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Tous les chats sont gris

 

 

In letzter Zeit ist in den Industrienationen, der sogenannten modernen Gesellschaft vermehrt die Rede davon, Kinder würden sich von ihren Eltern lossagen. Die familiären Generationen sind nicht mehr verschweißt wie noch vor einigen Jahren. Das ist auch ein Thema des Films Tous les chats sont gris, auf Deutsch ›Alle Katzen sind grau‹.

Die sogenannte Blutsverwandtschaft verliert zunehmend ihre Bedeutung, die des Geistes oder auch der Seele nimmt immer häufiger deren Stelle ein. Dennoch sind zunehmend mehr Menschen auf der Suche nach ihren blutsverwandtschaftlichen Wurzeln, seit etwa fünfzehn Jahren ist die Zahl derer, die Ahnenforschung betreiben, enorm angestiegen.

Auffällig ist die Suche nach Vätern. Die Suchenden dürften in der Regel diejenigen sein, die adoptiert wurden oder aus wiederholten Versuchen hervorgegangen sind, die Ehe als Institution zu leben. Auch die Patchwork-, die Flickenteppich-Familie könnte dabei eine entscheidende Rolle spielen, oftmals ist dabei die Liebe unter- , die sogenannte Vernunft übergeordnet. In der Regel sind es sehr junge Menschen, häufig diejenigen, bei denen die Pubertät erste eigenständige intellektuelle Prozesse in Gang setzen, die sich von elterlichen Vorgaben, von oftmals eingefahrenen Denkmechanismen lösen.

Die Belgierin Savina Dellicour thematisiert das mit ihrem Erstling Tous les chats sont gris, deutsch ›Alle Katzen sind grau‹. Es ist eine typisch französische Umgebung – die Handlung ist in der Wallonie angesiedelt – des Mittelstandes, die Charaktere wie auch ihre Darsteller entsprechend vorgegeben. Gezeigt wird eine wenig an- oder gar aufregende Atmosphäre gehobener, letztendlich aber biederer Bürgerlichkeit. Ein Bereich von Uccle, eines Stadtteils von Brüssel, wo die Regisseurin Dellicour aufgewachsen ist und in dem sie die Handlung ihres Films angesiedelt hat, ist geprägt von Häusern neureicher Architekturcharakteristik auf parkähnlichen Anwesen. Er: Chefarzt der Gynäkologie, sie: Immobilienmaklerin in den Anfängen, ein Symbol wohl für den versuchten Neubeginn eines Ehepaares, dessen Beziehung verflacht, wenn nicht gar am Ende ist, mit zwei Kindern, ein fünfzehnjähriges und ein acht Jahre jüngeres Mädchen.

Die Fünfzehnjährige und deren Freundin versuchen, nun, nicht gerade auszubrechen, aber sich Abwechslung vom drögen Alltag zu verschaffen. Ziel ist häufig ein Platz, auf dem etwa gleichaltrige Jungen sich in der Artistik des Skateboards ausprobieren, sich alle möglichen Mittelchen reinziehen und die beiden Freundinnen dazu ebenfalls zu animieren trachten. Doch die hören lieber ältere Töne, etwa The Cure. Einen Mann an die Fünfzig entdecken sie, der in einem nicht mehr allerneuesten BMW sitzend Musik der Siebziger hört und aus ihm heraus photographiert. Sie sprechen ihn an, bespötteln ihn als einen Pädophilen (vor etwa zwanzig Jahren befand sich Belgien diesbezüglich extrem im medialen Gerede, und das scheint hier nachzuklingen). Er versucht sich herauszureden, indem er darauf hinweist, er verfolge als beauftragter Privatdetektiv einen Mann, der seine Frau betrüge. Tatsächlich lichtet er eine der beiden jungen Frauen ab, seine Tochter Dorothy, zu der er gerne bewussten, eben väterlichen Kontakt hätte. Doch der ist ihm seitens der Mutter strengstens untersagt. Die will die Idylle nicht gestört wissen, auch oder gerade deshalb, weil sie ahnt, dass ihre Tochter die Erzeugerschaft des Familienoberhauptes anzweifelt. Doch von dem, dem Chefarztgynäkologen, hat der Teenager ohnehin keine allzu hohe Meinung,: »Manchmal«, gibt sie in einem Gespräch gelangweilt zum besten, »erzählt er ganz lustige Geschichten von Geburten.«

Die beiden Freundinnen suchen den Detektiv Paul zu Hause auf und schwindeln ihm vor, sie recherchierten für eine Schulaufgabe über interessante Berufe. Letztendlich läuft es darauf hinaus, er, der vermeintliche Vater, solle sich auf die Suche nach dem richtigen Vater von Dorothy machen. Noch einmal versucht Paul die Frau, mit der er eine Affaire hatte, aus der Dorothy hervorging, davon zu überzeugen, ihm den Kontakt mit ihr zu ermöglichen. Vehement lehnt die Mutter des Mädchens dieses Ansinnen ab. Es sei nichts als ein kurzzeitiges Vergnügen gewesen, und Dorothy habe nun mal einen Vater. Basta.

Detektiv Paul will dennoch, wohl im Vorhaben, um seine Anerkennung als Vater zu kämpfen, einen Beweis seiner Erzeugerschaft erbringen und gibt einen DNA-Test in Auftrag. Es stellt sich heraus, daß er gar nicht der Vater des Mädchens sein kann. Er ist selbst enttäuscht, teilt es Dorothy dennoch mit, die aufgrund eigener Nachforschungen in Form eines Einbruchs in seine Wohnung davon überzeugt war, in ihm ihren Vater gefunden zu haben. Bedauernd äußert sie: Schade, ihn hätte sie gerne als Vater gehabt.

Paul geht in seinen Recherchen allerdings noch einen Schritt weiter. Seine Untersuchungen ergeben, dass mehrere Männer als Väter infrage kämen, er findet gar den einen heraus. Dorothy ist maßlos enttäuscht und droht in einer Diskothek unterzugehen, abgefüllt mit Alkohol und Drogen, wie damals ihre Mutter, als sie die noch nicht war. Paul macht sich auf die Suche nach dem Mädchen, findet es schließlich, bringt es zu sich nach Hause, verständigt die Mutter, die sich im Anschluss ihrer Tochter zu erklären versucht. Die habe seinerzeit auf einer Party nicht nur mit Paul Verkehr gehabt. Der habe die in jeder Hinsicht ziemlich berauschende Fête bereits verlassen, und die dann werdende Mama hatte sich noch mit einigen anderen Männern verlustiert. Der biologische Vater, den Paul herausgefunden hatte, ist ihr völlig unbekannt, sogar dessen Namen hat sie noch nie gehört.

Die Schlusssequenz des Films: Der ursprünglich vermeintliche Papa und die ursprünglich vermeintliche Tochter fahren gemeinsam im nicht allerneuesten BMW, die Stimmung wird immer gelöster, aus dem Lächeln wird ein einträchtiges fröhliches Lachen. Ein Happy End: Nicht die Bluts-, sondern die Geistesverwandtschaft ist entscheidend, es zählt die Freundschaft.

Es handelt sich um einen dieser stilleren – von der zwischenzeitlich sehr lauten Musik abgesehen, die allerdings durchaus die Parallelen zwischen der einen wie der nächsten Generation symbolisiert –, typisch französischen, hier eben wallonischen Filme, die cineastisch zwischen den Zeilen philosophieren. Dennoch drängt sich nicht unbedingt ein Eric Rohmer auf, dessen Narrationen vielen Kinogängern allzu dialoglastig sind. Dieser Film ist von einer eigenen, ausgesprochen zeitgenössischen Art, mit der Savina Dellicour gesellschaftliche Fragen passagenweise ausgesprochen kurzweilig abhandelt, die zwar seit Langem existieren, aber erst in jüngerer Zeit verstärkt aufgeworfen wurden. Action findet keine statt, wobei es durchaus turbulent zugeht in ›Tous les chats sont gris‹, Alle Katzen sind grau spielt unterhaltsam mit Rhythmenwechseln, ist durchsetzt von feinem Humor, mit manchem Witz, der zwischendurch im Publikum fröhliche Lacher auch von jüngeren Stimmen hervorruft, möglicherweise bedingt durch die Ahnung eines Alltäglichen, das erst noch auf sie zukommen wird.


Tous les chats sont gris
Regie: Savina Dellicour
Belgien 2014
Darsteller:
Manon Capelle
Anne Coesens
Dune de Braconier
Danièle Denie
Alain Eloy
Bouli Lanners
Aisleen McLafferty
Jacques Picron
Benoît Verhaert
Alexandre von Sivers

 

Zuerst erschienen am 13. November 2014 unter der nicht vom Autor stammenden Überschrift Ganz lustige Geschichten von Geburten in Titel – Kulturmagazin.

Helium

 

Michael Kötz, seit 1992 künstlerischer Direktor des überaus wohltuenden, 1953 gegründeten Filmfestivals in Mannheim, begrüßt das Kinopublikum in der Regel launig, durchaus erheiternd, Helium* avisierte er über das Genre Gangster und Ganoven. Über die Geschichte, die Handlung, meint er am Ende seiner Anmoderation, möge man besser erst gar nicht weiter nachdenken, entscheidend sei die Atmosphäre.

Der Filmbeobachter, hier einer, der noch das weniger philosophierende Kino von Adenauer und de Gaulle in Erinnerung hat, dachte beim Stichwort Gangsterfilm an eine Zeit, zu der er bereits als erwachsen galt bzw. an der Kinokasse nicht mehr einen Altersnachweis erbringen musste. Ihm fiel bei Kötz‘ Ansage spontan das schummrige, rosa flitternde Licht in The Killing of a Chinese Bookie von John Cassavetes aus dem Jahr 1976 mit Ben Gazzara in der Hauptrolle ein, es flackerte auf wie ein rotes Laternchen. Und dann das Thema Niederlande: Janwillem van de Wetering schlich sich in die Erinnerung ein, dessen komischer, auch im klein- bis großkriminellen Umfeld sozial handelnder Commisaris dem Leser ein für damalige normalsterbliche, nicht unbedingt Coffeeshops (auf)suchende Reisende in der Regel völlig unbekanntes, von keinem Tourismus berührtes Amsterdam beschrieb: abgelegene, sich von anderen europäischen Städten kaum unterscheidende Wohngegenden, in denen es selbstverständlich ebenfalls Mord und Totschlag gab.

Die große Stadt der Provinz Nordholland, in der der Titelheld Frans (Hans Dagelet) gemeinsam mit anderen seine nicht eben den Strafgesetzen gemäßen Geschäfte betreibt, kommt in der Trostlosigkeit seiner Ränder auch bald ins Bild: spätherbstliche Nacht, mehrspurige, feuchte, leere, dennoch mehr oder minder hell erleuchtete Straßen, Andeutungen von irgendwelchen Verhandlungs- und Verabschiedungsgesprächen, in knappen Worten, die keiner deutschen oder englischen Untertitelung bedürften. Doch dann ein Bilderreiz, der denjenigen einnimmt, der diese ohnehin beeindruckende Landschaft gut zu kennen meint, die er aber in solcher Genauigkeit oder besser vielleicht in derartig poetischer Stille noch nie betrachtet hat: das Wattenmeer mit seinen in diesem Bereich von der offenen See unbeeinflussten, selbst zu dieser Jahreszeit geruhsam anrollenden Wogen während des Niedrigwassers, auch Ebbe genannt. Der Chef der offensichtlich nicht allzu umfangreichen Ganoventruppe nimmt eine Auszeit in Texel, op nederlands Tessel und auch so, mit scharfem Doppel-Es, ausgesprochen, der größten der westfriesischen Inseln, die lange bevor die anderen dort liegenden Eilande an der Nordsee verkehrsberuhigt, gar autofrei und für den Tourismus liebreizend aufbereitet wurden, durch erste Hochhäuser und autobahnähnliche Einflugschneisen auffiel, ausgerechnet dorthin flieht er. Es ist nicht genau auszumachen, vor wem er ausreiß nimmt, die ohnehin knappen Dialoge ergehen sich in Andeutungen; eben, wie Kötz eingangs meinte: Über die Handlung möge man sich besser erst gar keine Gedanken machen. Einer drängt sich dennoch auf: Frans befindet sich auf der Flucht, vor was oder wem auch immer. Vor sich selbst?

Es herrscht eine geradezu niederdrückende Tristesse auf der ganz im Westen Frieslands gelegenen Insel, die zur sommerlichen Ferienzeit so überbevölkert ist wie alle anderen dieser Freizeitgeographien. Aber nachdem die letzten Blätter in Endfärbung fast moderbraun von den Bäumen gefallen sind, ist es ein Ort, zu dem allein der ohnehin depressiv Veranlagte noch Wohlgefühle zu entwickeln vermag; möglicherweise im Sinne Friedrich Nietzsches, der es beruhigend fand, wenigstens an den Tod denken zu dürfen. Außer den drei Urlaubern, die ihre im Übermaß freie Zeit in einem fein ausgestatteten Haus sowie einer minimal menschenbelebten Sauna mit Schwimmbad vertändeln und sich aus lauter Langeweile sogar einen alten Leuchtturm anschauen, ist ansonsten nirgendwo ein Mensch zu sehen in dieser von leer stehenden Gebäuden und breiten Zufahrtsstraßen beherrschten Landschaft. Hier möchtest du, meint einer der beiden rangtieferen Begleiter oder auch Leibwächter zu Frans, auch im Sommer nicht sein. Es geschieht quasi nichts. Erwähnenswert sind eigentlich lediglich die Nigerianer, von denen zwischendurch immer wieder mal die Rede ist. Die kommen schließlich auch auf die Insel, dann fährt ein Motorrad an die Seite des Autos, in dem sie sitzen, und dann sind sie tot, erschossen. Diese Szene des Films dauert kaum länger als zwei Minuten. Ansonsten weilt die Länge. Selbst dann, nachdem die drei Texel wieder verlassen haben und aufs Festland, in die große Stadt zurückgekehrt sind. Das Spannendste der Handlung scheint noch der Umzug von Frans zu sein, und vielleicht der Besuch im Zoo von Amsterdam.

Und dieses scheinbar Langweilige erzeugt tatsächlich eine ungemeine Spannung, hergestellt durch Bilder, die für heutige, schnellschnittige Kinozeiten ungewöhnlich lang anhaltend stehen, ob auf Landschaften oder Gesichtern, außergewöhnliche Aufnahmen, die Gemälde in Erinnerung rufen, derentwegen man immer wieder ins Museum geht, um sie eines Erkenntnisgewinns willen immer wieder aufs neue zu betrachten. ›Helium‹ ist vor allem aber angefüllt von zwar angedeuteter, aber um so drastischerer Symbolik, die Sinn- und Seinsfragen abhandelt, die nun mal auch am Ende eines Ganovenlebens von entscheidender Bedeutung sein müssen; ob die eigene Endlichkeit bereits in jüngeren Jahren in Erwägung gezogen worden ist oder erst im Endstadium, das bleibt der Phantasie des Kinogängers überlassen.

Der sieht: vor allem eine offenbar seit langem anhaltende Ödnis, die möglicherweise lediglich allein durch das aufregende Leben eines Gesetzlosen Abwechslung erfährt und die nun wieder in sich zurückmündet. Der Filmbetrachter rätselt anfänglich über die etwa ab der Mitte des Films immer wieder thematisierte Maus, die Frans in seiner neuen Wohnung rattengroß gesichtet hatte; die neue Umgebung mag auf den Versuch eines zweiten Anfangs des Lebens hindeuten. Die Maus liegt dann in einer überaus langen Einstellung, die Gedanken über den Tod nachgerade herausfordert, tot vor dem noblen Sofa – erlegt von einer Katze, die ein Glöckchen um den Hals trug. Frans war sie von der Ehefrau des engeren Mitstreiters, dem bulligen, einen Boxertypus assoziierenden John (Manou Kersting), zu dem er, wie auch zu dem aus Surinam stammenden, intellektuell wirkenden Elias (Poal Cairo), durchaus freundschaftliche Beziehungen unterhält, was szenisch immer wieder dargestellt wird, leihweise zur Verfügung gestellt worden. Dabei hatte die sich ihm gegenüber noch kurz zuvor als nicht eben allzu freundlich gesinnt gezeigt. Kaum etwas deutet auf die tierpsychologische Theorie hin, nach der ein solcher getöteter Kleinnager ein Beleg dafür sein soll, der Beschenkte gehöre fortan zur Familie der Katze. Der Betrachter assoziiert: Die tote Maus war ein Auftragsmord, der tierische Täter hat den Ort der Bluttat wieder verlassen, ward jedenfalls nie wieder gesehen.

