselligkeit, die Gemeinsamkeit nicht missen.

Dachte der seinem nachkommenden, Geistesverwandten namens Kurt Tucholsky ähnliche französische Deutsche Heinrich Heine übrigens an Deutschland in der Nacht, war der übrigens hauptsächlich deshalb um den Schlaf gebracht, weil er seines Mütterleins gedachte. Das fällt mir dazu ein, wenn ich lese, daß mit Égalité die Vereinheitlichung namens Gleichheit einhergehen soll.

 

 

Revue Rendez-vous

»Fluxus«, was das denn überhaupt sei, fragte in einer städtischen Kunsthalle während einer sich um die Moderne drehenden Gesprächsrunde unlängst eine Mittdreißigerin. Unter dem überwiegend jüngeren Publikum herrschte allgemeine Ratlosigkeit. Da meldete sich wie aus dem Jenseitigen die Stimme eines Präachtundsechzigers, die klang wie die des Fluxers Robert Watts:

»Das Wichtigste an Fluxus ist, daß niemand weiß, was es ist. Es soll wenigstens etwas geben, das die Experten nicht verstehen.« Des Geistes Stimme ergänzte noch: Er sehe Fluxus, wo er auch hingehe.

Das könnte zum Beispiel der am Straßenrand installierte digitale Großbildschirm sein, auf dem Partnerschaftsvermittler um die Gunst von Kunden buhlen, indem sie Heraklits in Kontaktanzeigen gerne verknappt zitierte Feststellung Pantha rei oder auch ›Alles fließt‹ zu Hilfe nehmen.

Fluxus persifliert allerdings weniger den schnöden Alltag, als dass diese Gattung zeitloser interdisziplinärer Kunst direkt auf den bisweilen bitteren Ernst des Lebens verweist. Die Epoche der Romantik schwingt dabei mit: ›Kunst ist Leben, Leben ist Kunst‹. Den Romantikern zuzuordnen ist auch der in den politisierten und polarisierenden Zeiten der Achtundsechziger geradezu verfemte Begriff L’art pour l’art. In der Übertragung ins Deutsche kam der häufig missverständlich an, da ihm mangels historischer Differenzierung allein die Bedeutung einer Kunst um der Kunst willen zugeschrieben worden war. Den damit unverbrüchlichen Zusammenhang mit dem Leben klammerten die politisierten Interpretatoren einfach aus.

1993 erschien im Laubacher Feuilleton, einem nach fünfjährigem Erscheinen 1996 dann schließlich bald wieder eingestellten, als  Vierteljahreszeitung benamsten, letztendlich verfluxten Idee zur Weltverbesserung, ein Aufsatz titels Die Gemeinschaft der Künstler und die Gemeinschaftsarbeiten in den Künsten. Autor war S. D. Sauerbier, der von 1993 bis zu seiner Emeritierung 2007 an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee unter anderem Wahrnehmungstheorie sowie die Lehre von den Zeichen, die Semiologie, unterrichtete. Mit Auslöser dieses Essays war die seinerzeit heftig aufflammende Diskussion um ein geeintes, vereintes Europa. Zuvor war die Mauer zum Ostblock gefallen, während man in Südspanien nahezu gleichzeitig einen neuen Wall zu errichten begann, hier gegen vermeintliche Wirtschaftsflüchtlinge aus Afrika. Zeitgleich wurde die Globalisierung – wahrhaftig nicht die erste dieser Erde, aber wohl die zum ersten Mal tatsächlich, weil in den wirtschaftlichen Folgen auch für den den einzelnen Arbeitnehmer deutlich spürbare, auch für den sogenannten Otto Normalverbraucher exorbitant wahrgenommene – bzw. deren Expansionstreiben heftig debattiert; dass es sich dabei lediglich um eine neuerliche internationale Vereinheitlichung des Mehrwertgedankens handelte, wurde weniger erörtert. Sauerbier führte, gleichwohl in einer für die Zeit und diese Art typischen ironischen oder auch teilweise polemisierenden Diktion, den Nachweis, innerhalb der Künstler habe sich eine solche Gemeinschaft längst formiert, dabei allerdings ohne jedes wirtschaftliche Bestreben; der sich seinerzeit entwickelnde, ab den achtziger Jahren über die Ufer tretende, ähnlich den Finanzgeschäften kaum mehr zu kanalisierende Kunstmarkt wurde ausgeklammert, als schlichtweg nicht existent erachtet.

»Hier bin ich Mensch?« zweifelte Sauerbier vor gut zwei Jahrzehnten, an der nordafrikanischen Küste sitzend, gen Europa blickend. »Dieselben Kulturbürger und -träger regen sich unziemlich über Muslime im eigenen Land auf, über verschleierte Frauen: ›Die haben sich gefälligst anzupassen!‹ Sie tragen ihre nackten, schwangeren Bierbäuche spazieren und lassen am Strand ihre Busen baumeln. ›Hier bin ich! Mensch!‹«
[…]
Da doch schon unsere Ziffern, Bezeichnungen wie Alkohol oder Alchimie arabischen Ursprungs sind, haben es aber die Ölscheichs in Kuwait und in Libyen, Saudi-Arabien und den Vereinigten Emiraten versäumt, uns mit neuerer arabischer und islamischer Kultur vertraut zu machen. Die Scheichs besitzen riesige Anteile an unserer Wirtschaft – nehmen aber keinen Anteil an unserem kulturellen Volksvermögen mehr.
[…]
›Die Hölle – das sind die anderen‹, heißt es bei Jean Paul Sartre. Doch soll uns das nicht als Ablassspruch dienen. Einwohner der BRD als Nachfolgestaat der Schutzmacht des faschistischen Ustascha-Regimes – diffamiert man Deutsche heute von der anderen Seite.
[…]
Nation Europa hieß eine rechtsextreme Zeitschrift, unverschämt kryptofaschistisch. Ich erinnere mich an eine Kritik der II. documenta – als wenn in Kassel ›entartete Kunst‹ ausgestellt worden wäre! Sollte denn eine solche Ideologie die Zukunft Europas bestimmen?!

Ende der fünfziger Jahre gab es allerdings auch andere ideologische Positionen zu Europa. Auf dem Programm stand nicht gerade der common nonsense und das ungesunde Volksempfinden der Abendländler.

Durchdringung und Aneignung von Kulturen führten zu Internationalismus und zugleich Regionalismus. Konkrete Poesie in Schwyzerdütsch und Lautgedichte in Wiener Mundart, heute Rockpoesie auf Kölsch … Das Zusammenfließen sehr unterschiedlicher Strömungen zeigte sich in Übertragungen, Verknüpfungen und Anschlüssen von Kontexten.

Nach dem Niedergang des internationalen Stils, nach der Reise in die Innerlichkeit kam es Ende der fünfziger Jahre zu verstärkter Hinwendung zur sozialen Realität. Eine veränderte Auffassung von Wirklichkeit war festzustellen bei ›Nouveau Réalisme‹, ›Zero, Fluxus‹, ›Pop art‹, ›Konkreter Kunst‹, ›Conceptual art‹ … Damit sind nun gar keine gegeneinander abgeschotteten ›Firmen‹ markiert, wo die Künstler liberale Kumpaneien, ›Banden‹, bildeten. […]«

Auf den wechselseitigen Austausch unter Künstlern verweist SDS, wie er zu und aus Zeiten der sozialrevolutionären Jahre des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes logischer- oder auch konsequenterweise fortan genannt wurde, der finde heute, damit ist 1993 gemeint (!), so selten statt – der Markt isoliere die Künstler. Und das tut er rund zwanzig Jahre danach noch sehr viel erheblicher; Willi Bongards seinerzeitige, im Wirtschaftsmagazins ›Capital‹ seit 1970 umgesetzte Erfindung ›Kunstkompaß‹, einer Art jährlicher Hitparade oder auch neuerdeutsch Ranking der weltweit auf Auktionen und sonstigen Verkäufen preislich höchst bewerteten Arbeiten zeitgenössischer Kunst, findet heutzutage kaum noch explizite Erwähnung. Kunst kommt ohnehin längst von Kaufen. Seit Langem bieten sogenannte Kunstfonds, selbstverständlich unter Beteiligung von Banken, garantierte Wertsteigerungen beim Erwerb der ›Aktie an der Wand‹.

»Etliche Amerikaner informierten sich Ende der fünfziger Jahre«, so Sauerbier weiter in seinem Aufsatz von 1993, über die Internationale der Künstler, »eingehend über die Poesie des Konkretismus (der Name des Tirolers Heinz Gappmayr taucht in den Notaten des Fluxus-Künstlers George Brecht um 1958 auf).« Die verändere die Auffassung vom tätigen, produktiven Leser/Betrachter, die konkretistische Poesie finde sich beispielsweise in den Stücken der konzeptuellen Kunst wieder.

»Die Amerikaner eigneten sich europäische Philosophie an (Sätze, Aussagen, Theoreme«, etwa die von Ernst Mach, seien zu Stücken des Fluxers Robert Barry geworden. Die Hinwendung zur low and popular culture, der Massenkultur, beeindrucke und beeinflusse nicht wenige europäische Künstler.

»Selten gehörte Musik führten als Gemeinschaftsstücke Wiener Aktionskünstler und -poeten auf, Kumpaneien wie die von Roth, Rainer, Wewerka und Hamilton produzierten gemeinschaftlich.«

In den Künsten setzte sich durch Verknüpfung, Zusammenarbeit, Gleichberechtigung der Arten und Gattungen Internationalismus und Vielsprachlichkeit durch – gegen die Vorherrschaft stilistischer Muster, die später aber ungemein erfolgreich von Handel und Vermittlung zu ›Trends‹ hochstilisiert wurden.

»Viele Fluxus-Stücke waren so angelegt«, so SDS vor zwanzig Jahren weiter, »daß sie in einer Sprache nach Wahl ausgeführt werden konnten, wie ›Alphabet Symphony‹, ›Son of Man Trio‹ von Emmett Williams.

Etliche Montagen der Wiener Gruppe sind Gemeinschaftsarbeiten, nahmen zum Beispiel ein Lehrbuch der tschechischen Sprache als Material.

Nicht selten gab es auch Missverständnisse, die dann aber produktiv genutzt wurden; und besonders interessant waren, wenn sie rückübertragen wurden. Der Witze-Dichter Ernst Jandl verfertigte Zwangsübersetzungen: Den Wortlaut gesprochener englischer Wörter schrieb er als deutschen Text auf. Viel-Sprachen-Dichtung sind Hans G. Helms‘ triparametrische Texte, die bereits einen Mehrsprachen-Titel tragen: ›Fa:m Ahniesgwow‹, erschienen 1959. Das Material besteht aus zwei als einem Dutzend (nicht-)europäischer Sprachen – von ›freien‹ Assoziationen des Lesers/Hörers noch ganz abgesehen. Komponiert ist das Werk in den Parametern Phonematik, Graphematik und Semantik. J. M. Kraußes Dichtmaschine ›Poetor‹ ist in Teil-Programmen auch für andere als die deutsche Sprache eingerichtet; er verwendete eine japanische Spielkarten-Mischmaschine. Dichtapparate von George Brecht, ›Universal Machines‹ genannt, sind für prinzipiell alle möglichen Sprachen angelegt. Zur Abschaffung der Sprache hat schon Jonathan Swift interessante Vorschläge gemacht.