Zuvor steht Frans mit dem Rücken zum Zuschauer im begehbaren Ankleideraum vor dem Wandschrank und bewegt die Schiebetür beinahe hospitalistisch mit zwei Fingern der rechten Hand hin und her, als ob er unschlüssig sei, tatsächlich am Ende angekommen zu sein. Als er aus dem Haus gehen möchte und deshalb die braunen (Maß-)Schuhe anzieht, die Schnürsenkel festziehen will, reißt das Band. Er zieht die braunen ohne Halt wieder aus und die vor kurzem gekauften, gestalterisch beinahe identischen, aber nun schwarzen an. Aus einem der achtlos zur Seite gelegten Schuhe rieselt Sand, gleich dem einer Uhr; es mag der der Nordseeinsel Texel gewesen sein, auf der bereits für die Nigerianer die Zeit abgelaufen war. Mit seinem siebzehnjährigen Sohn besucht Frans den zoologischen Garten, beobachtet, wie dem einen Löwen von einem anderen die Beute streitig gemacht und weggenommen wird. In der Gefangenschaft des Zoos vegetiert auch der Silberrücken, von dem sich das Weibchen mit einem Jungen auf dem Rücken entfernt. Der Mensch im Kino nimmt auch jetzt im Gesicht des außerordentlich ausdrucksstarken Hauptdarstellers ein immer wieder kurzes, geradezu erlöst um das Ende wissendes Lächeln, aber eben auch die sofort danach wieder einsetzende unendliche Einsamkeit, hier gespiegelt im Angesicht des Primaten.

Des primären Ganoven Geschichte hat denn auch ein Ende. Es kommt so scheinbar unerwähnenswert daher wie nahezu alle dieser Einstellungen, die allesamt Stoff für einen jeweiligen Kurzfilm hergäben. Er geht nächtens hinaus, setzt sich ins edle Auto, wie alle anderen Fahrzeuge im Film bzw. der Umgebung dieser sogenannten Halbwelt angemessen, an deren Oberfläche allein das dezent Teuerste Wert vermittelt und Zusammenhalt bietet, selbstverständlich ein SUV der noblen Marken. Vor den Wischerblättern, die in des Herbstes stürmischem Regen keine Klarsicht zu schaffen in der Lage sind, verschwimmt die Szenerie gänzlich. Zwei Gestalten sind schemenhaft zu erkennen, sie könnten Waffen in den Händen halten. Dann kippt Frans am Volant zur Seite. Er ist sozusagen mausetot. Der alternde Suizidant – Jean Améry unterschied in seinem Buch Hand an sich legen zwischen ihm und dem Suizidär, der lediglich um Hilfe ruft, und eben dem, der die Todessehnsucht ein Leben lang in sich trägt und es schließlich selbst vollendet – scheint sich seine Katzen geordert zu haben. Die gesamte Szene wirkt wie ein zum Ende eines Films einfrierendes Bild. Und tatsächlich setzt der Abspann ein.

Der ältere Filmbeobachter hätte ohne eine Sekunde Langeweile gerne noch eine lange Weile dabei zugeschaut, wie der jüngere, 1978 geborene und zugleich altersweise Eché Janga in bisweilen end-, präziser: zeitlosen Einstellungen Abläufe und Charaktere zeigt, deren Gesichter auch in kürzeren Bildpassagen Lebensläufe unterschiedlicher Ethnien bieten, die sich in den Niederlanden zusammengefunden und einander gekreuzt haben. Selbst in den äußerst knappen Dialogen blitzen sie immer wieder zwischen den bildnerisch ohnehin ungemein narrativen Zeilen auf, die Schwierigkeiten, mit denen die aus und mit den Kolonien lebenden Niederlande trotz aller Integration, besser Assimilation nach wie vor zu kämpfen haben. Vor allem Surinam, das nördlich Brasiliens am lateinamerikanischen Atlantik gelegene Land, das erst 1975 unabhängig wurde, spielt in diesem Film eine bedeutende, wenn auch, wie filmisch insgesamt, scheinbar nebensächliche Rolle. Es handelt sich also weniger um einen Gangster- oder Ganovenfilm als um ein eigenes, wie neu erdachtes und umgesetztes Genre, quasi das wiedererfundene Rad: allein über Bilder erzeugtes Kino, hier von außergewöhnlicher Atmosphäre – die zu Gedanken über das in letzter Zeit immer virulentere Thema anregen: Über den Freitod, der einem das Lächeln zurückgibt.

 

* Das unmittelbar nach dem Urknall im Universum entstandene Edelgas Helium ist an sich ungiftig. Dennoch wird davor gewarnt, es einzuatmen, da es die Atemluft verdrängt. Orientierungsschwierigkeiten und Bewusstseinsverlust bis hin zum Tod sind die häufigsten Symptome. Opfer bemerken den Erstickungsvorgang kaum bis überhaupt nicht.


Helium
Regie: Eché Janga
Buch: Sammy Reynaert
Kamera: Tibor Dingelstad
Schnitt: Axel Skovdal Roelofs
Musik: Christiaan Verbeek
Produzent: Frans van Gestel, Arnold Heslenfeld
Darsteller:
Hans Dagelet (Frans Weeling)
Manou Kersting (John Verkerk)
Poal Cairo (Elias Wattimena)
Dennis Rudge (Henk Coutinho)


Zuerst erschienen am 13. November 2014 unter der nicht vom Autor stammenden Überschrift Der Tod, der ihm das Lächeln zurückgab in Titel – Kulturmagazin.

Amnesia

 

 

 

»Ein Filmfestival«, so der künstlerische Leiter Michael Kötz in seiner Eröffnungsrede des Internationalen Filmfestivals Mannheim-Heidelberg 2015, »ist eng an die Lage des Kinos gebunden, ja, es feiert das Kino geradezu, das vor gut 100 Jahren mit den Lichtspielhäusern in allen Großstädten der Welt geboren wurde und dafür sorgte, dass die Filmkunst sehr bald zur alles beherrschenden Form der ästhetischen Weltwahrnehmung wurde. Und gibt es denn dieses Kino noch?«

»Natürlich werden Sie sagen, gibt es das noch«, so Michael Kötz. »Und die Branche in Deutschland wird ergänzen: So viel Umsatz mit einem Film gleich in den ersten Tagen seines Erscheinens in den Kinos war noch nie im Land wie mit ›Fack ju Göhte 2‹. Und wenn es nicht dieser Film wäre, dann wäre es ein anderer. Immer wieder finden sich welche, die buchstäblich massenhaft Zuschauer ins Kino locken. Deshalb lächeln manche milde, wenn man sagt, das Kino habe schon seinen Thron verlassen, seine Königsposition, wenn es um den Film geht. Immer mehr ist es nur noch ein Ort für große Ausverkaufsevents, im Stil von ›Alles muss raus!‹ oder sagen wir in diesem Fall ›Alles muss rein‹. Längst haben die Bewegten Bilder ihre Heimat woanders gefunden, ihre wirkliche, nämlich tägliche und auch deutlich fürsorgerische Heimat. Es sind die Bildschirme, auf denen sich der Film heute weltweit verbreitet, in einem Spektrum von ›sehr klug‹ bis ›ganz blöd‹ und zugleich von ›lang ist es her‹ bis ›ganz aktuell entstanden‹. Das Kino greift sich da nur noch ganz wenige Exemplare heraus, die Spannbreite ist längst in den Fernsehkanälen zu finden und im Internet, in den zahlreichen Online-Angeboten, sich Filme anzuschauen, jetzt gleich oder erst übermorgen, gleich hier auf dem Monitor des PC oder heute Abend gemütlich auf dem Großbildschirm im Wohnzimmer. Warum sollte man da ins Kino gehen? Wenn man nicht, sagen wir, in der Pubertät ist und bei dieser Gelegenheit im Kino auch all seine Freunde treffen kann oder zu der immer gebildeter und älter werdenden Schar der Liebhaber gehört, die den Ort Kino als solchen so lieben und schätzen wie andere ihr Lieblingslokal am See.«

 

Der Filmbeobachter ging früher sehr gerne und häufig ins Kino. Bis etwa um 1990, als sich alles wendete oder auch schlicht die Richtung änderte und nur noch grenzenlose Action angeboten wurde. Um die Jahrtausendwende machte er noch einmal einen Versuch, den er nach etwa einer halben Stunde entnervt aufgab, weil er wegen der Lautstärke einen Gehörschaden zu erleiden drohte. Er verließ das Kino, auch der grandiose Hauptdarsteller Bruno Ganz hinderte ihn nicht an seinem Abgang aus Pane e Tulipani (›Brot und Tulpen‹). Von da ging er ins Fernsehen, zu Arte. Doch seit 2014 geht der Filmbeobachter wieder ins Kino. Aber nur noch in Mannheim-Heidelberg, zum dortigen Filmfestival. Es mag auch daran liegen: Dort scheint das angenehmste, konzentrierteste Publikum aufgeboten zu sein. Es applaudiert jedenfalls verhalten, wenn eine Propellermaschine landet.

Laut wurde es dort am ersten Tag, im ersten Film des Beobachters des diesjährigen Festivals allerdings auch, jedoch nur zweimal recht kurz. Es sollte ohnehin eine ganze Weile dauern, bis Bruno Ganz auftrat, bis er die Stille jenes Ibiza mit sanft erzählten Erinnerungen durchbrach, die sich in ein immer heftiger werdendes Lautsein steigerten, auf jener Insel, deren deutscher Ausländeranteil zwanzig Prozent ausmacht, überwiegend »Nichtarbeitende«, wie die ebenfalls untätige Protagonistin Martha nebenbei anmerkte. Der Film spielt allerdings in jenem Teil von Ibiza, der einen anderen Planeten darzustellen scheint, dessen Küsten von Slartibartfast, dem von Douglas Adams erdachten Designer der norwegischen, gestaltet sein könnten. Nichts stört die friedliche Stille ohne Wasser aus der Leitung und ohne Strom. Martha, die seit Jahrzehnten in diesem Idyll lebt, benötigt das nicht, sie lebt mit der Natur.

»Stille«, schrieb die seit Jahrzehnten in Paris lebende deutsche Publizistin Doris von Drathen in einem Essay des gleichnamigen Titels, versehen mit dem Zusatz ›Warum es beim Stillsein laut sein kann, aber beim Lautsein nicht still‹, »Stille gibt es nicht. Jedenfalls nicht als Abwesenheit von Geräusch. Denn alles, was lebt, macht Geräusch. Und wer sich einschließt, in einen von allen Geräuschen isolierten Raum, der hört um so lauter das eigene Herz schlagen, hört diesen Leib rumoren, der nie still ist. Und draußen, selbst bei großer Ruhe, selbst bei jener viel besungenen ›Stille der Natur‹, nimmt dieser Leib, an den nun einmal unsere Wahrnehmung gebunden ist, jedes kleinste Geräusch auf, denn er ist auch das, nicht nur durchpulste Hülle, auch Resonanzkörper.«

Laut wurde es kurzzeitig nur dort, indem Resonanzen gegen-, nein, miteinander antraten: alte und neue Musik. Martha spielte, als sie 1936 sechzehn Jahre jung war, Cello; sie hatte es von dem Mann gelernt, dessen Instrument seit ihrer Ankunft auf Ibiza einem Denkmal gleich ihr (gemietetes) Haus ziert. Neue Musik hört sie, nachdem ein junger Mann ihr Haus betritt, an der Hand leicht verletzt um Eis zur Kühlung der Wunde bittet, jedoch von Martha mit dem wirkungsvolleren Mittel Aloe vera versorgt wird und der während des Verbindens schildert, weshalb es zu dieser Verletzung kam: Er hatte sie sich nach seiner Ankunft aus Deutschland auf der Insel beim Ausladen seines Equipments, seines Klanglaboratoriums, zugezogen. Seine Musik: Er nimmt Geräusche aus der Natur auf und mischt sie digital in der Form, dass daraus Klänge entstehen, die gut zum Tanz in einen Club namens Amnesia – einer tatsächlich existierenden, 1970 gegründeten Discothek, die (aktuell) rund 5000 Menschen Platz bietet und im Rahmen der Winter Music Conference zum Best Global Club der Jahre 2006, 2007 und 2008 gewählt wurde und aus der berühmte Plattenaufleger hervorgegangen sind – passen, in dem er Karriere als Discjockey zu machen gedenkt: Techno. Sein negatives und Martha gegenüber geschildertes Empfinden: Man schätze seine neuen Töne offenbar nicht sonderlich, ja lehne sie eher ab, man wolle immer nur das Alte, Altbewährte hören. Martha rät ihm, um die zunächst ablehnende Haltung des Discobetreibers zu unterlaufen, sanft, vorsichtig, langsam unterzumischen. Sollten die jungen Tänzer auch nach, mit den neuen Tönen tanzen, dann habe er die Vergangenheit, das Alte überwoben, vergessen gemacht. (Mit Amnesie wird eine Störung des Gedächtnisses für zeitliche oder inhaltliche Erinnerungen bezeichnet; der mannigfach, nicht nur literarisch abgehandelte Gedächtnisverlust, der im Übrigen auch erreicht werden kann, indem man sich mit lauter Musik oder ähnlichen Drogen zudröhnt.)

Der junge Mann namens Jo, dargestellt von Max Riemelt, in der filmischen Rückblende zum Jahr 1990 etwa zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahre alt, flicht, im Film später, Marthas nach sehr, sehr langer Zeit zum ersten Mal wieder getätigtes, letztlich durch ihn angeregtes, von ihm heimlich aufgezeichnetes Cello-Spiel in seine Techno-Mischung ein, die Tänzer tanzen angetan weiter, und selbst der zunächst sehr skeptische Chef des Tanzschuppens zeigt den Facebook-Daumen. Sogar der zunächst leicht erschreckte, eher die Stille, zumindest leisere oder auch sanftere Tonfolgen bevorzugende Filmhörer schloss sich dieser Mischung aus neuer und alter Musik durchaus angetan an. Seine daraus gewonnene Erkenntnis: Man muss sich auf Ungewohntes einlassen, dann kann sich auch eine als hässlich empfundene Ästhetik zur Lehre des Schönen umwandeln.

Zwischen den beiden Protagonisten entspinnt sich rasch eine Zuneigung, die beim Filmbeobachter die Ahnung aufkommen lässt, es könnte daraus durchaus eine entstehen, die über eine freundschaftliche hinausgeht. Es ergibt sich, dass beide von ihrer hügeligen Abgeschiedenheit hinunterfahren möchten nach Ibiza-Stadt, um Besorgungen zu erledigen. Jo bietet Martha an, sie in seinem hellblauen Cabriolet zu chauffieren, an dem schief ein Heilbronner Kennzeichen hängt. Sie lehnt ab mit der Begründung, in ein solches Gefährt steige sie nicht ein und liefert dem irritierten Jo die Begründung nach: Die Welt sei voll von Hitlers VW-Käfern. Sie nehmen ihren Wagen, einen Renault R 4, der ein, gerade ausgerichtetes, Kennzeichen trägt, das für Barcelona steht, der katalanischen Hauptstadt.

Martha hat in jüngsten Jahren Deutschland verlassen und verweigert sich seit ihrer Ankunft auf der drittgrößten, südlich gelegenen balearischen Insel der deutschen Sprache. Auf dem Markt der Stadt, in der eigentlich ein inseleigenartiger, katalanischer Dialekt gesprochen wird, spricht sie mit der Gemüseverkäuferin spanisch, also kastilisch, ansonsten grundsätzlich nur englisch; ihr harter (deutscher, schweizerischer; die Eltern waren mit ihr aus Nazi-Deutschland nach Zürich geflohen) Akzent ist ihr auch nach Jahrzehnten auf Ibiza deutlich anzuhören. Die Kamera fährt über den beschaulichen Platz und bleibt eine Weile an einem großformatigen Fernsehgerät hängen, das in einer Bar an der Wand hängt und in dem gerade ein Bericht aus Berlin gezeigt wird: überschwängliche Gesänge von Wiedervereinigung und Freiheit. Martha nimmt das Geschehen nicht zur Kenntnis, sie plaudert mit der Marktfrau, erzählt ihr, ihr gemietetes Haus solle veräußert werden, sie hätte es doch besser bereits vor Jahren kaufen sollen. Sie besitzt durchaus die Mittel in Form einer Immobilie im Schwarzwald, doch um dieses Kapital flüssig zu machen, wozu ein Freund sie seit vielen Jahren drängt, hätte sie nach Deutschland reisen müssen, in das Land, das sie nie wieder betreten will.

Martha und Jo verbringen viel intensive Zeit miteinander, sie, die etwas lebensabgewandte, trotz aller Gelöstheit dennoch immer leicht gehemmt Wirkende, bei der die sogenannte Heimatlosigkeit (der fremden Sprache?) immer wieder durchzuschimmern scheint, er, der dem Leben zugeneigte, durchaus pragmatisch wirkende junge Mann der dritten Nachkriegsgeneration. Sie fahren mit dem Boot hinaus aufs Meer, sie wirft ihn, den Nichtschwimmer, in geradezu jugendlichem Übermut ins Wasser. Er angelt, wieder zurück aus dem Wasser, im Nu geschickt einen Fisch, erzählt nebenbei, sein Großvater habe ihn das sowie vieles andere gelehrt, den sie, zurück an Land, gemeinsam zubereiten, wobei er sich nicht nur als Kräuterkenner, sondern als der wohl geschicktere Koch erweist, der nicht nur über professionell wirkende küchenhandwerkliche Fähigkeiten verfügt; auch hierbei war der Großvater Lehrmeister. Dem von ihm mitgebrachten Wein aus der Heimat steht sie eher ablehnend gegenüber, sie bevorzugt den einheimischen katalanischen, den ihr ein Freund liefert. Doch die Abneigung gegenüber allem Deutschen wird gemäßigter, sogar ein Lächeln begleitet das ablehnende Kopfschütteln. Ein Deutscher und eine Deutsche unterschiedlichster Generationen beginnen, einander zu nähern. Die Annäherungen erreichen dann allerdings einen Kulminationspunkt: Jos Mutter und sein Großvater haben ihr Kommen angekündigt. Jo bemüht sich, Martha davon zu überzeugen, es nahe keine deutsche Invasion; nahezu zärtlich beschreibt er die charakterlichen Eigenschaften der beiden Angekündigten; Jo beteuert: Sie gehörten den Guten an.

Bruno Ganz tritt auf, im Vorspann des Films als Gast angekündigt. Und richtig, er ist zu Gast bei Martha, die eine Paella zubereitet hat und dazu katalanischen Wein reicht, den sie in einer alten, für die dortigen Häuser typischen Abseite in Quellwasser gekühlt hat. Jo hat seinen Großvater sowie seine Mutter (Corinna Kirchhoff) auf das Englische als Verkehrssprache vorbereitet. Man plaudert vergnügt und flüssig, in freundschaftlicher Atmosphäre in idyllischer, nahezu zauberhafter Landschaft; die in einigen unangenehm berührenden Filmszenen bereits von potentiellen Käufern des Hauses bewundert worden war. Die Vergangenheit gerät, der Dramaturgie nach zwangsläufig, zum Gesprächsthema. Martha verhält sich, wie gewohnt, zurückhaltend, was die ihre betrifft. Und doch gelingt es ihr, in den großväterlichen Gast zu dringen. Anekdotenartig erzählt er von seiner Zeit während des Krieges, in der er als Wachpolizist eines Lagers tätig war; als Soldat, berichtet er, begleitet von einem leicht keckernden Lachen, sei er aus gesundheitlichen Gründen für untauglich erklärt worden. Es war kein KZ, es war eine Fabrik, in der er auf die jungen Arbeiterinnen aufzupassen hatte, allesamt aus dem Osten, auch Jüdinnen darunter. Er könne sich, meint er, zunehmend grinsend, eine leicht peinliche Berührung beginnt sich abzuzeichnen, zunehmend sogar an einzelne Namen erinnern. Jos Mutter, des allmählich zunehmend verwirrt und stockend plaudernden Erzählers Tochter, versucht, ihn einzubremsen, er gestalte diese Geschichten ohnehin jedes Mal aufs Neue um, man könne sie, man solle sie deshalb nicht ernst nehmen. Es hilft alles nichts, Martha in ihrer schlangenhaft leisen, anschleichenden Insistenz wird Siegerin dieses Gefechts um die Wahrheit der Wirklichkeit, um im Lauf der Zeit beschönigendes Verdrängen.

Zwischenzeitlich kommt es gar dazu, dass Martha vereinzelt wieder deutsch spricht. (Jo gegenüber hatte sie es bereits einmal getan, als beider Vertrauen zueinander soweit gediehen war, als sie ihm vom damaligen Geschehen berichtet hatte: von ihrem jüdischen Cello-Lehrer, den sie in ihrem Haus in Form des Instruments quasi aufgebahrt, denkmalisiert, in den sie sich verliebt hatte und den sie nach ihrem sechzehnten Lebensjahr nie wieder sehen sollte.) Das Vergessenwollen bricht auf, der Großvater zusammen, die lang anhaltende vorübergehende Amnesie schwindet, die Erinnerung kehrt wieder. Ja, er habe gewusst, wohin man diese jungen Frauen transportieren würde. Und die Russen seien es am Ende gewesen, einfach furchtbar wütend seien sie gewesen, die von ihm verlangten, eines der Mädchen zu erschießen und die es dann selbst erledigten, da er sich weigerte. Da weinte er bitter- oder auch jämmerlich in die Schulter seines Enkels.

Der war anschließend kurzzeitig völlig aus dem Filmgeschehen verschwunden. Seine Mutter hatte ihn den gesamten nächsten Tag überall gesucht, ihn jedoch nicht gefunden; im Film ist die Suche nach dem Sohn lediglich angedeutet, als sei sie, die Ärztin, sich dessen mit einem Mal, quasi alles abschließend, das Ende sehend, bewusst geworden, dass es sich bei Blut um nicht mehr handelt als um einen Saft, den der Mensch zum (Über-)Leben benötigt; der Großvater in seiner Gastrolle ist gänzlich von der Bildfläche getilgt. Sie war mit ihrem Vater schließlich abgereist nach Formentera, hatte jedoch bei Martha eine Flugkarte für des Sohnes Rückreise nach Deutschland in einem Umschlag hinterlegt. Die benötige er sicherlich nicht, äußerte er dann gegenüber der Freundin, wolle er doch hier bleiben auf der Insel. Bei ihr. Es kommt zur zaghaften Andeutung einer Liebeserklärung, die sie ein wenig schmerzgeplagt, mit leichtem, verneinendem Kopfschütteln abweist. Früher sei es einfacher gewesen, etwas füreinander zu tun. Und sie teilte ihm mit, nun doch nach Deutschland zu reisen, allerdings nur ein paar Tage, sie käme zurück.

Das Ende des Films zeigt eine ähnliche Einstellung wie die zu Beginn: Die älter gewordene Martha vor der anmutigen, lieblichen, aber eben auch natürlich rauen Landschaft, in die man sich zu integrieren hat, will man (über-)leben. Zwei Umschnitte folgen noch. Nach der Einstellung, die nahezu identisch ist mit den Anfangsbildern von ›Amnesia‹, die die enorm gealterte, nun aber glücklich dreinschauende Martha zeigen. Dann ist die Kamera hinter den Akteuren ausgerichtet:  Jo, an seiner Seite eine junge, dem Äußeren nach wohl einheimische Frau. Das Paar hat ein Kind in seiner Mitte, und Martha befindet sich an der Seite der jungen Familie. Der Nachwuchs ist noch sehr klein und im Film, wie überhaupt die gesamte Schlussszene, lediglich angedeutet, wohl symbolhaft für neu entstandenes Leben. Der Filmbeobachter blickt mit den Akteuren hinaus auf das stille, beruhigende el Mediterráneo. Das Kind dürfte sich bald, wenn es denn über erste eigene Gedanken verfügen wird, über einen regen Austausch mit einer sich mittlerweile am Leben erfreuenden, eben geistesverwandten Großmutter freuen.

Sie ist durchaus, im besten Sinn, eigenartig, diese Betrachtung des ehemaligen Produzenten der Filme von Éric Rohmer. Deutsche Wiedervereinigung aus französisch-schweizerischer Filmperspektive. Und nein, Altmeister Rohmer, gewesener Jahrgang 1920, blickt dem 1941 geborenen Barbet Schroeder, der unter anderem bei Jean-Luc Godard oder Jacques Rivette sowie unter Patrice Chéreau in La reine Margot, der berühmten Abschlachtverfilmung der Hugenotten in der Bartholomäusnacht, auch als Acteur tätig war, überhaupt als Schauspieler begonnen hat, keineswegs aus filmhimmlischen Gefilden herab über die Schulter, wenn es sich auch zweifelsohne um einen dieser für diese Generation typischen, von Dialogen geprägten stillen Filme handelt, still allein aufgrund der ruhigen, teilweise ausgiebig stehenden Bilder ohne diese hektischen Schnitte, deren Unabdingbarkeit uns zeitgenössisches Kino mit Breitenwirkung weismachen will.

Doch es handelt sich eben nicht nur um Erzählkino, sondern um eines, das sich weit darüber hinaus um gesellschaftliche Problemata dreht, um die sich die französischen Geisteswissenschaften nicht nur bemühen, sondern auch aktiv politisch zu Lösungen beitragen, indem sie als angesehene Berater von Präsidenten, überhaupt von Politikern tätig sind; in Deutschland gilt der Intellektuelle, dessen Aufgabe an sich in nichts anderem besteht als unterscheidend wahrzunehmen bzw. entsprechend zu beurteilen, nach wie vor als ein sogenannter, ein in der Breite nicht sonderlich geschätzter Eierkopf.

Das Thema Deutschland ist, selbst in dieser rückblickenden Weise, noch längst nicht zuende gedacht, gerade in einer Zeit, in der bereits wieder alles neu gedacht sein will: Heimat, neue Heimat. Wie finden Menschen aller erdenklichen Herkunft zusammen? (Ein wenig drängt sich Jürgen Habermas auf: Die Moderne – Ein unvollendetes Projekt.) Selbst in der eigenen Sprache, so zeigt Schroeder die 1945 geborene Marthe Keller als Martha, finden manche Menschen kein Zuhause, da helfen auch keine verinnerlichten deutschen Romantiker weiter. Doch der Kosmopolit Schroeder legt den Finger in eine Wunde, von der viele Deutsche nicht einmal zu ahnen scheinen, dass sie ihnen geschlagen wurde: Sie sind einander fremd geworden, und das, obwohl die Älteren oder auch Altgebliebenen sich gerne oder auch ständig auf eine nationale Leitkultur berufen, die weitaus älter ist als der letzte große, von ihnen verursachte mörderische Krieg.

Da kommt also dieser welsche, in Teheran geborene und französisch sozialisierte Schweizer daher und zeigt (stellvertretend) eine Deutsche, die 1936 im zarten Alter von 16 Jahren erlebt hat, wie es sich anfühlt, wenn man anderen Menschen nicht nur die Heimat, sondern gleich das ganze Leben nimmt. Seine Martha ist aus der Perspektive der menschlichen Zivilisation, der sogenannten modernen allemale, betrachtet so gut wie tot, zumindest wertlos, da mit ihr die Erneuerung der Welt offensichtlich nicht betrieben werden kann.

Aus der Sicht der großstädtischen, etwa der mehrfach unangemeldet erscheinenden hauskaufwilligen Betrachter, die sicherlich für einen Ferien- oder Altersruhesitz sofort alles renovieren, umbauen, modernisieren würden, gesehen ist sie, so sie überhaupt wahrgenommen wird, eine schrullige Alte, die scheinbar unberührt dahinvegetiert wie die Pflanzen um ihr gemietetes Haus, an dem sie seit ihrem Einzug vor Jahrzehnten nichts verändert hat. Doch das ist ihr insofern egal, als sie Besitz nicht anstrebt, jedoch ohne dass sie in die Kategorie der hippiesken Nachzügler der sechziger und siebziger Jahre, unter ihnen viele aus Deutschland, einzuordnen wäre, handelt es sich bei Martha doch um eine alte, äußerst gepflegte Dame, die sich ihre geradezu metropolische Würde der Bildungsbürgerlichkeit über all die Jahre bewahrt hat. Sie hat sich als Flüchtling vor einer menschenverachtenden Welt lediglich auf eine Insel gerettet, in eine Umgebung, die sie akzeptiert hat, ohne dass man sie zur Assimilation gezwungen hätte. Auf die Kräuter in ihrer unmittelbaren Umgebung, von denen sie selbst auch nach Jahrzehnten nichts weiß, muss sie ein drei Generationen jüngerer Städter aus Deutschland, ihr mitten im zeitgenössischen Leben stehender, doch ebenfalls die Abgeschiedenheit suchender Freund Jo, aufmerksam machen, und sie nutzt das neue Wissen, um dem Besuch eine Paella von unvergleichlichem Geschmack zu servieren. Der Filmbeobachter meinte, ein Symbol erkannt zu haben: Es scheint sich um ein uraltes, seit Jahrtausenden dort wachsendes sogenanntes Wunderkraut zu handeln, das Lebensgeister, darunter die Freude an auch gemeinsamem Genuss, wiedererweckt.

Die Verquickung alter mit neuen, letztlich aber eben doch bereits seit Ewigkeiten existierenden, lediglich kaum wahrgenommen Klängen, die Geräusche aus der Natur, vermischt mit an Küchengeräten erzeugten, dürfte eine weitere Komponente darstellen, die auf eine immerwährende Veränderung, Erneuerung des Lebens verweist; die technodigitale Aufbereitung stellt ein humorvolles filmisches Bonmot dar, eine köstliche, nichtsdestotrotz äußerst ertragreiche Randbemerkung.

Der springende Punkt dieses den Filmbeobachter beeindruckenden, sehr nachdenklich machenden Films: Das Verharren in der letztendlich künstlich herbeigeführten Amnesie führt zu eben jener Erstarrung, die jedes Mitgefühl lähmt, jenes für andere Menschen, denen es letztlich egal ist, welcher Nationalität sie angehören, weil sie nichts anderes suchen als Geborgenheit, die im Deutschen Heimat genannt wird und die es als Fremdwort in alle erdenklichen Sprachen geschafft hat. Ein deutscher Dichter hielt einmal fest: Heimat sei überall dort, wo man Freunde finde. Und ein schweizerischer hat hinzugefügt: »Heimat sind die Menschen, die wir verstehen und die uns verstehen.«

Am Schluss, aber nicht zuletzt: Noch eine andere Erstarrung lähmt – ein besonderes Gefühl: das fürs Kino. Es funktioniert nicht im Fernsehen. So riesig kann kein Bildschirm sein, als dass der diese Feinheiten in den Einzelheiten zeigen könnte, die im Kinofilm oftmals nahezu unscheinbar verborgen werden; wie in einem versteckten, andeutenden Nebensatz in der literarischen Gattung, der also dann mit Gianni Celati der Vorzug gegeben werden müsste, der um die letzte Jahrtausendwende, als der Filmbeobachter seine Kinogänge beendet hatte, in seinem Buch ›Cinema naturale‹ festgehalten hat: »Denn wenn man Erzählungen schreibt oder liest, sieht man Landschaften, sieht man Gestalten, hört man Stimmen: Man hat ein naturgegebenes Kino im Kopf und braucht sich keine Hollywoodfilme mehr anzusehen.«

Auch Barbet Schroeders Amnesia wird im Fernsehen, in Deutschland vermutlich allenfalls in einigen Programmkinos gezeigt werden, das deuten allein die vielen internationalen, vermutlich vor allem geldgebenden Fernsehanstalten an, die im Abspann aufgeführt werden. Doch der Filmbeobachter geht nicht ins Fernsehen, er leidet nicht unter Gedächtnisverlust, sein Langzeitgedächtnis weist es aus: Das funktioniert nur im Kino.