In Objekt-Gedichten seit Ende der fünfziger Jahre wurden Dinge an die Stelle von Sprache gesetzt. Ein Gleiches geschieht in Ereignis-Gedichten etlicher Fluxus-Künstler, die Events notierten – sie konnten ebenso wohl (nach-)gelesen, als Ereignis aufgeführt oder in den Aggregatzustand von Objekten dargeboten werden. »Vor Gebrauch gut schütteln«, empfahl Tomas Schmit für seine Gedichte in Gläsern. Eventual-Poesie nannte ich jene potentielle Dichtung, die erst vom Seher/Hörer/Leser/Zuschauer/Ausführenden … realisiert wird oder bloßes Material bleibt.

Entgegen der konservativen bis reaktionären, rückwärtsgewandten Position, die beansprucht, Geschichte gepachtet zu haben, ging es der Avantgarde ums Wachhalten von Erinnerung an historische, aber immer noch nicht erfüllte Forderungen des revolutionären Bürgertums seit 1789 über 1848 bis zur Commune 1871. In der Schrift ›Die Mission der Kunst und die Rolle der Künstler‹ erhob der utopische Sozialist La-Verdant die Einheit von künstlerischer und politischer Aktion zum Programm. Ist denn die Kunst etwa Wirklichkeit geworden? Ganz gewiss – jedoch anders als im Sinne der hehren Absichten von Fluxus.

Widerspruch will ich einlegen gegen eine Auffassung, die weisgemacht hat, wir lebten jenseits oder nach der Geschichte. Das Pendant ist falsche Unmittelbarkeit – vorgespiegelt wird, diese Utopie sei tatsächlich erreicht, wo es Identität gar nicht geben kann –, es sei denn, Geschichtsbewusstsein ist uns abhandengekommen.

Wer mit dem Kopf durch die Wand will, landet nur in der nächsten Zelle. Aus der Geschichte kann man nicht aussteigen, ebenso wenig wie aus seiner Sprache, in der ja Geschichte sedimentiert ist. Ein Gleiches gilt für die Kunst: Wir sind Teil der geschichtlichen Welt – wie könnte man einen Standpunkt jenseits der Geschichte beziehen? Wir befinden uns nicht jenseits des Schaufensters. Der Künstler steht wie wir alle mitten darin, er ist zugleich Teil und Betrachter von Geschichte, zudem bezieht er Position zur Geschichte in seiner Arbeit.

In seinem wichtigen Beitrag zur ›verbesserung von mitteleuropa‹ hat Oswald Wiener einen Automaten entworfen, der an die Stelle des Staates tritt und die Wirklichkeit ersetzt.

Pendant und Komplement dazu: Max Stirners Programm ›Der Einzige und sein Eigentum‹ wurde von Konrad Bayer zu Ende gedacht, dem früh von eigener Hand geendeten Individualanarchisten bester Güte: Bayer proklamierte den Ein-Mann-Staat. Schwierigkeiten sah er vorerst allein in der Außenpolitik.

»Seid in der Zeit! Seid statisch!« lautete die Devise von Jean Tinguely auf einem Flugblatt, das er über Düsseldorf aus dem Flugzeug abgeworfen hat. Nun glauben wir aber an Fortschritt nicht mehr. »fort mit dem schritt!« – Tomas Schmit. Wir können ja nicht gerade behaupten, wir lebten in einer Europa-Euphorie. Vieles spricht da eine ganz andere Sprache.

Kunst gilt als gesellschaftliches Gedächtnis, sinnlicher Erfahrungen und Wünsche, Hoffnungen und Forderungen, als Wertspeicher von ideellem gesellschaftlichem Reichtum. Erschreckend ist, wie wenig Ahnung, wie viel Vorurteil und unbegründete Deutung ohne Kenntnis und Wissen mit Kunst befasste Leute haben – nicht nur unsere Twens, ob nun mit freier oder angewandter, unfreier oder abgewandter Kunst, mit Planung und Entwurf befasst – sowohl in Bereichen von europäischer, nicht-deutscher oder gar afrikanischer, asiatischer zeitgenössischer Künste. Dem entsprechen Dumpfheit der Erfahrung oder Stumpfheit der Wahrnehmung, von Erlebnisäußerungen zu Ausdeutung und Urteil – sowohl was Zeit, Raum, Form, Gestalt, Inhalt und deren Geschichte angeht. […]«

In den sechziger Jahren stand Sauerbier mit den meisten Fluxus-Künstlern weltweit in Kontakt, es entstand ein reger Austausch, der keinen Unterschied zuließ zwischen Kunst und Alltag. Das für die Gattung Fluxus beispielhafte, für diese (Nicht-)Disziplin durchaus als typisch zu bezeichnende Projekt ›Revue Rendez-vous‹ wurde, so Sauerbier in seinem gleichermaßen theoretischen wie unterhaltsamen Vor- bzw. Nachwort, »1965 begonnen, 1966 ausgeführt. Nachzügler kamen noch im folgenden Jahr. 1967 habe ich die Korrespondenz beendet. Bisher wurde das Projekt unvollständig, verstreut und in Teilen veröffentlicht, nur Auszüge und Entwürfe waren in etlichen Ausstellungen zu sehen.« Die Dokumentation dieses ›Korrespondenzstücks‹ ist inzwischen unter dem Titel ›Revue Rendez-vous‹ in einer beeindruckend gestalteten, haptisch-sinnlichen Ausgabe aus dem Haus der Leipziger Hochschule für Buch und Gestaltung erschienen.

Achtzehn Künstler sollten seinerzeit Fragen – an sich selbst – stellen, die wiederum zu beantworten waren von anderen Fluxern; und es gab kaum einen der teilweise auch heute noch, besser vielleicht: Mittlerweile am Kunstmarkt preislich hochgehandelten Artisten, der sich ihnen nicht zugehörig fühlte. Manch einer lieferte Bögen ab, die eine gedankliche Verbindung an den Fragenkatalog von Marcel Proust zulassen, der über lange Zeit von einer führenden deutschen Tageszeitung benutzt wurde, die für sich selbst damit warb, dahinter stecke immer ein kluger Kopf. Im Lauf dieser im einzelnen wie unterhaltsames Geplänkel wirkenden Korrespondenzen sandten die Künstler Sauerbier Postkarten, Briefe oder einfach nur Zettel zu, nachzulesen bzw. anzuschauen im hochwertig ausgestatteten Mittelteil des Buches. Daniel Spoerri etwa notierte auf einem winzigen Blatt: »Beweismaterial über langes Nachdenken. Bitte wegwerfen.«

Oswald Wiener, Autor des legendären Buches Die Verbesserung von Mitteleuropa und in den siebziger Jahren vor der Obrigkeit nach Berlin geflüchtet, telegrafierte aus der österreichischen Hauptstadt in die seinerzeit ehemalige deutsche: »Frage: Ich bin Bundesbahnpensionist und möchte nach Ostdeutschland fahren. Wo muß ich mich hinwenden, um die mir zustehende Fahrpreisermäßigung zu erhalten.«

 Nonsense – aber wahrhaftiger. So fordert der Südkoreaner Nam June Paik in deutscher Sprache dazu auf, eine Partei gegen die Politik(er) zu gründen. (Inform von gar erschröcklicher Satire – siehe den Untergang des unsinkbaren Luxusdampfers namens ›Titanic‹ bzw. der nach ihr benannten Zeitschrift, deren einstiger Chefredakteur Martin Sonneborn mittlerweile einen Sitz im Parlament der Europäischen Union innehat – realisiertes Utopia?) Collagen, Malereien, Typoskripte, Zeichnungen – unalltägliche Kleinodien des täglichen, immer irgendwie politischen Lebens aus einer Zeit, in der es das soziale Netzwerk, die Community auch ohne Internet längst gab. Man schickte sich eben, wie S(amuel) D(ietrich) Sauerbier diese Kommunikationsform gerne bezeichnet: »mundgemalte Postkarten«.

Als eine solche, als ein eben nichtdigitales Kleinod ließe sich Revue Rendez-vouz bezeichnen. Falls trotz ergiebiger Lektüre Fragen unbeantwortet bleiben sollten, gilt zu bedenken:

»Das Wichtigste an Fluxus ist, daß niemand weiß, was es ist. Es soll wenigstens etwas geben, das die Experten nicht verstehen.«

 

Revue-Rendez-vous. Korrespondenzstück
Vor- bzw. Nachwort sowie biografische Hinweise in deutscher und englischer Sprache
Leipzig: Institut für Buchkunst an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, 2013
264 Seiten, 34 Euro

Eine kürzere Fassung dieses Textes ist zuerst erschienen in der Leipziger Volkszeitung vom 11. August 2014

 


 

 

Wider die Theaterverhunzer

Regietheaterregisseur Hansgünther Heyme

 

Einst wurde eine Mauer niedergerissen. Nicht vom Volk. Das wünschte sich nach den Ereignissen apokalyptischen Ausmaßes gar, sie solle wieder aufgebaut werden, ebenso die Kult(ur)stätten, die das Gemäuer eigentlich schützen sollte. Zerstört hatte dieses kilometerlange, sehr lange vor der Chinesischen Mauer errichtete, mächtige Bollwerk die Sintflut. Etwa fünftausend Jahre liegt das zurück, dreitausend vor Beginn unserer, der christlichen Zeitrechnung. Mit diesen fünf Jahrtausenden wäre man bei dem biblischen Ereignis, das die Kreationisten in Gegnerschaft zu den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen Darwins als den Beginn der kreativen Phase des christlichen Gottes bezeichnen. Und die sie als Glaubenslehre vermitteln, die sie in den USA in der Form von Tempeln musealisiert haben, obwohl die Geschichte noch gar nicht zu ende ist.

Tatsächlich dürften die Geschehnisse achttausend und mehr Jahre zurückliegen, auch von dreißigtausend ist innerhalb der Wissenschaft die Rede, so genau wissen die Forscher es noch nicht. Stefan M. Maul, Altorientalist und Assyriologe, Ordinarius der Universität Heidelberg, meinte anläßlich eines Vortrags im Ludwigshafener Theater im Pfalzbau über das mit höchster Wahrscheinlichkeit erste schriftlich festgehaltene Epos der Welt, das um den einstigen teilgöttlichen König Gilgamesch, er sehe das Endstadium der Archäologie im ehemaligen Zweistromland Mesopotamien, an Euphrat und Tigris gelegen, geographisch einzuordnen zwischen der heutigen Türkei, dem Iran, Syrien und Irak, nicht ab; er werde es nicht mehr erleben, achtzig bis hundert Jahre werde es wohl noch dauern, bis die letzten, mit Keilschrift versehenen Tontafeln ausgegraben sein werden. Die brächten allerdings den Vorteil mit, im Gegensatz beispielsweise zu Papyrus und Buchdruck, gar zu den heutigen digitalisierten Schriften, als Träger im Prinzip unzerstörbar zu sein, tief in der Erde, mit ewigem Leben bedacht.

 

Um das ewige Leben, dessen Ende die Kulturalisierung der Menschheit selbst herbeigeführt hat, geht es in Gilgamesch bzw. in der Inszenierung von Hansgünther Heyme, mit der er sich nach bald elfjähriger Tätigkeit als Intendant des Ludwigshafener Theaters im Pfalzbau verabschiedet. Mit einer Aufführung, die bereits in den Anfangsbildern an die antiken Tragödien erinnert, die der 1935 geborene Protagonist des Regietheaters immer wieder auf die Bühnen gestellt hat. Gilgamesch ist der zu zwei Dritteln göttliche König von Uruk, der ersten Metropole der Welt, die er nach der Sintflut wieder aufbauen soll.

Diese Naturgewalt ist in der christlichen »Geschichtsschreibung« über das Alte Testament bzw. die Bibel, in der jüdischen über die Thora respektive den babylonischen Talmud (der Aufzeichnung der mündlichen Überlieferung) verbrieft. Gilgamesch ersehnt die Ewigkeit. Deshalb begibt er sich nach dem Tod seines Freundes Enkidu, seinem von den Göttern ihm als gleichstarkes Gegengewicht oder auch aus der Natur hervorgegangenem Alter Ego geschaffenen Ebenbild, auf die Suche. Auf eine Reise um die Welt – abenteuert sich durch: durch die Tiefen, zum Ende hin nicht nur der der Unterwelt – Tiefe bedeutet in diesem literarischen Zeugnis der Entstehung von Kultur auch, seherisch zu werden, also die Erkenntnis an sich. Um dann im fortgeschrittenen Alter festzustellen bzw. sich vom einzigen Über- und tatsächlich Ewiglebenden, dem Uta-napischti, der in der biblischen Darstellung als Noah auftauchen sollte, vielsagend und (hinter-)listig bedeuten zu lassen: Auch er ist sterblich. Es handelt sich um einen sozusagen unsterblichen Stoff auch in der modernen, bis hin zur zeitgenössischen Literatur, dessen Grundlagen sich allerdings durchweg aus den antiken griechischen bis römischen Mythologien nähren. Die Archäologie, die Forschung um die Jahrtausende zuvor gebildete sumerische Kultur steckt noch immer tief in den geologischen Schichten der Altorientalistik, die ersten Ausgrabungen liegen gerademal gut hundert Jahre zurück.

Es hat Gilgamesch nichts genutzt, gemeinsam mit Enkidu den gewaltigen Himmelsstier, diesen vielköpfigen Drachen der Götter, diese Hydra von unermeßlicher Kraft niedergerungen, ihn getötet zu haben. Der Himmelsstier kann synonymisch auch für Naturgewalten stehen, zum Beispiel für die alle Kultur niederreißende Sintflut, aber ebenso für kriegerische Nachbarvölker, die sich gegen die Abholzung ihrer Baumbestände wehren. Auch Humbaba wurde besiegt, der mächtige Wächter des Zedernwaldes. Die Teilgöttlichkeit hat Gilgamesch nicht geholfen, er ist letzten Endes schlicht Mensch geworden, er wird das Zeitliche segnen.

 

Produktionsversuch menschlicher Heimat.

Nun handelt es sich bei Ludwigshafen nicht um die Weltmetropole Uruk, deren heilige Stätten von der Sintflut weggeschwemmt wurden. Aber eine gewisse Ödnis herrschte in der Industriestadt durchaus vor, als Hansgünther Heyme vor bald elf Jahren dort seine Theaterarbeit aufnahm. Das Gleichnis mag statthaft sein, er wollte die nach dem bayerischen König Ludwig I. benannte Kulturstätte wieder aufrichten. Die nach den Zerstörungen durch den Zweiten Weltkrieg architektonisch sowie städteplanerisch völlig mißraten wiederaufgebaute, nahezu ausschließlich dem Autoverkehr unterworfene oder auch überbrückte Stadt, die am Rhein an Schillers ›Räuber‹-Uraufführungsort, dem badischen, kurpfälzischen Mannheim grenzt, ist der breiteren Bevölkerung wohl am ehesten bekannt durch die Badische Anilin- und Soda-Fabrik (BASF), vielleicht auch noch von Helmut Kohl, von 1982 bis 1998 der sechste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. Der Philosoph Ernst Bloch, von dem obiges Zitat stammt, gibt der Stadt ein wenig Bildungsglanz: ihm war der Vergleich zwischen der Arbeiterstadt Ludwigshafen und der seiner Meinung nach bürgerlichen Kommune Mannheim von außerordentlicher Bedeutung (»Architektur insgesamt ist der Produktionsversuch menschlicher Heimat«).

Hansgünther Heyme hatte sich bewußt entschieden, nach künstlerischer Leitung von großen, angesehenen Häusern wie etwa Bremen, Essen, Köln, Stuttgart oder der weit über zehnjährigen Intendanz der von ihm gegründeten Ruhr-Festspiele Recklinghausen, ein Theater ohne festes Ensemble und ohne Werkstätten zu leiten – und dem »Operettenbedürfnis« eines an Gastspiele gewohnten Publikums entgegenzuwirken. Das 1968 eingeweihte Haus war der Nachfolgebau des alten, 1928 errichteten Pfalzbaus am Berliner Platz, der in den Bombennächten von 1943 bzw. 1945 zerstört worden war. Nach dem Krieg wurde das Gebäude provisorisch zum Teil zwar wieder aufgebaut, mußte aber 1957 der neuen, für Ludwigshafen typischen Hochstraßen-Verkehrsführung weichen. Auch auf Betreiben von Heyme wurde der Pfalzbau 2007 bis 2009 saniert und umgebaut. Im ›Theater im Pfalzbau‹ wollte er ein Modell für ein Haus etablieren, das vor allem auf Kooperation mit anderen Spielstätten basiere.

Dieses Vorhaben einer Erneuerung zumindest dieser Kulturstätte durch den einstmaligen Schauspieler, Architektur-, Germanistik-, Philosophie- und Soziologiestudenten – »Die Vorlesungen, die ich besucht habe, waren auch ganz unterschiedlicher Natur: Medizin und Psychologie, alles mögliche habe ich mir angehört. Ich war immer zerrissen zwischen Mathematik und Philosophie, zwischen freier Kunst und Gestaltungsaufgaben.« – und späteren Regisseur Heyme, der als Assistent des legendären Freigeistes Erwin Piscator tief eingestiegen war in dieses Genre, hatte allerdings nicht diese apokalyptische, grundinnovative Dimension wie die eingangs erwähnte mythologische um die Metropole Uruk. 2004 hatte Heyme als Intendant das ›Theater im Pfalzbau‹ übernommen, mit 1150 Sitzplätzen zwar das größte in Rheinland-Pfalz, als eines ausschließlich für Gastspiele aber überdimensionierten Hauses.

 

»Und alle paar Jahre haut den Nostalgikern, die seit 1976 (Chereaus Ring!) das Abendland untergehen sehen, ein Intellektueller bestätigend die Faust zwischen die Gralskelche: Recht habt ihr! Die Regisseure schänden Texte und Töne, das Publikum wird zur Staffage – so wettert man gegen das, was in London als ›Euro-Trash‹ gilt. Besonders heftig hat jetzt der Musikwissenschaftler Laurenz Lütteken in der Neuen Zürcher Zeitung zugeschlagen. Er erinnert an das Bayreuth von 1943, als durch Aufmarschieren einer echten SS-Standarte auf der Bühne der Meistersinger dieses Werk mißbraucht worden sei.« (Volker Hagedorn in Zeit-Online, 29. September 2014)

 

Georg Hensel, zu Lebzeiten gerne überpointierender Kritiker der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹, meinte nach den Anfängen des Regietheaters noch moderat: »Der Zuschauer wurde in eine Distanz gerückt, die ihn durch die Komik des Antiquierten, durch die vorgetäuschte Einfalt der Darbietung bezauberte und die ihn zugleich zur kritischen Beurteilung der Vorgänge anregte – die Lust am Spiel und die Lust des Denkens fielen zusammen.« 1972 erschien dann sein Buch ›Wider die Theaterverhunzer‹. Heyme war einer der Gründerväter dieser Zertrümmerer.

Regietheater war eine ursprünglich abwertend gemeinte Bezeichnung für Inszenierungen, in denen die Vorstellungen der Regisseure nach Auffassung von deren Gegnern die Inhalte der Stücke verzerrten und in denen deren Meinung nach eindeutig zu viel Nacktheit und auch Gewalt die Szenerie beherrschten. Für die Protagonisten dieser in den sechziger Jahren entstandenen Theaterform bedeutete es allerdings lediglich, klassische Stoffe für die Gegenwart neu zu deuten. So inszenierte 1965 Heyme beispielsweise am Hessischen Staatstheater Wiesbaden Schillers Wilhelm Tell, der zum Skandal geriet, da er den Stoff inszenatorisch in die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft rückte; deshalb wurde er seinerzeit in der Schweiz gar vorübergehend in Haft genommen. Enormen Wirbel verursachte 1971 die Münchner Uraufführung von Wolf Biermanns ›Der Dra-Dra‹, in der ein für den Kapitalismus stehender Drache getötet wurde; innerhalb des Publikums kam es dabei teilweise zu Prügeleien. Im selben Jahr wurde Heyme wegen seiner Inszenierung von Dieter Fortes Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung ausgebuht, weil am Ende der ermordete Münzer nackt aufgehängt dargestellt wurde.

Es war die Phase, zu der Heyme, wie so viele andere Aktive der Künste auch, sich für eine Liberalisierung der Gesellschaft engagierte, in der der Muff von tausend Jahren auch aus den Talaren der Künste geschüttelt werden sollte. Es war die Zeit, in der begonnen worden war, Kunst nicht mehr nur aus der Perspektive der Burg, sondern vermehrt aus der des Grases zu zeigen. Das Edle, Erhabene geriet zusehends ins kritische Blickfeld, die Theaterliteratur wurde zunehmend analysierend auseinandergenommen und unter zeitgenössischen Blicken neu zusammengesetzt.

Manche Politiker hätten Hansgünther Heyme sicherlich gerne Berufsverbot erteilt. Doch der gehörte nun mal zur Vorhut dieser staatlich subventionierten Opposition, die durch die Institutionen marschierte. Es handelte sich um international orientierte und tätige Theaterregisseure, die die Klassiker heftig durchgebürstet und dabei enorme Bühnenstaubnebel aufgewirbelt hatten, nicht zuletzt in den Köpfen der Bewahrer des Wahren, Guten und Schönen. Es war die ungemein erfrischende, lebendige Phase des Regietheaters, zu der beispielsweise eine deutlich hanseatisch anmutende Besucherin zur Pause von Peter Zadeks Othello-Inszenierung bzw. -Aufführung 1977 am Hamburger Schauspielhaus anmerken sollte, es sei »dégoutant, wie die [Eva] Matthes da ihre Brüste über die Balustrade« hänge. Oder als Zadeks andere Shakespeare-Figur Hamlet alias Ulrich Wildgruber nicht wie weiland Ernst Lubitschs polnischer Dänenkönig an den Bühnenrand trat und vernehmlich, aus heutiger Sicht durchaus sehr komisch, geradezu lächerlich rampensäuisch Sein oder Nichtsein sein »ob’s edler im Gemüt« deklamierte, sondern gar ins Rund eines Zirkuszeltes (im seinerzeit noch nicht so konventionellen Münchner Theaterfestival) den berühmten, fast überzitierten Monolog hinein-, ja geradezu wegnuschelte, überhaupt kaum mehr Königliches, Erhabenes zu sehen war, sondern eigentlich nur noch schwitzender, schmieriger Abfall von tradierter Bühnendarstellung.