Amnesia
Regie: Barbet Schroeder
Mit Marthe Keller, Max Riemelt, Corinna Kirchhoff, Joel Basman, Fermi Reixach, Marie Leuenberger und Bruno Ganz


Zuerst erschienen am 22. Oktober 2015 der nicht vom Autor stammenden Überschrift Deutschland – noch nicht zu Ende gedacht in Titel – Kulturmagazin.

 

Paradise Trips

 

 

»Der Sommer der Liebe«, schrieb der in San Francisco lebende Student der Politischen Wissenschaft, Hans Pfitzinger († 2010), in seinen Erinnerungen Love and Peace und all die Hippies aus dem Jahr 2007, »fing am 16. April 1943 in Basel an. Dort, im pharmazeutischen Labor der Chemiefirma Sandoz, spürte erstmals ein Mensch die Wirkung von LSD …«

»In besagtem Labor bekam Dr. Albert Hofmann, der nach Arzneimitteln auf der Basis von Mutterkorn forschte, versehentlich eine winzige Menge Lysergsäurediethylamid an eine Fingerkuppe. Danach wurde dem Doktor sehr seltsam zumute, und er beschloß, für heute mit der Arbeit Schluß zu machen. Auf dem Heimweg setzte die volle Dröhnung ein: Der erste LSD-Reisende war mit dem Fahrrad unterwegs.«


Der sich eigentlich seit kurzem im Ruhestand befindliche Mario Dockers (Eugeǹe ›Gene‹ Bervoets) ist im sommerlichen  2015 mit dem Bus unterwegs zu seinem ersten wirklichen Trip. Der gepflegte moderne Reisebus gehört ihm, doch es will ihm partout nicht gelingen, ihn zu verkaufen; ein wenig mag es auch daran liegen, dass er sich nur unter größten Erschwernissen von diesem Transportmittel ins Paradies zu trennen vermag. Diese anhaltende Situation heitert die ohnehin nicht mehr von sonderlichen Aufflammungen gekennzeichnete langjährige Ehe zwischen ihm und seiner Frau Linda (Tania Van der Sanden) nicht eben auf. Sie möchte, dass endlich Ruhe und Behaglichkeit, von vielen Menschen auch als Frieden bezeichnet, in den am Rande des belgischen Antwerpen gelegenen Bungalow der siebziger Jahre einkehrt, er in Ruhe vor dem Fernsehgerät, in dem er kurzzeitig recht angewidert die Revolte der Sechziger über sich ergehen lässt, sitzen und sein Bier trinken kann, während die Gattin ihm sein tägliches Beefsteak (das nicht mit dem gleichnamigen deutschen sogenannten Hacksteak zu verwechseln ist, sondern aus einem tellergroßen Stück Rindfleisch besteht) mit daumendicken Fritten, in etwa das belgische Nationalgericht, zubereitet, sie ihm den herrisch angemahnten riesigen Topf Mayonnaise dazustellt, er also nicht immerfort unterwegs sein muss in ganz Europa und die Restfamilie sich selbst überlässt. Doch einmal noch zeigt sich eine Schicksalsfügung – noch einmal muss er fahren: ersatzweise für den Freund und Kollegen Gino, der verhindert ist, und unter Freunden hilft man sich nun einmal. Die Gattin ist zutiefst betrübt bis ungehalten. Ach, Linda, versucht er sie zu beruhigen, es dauere doch nur eine Woche, dann sei ein für allemal Schluss.

Seine Fahrgäste setzen sich zusammen aus Hippies der jüngeren, quasi nachgerückten oder auch wiedergeborenen Generation, die sich ein neues, im idyllischen Kroatien gelegenes Woodstock als Reiseziel ausgesucht haben. Sie und ihr Chauffeur Dockers scheinen von Beginn an nicht so recht zu harmonieren. Deshalb stellt er sich vor der Abfahrt vorn neben dem Pilotensitz in voller männlicher Größe auf und ein und für allemal klar: Während dieses ›Paradise Trips‹ (so der leuchtend prangende Name seines Unternehmens) in seinem Bus sei er der Chef; wer Ärger mache, der flöge raus.

»Ob die Hippies allgemein als politische Bewegung zu sehen waren«, so Pfitzinger in seinem Aufsatz zur Genesis dieser in der Mitte der sechziger Jahre in den USA entstandenen, von der Staatsmacht massiv bekriegten subkulturellen Friedensbewegung, »darüber ließ es sich schon damals trefflich streiten. Was sich im Lebensstil ausdrückte, hatte aber unstreitig politische Aspekte: Zusammenleben in Kommunen, mit Hanf, Pilzen, LSD, Meskalin zur Erweiterung des Bewußtseins; drastische Beschränkung des privaten Eigentums; Kreativität statt Konsum; Freiheit statt Autorität. Selbstbestimmte Stämme sorgen dafür, daß Regierung und herkömmliche Machtstrukturen überflüssig werden. Die Speerspitze der Bewegung, eine Art führerlose Kerntruppe der Blumenkinder, waren die Diggers. Bei aller scheinbaren Unbekümmertheit hatten sie eine radikal-utopische Grundhaltung. Sie organisierten das Gemeinschaftsleben in Haight/Ashbury so, als sei die Revolution bereits erfolgreich gelaufen: Jeden Tag verteilten sie umsonst Essen und Kleidung im Park, gründeten die (auch heute noch bestehende) Haight-Ashbury Free Clinic für kostenlose Gesundheitsfürsorge, dazu gab es gratis juristische Hilfe für alle Konflikte mit der Staatsmacht. Finanziert wurden diese Aktivitäten durch Benefizkonzerte, bei denen Spenden gesammelt wurden. Die Diggers verachteten die herkömmlichen politischen Institutionen – der Staat wurde, solange er sich nicht einmischte, einfach ignoriert. Finanzielle Unterstützung von den Behörden hätte Verrat bedeutet. Was sich zwischen 1964 und 1967 am Golden Gate Park abspielte, ist durchaus vergleichbar mit der Pariser Kommune oder den Gemeinschaften der Anarchosyndikalisten im Katalonien des Spanischen Bürgerkriegs. Dass in allen Fällen die Staatsmacht den Sieg davontrug, ändert nichts an der Gültigkeit des Strebens nach einer selbstbestimmten, humanitären Gesellschaft. Der ›Summer of Love‹ war sicher nicht der letzte Versuch in diese Richtung.«

Der zunächst Letztbekannte liegt vor. Der belgische Regisseur des Jahrgangs 1975, Raf Reyntjens, hat ihn spielfilmisch dokumentiert. Er wirft dem Filmbeobachter einen Trip ein.

Besondere Vorkommnisse während der Fahrt sind nicht zu vermelden; jedenfalls nimmt der Herr des Busses sie nicht wahr, etwa den multidurchrassten Hund, einem das Leben der Hippies stets begleitenden Tier, der hinten auf der letzten Bank endlich mal den Kopf aus der Reisetasche stecken darf und mit dem Mario Dockers später zwischenzeitlich noch nähere, ihm nicht unbedingt angenehme Bekanntschaft machen wird. Dem Bus folgt ein stattliches, beinahe busgroßes Wohnmobil, bei dessen Eignerin es sich um die Organisatorin Miranda (Noortje Herlaar) des paradiesischen Trips handelt, die sich zu Beginn natürlich-freundlich vorgestellt und dem Busunternehmer die zuvor vereinbarte Summe Geldes ausgehändigt hat. Als Begründung für ihren Solo-Trip verweist sie auf ihren im Wohnwagen noch schlafenden Sohn. Doch Herrn Dockers scheint das ohnehin gleich, scheint es sich doch um eine der Fahrten wie alle anderen zu handeln, die er im Lauf der Jahrzehnte unternommen hat. Der Chef dreht den Zündschlüssel, und es erklingen Schlagertöne in vlaams, der belgischen Variante des Niederländischen. Belgien ist nicht nur ein im Grunde zweigeteiltes Land unterschiedlicher Sprachen, sondern auch das zweier Mentalitäten: da der französisch orientierten wallonischen, dort der flämischen, für das symbolisch das Chanson Le plat pays von Jacques Brel aus dem Jahr 1962 stehen mag, der es unter dem Titel Mijn vlakke land (Mein flaches Land) auch in der Sprache seiner Heimat Westflandern eingespielt hat und in dem es unter anderem heißt: Mit einem Himmel so tief, dass ein Kanal sich verirrt / Mit einem Himmel so tief, der demütig macht / mit einem Himmel so grau, dass ein Kanal sich dran aufhängt …

An der Musik hängt sich keiner der Reisenden weiter auf, allenfalls wird in einigen Gesichtern ein Grinsen sichtbar, das unter toleranter Ignoranz zu verbuchen sein könnte. Die Gruppe weiß, sie wird bald andere Klänge vernehmen. Die Fahrt verläuft ohne besondere Vorkommnisse, sieht man von dem den Chauffeur des Busses irritierenden Ereignis eines nackten Hinterteils ab, das ihm vom Rückfenster des Wohnmobils entgegengestreckt wird, das die Führung auf dem Weg in das abgelegene, offenbar nur schwierig zu findende kroatische Woodstock der Neuzeit übernommen hat, in dem es so gut wie keinen Mobilfunkempfang gibt und wohl auch jedes Navigationsgerät sich verweigert.

Der Popo gehört zu einem etwa zehnjährigen Jungen namens Sunny (Cédric Van den Abbeele), der nach Ankunft im kroatischen, chaotisch wimmelnden Woodstock-Heerlager des Friedens sich in aller Ruhe vor dem Wohnmobil platziert hat, das der temporäre Hippietransportunternehmer Mario Dockers aufsucht, da er mit der Organisatorin Miranda einiges regeln möchte, da einiges nicht seinen Vorstellungen von Regeln und Ordnung entspricht, etwa eine mittels geschmissenem Stein zerstörte Scheibe seines Busses. Der Besitzer des entzückenden Hinterns sitzt auf demselben und dippelt mäßig engagiert, aber routiniert auf einem kleinen Computerspielgerät herum, mit dem man Männchen erschießen kann. Es handelt sich um jenen Sohn namens Sunny, der zu Beginn der Abreise in Antwerpen noch in der fahrbaren Kleinwohnung schlief. Es könne dauern, bis die Frau Mama erscheine, er wisse es nicht. Auf die Frage des Alten, ob er sich während der Wartezeit hinsetzen dürfe, nickt der Gameplayer ein wenig und weist dem Besucher selbstgefällig einen Platz an seiner Seite an, begründet mit der lakonischen Anmerkung, sein nun neuer temporärer Nachbar sei der erste normale Mensch, dem er hier unter all diesen schrecklichen Hippies begegne.

Es würde den hiesigen Rahmen sprengen, ginge der Filmbeobachter auf jede Einzelheit dieses an in jeder Hinsicht komischen Details überreichen Films ein, der sich überdies durch seine naht- und bruchlose, flüssige Erzählweise auszeichnet, die dramaturgisch ausgefeilt der Logik dieses subkulturellen Alltags Folge leistet, lediglich hin und wieder durchbrochen von den Marotten eines brummigen, sich bürgerlich-anständig gerierenden Miesepeters. Deshalb sei vor allem auf die Essenz dieser Komödie eingegangen, die, was an der Natur dieses Genres liegt, sofern es sich um eine gelungene handelt: Alles dreht sich um eine tiefernste Angelegenheit. Nicht allein von einem Generationenkonflikt ist sie bestimmt, den hat es ohnehin immer gegeben und wird es immer geben. Auch das Streben nach einer besseren, weil friedlicheren, nicht von Konsum und sonstigen Zielrichtungen eines ausufernden Kapitalismus beherrschten Gesellschaft ist nicht unbedingt ein neueres Thema, jedenfalls nicht erst seit den sechziger Jahren, als es sich via Aldous Huxley, Ken Kesey bzw. Timothy Leary, zumindest in den USA herumgesprochen hatte, LSD sei ein wirksames Mittel gegen die Übel dieser Welt; es wird erst dann erschöpft sein, wenn ›Love and Peace‹ sich durchgesetzt haben sollten. Raf Reyntjens umspinnt als Drehbuchautor und Regisseur mit seinem Kokon Paradise Trips eine Familientragödie.

Als Sunny den alten Busfahrer fragt, ob er Kinder habe, verneint der es. Die Gegenfrage, wer sein Vater sei, beantwortet der Zehnjährige lapidar, der sei ein Versager, ein Krimineller, der bereits im Gefängnis gesessen habe. Dabei handelt es sich jedoch, der Filmbeobachter beginnt es recht bald zu ahnen, bei diesem Versager und Kriminellen um den Sohn des Busunternehmers Mario Dockers, um Jim Dockers (Jeroen Perceval). Der immer Gesetz und Ordnung achtende Vater Mario war es, der seinen Sprössling wegen Drogenhandels bei der Polizei angezeigt hatte, also aus ihm erst einen Kriminellen gemacht hatte.

Überhaupt stellt sich im letzten Drittel des Films als höchst gelungene Überraschung heraus: Der paradiesische Trip war von Marios Frau Linda als Wiedervereinigung geplant, gemeinsam mit Miranda, der Mutter von Sunny und Frau des Versagers Jim, einem unbedingt friedenswilligen, unerbittlichen Gegner des Konsumismus‘, der nicht einmal einen Schluck Coca Cola in sich hineinlässt und seinen Sohn einen Kapitalisten heißt, allein deshalb, weil der diese braun gefärbte Limonade und Burger und Fritten von McDonalds bevorzugt, meist versorgt durch Mama. Auch dem gewöhnlichen Alltag gegenüber, etwa des wohnwagenhäuslichen Abwaschs durch seine Frau, die gerade schwere Wasserkanister angeschleppt hatte, zeigt Jim sich ungehalten ablehnend, vor allem, wenn er sich dadurch in seiner Meditation gestört fühlt.