Peter Steins Figuren seien noch beispielgebend erwähnt, der die übermächtig, ja virulent werdende Postmoderne, im übrigen ein Anfang der sechziger Jahren von einem US-amerikanischen Literaturwissenschaftler, dem Bruder des Architekturtheoretikers Charles Jencks, geprägten Begriff vom Alles-Machbaren, dem Anything goes, bildhaft vorwegnehmend auf eine ausgeprägt komisch wirkende theatralische Formel brachte, indem der bürgerliche Salon des molièreschen Menschenfeinds in maßgeschneiderten, später in den sogenannten Edelmarken Armani oder Boss aufgehenden Kostümen auftrat, die Autoschlüssel zum bayerischen Motorenwerk schwingend. Und der von der antiken Tragödie kommende Heyme gehörte der Avantgarde dieser respektlosen, vor keinem Klassiker haltmachenden, ismusfreien anarchisch-kämpferischen Truppe an. Da es, wenn auch zeitlich befristete, Verträge gab, konnte man ihn zwar nicht ohne Weiteres von Hofe jagen, ihn nicht mit Berufsverbot belegen wie jeden Lehrer oder Postboten …

 

Wider das Hoftheater

Einmal wäre es fast gelungen, Hansgünther Heyme vom Hof zu jagen. 1979 hatte er am Württembergischen Staatstheater Stuttgart Claus Peymann als Schauspieldirektor abgelöst; auch der einer dieser Theaterverhunzer. Vom Kölner Stadttheater war Heyme gekommen, wo er unter anderem intensiv mit Wolf Vostell als Bühnenbildner zusammenarbeitete. Vostell war einer der ersten bildenden Künstler, die sich der der Umweltproblematik bildwirksam angenommen hatte (und die Heyme mit seiner ›Gilgamesch‹-Inszenierung jetzt wieder aufgreift). Den mit Vostell erarbeiteten Kölner Hamlet hatte er mit nach Stuttgart genommen. Da war dieses Bühnenbild, »eine Landschaft des Blutes, umgestürzten Autos, Teerpfützen und die Mädchen alle nackt«, wie Heyme erzählt, Blut tropfte aus dem Maul eines aufgehängten Pferdes, das habe ihn »dann reingerissen in die Katastrophe«. Auch das bundesdeutsche Groß-Feuilleton hatte keine sonderlich gute Meinung von ihm. Es waren, so Heyme im Frühjahr 2014 in einem Gespräch im 2. Hörfunkprogramm des Südwestrundfunks, »damals sehr viele dieser Kritiker von großem reaktionären Bewußtsein, standhaft reaktionär, in schlimmer Weise …«. Benjamin Henrichs habe in der Zeit mal geschrieben, »da darf man nicht mehr hingehen. Wir, die deutschen Kritiker, befinden dieses Theater Stuttgart für tot, wir kommen nicht mehr. Das haben die auch durchgehalten, ’ne Weile, bis die Erfolge nicht mehr aufzuhalten waren.«

Doch die eigentliche, fast schon wieder komische Tragödie nahm ihren Lauf durch ein Stück des Stuttgarter Autors Günter Rüber, das Heyme 1983 am Staatstheater inszenieren wollte: Der Lieblingsnazi, eine Anspielung auf Erwin Rommel, den nordafrikanischen Wüstenfuchs der deutschen Reichsarmee; der Schauspieldirektor Heyme sah dies als einen Versuch der Beantwortung auch der Stuttgarter Bühne auf »verdrängte Zeitfragen«.

Des Afrikafeldherrns Sohn Manfred, Oberbürgermeister der baden-württembergischen Landeshauptstadt, ward darob recht ungehalten, da er seinen Vater diffamiert sah. »Da hat«, so Heyme im Südwestrundfunk, »der Rommel dann auch völlig durchgedreht.« Es kam zu erheblichen Auseinandersetzungen innerhalb des Theaterbeirats sowie in der Öffentlichkeit, an deren Ende Heyme schließlich das Handtuch in den Ring Württembergisches Staatstheater warf.

Auch wenn das Stuttgarter Stadtoberhaupt, wie dem Reutlinger General-Anzeiger vom 23. November 1983 zu entnehmen ist, niemals darauf hingewirkt hat, daß »Herrn Heyme irgendetwas verboten wird«, hatte dieser erneute »Theaterskandal« Nachwirkungen. 1985 sollte Heyme das Schauspiel in Frankfurt am Main übernehmen. Die Verträge waren bereits unterzeichnet, so Heymes Schilderung gegenüber dem Autor, als Manfred Rommel seinen damaligen Oberbürgermeisterkollegen Walter Wallmann, den späteren CDU-Bundesumweltminister sowie Ministerpräsidenten des Landes Hessen, anrief und diesem bedeutete, dieses »linke Schwein« könne man doch »nicht zum Intendanten machen«.

Darauf wurden alle bereits geschlossenen Verträge in Frankfurt am Main gelöst. Intendant wurde Günther Rühle, zu der Zeit Feuilletonchef der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹. Der sorgte sofort für Furore. Der laut Heyme mit Unterstützung der jüdischen Gemeinde der Stadt in diese Funktion gelangte Theatertheoretiker setzte gleich zu Beginn – ein geschickter Zug im (kultur-)politischen Schachspiel? – Rainer Werner Fassbinders umstrittenes Stück ›Der Müll, die Stadt und der Tod‹ zur Wiederaufführung an, das unter anderem auf Ignatz Bubis anspielt, den langjährigen Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland.

An der darauffolgenden, in der Öffentlichkeit ausgetragenen Debatte gingen auch Freundschaften zu Bruch; der Autor erinnert sich. Der vom Hof gedrängte Hansgünther Heyme übernahm dann das Essener, das heutige ›Grillo-Theater‹. Von 1985 bis 1992 war er dort Schauspieldirektor; durch seinen Einsatz wurden 1988 Pläne der Kommune abgewendet, das Haus wegen Baumängeln zu schließen.

 

Hundertjähriger, sozialdemokratischer Schlaf

Nun muß er auch in Ludwigshafen gehen. Noch im März 2013 hatte der Stadtrat einstimmig die Vertragsverlängerung beschlossen bzw. festgestellt: »Mit den Festspielen Ludwigshafen gelang es ihm, ein großes internationales Theaterfestival in Ludwigshafen zu verorten. Mit themenbezogenen Schwerpunkten wie den Festwochen Türkei oder – neu – den Theatertagen ORIENTierung, die sich dem arabischen Frühling widmen, setzte Heyme wichtige Akzente. Ein weiterer Schwerpunkt seines Schaffens ist die gelungene Öffnung des Theaters sowie die erfolgreiche Arbeit mit Kindern und Jugendlichen.« Und die Kulturdezernentin Cornelia Reifenberg fügte hinzu: »Hansgünther Heyme ist eine große Persönlichkeit in der deutschen Theaterlandschaft und ein unermüdlicher Botschafter für das Theater. Ich freue mich sehr, daß Hansgünther Heyme nun seine erfolgreiche Arbeit für die Stadt bis 31. Dezember 2014 fortsetzen kann. Er hat das Profil des Theaters neu geschärft. Es ist ihm gelungen, Ludwigshafen als Theaterstadt überregional zu positionieren, zum Beispiel durch die Festspiele Ludwigshafen, durch viel beachtete eigene Regiearbeiten oder durch die Realisierung von Wagners ›Ring des Nibelungen‹ in Koproduktion mit der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz und in Kooperation mit der Oper Halle.«

Zweifelsohne ist Heyme es gelungen, In Ludwigshafen neben den erwähnten Ereignissen zudem ein anspruchsvolles Gastspielprogramm aufzustellen, das zeitweise durchaus an die hohe, internationale Qualität der Ruhr-Festspiele Recklinghausen erinnert. Und wer diesen, sowohl in Gesprächen als auch bei der Regiearbeit selbst, geradezu ungeheuerlich vitalen fast Achtzigjährigen erlebt, der kann sich nicht nur vorstellen, daß er den ›Gilgamesch‹, den einst ungestüm herrschenden, jedoch durch Erfahrung und Erkenntnis weise gewordenen König der Weltmetropole Uruk, im Notfall auf der Bühne auch noch selber gäbe, dem wird deutlich, daß es für ihn ein leichtes wäre, zumindest noch weitere fünf Jahre die kulturelle Erneuerung voranzutreiben. Es steht ohnehin an, zu vermuten: Heyme wird mit 120 mit den Füßen voraus von der Bühne getragen werden.

Doch die Arbeiterstadt Ludwigshafen scheint sich gegen einen derartigen Erneuerer zu wehren, als gelte es, einen hundertjährigen Schlaf zu schützen. Dem sozialdemokratischen Kulturverständnis nach agiert Heyme zu »elitär«. Es handelt sich dabei um eines, in dem zwar fortwährend von Bildung gesprochen wird, bei dem jedoch das eigentliche Bildungsziel völlig aus dem Blickfeld geraten ist: Die Entwicklung eigen-, selbständiger Gedanken. Gefördert wird allein das Repetieren von Formeln, das dem wirtschaftlichen Nützlichkeitsprinzip zuträglich ist. Hinzu kommt, da dürften sich die großen politischen Parteien allerdings einig sein: Kunst als integraler Bestandteil von Kultur als der »Gesamtheit der Lebensäußerungen eines Volkes«, wie sie die gute alte Brockhaus-Enzyklopädie definiert, dieses (Über-)Lebensmittel darf so gut wie nichts mehr kosten, ein »Operettenbedürfnis« ist leicht über die Billigheimer zu erfüllen.

Heyme, der politisch immer der SPD zugeneigt war, meint allerdings, es gebe sie ohnehin nicht mehr; anders ausgedrückt: Es gebe dort niemanden mehr, der freigeistige Gedanken zulasse. Ein paar wenige in Nibelheim, wie Heyme in Anlehnung an seine bemerkenswerte ›Ring‹-Inszenierung Ludwigshafen nannte, sind in gewisser Weise stolzerfüllt, daß die Stadt beispielsweise mit der Wagner-Tetralogie einige Jahre in aller Munde, auch in vielen bedeutenden Feuilletons vertreten war; die eindrucksvolle Dokumention, die das außerordentliche Musiktheaterereignis belegt, wird zurzeit verramscht. Anderen ist das alles eben zu »elitär«; was auch immer mit diesem immer flacher werdenden, in eine diffuse Breite gehenden Begriff gemeint sein soll. Undeutlich ist dabei, ob tatsächlich lediglich die Kosten gemeint sind, die Kultur nicht mehr verursachen darf. Dabei ist beispielsweise Heymes Ludwigshafener ›Ring des Nibelungen‹, entgegen den ihm gegenüber erhobenen Vorwürfen, aus dem vorhandenen, laufenden Etat bestritten worden, wobei der kooperierende Partner, die Oper Halle, finanziell den mit Abstand höchsten Anteil gestemmt hat und die Zuschüsse ohnehin aus rheinland-pfälzischen Landesmitteln kamen. Dennoch wurde ihm etwa seitens der städtischen Jungsozialisten vorgeworfen, er habe seine Etatvorgaben erheblich überschritten. daß es möglicherweise doch andere Hintergründe haben dürfte, belegt der mehr als bedauerliche Hinweis, daß die über die Jahre hin an diesem Haus aufgebaute Kinder- und Jugendarbeit, an der Heymes Ehefrau Éva Adorján erheblichen, entscheidenden Anteil hat, mit dem Ende seiner Intendanz ebenfalls aufgekündigt ist.

 

Ein fulminanter Abgang

Für Heymes Abschiedsvorstellung, die Inszenierung des ›Gilgamesch‹-Epos, treten etwa sechzig Laiendarsteller aller Altersgruppen an, von der Schülerin bis zur Pensionistin – ein weibliches Interesse am Theater überwiegt eindeutig –, ausgewählt aus rund 150 Bewerbungen; das Volk drängt’s offensichtlich zur Bühne. Der Verdacht könnte aufkommen, der politisch listenreiche Theaterstratege habe hierbei ein Exempel statuieren, den Nachweis erbringen wollen, wohin es führen könnte, einen solch aufwendigen dramatischen Stoff ohne professionelle Darsteller auf eine Bühne zu bringen. Dem Beobachter war aufgefallen, daß der Regisseur im Lauf der seit Anfang 2014 stattfindenden Probenarbeiten, während denen es mehrfach zu öffentlich aufgeführten szenischen Darstellungen kam, unter anderem in mehreren, ›StreitBar‹ genannten Veranstaltungen, in denen die Inhalte punktuell angerissen und vom Publikum diskutiert worden waren, überpräsente Laiendarsteller zugunsten eines homogeneren Aufführungsbildes aussortiert hat. Das ließe diesen Schluß zu. Doch es spricht für diesen seit Jahrzehnten tätigen Theaterberserker, daß er es, wohl nicht zuletzt aufgrund seiner außerordentlichen Personal-, Schauspielerführung, geschafft hat, nie den Eindruck einer nichtprofessionellen Vorstellung aufkommen zu lassen. Alleine für diese Leistung gebührte ihm ein Ehrensold.

 

Alle zehn Jahre könne man eine antike Tragödie inszenieren, meinte Hansgünther Heyme einmal. Der Beobachter schmunzelt ob dieser Selbstironie. Er hat es tatsächlich des öfteren getan, auch während seiner Intendanz in Ludwigshafen: Euripides ›Elektra‹ etwa oder ›Antigone‹ von Sophokles; Letztere hielt sich drei Spielzeiten im Theater im Pfalzbau. Die antike Tragödie ist ohnehin sein dramatisches Zuhause, von der kommt er sozusagen, seine Assistenzzeit bei Erwin Piscator hat ihm die wohl injiziert. Und nun hat er es zu seinem Abschied in Ludwigshafen wieder getan. Der Mann des Regietheaters hat ›Gilgamesch‹, das erste bekannte, in sumerischer Keilschrift verfaßte Epos, in die lange Zeit danach stattfindende Antike versetzt. Er hat das von den Sumerern erfundene, ursprünglich lediglich in Bildern vorgefundene Rad in Technik umgesetzt, hat quasi die von ihnen erdachte Mathematik, die theoretische Quadratur des Kreises praktiziert.

Diese sumerische Tragödie basiert auf der Gilgamesch-Neuübersetzung des Heidelberger Assyrologen Stefan M. Maul und ist von dem Dramaturgen und Schriftsteller Christoph Klimke für die Bühne umgesetzt, die Musik dazu komponierte Jan F. Kurth. Dieser später nach Herrn Geheimrath Goethe auch faustisch genannte Stoff zog sich zumindest teilweise durch die Thora, das Alte Testament, durchfloß die von Homer verfaßten Mythologien. Es ist also alt- oder auch sattsam bekannt – und dennoch immer wieder neu, das wird besonders deutlich in Heymes Inszenierung, wie ausgeprägt Kultur(alisierung) im Sinne eines Alles ist machbar oder Nach uns die Sintflut und Natur gegeneinander wirken können.

Die Geschichte: Der junge König Gilgamesch, Herrscher von Uruk, hat es nicht sonderlich mit Regierungsaufgaben, ist eher an Spielen und Gespielinnen interessiert. Das ruft den Unmut der Götter hervor. Sie schaffen ihm (s)ein Ebenbild, quasi ein antipodisches Alter Ego: Enkidu. Der ist die reine, unberührte Natur, der über die Kulturalisierung, hier symbolisiert durch einen sieben Tage und Nächte andauernden Akt körperlicher Liebe im Bad, lediglich interruptiert durch den Genuß stärkenden Bieres, einem rauschhaften Gelage zwischen ihm und einer Dirne, die zugleich Priesterin ist, seine Unschuld verliert, ihn zum ebenfalls menschenähnlichen Wesen werden läßt; die um einiges jüngere Mythenliteratur, das Alte Testament, wird hierbei assoziiert: auch Im Hohelied Salomos wird die Sexualität hochpoetisch thematisiert:

 

Seht mich nicht so an,
weil ich wie schwarz bin –
getroffen
hat mich die Sonne.
Die Söhne meiner Mutter schnaubten mich an,
hießen mich die Weinberge hüten –
und meinen Weinberg,
Ja meinen, hüte ich nicht.

 

Es kommt zum Kampf der beiden Gleichen, aus dem keiner als Sieger hervorgeht. Aus diesem Unentschieden entsteht eine tiefe Freundschaft. Gemeinsam ziehen sie durchs Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris, sie besiegen den mächtigen Humbaba, den Wächter des Zedernwaldes, sowie den naturgewaltigen Himmelsstier, letzterer gesandt von der als Gattin von Gilgamesch schnöde abgewiesenen, rachsüchtigen Göttin Ishtar.

Überhaupt sind die beiden den Göttern in ihrer Zweimacht zu überheblich geworden, weshalb die beschließen, Enkidu sterben zu lassen. Der dann tief trauernde Gilgamesch zieht daraufhin auf der Suche nach dem ewigen Leben. nach Sinn und Sein allein durch die Welt, bis hinein in die Tiefe des Erdinneren, begegnet Uta-napischti, dem babylonischen Noah, der ihm listig verrät, wo er die Pflanze der Jugend findet. Doch im mesopotamischen Paradies angekommen, wird ihm das Kraut von der Schlange gestohlen, die es frißt, sich daraufhin häutet, die alte Haut abwirft. Die Erkenntnis, die Weisheit läßt Gilgamesch nach Uruk zurückkehren, wo er die Stadt, die Kultstätten und die sie schützende Mauer wieder errichten läßt.

 

Die Aufführung (Premiere): Beim Zuschauer kommt Erstaunen, ja Verblüffung auf über diese Darbietung angesichts der Tatsache: Hier stehen ausnahmslos Laien auf der Bühne. Von 150 Bewerbungen hat Regisseur Heyme gut 60 theaterbegeisterte Menschen ausgewählt, die seit Beginn dieses Jahres probiert haben. Allesamt nach Feierabend und ohne auch nur die winzigste Gage zu erhalten. Im Gegenteil: Auch zusätzliche, materielle Leistungen wurden von denen mit eingebracht, nicht einmal einen Bruchteil der Fahrtkosten bekommen die fast täglich, teilweise bis aus der Vorderpfalz oder von der Bergstraße anreisenden Darsteller erstattet. Da kommt der leicht pathetisch anmutende, ein wenig im 19. Jahrhundert schwingende Begriff Herzblut auf, von dem gefragt werden darf, ob es professionelle Schauspieler in dieser Art aufbrächten.

 

Intermezzo des Kritikasters: Es treten hin und wieder Schwächen auf, die sich im Sprachlichen, in der Artikulation zeigen. Manch einer Stimme, vielleicht gar insgesamt fehlt das Volumen, auch ist bisweilen zu vernehmen, daß der einen oder anderen – der mit Abstand größte Teil des Ensembles setzt sich, mangels männlichem Interesse, aus Darstellerinnen zusammen – Mundmuskulatur etwas Übung gutgetan hätte, auch Atemtechniken ein wenig trainiert hätten werden können. Doch für Sprechübungen dürfte die Probenzeit für ein solch umfangreiches Bühnenwerk nicht auch noch ausgereicht haben. Deshalb führt der aus dem Schriftdeutschen abstammende Beckmesser die ab und an kurpfälzisch klingenden Idiome auf die nicht unproblematische Akustik dieses Theatergebäudes zurück oder siedelt sie als kommentierende Erheiterungen im Parkett an.

Es beginnt mit einem fulminanten, trotz – oder im Besonderen wegen – der Schlichtheit nachgerade opulenten, brillant ausgeleuchteten Bühnenbild (Gerd Friedrich). In dessen Mitte thronen die Götter auf dem mesopotamischen Olymp, bestehend aus recht verbrauchtem Mobiliar aus der Zeit des deutschen Wirtschaftswunders; zu dieser Zeit hatte der schwedische Möbellieferant die konsumistische Welt noch nicht erobert. Der schwarz gewandete Chor (für die Ausstattung zeichnet der Regisseur verantwortlich) treibt, die regietheatralische Sinnlichkeit der siebziger Jahre frei in die Jetztzeit assoziierend, antik-tragödisch, also erzählerisch die Geschichte voran. Sie beginnt mit einem ersten Schmunzeln im Zuschauerraum, zieht doch das Volk gleich Sisyphos einen Stein am Seil über die ebene Bühne. Der Beobachter ist versucht, im Theater im Pfalzbau einen Berg zu erkennen, von dem der Fels immer wieder hinunterrollt. Lediglich die Hauptpersonage tritt in strahlenderen Farben auf. Doch das nimmt nichts von der hauptdarstellerfreien Homogenität der Aufführung. Die Geschichte um die Suche nach Liebe, ewigem Leben bzw. deren Schluß aufgrund des endlosen menschlichen Scheiterns an sich selbst bewegt sich in konstanter Harmonie voran, lediglich von Tempiwechseln leicht ge- oder unterbrochen, durchsetzt von rhythmischen, auch ironischen Einlagen, etwa der musikalischen Illustration sowohl der Freude als auch des Todes durch jüdische Klänge; der jüdischen Kultur immanent ist der Humor des stillen Lachens, des lächelnden Witzelns über sich selbst. Brüche entstehen allein inszenatorisch, doch sie befeuern die im positiven Sinn anhaltende, nie nachlassende Spannung der gesamten Vorstellung: diffizile Sinnlichkeit mit intellektuellen Anspielungen, die jedoch nie den didaktischen Zeigefinger der Bildung erheben, die keinen Schnellkurs in assyriologischer Geschichte abfordern.