Es sei deshalb von allen diesen ungemein zahlreichen, abwechslungsreichen und vielfältigen Szenen eine herausgegriffen, nicht zuletzt, da sie am ehesten das beschreibt, wie es im Programmheft Paradise Trips trefflich charakterisiert ist: »Ein Film über den ›Clash of Cultures‹ inmitten derselben Kultur, über Jung und Alt, über Urteile und Vorurteile, Väter und Söhne – vor allem aber darüber, dass es nie zu spät ist, noch mal von vorne anzufangen.«

Mario Dockers, der zwischendrin diverser Ärgernisse wegen und weil er sich in dieser wirren Umgebung schlicht nicht zurechtfand, sogar wutentbrannt mit seinem Bus weggefahren, aber dann wieder zurückgekehrt war, auch wohl deshalb, da seine Frau Linda zu Hause in Antwerpen das Telefon nicht abnahm, hatte sich innerlich gesetzt, nicht zuletzt aufgrund zweier Gespräche mit einer etwa gleichaltrigen, außerordentlich gelassenen, nichts als die Menschen, das Leben und die Liebe liebenden Frau mit dem vielleicht etwas zu karikaturistischen, andererseits sie auch wieder exzellent beschreibenden Namen Esmeralda (Marie Louise Stheins), neben die sich der Filmbeobachter gerne sofort auf deren Sofa des Friedensheerlagers gesetzt hätte, die man sich als klassische, keiner Blutsverwandtschaft, sondern der Menschheit an sich anhängenden Hippiemutter, vielleicht als eine der ersten Generation vorstellen mag. Sie lässt ihm von einer in diesem Umfeld ungewöhnlich, weil gänzlich unflippig, eher konventionell gekleideten und frisierten, ausgesprochen schönen jungen Frau, der das Glück über die baldige Mutterschaft ins wohl ohnehin liebreizende Gesicht geschrieben steht, eine prächtige vegetarische, nein, vegane Mahlzeit servieren und beschreibt dem davon nicht sonderlich Entzückten genüsslich die einzelnen Gemüsesorten, die wohl chemiefreien flämischen Äckern entwachsen, aber auf Marios Teller noch nie vorgekommen sein dürften. Doch die beiden trinken auch Bier miteinander, aus Dosen, und sie leeren einige. Mario gerät in eine gewisse Sprachlosigkeit. Doch man müsse, so seine Gesprächspartnerin, schließlich auch nicht immerzu reden. Auf Esmeraldas Empfehlung hin wankt Mario sogar auf den riesigen Tanzplatz, der der rituellen Anbetung der Techno- und Friedensgötter dient, und beginnt, wenn auch anfänglich vielleicht etwas zu zögerlich, sich rhythmisch leicht zu den dann (zwischenzeitlich) überschallauten Tönen zu bewegen. Als ihm ein mit einem indianischen Federschmuck versehener Tänzer eine Flasche hinhält, deren Inhalt wie Bier aussieht, was Marios gewohntem Geschmack nahezukommen scheint, nimmt er an und trinkt ausgiebig. Die im übrigen immer souverän geführte ruhige Kamera – überhaupt besticht der gesamte Film, für den Filmbeobachter tatsächlich ein wenig überraschend, durch seine Ruhe, keinerlei wilde Rhythmen suggerierenden Schnellschnitte sind zu sehen, die zwischenzeitlich anschwellende Lautstärke, begleitet von grelleren, teilweise sehr bunten Bildern, entspricht der Logik der in der Regel unterschiedlichen Hör- und Sehgewohnheiten zeitlich wie kulturell voneinander entfernter Generationen  – zeigt in einer recht lang anhaltenden Einstellung den Getränkeanbieter in einer Art Lachanfall, neudeutsch wohl eher unter dem Begriff Lachflash bekannt, den Mario sicherlich gar nicht weiter deutet oder schlicht nicht wahrnimmt, da ihm ohnehin alles so ziemlich egal geworden zu sein scheint.

Die Begründung dafür wird direkt nachgeliefert: Die Sichtweise des Mannes, der in den Anfängen des Films durchaus in die Kategorie des besorgten und anständigen, gesetzes- und regelgetreuen, Bier, Beefsteak und Fritten bevorzugenden Bürgers eingeordnet werden darf, beginnt sich zu verändern, Farben und Formen beginnen zunehmend zu verschwimmen, die Umgebung sich zu bewegen, ein psychedelisches Bild erscheint, das er durchwandelt, dahinter ein seltsam, exotisch oder auch esoterisch anmutender Wald mit recht weit voneinander entfernten und doch gleichsam nahen, unwirklich erscheinenden, hochgewachsenen Stämmen, und mitten darin ein außergewöhnlicher, klar geformter Fliegenpilz, dem seitlich eine fadenähnliche Myzele anhängt, die die Assoziation einer Nabelschnur zulässt. Der unwirklich gelöste Mario durchgeht diese Landschaft voller Wunderlichkeit, als zunächst schemenhaft, dann in absoluter Klarheit der sogenannten Wirklichkeit sein Sohn sich ins Bild hineinentwickelt, der dem »schlimmsten Faschisten von Antwerpen« mit voller Wucht seine sich im Lauf der Zeit aufgestaute Wut ins Gesicht schlägt. Des Geprügelten Nase blutet daraufhin heftig, wie das im richtigen Leben wegen seines altersbedingten Bluthochdrucks tatsächlich häufig der Fall ist. Nach einem Umschnitt zeigt die Kamera in Nahaufnahme das Gesicht des vom Trip Heruntergekommenen friedlich auf einer sommerlichen Wiese liegend, auf der nicht mehr blutenden Nase sitzt ein außergewöhnlich schön gefärbter, bordeauxrot schillernder Schmetterling, in der Nähe wedelt der durch- und durch durchrasste Hund, der ihn immerzu irgendwie störte, freundlich mit dem Schwanz. Mario steht auf und geht gemächlich einige immer fester werdende Schritte, als er seinen Sohn auf einem Felsen sitzen sieht, den er dann lebensmutig um ein Gespräch bittet, das tatsächlich, wenn auch unter leichten Anfangsschwierigkeiten, in Gang kommt und an dessen Ende sich abzuzeichnen beginnt: Die Versuchsanordnung zur Schaffung der Geburt eines Hippies scheint funktioniert zu haben; die beiden klatschen sich verabschiedend ab, wie das die Jungen heutzutage zu tun pflegen, anstatt sich die Hand zu reichen. Ob das mit dem jungen Sunny auch gelingen wird, scheint allerdings fraglich. Denn der hatte seinem Vater Jim zuvor bereits für den Fall einer eventuellen Wiedervereinigung eine Bedingung abgerungen: wenigstens einen Schluck Coca Cola zu trinken. Der hat’s getan, und es war weitaus mehr als ein Schluck.

Die Gesellschaft(en) haben sich ohnehin verändert, zumindest der Veränderungswille scheint sich, jedenfalls ausgerechnet in den kapitalistisch strukturierten, aber möglicherweise dieses Ersatzglaubens wegen nicht mehr so extrem Religionen verhafteten Ländern, umformiert zu haben. Allenthalben lehnen sich, vor allem, wie in diesem Spielfilm nahezu dokumentarisch gezeigt, jüngere Menschen auf, die diesen gleichförmigen, von politisch führenden Befürwortern des frei florierenden globalen Marktes geprägten Konsummechanismen nicht mehr folgen möchten. Noch vor wenigen Jahren war es beispielsweise unvorstellbar, es könnten sich so viele Menschen vom Automobil, vom Fleisch ab- und dem Tier als gleichberechtigt zuwenden. Es bleibt abzuwarten, ob es sich als eine Mode im Sinne eines heutzutage häufiger als in früheren Epochen rascher wechselnden Zeitgeistes erweist oder doch um eine anhaltende, nachhaltige  – übrigens ein aus der Romantik stammender Begriff –  Weltanschauung; für die früher der als positiv besetzte Begriff Zeitgeist stand, der sich in der deutschen Sprache mittlerweile eher zum Schimpfwort hin gewandelt hat.

Auch die Elle der sechziger, siebziger Jahre ist nicht mehr anzulegen, mit der sämtliche alten gesellschaftlichen Werte über Bord geworfen wurden wie beispielsweise die Ehe mit ihrer vor Amts- und Würdenträgern gelobten Treue bis in den Tod. Dennoch wird wieder geheiratet, wenn auch mittlerweile überwiegend von Männern oder Frauen innerhalb des gleichen Geschlechts. Andererseits, der Film- und Lebensbeobachter erinnert sich an ein noch nicht allzu lang zurückliegendes Gespräch, in dem Mitgliedern der ehemaligen, berühmt-berüchtigten Berliner Kommune 1, aus der heraus die außerparlamentarische Opposition, das neue deutsche Lotterleben der Nachkriegsgeneration schlechthin sich mit entwickelte, wie Rainer Langhans von zweien seiner Töchter von unterschiedlichen Müttern mitgeteilt wurde, man verlobe sich, und heiraten würde man ebenfalls, basta. Das widerspräche zwar dieser bemerkenswert köstlichen, aber auch nachdenklich machenden Utopie ›Paradise Trips‹.

Andererseits ist die Liebe unter den Menschen, auf die Raf Reyntjes mit dieser belgisch-niederländischen Produktion verweist, schließlich kein Nicht-, sondern ein immerwährender Sehnsuchtsort, ob nun mit oder ohne Trauschein, ob immerwährend oder lediglich temporär. Er hat, wenn auch zunächst einmal im Kino, nachgewiesen, daß die den Frieden und das Miteinander liebenden Hippies möglicherweise diejenigen sind, auf die man bauen kann. Sie haben zumindest eine Familie wieder zusammengebracht und neue Freundschaften über Generationen entstehen lassen, und zwar, indem sie Gesetze außer Kraft gesetzt und Regeln unterlaufen haben.

Die Schlusseinstellung des Films zeigt eine völlig überfüllte Autobahn, rechts ein Schild, das darauf hinweist, in België, also angekommen zu sein in diesem drangvoll beengten und beengenden Alltag, inmitten des ganzen Verkehrsaufkommens ein Bus mit der Aufschrift ›Paradise Trips‹. Man ist wieder zurück in dem ganzen Schlamassel. Doch für einige könnte er sich als ein veränderter, möglicherweise gar als das Paradies erweisen, beispielsweise für Linda, die ihre Familie samt Enkel und sonstigen Anschlüssen wieder beisammen und der ihr Gatte Mario telephonisch sogar zum ersten Mal seine Liebe erklärt hat.


Paradise Trips
Mario Dockers: Gene Bervoets
Jim Dockers: Jeroen Perceval
Sunny: Cédric Van den Abbeele
Linda: Tania Van der Sanden
Miranda: Noortje Herlaar
Cindy: Linde Pillet
Lexander: Pieter Verelst
Walther: Pascal Maetens
Esmeralda: Marie Louise Steihns
Flora: Charlotte Timmers


Zuerst erschienen am 22. Oktober 2015 der nicht vom Autor stammenden Überschrift Auf dem Trip in Titel Kulturmagazin.

Domácí péče

 

 

 

Zwar wird Home Care im Programmheft des diesjährigen Filmfestivals Mannheim-Heidelberg als Komödie angekündigt, doch eigentlich handelt es sich um eine Tragödie. Zum einen ist da die Krankenversorgung, die innerhalb des vereinigten Europas EU eine immer reduziertere, sogenannt kostengünstigere Rolle spielt. Grenzüberschreitend heißt es auch in diesem Bereich, es müsse »gespart« werden. Übertragen heißt das, die mittlerweile überall regieführenden privaten, konzernartig agierenden Betreiber des Gesundsheitswesens reduzieren Personal, Mittel und Zeit, die für Menschen nicht mehr vorhanden ist; denn die kostet bekanntlich Geld. Und zum anderen befindet sich dann doch ausreichend Kapital in den Steuerkassen, um etwa, wie hier im Fall des ländlichen Tschechiens, Fröschen Straßenunterführungen zu bauen, auf daß wenigstens die unversehrt zur anderen Seite dieser nicht nur für sie immer fremderen Welt zu gelangen.

Frösche spielen überhaupt wesentliche Rollen im Spielfilmerstling von Slávek Horák. Der Titel kommt in der Übersetzung in die englische Weltverkehrs- oder auch Kinosprache vielleicht etwas ungelenk, gar mißverständlich daher. Domácí péče heißt schlicht häusliche Pflege. Gepflegt werden allerdings nicht in erster Linie Frösche, sondern (meist ältere) Menschen, die nun mal verständlicherweise lieber zu Hause versorgt werden und nicht in einem dieser wenig menschennahen sterilen, zweifelsohne noch vorhandenen Krankenhäuser.

Die Krankenschwester Vlasta (Alena Mihulová) ist Hauspflegerin und, wie in den meisten Fällen, mit dem Linienbus unterwegs zu ihren Patienten; die sind allerdings keineswegs, wie das Programmheft verheißt, »merkwürdig«, sondern das, was der Filmbeobachter als normal bezeichnen würde, nur eben krank und, was naheliegt, wenn der Mensch die meiste Zeit alleine ist, ein bißchen oder vielleicht vereinzelt auch arg schrullig. In einer Szene kommt der Bus an einer offenbar spontan errichteten Baustelle nicht weiter, ein riesiges Loch in der ehemals asphaltierten Straße verhindert die Weiterfahrt. Der Fahrer und anschließend auch Vlasta steigen aus und führen mit den Bauarbeitern eine kurze, heftige Debatte über diese nirgendwo angekündigte Straßensperre, die zur Rettung der Frösche angelegt ist, für die man einen Tunnel gräbt. Nun ja, schreit einer der Tunnelgräber den beiden zu: Zwei Millionen aus dem Strumpf der europäischen Sparpolitik wollen rasch vergraben werden, das schaffe schließlich Arbeitsplätze.

Ein Frosch, der offensichtlich die unterirdische Möglichkeit der Flucht in eine bessere, gefahrlosere Welt noch nicht entdeckt hatte, verursacht denn auch einen Unfall. Hauspflegerin Vlasta ist nächtens zu Fuß in strömendem Regen auf dem Weg nach Hause, die beiden Taschen schleppend, in denen sie ihre Hilfsmittel sowie all die benötigten Medikamente gegen alle erdenklichen Krankheiten aufbewahrt, unter denen älter gewordene Menschen nun mal häufig leiden und die unter anderem Schmerzen lindern sollen. Ein Motorrad naht von hinten, der Fahrer hält an, man kennt sich eben auf dem Land, nicht nur in der Umgebung des tschechischen Brünn, und fordert die recht belastete und völlig durchnässte Krankenschwester auf, auf dem Sozius platzzunehmen. Es scheint ihr, die ansonsten eben auf vier Rädern unterwegs ist, manchmal auch von Ehemann oder künftigem Schwiegersohn chauffiert, unangenehm, fast peinlich, es mögen auch Ängste sein. Der Zweiradpilot überzeugt sie schließlich, indem er gar seinen Helm anbietet und verspricht, langsam zu fahren. Zu sehen ist die Fahrt durch die regennasse Nacht, das Kameraobjektiv fokussiert auf einen Frosch, möglicherweise jenen, der den Untergrund nicht gefunden hatte. Der Notfallarzt des Krankenhauses diagnostiziert Vlasta gegenüber erhebliche Verletzungen, Knochenbrüche und weiteres, die jedoch nicht sie erlitten hat, sondern ihr Retter aus dunkler, regnerischer Nacht, der nun selbst im Hospital liegt. Sie aber leide unter einer fortgeschrittenen Pankreatitis; eine chronische Entzündung der Bauchspeicheldrüse, auch als Krebs zu bezeichnen; der Arzt gibt ihr noch einige Monate. Verursacht wird diese äußerst schmerzhafte Krankheit unter anderem durch ständigen, über Jahre hin praktizierten Alkholgenuss.

Slivovica ist die Leib-, Magen- oder auch Hausmedizin des Ehepaares: frühmorgens zum Frühstück, er wohl auch zwischendrin während seiner handwerklichen Tätigkeit, derweil sie sich auf Pflegereise befindet, und dann wieder beide am Abend, wenn sie zurückgekehrt ist. Überhaupt scheint durch den gesamten Filmerstling des Regisseurs Slávek Horák immer eine Flasche des Selbstgebrannten zu kreisen, es findet sich immer ein Anlass, ob Besuch begrüßt oder verabschiedet wird, oder eben auf der den Film abschließenden Hochzeit der Tochter mit einem jungen Mann, der vom Äußeren her sowie mit seinem schnieken weißen Volvo-SUV (die einzige Sponsorenangabe im Abspann) die neue tschechische Generation symbolisiert. Bei dieser hochzeitlichen Gelegenheit ereignet sich schließlich eine weitere Tragödie: Der von allen, von sehr vielen Gästen der dörflichen Feierlichkeit überaus geschätzte Slivowitz, Slibowitz, Slivovic, Slivovitz, tschechisch eben Slivovice, dieser im gesamten Osten, präziser, Südosten Europas, gern und ausgiebig getrunkene, tatsächlich köstliche Pflaumenbrand, so er denn selbstgebrannt ist, droht auszugehen. Doch der Brandmeister erinnert sich, eine Flasche besonderen Inhalts im Garten vergraben zu haben. Als er sie mit einer Spitzhacke aus seinem unterirdischen Giftschrank zu befreien trachtet, schlägt er ihr den Kopf ab. Der Archäologe des Hochgeistigen und seine dem Spirituellen zugeneigte Helferin Vlasta eilen zu einer Bar im Dorf, kaufen rasch einige Flaschen, füllen die verflüssigten Pflaumen in eigene Glasbehältnisse um, schmieren noch etwas Erde um sie herum und kredenzen sie den Gästen. Lediglich ein Festtrinker scheint noch nicht ausreichend vom altbewährten Geist getrunken zu haben, denn er verzieht sichtbar das Gesicht, als er das Fabrikdestillat in sich kippt.

Diese komische Tragödie hat allerdings noch weitere Heilmittel aufzubieten. Die schwerkranke, immer wieder von starken Schmerzen und Erbrechungsanfällen geplagte Vlasta sucht, angeregt von einer jungen Frau (Tatiana Vilhelmová), der Tochter eines ihrer vielen Pflegefälle, ihr Heil mit anderen Mitteln. Zunächst versucht sie es bei ihr, die auch durch Handauflegen Wohlbehagen hervorruft und Schmerzen lindert, mit zeitgenössisch rhythmischem Tanz, der ihr den Weg zu ihrem Selbst weisen soll, anschließend bei einer Heilerin (Zuzana Kronerová), deren Hypnose allerdings nur bedingt wirkt. Der Schlaf, in den die Seelenheilerin sie versetzt, in den Vlasta, vermutlich wegen mangelndem Glauben an die gute Sache, erst beim zweiten Versuch fällt, beschert ihr einen Traum, in dem die Liebe die Hauptrolle spielt – die von der mit ihrem etwas knorrigen, mit sich seit Jahrzehnten allein am besten zurechtkommenden Ehemann (Boleslav Polívka).

Der hatte das gemeinsame eherne Ehebett, aus dem sie wegen seines anhaltenden, ihr die dringend benötigte Nachtruhe raubenden Schnarchens seit einiger Zeit geflohen war, geteilt, es zu einem allein für sich umgestaltet. Den letzten Kuss von ihm, teilt sie der jungen, auch tanztherapeutisch tätigen Handauflegerin, die körperliche Nähe für das Heilmittel schlechthin hält, lapidar mit, habe sie zu ihrer beider Hochzeit erhalten. Und tatsächlich bemerkt der sie seit langem nicht mehr begattende Gatte auch nicht annähernd etwas von ihrem Zustand, er nimmt ihre schwere Erkrankung nicht im geringsten wahr. Die zu verbergen gelingt ihr allerdings, nicht nur ihm gegenüber, auch grundsätzlich, und das, obwohl sie alle pharmazeutischen Präparate verweigert, selbst die eigentlich dringend benötigten starken Schmerzmittel. In der Hoffnung auf eine nichtschulmedizinische Wiederherstellung ihres gesunden Körpers zündet sie gar, auf Anweisung der Schamanin, nächtens einen völlig verdorrten, einen toten Baum an, den sie zuvor fachfraulich mit Verbandsgaze umwickelt, quasi vorab versorgt hat. Diese heidnisch-göttliche Handlung, teilt ihr die durchgeistigte Heilerin daraufhin mit, werde sie auf ihr nächstes Leben vorbereiten. Doch Vlasta will, das schreit sie hinaus, gerichtet vor allem an die Heilsbringerin, die in einer Zeit lebt, in der die Esoterik noch für Geheimwissen stand, die jedoch längst verkommen ist zu belanglosem, gleichwohl hochgewinnmaximierendem Hokuspokus, Vlasta will im jetzigen Leben leben.

Der Film endet, wie bereits erwähnt, mit Leben. Neues kündigt sich im Leib der völlig in der modernen Gegenwart lebenden Tochter an. Zwischendrin hatte die, wie das alte Bett aus Eisen, eingerostete Ehe von Mutter und Vater auch wieder zur Liebe gefunden, und das auch noch in der Freiheit der Natur, in eines Grabes unmittelbarer Nähe, in einer köstlichen Szene, die Liebemachen, bisweilen auch Sexualakt genannt, lediglich durch in Bewegung geratene zwei paar Schuhe andeutet.

Einem Grab ist Vlasta tatsächlich einmal entkommen. Während der Beerdigung eines ihrer Pflegefälle, dem Vater jener jungen Frau, die sie zu all diesen toten oder zumindest vergessenen Wiederbelebungsritualen geführt hatte, fällt ihr das vom sie auf seine Art liebenden Ehemann zum Geburtstag geschenkte Mobiltelephon hinein in das tiefe Loch. Es sollte ihr technische Erleichterung verschaffen, vielleicht aber beabsichtigte er hintersinnig, sie auf diese Weise nicht mehr nächtens durch die ländlich-dörfliche, ohne Zweifel gefährliche Dunkelheit chauffieren zu müssen, etwa zu dem notrufenden bettlägerigen Schwerkranken, der sich im nachhinein als recht beweglicher Geher erweist, der sich mit der Begründung verteidigte, er läge eigentlich nur deshalb ständig, da er sich zu sehr vor dem Umfallen fürchte. Vlasta entkam der für die Leiche gedachten Bodenaushebung schließlich wieder, in dessen knapp zwei Meter Tiefe sie unter freizeitbergsteigerischen Höchstleistungen hinabgestiegen, das letzte Stück gar gefallen war, um dort schließlich mit einem anderen Versorgungsfall kurz die aktuelle Pflegelage fernmündlich zu kommunizieren, und dann auf nichts zu warten als auf die Erlösung aus diesem unterirdischen Übel. Hilfe erlangte sie einmal mehr durch einen jungen, lebensfroh strahlenden Menschen, der sie vor Ankunft des Leichenzuges entdeckt und des Totengräbers Leiter hinuntergereicht hatte, sodass sie auf diese Weise dem Hades entrinnen konnte.

Domácí péče läßt offen, wie die Krankheit von Vlasta verläuft, sie wird nicht weiter thematisiert. Das mag der Bezeichnung Komödie geschuldet sein, doch tatsächlich nickt der Filmbeobachter zustimmend, da er die wohl ernst gemeinte Botschaft verstanden zu haben meint: Die sogenannt aufklärerische Moderne ist noch nicht unbedingt überall angekommen außerhalb der Metropolen, hier im abgelegenen Dunstkreis der zweitgrößten tschechischen Stadt Brünn, der in Home Care durchaus die nicht allzu weite Ferne zum Balkan andeutet. Doch es bleibt die Frage, ob es sich in der Nähe irgendeines anderen Ballungszentrums der großen Vereinigung Europa wirklich so anders, tatsächlich soviel aufgeklärter verhält. Daran dürften Zweifel angemeldet werden, solange unter Aufklärung in der Regel nichts anderes verstanden wird als das Verstehen von technischen, maschinellen Abläufen zur Verbesserung, zur Beschleunigung von arbeitstechnischen Vorgängen zugunsten nicht nur weltweit agierender Konzerne, und dabei vor allem die Nähe der Menschen zueinander, nicht zu vergessen die körperliche, zusehends in die Vergessenheit ge- oder genauer: verdrängt wird. Das einander wärmende Miteinander, das scheint noch immer das beste Heilmittel gleichermaßen für Körper und Geist zu sein. Und gäbe es bei all dem Ernst des Alltags noch soviel zu schmunzeln oder gar zu lachen. Wie in diesem gelungenen Spielfilmerstling des 1975 geborenen Slávek Horák.


Home Care/Domácí péče
Buch: Slávek Horák
Kamera: Jan Šťastný
Sound: Vladimír Barák
Musik: Peter Surový, Juraj Baláž
Darsteller: Alena Mihulová, Boleslav Polívka, Tatiana Vilhelmová, Zuzana Kronerová, Sara Venclovská
Produzent: Slávek Horák
92 Minuten


Zuerst veröffentlicht am 29. Oktober 2015 unter der nicht vom Autor stammenden Überschrift Über Frösche und Menschen in Titel – Kulturmagazin.

Jade Shahriyar

 

 

 

Das 1952 gegründete und zweitälteste deutsche Filmfestival Mannheim-Heidelberg zeichnet sich durch eine Besonderheit aus:

»Ausgeschlossen werden Filme, die auf folgenden Festivals zu sehen sind:
• Cannes (Wettbewerb, Semaine de la Critique, Quinzaine des Réalisateurs, Un Certain Regard)
• Venedig (Wettbewerb)
• Locarno (Wettbewerb)
• Berlinale
• und allen anderen deutschen Filmfestivals.«

Das bewahrt den Filmbeobachter vor dem, das ohnehin durch die Medien gehechelt wird.
Zudem dürfen in Mannheim-Heidelberg am Wettbewerb ausschließlich Regisseure teilnehmen, die allenfalls in ihrem Heimatland bekannt sind und noch nicht über ein internationales Renommée verfügen. Aus über tausend Einreichungen wählt das Festival jährlich nur 30 bis 40 Filme von neuen Autoren aus – gezeigt werden im Wettbewerbsbereich also tatsächliche internationale Erstaufführungen. Darunter befinden sich Filme, die es mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht einmal in Kinos außerhalb ihres Landes schaffen werden, ja möglicherweise nicht einmal ins spätnächtliche Filmkunstfernsehen des Auslands.

Wobei auch hier noch einmal darauf hingewiesen sein mag, wie außerordentlich doch der Unterschied zwischen einer Kinoleinwand und dem selbst größtformatigen Bildschirm ist. Zweifelsohne sind die technischen Möglichkeiten von Fernsehproduktionen enorm angestiegen, doch in dem eher überkommenen Blickwinkel des Filmbeobachters funktionieren für das Kino entwickelte bewegte Bilder nun mal völlig anders als diejenigen, bei deren Produktion bereits an den Bildschirm gedacht wird. Der Tatsache, dass in Mannheim-Heidelberg dieses Jahr zum ersten Mal auch ein Wettbewerb für Fernsehserien veranstaltet wurde, hat beim Filmbeobachter nicht unbedingt Begeisterung hervorgerufen; er will es jedoch hier nicht weiter thematisieren, es benötigte gesonderten Raum.


Bei Road to Shahriyar, im Original Jade Shahriyar, dem Erstling des 1975 geborenen Iraners Vahid Qazimirsaeid, handelt es sich um eine dieser bemerkenswerten für die Leinwand bestimmten Raritäten, die auf dem Fernsehbildschirm an Reiz verlieren dürften, da die dunstig-flirrende Atmosphäre einer wüstenähnlichen Landschaft nur auf der Kinoleinwand zur Wirkung kommen kann, und um so mehr ist dem Filmfestival Mannheim-Heidelberg zu danken, dass es derartiges Kino ins Programm aufnimmt.

Bei Jade Shahriyar handelt es sich um ein vermutlich aus dem Alltag herausfallendes Szenarium eines Landes, das sich der westlichen Welt gegenüber abgeschottet hat. Zwar dringen immer wieder mal Informationsfetzen von einem tatsächlich, zumindest in der Metropole Teheran stattfindenden regen kulturellen Treiben nach außen, doch es bleibt im Allgemeinen nicht mehr als ein Ahnen und Vermuten.

Der Iran hat sich, als 1979 der Monarch von Persien, Mohammad Reza Schah Pahlavi, 1965 vom iranischen Parlament für sein Engagement gegen den Analphabetismus mit dem Titel Aryamehr (Sonne der Arier) ausgezeichnet, der den Klerus als eines der Haupthindernisse auf dem Weg des Irans in die Moderne bezeichnete, außer Landes gejagt und durch den aus dem Pariser Exil zurückgekehrten Ruhollah Musawi, bekannter wohl unter Ajatollah Chomeini, zu einem islamischen Gottestaat revolutioniert worden war – es ist fraglich, ob allen Zuschauern der schriftliche Einschub ›Im Namen Gottes‹ im Vorspann aufgefallen sein dürfte –, dieses Land hat sich trotz, vermutlich wirtschaftlich begründeter, leichter Öffnung derart verändert, dass dem durchschnittlichen Mitteleuropäer, selbst dem, der die Ereignisse vor dieser Revolution in Erinnerung hat, lediglich der Versuch der Annäherung zu diesem Film gelingen kann, sind doch die kulturellen Unterschiede insgesamt zu elementar.

Jade Shahriyar lässt sich also nicht aus der hiesigen kulturellen Perspektive betrachten. Dennoch geschieht es, wie ein abschließendes Gespräch des Regisseurs Vahid Qazimirsaeid mit den Zuschauern hörbar machte. So gab es unter anderem scheinbar ›feministische‹ Einwände wie die, die Hauptdarstellerin (Baharan Baniahmadi) käme »als Frau zu schlecht weg«. Und Fragen wie diejenige, ob es sich bei dem während des Films ausgiebig in Anspruch genommenen ›Smartphone‹ um eines der Marke Apple gehandelt habe, trugen beim Filmbeobachter erheblich zur Irritation bei bzw. unterstrichen die Problematik westlich geprägter Sichtweisen auf andere Kulturen; die aktuelle Debatte um Flüchtlinge zwängt sich in die offensichtliche Verwunderung darüber, daß die aus dem Süden und Osten nach Europa Drängenden über solche technischen und augenscheinlich luxuriösen Mittel verfügten …

Vahid Qazimirsaeid hat zumindest vordergründig keinen politischen Film geschaffen. Innerhalb des Gespräches wurde gar der Begriff Komödie erwähnt. Und das erwiese sich, versuchte man die Position einer heutigen iranischen Mentalität einzunehmen, als durchaus vorstellbar, hat dieses Szenarium an der Straße nach Shahriyar doch tatsächlich einen komischen Grundton. Die für iranische Verhältnisse modern wirkende, sportliche – es stellt sich tatsächlich im zweiten Drittel des Films heraus, dass es sich bei ihr um eine Basketballspielerin handelt – junge Frau vornamens Niloufar begibt sich mit dem Kleinwagen ihres Bruders sozusagen auf eine Schicksalsreise; wobei bereits der Begriff Schicksal sicherlich einer wesentlich anderen kulturellen Bedeutung zugeordnet werden muss als in den hiesigen Breiten, in denen Irrationalitäten wie diese allenfalls belächelt oder karikiert werden, weil sie bedeutungsleer geworden sind.

Niloufar befindet sich auf dem Weg nach Teheran, der iranischen Hauptstadt und wuselnden Metropole, in der eine Internet-Bekanntschaft lebt, ein Mann, den sie nach ausgiebiger Korrespondenz nun persönlich kennenlernen möchte und dem sie ihr Kommen angekündigt hat. Die junge Frau trägt zwar den vorgeschriebenen Hidschāb, jedoch nicht den den gesamten weiblichen Körper unscheinbar bis unkenntlich machenden Tschador. Dieses im Land übliche Kopftuch verbirgt bei ihr allerdings nicht das gesamte Gesicht, sondern zeigt auch ihr Haar, ist zudem von einer schmückenden Spange gehalten. Überhaupt ist sie für provinzielle iranische Verhältnisse vermutlich eher modern, zumindest farbig ansprechend gekleidet, mit Jeans und Turnschuhen unter einem leichten Kleid, diese allem Anschein nach ausgesprochen selbstbewusste junge Frau. Als Hinweis darauf mag gelten, dass Niloufar sich bereits zu Beginn des Films mit einem tumben Tankwart anlegt, der, wie offenbar landesüblich, sie betrügt, weil das Weib, da es als minderwertiger gilt, als selbst der weitaus weniger intelligente Mann, nun einmal betrogen werden kann oder zumindest darf.

Und richtig, es handelt sich um diese Filmthematik: Es geht um die Rolle der Männer. Es geschieht in einer Weise, die letztlich dann doch wieder Assoziationen zu Verhaltensweisen zulassen, die auch hierzulande bekannt sind.