 

Über die Schrift schrieb Roland Barthes Anfang der Siebziger: Die Lust am Text. Hier, 2014, ist es: die am Theater (der Regie). Der amüsierte Beobachter dankt – und denkt (weiterhin nach).

Musikalischer Ulysses

Claudio Monteverdi lausche ich, seit ich hören kann. Nun ja, ich will's nicht übertreiben. Es sind wohl allzu lange Zeit meistens lediglich die Füllungen der Pralinées gewesen, die mir träufelnd in die Lauscher gerieten.

Auch ich, der ich mit den Klängen der sogenannten Klassik zu wachsen begann, höchstwahrscheinlich bereits im Unterleib meiner nur mit Musik zu beglückenden oder auch zu berauschenden Mutter, habe wie so viele andere über die Jahre, Jahrzehnte dem Zwang unterlegen, mir immer wieder die Rosinen aus den großen Musikkuchen herauszupicken, wie sie von solchen schrecklich-süßlichen Radiosendern wie dem deutschen KlassikRadio angeboten werden. Sobald ich auf dem Weg nachhause die Grenze zu Frankreich überschritten bzw. -fahren hatte, schaltete ich in der Regel bereits in der Voiture France Musique ein, wo immer wieder mal auch selten gehörte Musik gespielt wurde, nicht immer wieder nur diese im Lauf der Zeit zum Kaufhausgedudel verkommenen, nach Schnäppchen irgendwelcher vivaldischen Frühlings-, Sommer-, Herbst- oder Winterschlußverkäufe, bei uns schon seit langem ganzjährig Soldes genannt, klingenden, völlig abgenudelten Kaffeestückchen, nach der sich hin und wieder diejenigen sehnen, die zur stillen, zur freien Zeit zwischen den Jahren auch schon mal ein gutes Buch lesen, ansonsten Literatur lediglich aus den bunten Blättern in den Wartezimmern der Arztpraxen kennen, die Musik in der Regel mit Rock und Pop übersetzen (womit nichts gegen profunden Punk gesagt sein möchte!).

Als die Welt schließlich internetdigitalisiert wurde, profitierte auch ich fernab musikalischer Radioqualitäten Lebender davon, indem ich über das Fernsehgerät meinen Heimatsender empfangen konnte. Ich durfte gar wählen zwischen France Musique1und Classique Radio, letztgenannter ein Privatsender, zu dem Mitte der achtziger Jahre fast die Hälfte der Mitarbeiter des staatlichen Musikrundfunks übergelaufen war; an der anspruchsvollen Programmstruktur ist das nach wie vor deutlich zu vernehmen, selbst die Werbung hält sich, neben der Wirtschaftsberichterstattung, in Grenzen in diesem zu einem global operierenden Konzern des Luxus und der ModenLVMH Moët Hennessy – Louis Vuitton S.A, weltweit Branchenführer der Luxusgüterindustrie. gehörenden Kanals, der sich, nun ja, in erster Linie der Gesellschaftsschicht der ENA-Absolventen zuwendet.

Seit einiger Zeit bin ich zu meinen bereits im Uterus einsetzenden Gewohnheiten zurückgekehrt und höre, wenn ich nicht ohnehin im Konzertsaal oder Opernhaus sitzend lausche, auch zuhause wieder vermehrt diese gesamten, teilweise in bestem Wortsinn gigantischen Musikgebilde. So kam es dazu, daß ich, tatsächlich zum ersten Mal in meinem Hörerleben, Il ritorno d'Ulisse in Patria 2zur Gänze genossen habe. Und dann auch noch dirigiert vom nicht minder geschätzten und mittlerweile auch noch seligen Nikolaus Harnoncourt, der mir als Interpret so nahe steht, weil er so nahe dranbleibt an den Originalnotierungen. In der Tube bin ich lediglich auf eine Aufnahme gestoßen, die in etwa etwas von der Atmosphäre vermittelt, die sich dabei über mich legt wie ein mich wohlig wärmender Kardinalsmantel.

Nun ja, der Heilige Martin ist längst vorübergezogen. Aber die Wärme einer Spiritualität ist noch vorhanden, ohne die meines Erachtens alte Musik, hier der zuendegehenden Renaissance, nur schwierig verstanden werden wird; die allerdings in jedem Ungläubigen, wie ich einer bin, genauso vorhanden sein dürfte. Das wird vermutlich auch an Stimmen liegen, die im Opernangebot gegenüber den Sopraninnen allzu häufig ins Hintertreffen geraten. Und ich liebe nunmal nicht nur Frauen, sondern im besonderen Alt-Damen.

 

Nichts als eine Empfehlung also, mal (wieder) etwas anderes zu belauschen.

 

Schwarzfüßler und Beurs

Dem Wanderer zwischen zwei Kulturen fällt bei seinen häufigen Grenzüberschreitungen nach rechts des Rheins beziehungsweise innerhalb von meist in Kneipen stattfindenden Gesprächen immer wieder auf, wie fragend Deutsche selbst in unmittelbarer Nachbarschaft auf Begriffe wie Pieds-noirs oder Beurs reagieren, genauer, ihnen diese in letzter Zeit häufiger auch in deutschsprachigen Medien auftauchenden Wörter nahezu ausnahmslos nicht bekannt sind. In der Regel bedarf es nicht nur der Übersetzung, sondern der genauen Erläuterung der Bedeutungen, der Hintergünde, will ein Gespräch über die jüngsten Ereignisse in Paris in Gang gehalten werden, deren aktuellen politischen Auswirkungen mittlerweile im ganzen Land deutlich zu spüren sind, seien es die massiven Grenzkontrollen, überhaupt der unübersehbare Einsatz von Polizei und Armee oder, am Rande, beispielsweise die Umbildung des Zentrums von Strasbourg, des auch von Deutschen überaus frequentierten Weihnachtsmarkts, le marché de Noël, in eine Sicherheitszone. In Frankreich herrscht der Ausnahmezustand.

Frankreich ist also in letzter Zeit in aller Munde und Auge. Das war bis vor den schrecklichen Ereignissen in jüngster Zeit nicht unbedingt der Fall. Sogar nach den im Januar des Jahres geschehenen Morden an den Redaktionsmitgliedern der Satirezeitschrift Charlie Hebdo‹ wurde es relativ rasch wieder ruhig im Land, auch innerhalb der internationalen sogenannten sozialen Medien, allen voran Facebook, ebbte die bildhafte Solidaritätskundgebung titels Je suis Charlie bald ab.

 

 

Um die Geschehnisse jüngster Zeit einigermaßen zu verdeutlichen, muß zunächst auf ältere zurückgegriffen werden. Im Vordergrund steht der einst mit oder durch Konrad Adenauer und Charles de Gaulle erfolgte Beschluß, aus Erbfeinden hätten fortan Erzfreunde zu werden1, die einstige, zumindest teilweise stattfindende Euphorie hatte sich im Lauf der Jahrzehnte derart gelegt, daß in verschiedenen deutschen Bundesländern mittlerweile sogar der Französisch-Unterricht in die allerhinterste Schublade des curricularen Systems geschoben oder gar völlig abgeschafft wurde.2 Mittlerweile steht Frankreich im Zentrum Europas, wenn nicht gar der Welt, und eine Sturmflut an Berichterstattungen und Meinungsäußerungen ergießt sich über die Informationsgesellschaft. Allüberall ist man auf der Suche nach den Ursachen, und dabei rücken immer wieder in den Vordergrund die tristen Vorstädte Frankreichs, die Banlieus, diese Randbebauungen, mit denen in nahezu jeder mittleren Stadt versucht wurde, der Wohnraumnot bzw. der Zuwanderung Herr zu werden. Dorthin, an den Rand abgeschoben wurde der größte Teil der aus Nordafrika, aus Algerien, Marokko und Tunesien, aus den ehemaligen Kolonien Frankreichs Abstammenden. Immer wieder kam es in den letzten Jahren landesweit innerhalb der Vorstädte zu erheblichen Unruhen, die den einstmaligen Innenminister und späteren Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy, selbst Sproß einer aus Ungarn stammenden Einwandererfamilie, 2005 während der landesweiten Unruhen mehr ooder minder lakonisch ausrufen ließen: »nettoyer au karcher«.3

Die Begriffe Pieds-noirs und Beurs stehen also im Zusammenhang mit den Vorstädten, den Banlieus, die seit Jahrzehnten überall im Land wuchern und in denen der größte Teil der gesellschaftlichen Verlierer, der Ausgegrenzten lebt. Es handelt sich, vereinfacht ausgedrückt, zum einen um die ältere Generation der aus Nordafrika Eingewanderten oder, genaugenommen, teilweise Zurückgekehrten, und zum anderen um die nachgerückte, die jüngere Generation, die bereits in Frankreich geboren ist. Beur ist zwar ein häufig abwertend gemeinter Begriff4, doch untereinander nennen sie sich selbst so.5 Sie sind zum Teil diejenigen, die in diesem politisch-radikalen, fernab jeder Religion angesiedelten Islam Zuflucht suchen; er scheint den gesellschaftlich Ausgestoßenen Heimat zu bieten. Doch längst liegt diese Banlieu mittendrin in der Metropole. Über das 11. Arrondissement von Paris, der Umgebung der Place de la Bastille, in die seit den achtziger Jahren verstärkt viele Menschen gezogen sind, denen die Mieten in anderen Bezirken zu teuer geworden waren und aus dem sich ein ungemein lebhaftes Vergnügungsviertel entwickelt hat, schrieb kürzlich Daniel Ryser in der schweizerischen Wochenzeitung (WoZ):

»Das ist es, was die jungen Leute im 11. Bezirk [um die Place de la Bastille]seit längerem bewegt und zunehmend verstört: das Auseinanderdriften der eigenen Gesellschaft, begleitet von einer verstärkten Hinwendung zur Religion nicht irgendwo in Syrien, sondern hier in Paris, in der eigenen Community. Ein alter Kommunist macht plötzlich Ramadan. Die jungen Koksdealer an der Ecke Oberkampf und Ménilmontant, die noch mit 35 bei den Eltern wohnen, verkehren von einem Tag auf den anderen in Moscheen, die vom Geheimdienst überwacht werden (eine davon liegt ein paar Gehminuten von den Ausgehmeilen entfernt ebenfalls im 11. Arrondissement). Ein junger lokaler Antifaschist verschwindet in der radikalislamischen Szene, denn die Muslime seien die neuen Juden Europas, soll er gesagt haben, Pogrome nicht mehr fern.«6

Nach den Morden an den Redaktionsmitgliedern der Satirezeitschrift Charlie Hebdo7 im Januar dieses Jahres war es relativ rasch wieder ruhig geworden. Doch nun stürmen diese sozusagen heimatlos gewordenen oder entwurzelten jungen Menschen dort, wo zur Zeit vor der französischen Revolution, nach historisch nicht unbedingt korrekter Überlieferung8 die Bastille gestürmt, um Freiheit und Gleichheit zu erlangen, im Mai 1968 nicht allzu weit entfernt, an der Sorbonne, die Barrikaden bestiegen wurden, und in den neunziger Jahren wiederum um die Place de la Bastille während eines Streiks »weit über eineinhalb Millionen [...] marschierten durch die großen Achsen von Paris zur Place de la Nation von morgens um halb zehn bis abends um halb sechs, immer mindestens zehn nebeneinander in ununterbrochenem, dichtem Strom«9, um sich erneut gegen den Staat aufzulehnen, wenn auch dieses Mal mit mörderischen Mitteln, die weit über das Maß hinausgingen, mit dem beispielsweise die deutsche Rote Armee Fraktion (RAF) den ihren politisch gewaltsam zu korrigieren trachtete.