Vor dem einen Mann, zu dem sie unterwegs ist, warnt sie in einem die ersten zehn Filmminuten, überhaupt während der gesamten Fahrt offenbar nicht enden wollenden Telefonat eine tratschsüchtige Freundin, die nicht unbedingt den Verdacht aufkommen lässt, sie könnte Unabhängigkeit anstreben, auch nicht die vom anderen Geschlecht. Niloufar sei verrückt, wegen dieses einen Kerls, den sie nicht einmal kenne, eine so beschwerliche Reise anzutreten, und dann noch allein, zudem behindert (oder auch wehrlos?) durch einen vergipsten Arm. Männer seien ohnehin alle gleich und nicht wert, dass man sich um sie bemühe.

Bei dem nächsten Mann nach dem betrügerisch agierenden Tankwart, dem sie begegnet, handelt es sich um einen am Rand der Autobahn stehenden, den sie nach dem Weg nach Shahriyar – übrigens ein männlicher iranischer Vorname, der ›großer König‹ bedeutet und der in den persischen Erzählungen von 1001 Nacht vorkommt – , hier allerdings vermutlich ein Vorort, eine Vorstadt von Teheran vielleicht, wo ihr Chat-Partner lebt. Der Auskunftgebende bietet ihr zwei Wegemöglichkeiten an, eine längere sowie eine kürzere, jedoch schwieriger zu findende und auch zu befahrende, sehr schlechte Straße, auf der, worauf er sie ausdrücklich hinweist, nur sehr wenige Autos, mithin Menschen unterwegs seien. Sie entscheidet sich für den scheinbar rascheren, metaphorisch vielleicht ›direkteren, geraderen‹ Weg und gerät auf eine völlig abgelegene Schotterstraße inmitten eines wüstenartigen, wenn auch von schier unendlichen, monokulturellen Maisfeldern gesäumten Gebietes, entlang einer Bahnstrecke, auf der alle paar Minuten Züge lautstark vorbeidonnern. Sichtbar guter Dinge, allenfalls ein wenig genervt von der Freundin, die sie wegen Belanglosigkeiten immer wieder anruft, fährt sie langsam ihrem Ziel entgegen. Die Fahrt endet mit einem Halt, den sie einlegen muss, da sie ein ungewohntes Geräusch wahrnimmt. Der Reifen des linken Hinterrades ist platt.
Sie möchte den Reifen wechseln, doch da sie durch den vergipsten linken Unterarm behindert ist, scheitert sie bereits beim Versuch, die Radkappenblende abzunehmen. Sie bleibt dennoch gelassen und setzt sich, dessen harrend, was auf sie zukommt, eher, was vorbeikommt. Es dauert auch nicht allzu lange, bis ein Wagen anhält, ein gut aussehender Mittdreißiger auf der Beifahrerseite aus dem Auto steigt und ihr seine Hilfe anbietet. Er fragt nach dem Ersatzreifen, gibt jedoch rasch wieder auf mit der Begründung, in dem sehr unaufgeräumten Kofferraum den Schlüssel für die Radmuttern nicht gefunden zu haben. Es handelt sich ohnehin offensichtlich um eine Finte, denn er bietet der attraktiven Niloufar bald an, sie in seinem Wagen mitzunehmen, der übrigens, wie sich am Ende dieser Szene herausstellt, von einer Frau gesteuert wird. Doch er scheint Anzüglichkeiten abgesondert zu haben, worauf Niloufar den Wagen der gehobenen Mittelklasse eines offenbar von Einheimischen bevorzugten südkoreanischen Herstellers, in dessen Fond sie bereits Platz genommen hatte, wieder verlässt und sich wieder in den von ihrem Bruder ausgeliehenen Kleinwagen aus einheimischer Produktion zurückzieht.

Die nächste Begegnung in ihrer schicksalhaften Reihung von Männern ist ein Mann um die fünfzig, der auf der Fahrerseite aus seinem Auto aussteigt, um eine Zigarette zu rauchen. Unmittelbar darauf entsteigt der Beifahrerseite eine Frau, die immer lauter werdend auf ihn einredet, bis er schimpfend über die Bahngeleise in die Steppe entweicht, ihr zuruft, er wolle sie nicht mehr sehen, möge sie sterben, und schließlich allein wegfährt. Niloufar bemüht sich rührend um die Verlassene, die im Lauf des Gesprächs allerdings ihren Ehemann in Schutz, alle Schuld auf sich nimmt und dann zu Fuß entschwindet.

Bei dem nächsten Mann auf Niloufars mit Männern gesteinigtem Schicksalspfad handelt es sich um einen Geistlichen. Dessen Hilfsbereitschaft überzeugt sie, er packt auch sofort fachmännisch an, erzählt dabei nebenher, er habe als Junge mit seinem Bruder um die Wette Reifen gewechselt, das Gespräch entwickelt sich dann allerdings thematisch hin zur Rolle der Frau in der Gesellschaft, in der sie einmal mehr keine Wertschätzung erfährt, worauf Niloufar dem Fond ihres Autos einen schwarzen Tschador entnimmt und sich den über Kopf und Körper legt. Der Mullah referiert neben der Tätigkeit des Reifenwechsels unter anderem über die Unterschiede zwischen der weißen und schwarzen Färbung dieses islamischen Bekleidungsstücks für Frauen, der der Filmbeoachter wegen mangelnder Kenntnis iranisch-schiitischer Koran-Auslegungen nicht folgen konnte, aus der er allerdings, nicht zuletzt aufgrund der Erwähnung von Hosen tragenden Frauen, schloss, wie gering der Prediger diese schätze. Niloufars Anmerkung, seinetwegen, aus Respekt vor seiner Würde habe sie den Tschador umgelegt, ihr Vater hingegen zwänge sie nicht zum Tragen dieses ausschließlich für Frauen bestimmten Überwurfs, der von nichtislamischen Aufklärerinnen der scheinbar religionsfreien westlichen Welt auch schon mal als »Häftlingskleidung« bezeichnet wird, wischt der Mullah ohne weitere Begründung weg.

Wiederum nähert sich ein Auto, dieses Mal eines mit einer Ladefläche, dessen Fahrer ebenfalls seine Hilfe anbietet, zumal er den Prediger näher zu kennen scheint. Die beiden Männer handeln die endliche Hilfe beiläufig unter sich aus, der zwar mit einem kuttenartigen Gewand, dennoch leger gekleidete Geistliche steckt dem anderen Geld zu und entfernt sich anschließend. Die nun folgende Auseinandersetzung zwischen beiden am Ort Verbliebenen endet für die Frau erneut erniedrigend, zumal sich herausstellt, dass auch der Ersatzreifen platt ist, und der Reparateur meint, das sei einmal mehr ein Beleg dafür, wie lebensunfähig Frauen seien: Nicht nur allein im Auto, vor allem ohne Mann losfahren, und dann noch nicht einmal ein intaktes Reserverad mit sich führen. So entfernt sich auch dieser Mann vom Schicksalspfad der jungen Schönen.

Zwischendrin hatte sie es auf Empfehlung der Freundin mit einem Pannendienst versucht. Den erreichte sie zwar telefonisch, doch am anderen Ende dieser langen Leitung bedeutete man ihr, der Besitzer des Automobils habe anwesend zu sein, ihr könne man nicht helfen. Es scheint offensichtlich die unabhängige Frau zu sein, der Mann nicht helfen möchte.
Immer wieder hatte sie zwischenzeitlich auch versucht, das Ziel ihrer Reise, den Chatter aus dem Internet zu erreichen, auch ihn um Hilfe gebeten. Doch der ging nie ans Telefon.

Sie nimmt schließlich nach Einsetzen der Dämmerung den Rucksack mit ihrer Habe und macht sich zu Fuß auf, ohne zu wissen, wohin dieser staubige und steinige Schicksalspfad hinführt. Nach einigen Metern des Wegs hört sie ein Motorrad heranfahren. Der Pilot hält an, nimmt den Helm ab, und sie schaut in das Gesicht eines sympathischen gut aussehenden Anfangsvierzigers, zu dem sie auch sofort Vertrauen zu entwickeln scheint. Auch er bietet ihr Hilfe an. Während sie zum Auto zurückkehrt, sieht sie, wie sich ihr vorausgefahrener Helfer in dem zu schaffen macht. Wütend protestierend eilt sie hinzu, doch der Mann schlägt sie ins Gesicht, reißt ihr das Gepäck vom Leib und verschwindet.

Erneut ruft sie voller Schmerz ihren Sehnsuchts-Chatter an, klagt dem, auf dessen Anrufbeantworter, ihr Leid, schilt in gar einen Feigling, schließlich sei sie vergewaltigt worden.
Hierbei geriet der der persischen Sprache nicht mächtigen Filmbeobachter in arge Irritation; auch die untertitelnden Übersetzungen brachten keine Klärung: Vergewaltigung? Bedeutet in dieser iranisch-islamischen Kultur das reine Antun von Gewalt das Gleiche? Auch die kleine, überwiegend aus Frauen bestehende Gesprächsrunde nach Ende des Films erbrachte keine Antwort auf diese Frage; wie überhaupt einiges offenblieb.

Rätselhaft blieb auch der Schluss des Films. Die völlig erschöpfte, wegen des Faustschlags aus der Nase blutende Niloufar hatte sich auf den Fahrersitz gesetzt und war eingeschlafen, als ein Mann an die Scheibe klopft, dessen Gesicht beim Filmbeobachter die Assoziation zum Down-Syndrom hervorrief. Im Scheinwerferlicht sichtbar zündet der einen offenbar zuvor zusammengesuchten Holzstoß zu einem Lagerfeuer an, breitet behutsam zwei Teppiche aus, stellt einen für hiesige Verhältnisse seltsam altertümlich erscheinenden Kassettenrekorder auf und eine Kanne mit Tee hin, legt ein Band mit schwierig zu identifizierender Musik ein und wartet. Sie kommt, er reicht ihr eine Tasse – und schweigt. So sehr sie sich auch bemüht, ihn zum Reden zu bewegen – er schweigt. Es ist offensichtlich, dass er sie versteht. Er schweigt dennoch stoisch. Nach einiger Zeit steht er auf, wechselt das defekte linke Hinterrad, einen intakten Reifen auf Felge hat er mitgebracht, und fährt anschließend weg. Enttäuscht setzt Niloufar sich wieder ins Auto, fährt los, um ihre Reise zum Ziel fortzusetzen oder wieder zurückzukehren, das bleibt offen, als relativ kurz danach ein Signalton eine Kurzmitteilung ankündigt. Ihr ist zu entnehmen, ihrer beider Gespräche seien sehr angenehm, schön gewesen, doch der Satz endet mit »aber …«.

In der abschließenden kleinen Gesprächsrunde wurde ebenfalls darüber gerätselt, um wen es sich bei dieser Erscheinung gehandelt haben konnte. Eine der Damen führte an, es sei seitens des Regisseurs Vahid Qazimirsaeid, wenn auch zurückhaltend, aber mit einem bejahenden Nicken bestätigt worden: Es habe sich um den Chat-Partner gehandelt, dessen Gesicht während der Kurzmitteilung auf dem Display kurz gezeigt worden war, und zwar dargestellt als ein gut aussehender Mittdreißiger. Nach reiflicher Überlegung stimmt der Filmbeobachter dieser Betrachtungsweise zu, erscheint ihm dieser Schluss doch von durchaus konsequenter Logik.

Über die Beendigung der zuvor aufkeimenden Beziehung durch den Mann lassen sich allerdings nur Mutmaßungen anstellen: Hat Niloufar seine Erwartungen nicht erfüllt oder befürchtet er, die ihren nicht erfüllen zu können, sieht er allein aufgrund allzu elementarer Unterschiede in den Äußerlichkeiten beider keine Möglichkeit, zueinanderzufinden? Festzuhalten ist jedenfalls, dass es sich bei ihm um einen höchst liebevollen Menschen handelt, der sich ihr aufmerk- und sorgsam genähert hat. Deutlich bleibt: In Niloufar ist die Illusion von einer Partnerschaft wie eine Seifenblase zerplatzt. Möglicherweise wird sie keine weiteren derartigen Versuche mehr unternehmen.

Das Bestechende ist, wie sehr sich die eigentlich kulturell absolut voneinander abweichenden Denkweisen einander annähern: da die eine, die sich in ihrer religiös bestimmten, diktatorischen Verordnung völlig abgeschottet hat gegenüber der anderen, die sich als demokratisch und von Vernunft bestimmt geriert. Doch diese Vernunft, die nach ihrer Geburt im ›Siècle des Lumières‹, dem Zeitalter der Lichter, der Aufklärung im Vorfeld der Französischen Revolution – die im übrigen in England, Portugal und Spanien ihre Anfänge nahm und die überdies weit über die Kritik an Religion und monarchischer Macht hinausging, genauer, die tief in Bereiche des Alltags hineinleuchtete, etwa in der von Denis Diderot und Jean-Baptiste le Rond d’Alembert herausgegebenen, zwischen 1751 und 1780 erschienenen Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (Enzyklopädie oder ein durchdachtes Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Handwerke), zumindest den des Lesens Fähigen alles erdenkliche Wissen (heutzutage) scheinbar belangloser Art vermittelte; aus heutiger Sicht wäre das beispielsweise die Benutzungsanleitung eines Computers oder Smartphones oder auch eine zum Reifenwechsel –, dieser Begriff Vernunft hat sich mittlerweile zu einem Sprachgebilde entwickelt, das gesellschaftskritische, philosophisch-geisteswissenschaftliche Töne, allem Anschein nach über curriculare Systeme politisch gesteuert, ausblendet und nur noch technische, naturwissenschaftliche, Effizienzen berechnende Ellen anzulegen bereit ist und in dem das Menschliche an sich immer weniger Erörterung findet.

Im Iran finden sich aus religiös-ideologischen Gründen kaum Möglichkeiten, schon gar nicht für Frauen, selbstständig einen Partner zu finden. In konsumistisch-kapitalistisch orientierten – in christlichen Ländern ist mit dem Begriff ›Orientierung‹ häufig auch die Suche nach Gott gemeint; ex oriente lux: Aus dem Osten kommt das Licht – ist man aus Gründen zunehmend mangelnder Freizeit dazu übergegangen, das Internet, überwiegend via Smartphone, als Partnerschaftsbörse zu nutzen. Und so, wie sich in unseren ideologischen Breiten kaum mehr jemand um die sogenannte Privatsphäre schert, also nahezu jeder Mann und jede Frau seine Daten preisgibt, scheint es offensichtlich, wie sinnvoll es für etwa den iranischen Staat sein dürfte, diese Preisgabe zu fördern. Die zunehmende, immer rigider werdende Forderung des sogenannten sozialen Netzwerkes Facebook, ein verschiedene, vor allem aber die US-amerikanischen Geheimdienste belieferndes privates Aktienunternehmen, nach ›Echtnamen‹ drängt sich dabei auf. Hier dürfte sich auch dem Mullah-Staat ein ergiebiges Feld für das Einsammeln aller erdenklicher Daten aufgetan haben. Es ist davon auszugehen, dass dies mit ein Grund dafür sein dürfte, dass diese Kommunikationstechnik quasi nachhaltig gefördert wird. So lassen sich auch die Wege der Frauen ohne Weiteres kontrollieren; die verheirateten haben nach iranisch-islamischen Werten ohnehin zu Hause beim Ehemann zu bleiben und die Öffentlichkeit, vor allem aber fremde Männer zu meiden.

In einer Metropole wie Teheran verhält sich das nach Kenntnis des Filmbeobachters anders, dort lässt man die jüngeren Menschen gleich welchen Alters im wesentlichen gewähren, solange sie die Ideologie nicht gefährden, in der Provinz hingegen, wo die Überwachung den Sittenwächtern ohnehin leichter fällt, dürfte die Freiheit weit weniger grenzenlos sein. Also nimmt eine junge Frau wie Niloufar den Weg moderner Technik, wenn sie dabei auch auf einen recht holprigen Pfad der Erkenntnis gerät, den nämlich, dass die Sehnsucht nach Liebe immer auf einem Weg zu einem Nichtort namens Utopia lag und liegen wird.