Am 27. November waren es wiederum Millionen, die auf die Straße gingen und allüberall die Tricolore hißten, dieses Mal allerdings der Trauer um 130 Menschen wegen, die ermordet worden waren, weil sie sich vergnügten, was einigen nicht behagt in diesem grundsätzlich katholischen Land, das allerdings, gesetzlich verankert, von einer absoluten Religionsfreiheit bestimmt ist, die Gérard Biard anläßlich seiner Gedenkrede unter dem Titel Im Namen der Freiheit auf seine getöteten Kollegen von Charlie Hebdo auf der Medienkonferenz M100 Sanssouci Colloquium in Potsdam so verdeutlicht hat:

»Um die Religionsfreiheit zu gewährleisten, darf sich nach dem angelsächsischen Modell, das Ihnen vielleicht vertrauter ist, der Staat nicht in religiöse Angelegenheiten einmischen. In Frankreich ist es genau umgekehrt: Die Religion darf sich nicht in staatliche Angelegenheiten einmischen. Die Grundprinzipien des französischen Gesetzes zur Trennung von Kirche und Staat von 1905 finden sich gleich in seinen ersten zwei Sätzen: ›Die Republik gewährt Gewissensfreiheit‹ – dies impliziert die Freiheit zu glauben, aber auch die Freiheit, nicht zu glauben. Und ›die Republik erkennt weder eine Religionsgemeinschaft an, noch finanziert oder bezuschusst sie eine Religionsgemeinschaft‹.

In Frankreich gibt es keine Staatsreligion. Der Staat ist atheistisch, und die Religion hat nichts mit der Staatsbürgerschaft zu tun, sondern ist Privatsache. Das ist von grundlegender Bedeutung. Ein laizistischer Staat muss nicht zwangsläufig demokratisch sein, jedoch kann es ohne Laizismus keine Demokratie geben. Nur der Laizismus ermöglicht die umfassende Ausübung dieses politischen Systems, das gewiss nicht perfekt ist. Es hat aber einen unschätzbaren Vorteil gegenüber allen anderen Systemen: Es weiß eben, dass es noch verbesserungswürdig ist. Und daher bietet die Demokratie den einzigen Rahmen, in dem eine Gesellschaft auf Weiterentwicklung hoffen darf.«10

Es waren also wiederum Menschen in Massen unterwegs auf den Straßen, nicht nur in Paris, sondern im ganzen Land, wie 2002 gegen den Front National des Jean-Marie le Pen, der in die Stichwahl der Présidentielle gekommen war, die dieses Mal zwar in erster Linie trauerten, jedoch auch ihr Recht auf Religionsfreiheit einforderten, anders eben als denjenigen, die offenbar der Meinung sind, nur Allah dürfe noch über sie herrschen und kein französischer, königsgleicher Monsieur le Président, der ohnehin mit einer Machtfülle ausgestattet ist wie kein zweiter, demokratisch gewählter, Politiker an der Spitze eines Staates. Daß aus diesen Gläubigen radikale, zum Krieg aufrufende und ihn auch ausführende Muslime geworden sind, ist besonders bedrückend in diesem ausgewiesen laizistischen Land.

Es handelt sich nämlich überwiegend um Franzosen, die einen Staat bekämpfen, mit dessen Auffassung von fröhlicher Freiheit sie nicht einverstanden sind. Und das im Land der vielgerühmten französischen, gleichwohl aus England, Portugal und Spanien dorthin gelangten Aufklärung.

 

 

Zur Ursachenforschung gilt es, noch ein wenig tiefer hineinzuleuchten in dieses sich eben nicht gerade erst kürzlich aufgetane Loch der Geschichte der Grande Nation. Im 19. Jahrhundert teilten sich England und Frankreich die Einflußbereiche in Afrika auf. 1830 bis 1847 erobert bzw. annektiert Frankreich, durchaus auch als Folge einer innenpolitischen Krise, Algerien, das somit zur französischen Kolonie wird.11 Während dieser Zeit ziehen enorm viele Menschen aus allen erdenklichen Ländern nach Algerien. Sie setzten sich zusammen aus Spaniern, Marokkanern, Tunesiern, Italienern, Korsen, Sarden, Deutschen, die, anstatt nach Amerika zu gelangen, im afrikanischen Wilden Norden landeten, Elsässer, die nicht Deutsche werden wollten, Kommunarden von den Weber-Aufständen in Lyon und sehr, sehr viele Weinbauern aus Südfrankreich, denen der Rebstockkrankheit wegen ihr Lebensunterhalt genommen worden war.

Pieds-noirs. Übersetzt heißt das: schwarze Füße. Deutungen für den Ursprung dieses Begriffs gibt es viele. Zum ersten: weil die Kolonialisten dunkle Stiefel, Stiefeletten oder Gamaschen trugen. Dann heißt es, die schwarzen Füße rührten von den Rebstöcken her, die die Siedler in Algerien gepflanzt hätten; die stammten aus den USA und waren schwarz. Erst waren Pieds-noirs also die Rebstöcke, dann die Winzer selbst und schließlich alle Algerienfranzosen; Franzosen waren sie, wurden ihnen doch, soweit sie sie nicht ohnehin besaßen, nahezu durchweg die französische Staatsbürgerschaft erteilt, auch der jüdischen Minderheit, die lange vor der Kolonisation in Algerien heimisch war. Eine weitere Auslegung des Phänomens der schwarzen Füße deutet auf das Traubentreten hin, das Zerstampfen der Früchte. Am abwegigsten erscheint der Verweis auf den Indianerstamm der Blackfeet im heutigen US-Bundesstaat Montana.12 Andererseits waren die Franzosen im Gebiet der heutigen USA recht aktiv, und es ist bekannt, daß sie im 17. Jahrhundert mit indianischen Stämmen gegen die Engländer paktierten. Siegreich blieben die Engländer, einzig der kanadische Bundesstaat Quebec ist bis heute quasi rein französisch geblieben. Unvergessen bleibt dabei der Besuch von Mon Général Charles de Gaulle, in den fünfziger Jahren bereits französischer Monsieur le Président, der als erste Station seiner Reise nicht etwa, wie staatsbesuchlich vereinbart, die kanadische Haupstadt Ottawa ansteuerte, sondern Quebec, um sich dort gleich einem französischen König bejubeln zu lassen.

Der Mehrheit der muslimischen Ureinwohner Algeriens wurde nach der Annektion ein Sonderstatus zugewiesen. Sie waren dann die muslimischen Franzosen; sie besaßen allerdings nicht die gleichen Rechte wie die französischen Staatsbürger und durften beispielweise auch kein politisches Amt bekleiden.

Nach dem zweiten Weltkrieg umfaßte Französisch-Algerien ungefähr zehn Millionen Einwohner. Neun davon gehörten den Franzosen zweiter Klasse an, den Muslimen. Der verbleibende Rest waren Algerienfranzosen . Sie waren die Herren, bestimmten Politik und Wirtschaft. Bald wurden diese Algerienfranzosen allgemein unter dem anderen Namen bekannt: Pieds-noirs, Schwarzfüße. Der Ausdruck gilt auch heute noch für Franzosen, die aus Marokko oder Tunesien zurückkamen, eben für alle anderen aus den ehemals französisch verwalteten Gebieten in Nordafrika.

Ab 1954 wurde Algerien Schauplatz eines schrecklichen Krieges, der von den Bestrebungen nach Unabhängigkeit, nach Entkolonialisierung ausgelöst worden war. Die französische Armee und die algerischen Freiheitskämpfer bekämpften einander aufs Furchtbarste: Folter, Mord, Attentate waren an der Tagesordnung.

Als Massaker von Paris ging am 17. Oktober 1961 ein Gemetzel während des Algerienkrieges in die an Blutbädern nicht eben arme Geschichte des Landes ein. In unvorstellbarer Brutalität ging diePolizei gegen eine nicht genehmigte, aber friedliche Demonstration mehrerer zehntausend Algerier vor, zu der die algerische Unabhängigkeitsbewegung FLN aufgerufen hatte. Es ist davon auszugehen, daß mindestens 200 Menschen getötet wurden. Sie wurden erschossen, erschlagen und zum Teil in die Seine geworfen. Dieses Ereignis wurde in den französischen Medien seinerzeit nahezu flächendeckend totgeschwiegen und erst sehr viel später zum Gegenstand einer öffentlichen Auseinandersetzung in Frankreich.

Zum Freundeskreis des Autors, der in jungen Jahren sich in Algerien aufhielt und sich später einige Zeit in regem Austausch mit Pieds-noirs befand und auch an deren regelmäßigen Zusammenkünften teilnahm, gehörte eine Frau, der in Algier als Kind im Kindergarten eine Handgranate die rechte Hand abriß. Ob es sich um eine mütterlich-algerische der Front de Libération Nationale (FNL) oder um eine der zu den väterlichen Algerienfranzosen zählenden Organisation de l'Armée Secréte (OAS) handelte, das wurde nie geklärt. Klar wurde und ist bis heute, daß sie dieses Ereignis nie überwunden hat.

Die Pieds-noirs jedenfalls waren in Frankreich nicht gelitten, als sie zurückkamen aus Nordafrika, diese Sorte Franzosen wollte im Land kaum jemand haben, häufig wurden sie als Abschaum bezeichnet. Dennoch begegneten einige echte Franzosen diesen unechten, und folglich kam es zu jener mehr oder minder fröhlichen Durchrassung, im zeitgenössischen Deutschland später dann gerne als Multikulturalität genannt, die Frankreich seiner vielen Kolonien wegen auch kennzeichnet.13 Dennoch befinden sich auch in den nachfolgenden Generationen der Pieds-noirs, also bis heute häufig darunter Menschen, so jedenfalls die Erfahrung des Autors, die sich zwar oftmals gerieren wie Bourgois des 19. Jahrhunderts, stets fein gewandet, die Etiquette bewahrend und durchweg in gepflegtem Französisch parlierend. Bisweilen erinnern sie an die Franzosen von Martinique, wo dem Autor gegenüber ein überaus höflicher und freundlicher, natürlich dunkel pigmentierter Einheimischer einmal meinte: Will man (wie) in Frankreich leben, dann müsse man auf diese Insel umsiedeln, denn nur dort würde noch die Tradition gelebt, Familie und gutes Essen. Die Pieds-noirs zeigen sich auch heute noch tradierten Franzosen gegenüber nach wie vor äußerst reserviert, was sich häufig darin zeigt, daß sie sich Ausländern gegenüber aufgeschlossener verhalten.

Der neuere Abschaum sind allerdings seit vielen Jahren, Jahrzehnten besagte Beurs.14 Sie litten und leiden in der Regel unter der Problematik der Integration, was zur bereits erwähnten Ghettoisierung in den Vor- oder Randstädten geführt hat und aus denen sich einige – einige, wahrlich nicht alle – der jüngeren Menschen rekrutieren dürften, die sich nun unter Allahs Fittiche begeben haben und in dessen Namen einen sogenannt heiligen Krieg führen.

Unter den Beurs hat sich im Laufe der Jahre eine eigene literarische, musikalische wie filmische Subkultur unter dem Begriff Cinéma Beur gebildet. In den Achtzigern entstand beispielsweise das Motto Black-blanc-beur, das im Bleu, blanc, rouge der französischen Nationalflagge Tricolore wurzelt, die deutlich, also überall, landesweit zu zeigen die Franzosen am Trauertag des 27. Novembers wieder aufgefordert waren, um damit die Einheit oder auch das Nationalbewußtsein zu demonstrieren. Der rasch zur Mode werdende Teil des Black-blanc-beur sollte allerdings in erster Linie auf die Multikulturalität Frankreichs verweisen, die eben zu einem erheblichen Anteil von Nordafrika her bestimmt ist; wenn es auch kaum eine Ethnie aus aller Welt geben dürfte, die nicht längst im Land vertreten ist und über die französische Staatsbürgerschaft verfügt.15

Unter den jungen Beurs hat sich, mehr oder minder zwangsläufig, eine eigene, eine (Sub-)Kultur entwickelt. So formierte sich Mitte der achtziger Jahre nach dem marche des Beurs16 beispielsweise unter dem Namen Black-blanc-beur eine Bühnen-Tanz-Gruppe von Jugendlichen, die sich zusammensetzte aus Arbeitslosen unterschiedlicher Hautfarben aus Pariser Vororten. Beliebt war und ist dieser Begriff auch im Zusammenhang mit der französischen Fußballnationalmannschaft, die zur Europameisterschaft 1998 zum ersten Mal gezielt gemischtfarben antrat und den Wettbewerb gewann. Auch im Frauenfußball wurde das Umdenken deutlich: Im Europapokal siegte Olympique Lyon 2011 mit einer Frauschaft, die nahezu zur Hälfte aus weiblichen Beurs bestand.17 Doch nun sind sie tatsächlich in aller Munde.

 

Dezember 2015

 

Anmerkungen

1Was auch aus der Perspektive Montan-Union betrachtet werden darf, jene sich daraus ergebende wirtschaftliche Zusammenarbeit, die auch als Beginn der europäischen Union gedeutet werden kann.

2Interessanterweise geht aus einer vor einigen Wochen von Le Monde und auch teilweise in anderen Medien in Teilen veröffentlichten Untersuchung hervor, daß in einigen Jahrzehnten das Französische das Englische als Weltsprache (wieder) ablösen solle; es sei darauf zurückzuführen, da die nach wie vor, vor allem in Afrika gelegenen, französischsprachigen Länder über eine außerordentlich hohe Geburtenrate verfüge.

In Europa wird Französisch überwiegend in Frankreich, aber auch in der Westschweiz, in im italienischen Aostatal, im wallonischen Teil Belgiens sowie auch in Luxemburg als Muttersprache gesprochen. Französisch ist Amtssprache auch in Monaco und teilweise in Andorra. In Afrika verständigen sich insgesamt circa 130 Millionen Menschen in französischer Sprache. In 22 afrikanischen Staaten und auf den östlich gelegenen Inseln Mauritius, Madagaskar und den Seychellen wird Französisch als offizielle Sprache erachtet. In der kanadischen Provinz Quebéc wird Französisch von ca. 6,5 Millionen Menschen als Muttersprache gesprochen, ebenso in der Karibik (Martinique) oder in La Réunion im indischen Ozean. Auch in Teilen der USA, insbesondere in Lousiana (ca. 0,2 Millionen) und Haiti (etwa sieben Millionen), ist die französische Sprache sozusagen landläufig.

3Die Begriffe Kärcher und kärchern sind inzwischen sogar in die deutsche Umgangssprache eingegangen; Kärcher ist zum Gattungsbegriff für Dampfdruckreinigungsgeräte eben dieses deutschen Herstellers geworden. Das dem Verb kärchern entsprechende nettoyer au karcher ist nach Angabe des Le Petit Robert‹ bereits seit 1992 in der französischen Sprache verankert, wie der Tageszeitung Les Échos vom 8. März 2007 zu entnehmen war, wenngleich dieser Ausdruck erst durch den Gebrauch des damaligen Innenministers Sarkozy im Zusammenhang mit dem landesweiten Aufruhr von 2005 weit über die Grenzen Frankreichs bekannt wurde: »Le terme nettoyer au karcher est le terme qui s'impose, parce qu'il faut nettoyer cela.« (Der Ausdruck kärchern ist der Ausdruck, der sich aufdrängt, weil man das reinigen muß.)

4Kolja Lindner vom Pariser Institut d’Études Politiques de Paris (IEP de Paris), kurz Sciences Po genannt, dazu: »Die zeitgenössische Kritik am Ausdruck beur ist auf zwei Ebenen angesiedelt. Erstens ist ›verlan‹ eine vorwiegend im Großraum Paris verbreitete Mundart, so dass der landesweite Gebrauch des Ausdrucks von den nordafrikanischen Einwandererkindern aus der französischen Provinz abgelehnt wird (vgl. Jazouli 1986: 31, Fn.). Nicht ganz zu unrecht bemerkt die Romanistin Sylvie Durmelat, dass das Wiederauftauchen des landestypischen Konflikts zwischen Hauptstadtregion und restlichen Landesteilen bei den ›beurs‹ davon zeugt, wie sehr sich diese französischen Habitus zu eigen gemacht haben (vgl. Durmelat 1998: 201).

Zweitens, so hebt der an der ›Marche‹ beteiligte Sozialwissenschaftler Saïd Bouamama hervor, birgt der Ausdruck die Gefahr einer ›Verleugnung arabischer Identität‹: ›Hinter der beur-Mode und dem Multikulturalismus-Diskurs versteckt sich die Aufrechterhaltung eines Assimilationswillens und das Fortbestehen einer Situation sozialer Ungleichheiten‹ (Bouamama 1994: 88). Erneut berechtigt weist Durmelat darauf hin, dass solch eine Kritik die Gefahr der Annahme einer essentialisierten ›arabischen Ursprünglichkeit‹ birgt (vgl. Durmelat 1998: 202).« Marche des Beurs: https://halshs.archives-ouvertes.fr/file/index/docid/416684/filename/Lindner_25_Jahre_Marche_des_Beurs._Kampfe_der_Migration_in_Frankreich.pdf (deutsch)

5Eine annähernde Entsprechung findet sich in Israel, wo die im Land Geborenen Sabra bzw. Sabre genannt werden, als Abgrenzung zu den zugezogenen bzw. noch in der Diaspora lebenden Juden.

6Der gesamte Artikel ist nachzulesen unter: http://www.woz.ch/1547/unterwegs-in-paris/der-absturz-kommt-erst-noch

7Hebdo ist eine Abkürzung von hebdomadaire = wöchentlich

8Als das gefürchtete Gefängnis Bastille, in der viele politische Gefangene sistiert worden waren, gestürmt werden sollte, befanden sich nur noch wenige Inhaftiere darin; es wurde vom Kommandanten übergeben.

9Doris von Drathen, Telefax aus Paris, Laubacher Feuilleton, 17.1996, S. 16

10Zitiert nach Die Welt vom 19.09.2015: http://www.welt.de/print/die_welt/debatte/article146583761/Im-Namen-der-Freiheit.html

11Über Besitztümer in Übersee verfügt Frankreich im übrigen noch heute, beispielsweise im indischen Ozean (La Réunion) oder in der Karibik (Martinique oder das an Brasilien grenzende Guyana); nach Inlandflügen von Paris aus dorthin wird mit dem Euro bezahlt.

12Die Blackfeet waren zunächst im Nordosten Amerikas angesiedelt, etwa südlich des heutigen kanadischen Quebec, zogen dann jedoch in den Nordosten.

13Frankreich unterscheidet zwischen DOM-TOM (La France d'Outre-Mer) was der Europäischen Union entspricht, und COM (Collective d'Outre-Mer) wozu Mayotte zählt, das sich 2009 mit über sechzig Prozent Stimmen für eine engere Bindung an Frankreich ausgesprochen hat.

14Der Begriff entstammt dem Verlan, einer in der französischen Jugend, vor allem in Paris angesiedelten spielerischen Sprache, in der die Silben umgekehrt werden. Bereits die Bezeichnung Verlan ist in dieser Sprache verfaßt, kommt sie doch vom französischen à l'envers (umgekehrt). Viele Wörter sind aber längst in die französische Umgangssprache eingegangen, wie beispielsweise besagtes Beurs (zu Arabes) anstatt Maghrébins. Es existieren dazu gar Wörterbücher; als annäherndes Beispiel zu nennen wäre der Dictionnaire Dico marseillais : d'Aïoli à Zou!, der allerdings eher der provençalischen Sprache der Jugend zuzuordnen ist, zu dem der Schriftsteller italienischer Abstammung Jean-Claude Izzo aus Marseille, der sich nicht nur den im Norden seiner Heimatstadt angesiedelten bzw. ghettoisierten Beurs zugehörig fühlte, ein Vorwort verfaßt hat.

15Zu nennen sind dabei unter anderem die Armenier, von denen nach dem Genozid durch die Türken um 1920 ein erheblicher Teil in Frankreich aufgenommen wurde.

16»Am 3. Dezember 1983 endete mit etwa 80.000 TeilnehmerInnen in Paris ein ›Marsch für die Gleichheit und gegen den Rassismus‹, der sechs Wochen zuvor vom südfranzösischen Marseille aus gestartet war, halb Frankreich durchquert hatte und für eine ganze Generation von Einwandererkindern zum Sinnbild geworden ist.« Kolja Lindner, in: Marche des Beurs.

Es erinnert ein wenig dem Marsch der Marseiller Kommunarden, im Juli 1792 in Paris einzogen.

17Frauen sind es bedauerlicherweise auch, die den Begriff international bekannt machten: Im Bereich der Pornographie sind es die Beurettes, also eine Abwandlung der korrekten weibliche Form Beure, die als Synonym für sexuell willige Frauen aus allen arabischen Ländern gelten.

Impressum

Texte: Alle Rechte vorbehalten. © Didier Calme. Verlag: BookRix GmbH & Co., KG Sonnenstraße 23, 80331 D-München
Bildmaterialien: Cover-Photographie: Jeera Rabulski; Hansgünter Heyme: Bettina Müller
Tag der Veröffentlichung: 25.11.2016

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Mir gewidmet.

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