Zudem darf nicht unbedingt als gesichert gelten, dass in Gegenden sogenannt religionsfreier, vernunftorientierter Gesellschaften die Rollen der Männer sich so erheblich von denen unterscheiden, die Vahid Qazimirsaeid in ›Road to Shahriyar‹, in dessen Weg ins iranische (N)Irgendwo schildert. Und dabei denkt der Filmbeobachter nicht unbedingt an die vielen jungen Männer, die zurzeit in Mitteleuropa ankommen. Man lausche mal den Gesprächen an einem deutschen, französischen, niederländischen oder sonst wo gelegenen Stammtisch; er muß sich keineswegs in einem Dorf befinden. Während des Zuhörens kann sich im Kopfkino durchaus ein Film davon herausbilden, wie es auf der Straße nach ›Shahriyar‹ zugehen mag.


Jade Shahriyar
Regie/Buch: Vahid Qazimirsaeid
Musik: Music Mohamad Jafari
Darsteller: Baharan Baniahmadi, Farzin Mohades, Sohibanoo Zolghadr, Rahim Shahmoradkhani, Farid Ghoubadi
75 Minuten


Zuerst veröffentlicht am 29. Oktober 2015 unter der nicht vom Autor stammenden Überschrift Auf dem recht holprigen Pfad der Erkenntnis in Titel – Kulturmagazin.

 

Celui qu’on attendait

 

 

»Was ist dieses ›Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg‹ eigentlich? Und zwar unter den über tausend
internationalen Filmfestivals, die es gibt auf der Welt, Hundert davon allein in Deutschland oder in Frankreich,
Italien hat auch nicht eben wenige, Asien gründet sie im Jahrestakt. Wobei das Schöne daran ist: sie wollen alle
dieselben Filme haben, nämlich die, die gerade fertig geworden und besonders gut gelungen sind.

Immer alle Tausend Festivals dieselben 100 Filme. Ich erinnere mich noch, wie ich nach zwei, drei Jahren meiner
Amtsführung zumindest dies begriffen hatte: dass das keinen Spaß macht, nur mit größtem Hauen und Stechen
diese Filme nach Mannheim-Heidelberg holen zu können, wo es doch, sagen wir, beim Filmfestival von Locarno
einen schönen See gibt, bei dem von Thessaloniki gleich ein ganzes Meer, beim Festival von Sundance Robert
Redford um die Ecke wohnt und Stockholm auch eine schöne Stadt ist – um nur die harmlosen der
Konkurrenzfestivals zu nennen.

Nein, dachten wir, so geht das nicht, und erfanden, sozusagen mit deutscher Gründlichkeit, die weltweite
Recherche, bei der wir wie mit einem riesigen Kamm, in dem wirklich alle Filme von Newcomer-Regisseuren
hängen bleiben, durch die weltweite Jahresproduktion gehen und dabei eben auch die Filme erwischen, die die
anderen gar nicht im Blick haben, weil man doch noch gar nichts von ihnen gehört hatte. Und mit dieser Methode
arbeiten wir bis heute: erfassen jährlich etwa 8.000 Filmtitel von Newcomern in unserer Datei, schauen uns gut
1.000 davon an, nach dem Einsammeln unzähliger Tipps und Hinweise, haben schließlich etwa 150 Filme in der
Endrunde.« (Michael Kötz)

 

Der Filmbeobachter war wieder dort. Nicht in Heidelberg, nicht zur Eröffnungsrede. Er hat sich an den Ursprungsort des 1952 dort gegründeten Festivals begeben: nach Mannheim. Als erstes hat er sich einen Film angeschaut, der in Frankreichs zwar bereits seit einigen Monaten in den Kinos gezeigt wird, aber er geht schließlich nur noch in Mannheim ins Kino. Und es handelt sich um einen Film, mit dessen Thematik er seit etwa zwei Jahrzehnten befaßt ist: Armenien.

 

Celui qu’on attendait/Lost in Armenia

Ein Film von Serge Avedikian


Die in Musa Ler, so stand es 2011 in der Wochenzeitung Freitag geschrieben, im offiziell letzten armenischen Dorf in der Türkei geborenen Ayda Abgaryan, erzählte:

 

»Sehr schwierig ist das, in Deutschland als Armenier zu leben, gerade in Berlin. Ich bin hier zur Schule gegangen, ich habe sehr viele türkische Klassenkameraden gehabt. Während des Studiums war ich sehr viel mit Türken zusammen … Es ist für mich immer wieder die gleiche Frage: ›Bist du Armenierin? Oh Gott!‹« (Freitag)

 

In Frankreich ist die Situation eine völlig andere. Dort sind die Armenier Franzosen. Rund 60.000 Überlebende nahm Frankreich nach 1920 auf, als es der Türkei nicht gelungen war, sie alle dahinzuraffen; insgesamt waren es anderthalb Millionen Menschen. In einem viele Jahre andauernden Kraftakt, dem enorme Auseinandersetzungen vorausgingen, nicht zuletzt deshalb, da zwischen Frankreich und der Türkei der höchste Warenverkehr zumindest europa-, wenn nicht gar weltweit stattfand, erkannte die französische Nationalversammlung im Januar 2001 per Gesetz die Massaker am armenischen Volk als Völkermord an (vom unlängst getroffenen Beschluß der Resolution des deutschen Bundestags hört oder liest man kaum noch etwas. (Tagesschau)

 

Eve-Anna Khachikian, zu diesem Zeitpunkt neun Jahre alt:

»Wir standen damals alle vor dem Senat und harrten der Abstimmung der Politiker. Es war die größte armenische Kundgebung, die ich in Frankreich je gesehen habe. Viele alte Frauen weinten. Uns allen ging das sehr ans Herz. Denn Frankreich hat ja nach den Massakern die Überlebenden aufgenommen, hat ihnen ermöglicht, im Leben voranzukommen, ihre Kinder gut ausbilden zu lassen. Unsere Großeltern waren vielleicht noch Schuster oder Änderungsschneider. Wir nun studieren, Journalismus oder auch Kunst wie ich. Wir sind der lebende Beweis für den sozialen Aufstieg.«(DeutschlandRadio Kultur)

 

Verstreut sind sie in die ganze Welt. Einige Namen seien genannt: Aram Khachaturian, der Komponist, der Schriftsteller William Saroyan, der Künstler Arshile Gorky, Cherylin Sarkissian, der weibliche Part von Sonny and Cher (I got you Babe)(5), der milliardenschwere Investor Kirk Kerkorian, Artem Mikoyan, Konstrukteur des russischen Kampfflugzeuges MIG, der Tennisspieler Andre Agassi, Jouri Djorkaeff, der in Kaiserslauterns Bundesligamannschaft Fußball spielte.

In Frankreich sind, bedingt durch die erwähnte Aufnahme ins Land, nicht minder bekannte Namen zuhause, von denen allerdings einige zumindest namentlich ihre Identität verändert haben; und sei es, um schriftlich identifiziert werden zu können; in Frankreich tut man sich manchmal schwer mit fremden Buchstabenfolgen.

Henri Verneuil hieß ursprünglich Achod Malakian. Die Mutter des Formel 1-Rennfahrers Alain Prost war Marie-Rose Karatchian. Aus dem Schuhfabrikanten Stéphane Kéloglanian wurde Stéphane Kelian. Der in Deutschland am bekanntesten armenischstämmige Franzose dürfte wohl Charles Aznavour sein: ursprünglich Aznavurian, auch Šahnowr Vałinak Aznavowryan.

Im Film des 1955 in Eriwan geborenen und 1970 nach Frankreich gekommenen Serge Avedikian wird der Hinweis auf Aznavurian lediglich einmal kurz erwähnt, als es in einer Szene darum geht, wieviele Armenier doch Berühmtheiten geworden seien. In Frankreich ist das Alltagswissen. In einer nachdenklich stimmenden Passage innerhalb dieser Komödie, die, wie meistens bei einer qualitativ hochstehenden, einen sehr ernsten Hintergrund hat, einem Gespräch zwischen Tzarkanoush (Arsinée Khanjian), einer Professorin für französische Literatur an der Universität Eriwan, die hin und wieder der Polizei behilflich ist – »Bei uns in Frankreich täte das niemand.« – , und dem in Armenien Verlorenen (Patrick Chesnais) kommt zur Sprache, jeder Armenier habe jemanden in Frankreich, der kommen und ihn retten werde. Jeder habe einen Bolzekian. Es handelt sich bei dieser Namensvariante, erläutert ihm die süße Blüte Tzarkanoush, um das Traumgespinst eines jeden Armeniers, das nun in seiner Person aus dem heiligen Land aufgetaucht sei.

Eigentlich heißt er John Paul Bolzec, stammt aus Grenoble und ist Komiker eher schlichterer theatralischer Fähigkeiten (im Gegensatz zu denen des ungemein still-komischen Hauptdarstellers Patrick Chesnais). In Aserbaidschan fand er, anscheinend gerade noch, ein überdies nicht einmal sonderlich gut honoriertes Engagement, von dem ihm seine Frau abgeraten hat, es anzunehmen. Doch nach 25 Jahren Ehe hört man häufig einander nicht mehr so gut zu. Auf dem Rückweg nach Baku, zum Flughafen der Hauptstadt Aserbeidschans, von dem er wieder nach Paris zurückfliegen möchte, wird das Taxi von armenischen Heckenschützen beschossen, dessen Fahrer verständlicherweise daraufhin die Flucht ergreift. (Aserbaidschan und Armenien befinden sich nach wie vor im unausgeschriebenen Krieg, hin und wieder kommt es zu Gefechten.) Der Komödiant macht sich zwangsläufig zu Fuß auf, in der Hoffnung, doch noch zum Flughafen zu gelangen. Ohne es zu merken überschreitet er die Grenze nach Armenien. Als er auf den ersten Menschen trifft in dieser gebirgigen Wüstenei des Kaukasus [1]; nein, es ist kein Film über das wunderschöne Armenien – beim abschließenden Gespräch mit Serge Avedikian und Patrick Chesnais meinte eine Dame aus dem Auditorium, sie habe, als sie vergangenes Jahr durchs Land gereist sei, sehr viel schönere Bilder gesehen –, sitzt der auf einem Maultier und redet in einer Bolzec unverständlichen Sprache auf ihn ein. In der Hoffnung, von dem kaukasischen Eselsritter Hilfe, also Transportmittel zu erlangen, hält er ihm ein Bündel Geld hin. Der Beschenkte bricht daraufhin in ein tobendes Geschrei aus und ergreift wild davonreitend die Flucht. Der nicht nur über die politischen Verhältnisse nicht so recht informierte Komödiant aus Frankreich hatte ihm Geld aus dem Feindesland Aserbeidschan in die Hand gedrückt. Als Spion wird er schließlich abgeführt und sistiert.

Nach einer Weile in einem äußerst schmucklosen, gefängnisartigen Gebäude kommt Bolzec wieder frei, man entschuldigt sich. Flugs wird er Erlöser, wird Bolzekian, Stifter in einem elendiglichen Dorf – gedreht wurde auf 2000 Metern Höhe, im hohen Norden, völlig entgegengesetzt von der Metropole Eriwan, fünf Kilometer von einem von 300 Soldaten bewachten Grenzübergang nach Aserbeidschan, unweit von Georgien. Dieses Dorf ist im Grunde ohne Elektrizität, genauer: über deren Ge- und Verbrauch gebietet eine Art Land- oder Dorflord, ein Überbleibsel aus der Zeit Armeniens als Teil der Sowjetunion, ein eigentlich guter Mensch, wie Serge Avedikian im Abschlußgespräch andeutete.

Er wird Held wider Willen einer urbanen Legende, wie ihm die schöne Frau Professor, die Dometscherin aus Eriwan, zu verdeutlichen versucht. Bolzec ließe sich durchaus auch als in den Kaukasus geratener Candide bezeichnen. Als Hilf- und Ahnungsloser läßt er sich, auch hilflos in seiner Sprachlosigkeit, auf alles mögliche ein, Hauptsache, sie lassen ihm seine Ruhe. Immer dann, wenn er nickt beziehungsweise okay sagt, heißt das für die anderen ihn Umringenden und immerfort auf ihn Einredenden: er hat ja gesagt, er zahlt, den Strom, zunächst die Reparatur des völlig desolaten Generators. Um das umsetzen zu können, benötigt er Geld. Dazu befördert man den Messias aus Frankreich auf einem vermutlich während der Zeit der Gründung der Sowjetunion gefertigten Lastkraftwagen in ein fünfzig Kilometer entferntes etwas größeres Dorf. Zwar sieht Bolzec einen Hoffnungsschimmer, der in ihm eine Fahrt zum Flughafen aufflackern läßt, doch er findet sich schließlich in einer Filiale der Crédit Agricole wieder, des französischen Geldverwaltungsinstituts der Bauern, vergleichbar mit der deutschen Sparkasse ihres Gründers Raiffeisen. Aus diesem Gebäude versucht er zu fliehen, durch das Oberlicht einer Toilette, die einzige nicht vergitterte Öffnung des Hauses. Doch er entkommt ihnen nicht. Seine Begleiter und Beschützer nehmen sich seiner am Ausgang wieder an. Der Herr Direktor kredenzt reichlich (armenischen?) Cognac und kommt seinem Gast entgegen, der ihn um ein Gespräch unter vier Augen bittet. Sogleich ist er intensiv bemüht, seinen schwerreichen Gegenüber mit Investitionen zu beglücken und legt ihm diverse Prospekte vor. Der hat jedoch zunächst nichts als die schlichte Bitte, ihm am Computer mal zu zeigen, wo er sich hier eigentlich befindet.

Außerhalb der Chefetage geht es dann wieder ums Geld. Eine Rechnung legen sie ihm vor, auf der eine Summe mit ungeheuerlich vielen Nullen zu lesen ist. Diesen Betrag solle er zahlen, für Strom beziehungsweise die Reparatur des Generators. Die hübsche junge Schalterbeamtin spricht immerhin französisch. So stellt sich heraus, daß es sich bei der immensen Zahl um Dram handelt, die armenische Währung. Und sie rechnet rasch den vergleichsweise geringen Euro-Betrag aus: ein paar hundert sind es nur (100 armenische Dram aktuell = 0,1881 Euro). Ein gewaltiges Dram-Bündel kommt zusammen, das er nahezu erleichtert direkt an seine Begleiter weitergibt.

Der in Armenien gefangene Komödiant kommt, nachdem er einiges über sich ergehen lassen mußte – dorfjugendlicher Rap, mit bildungs- und gesellschaftstützenden (!) Texten, ständig auf Smartphones Selfies produzierende jungen Mädchen ohne Verbindung ins Internet, dazwischen dieselben in traditionellem Volkstanz; eine Art Abendmahl im Öllampenschein, da temporäre Stromsperre durch den Herrscher über das Dorf, der sich das Geschäft nicht aus der Hand nehmen lassen will von solch einem Ausländer, da mag er noch so Franzose sein; immer wieder die Versuche, mit der Gattin im heimatlichen Frankreich Kontakt aufnehmen zu können, doch sie geht nicht ans Telephon, hat ihn wahrscheinlich längst verloren gegeben in Armenien, deshalb jedesmal das Hinaufsteigenmüssen auf den Turm einer Kirche, die seit dem im Land bestehenden Christentum zu Beginn des 4. Jahrhunderts nicht mehr renoviert worden sein dürfte, weil es nur dort oben Empfang gibt –, aber er kommt so langsam zurecht in dieser anderen Welt. Man ist aber auch geradezu ungeheuerlich, zumindest ungewohnt freundlich und liebevoll ihm gegenüber. Er darf im Bett schlafen, während die restliche Gastgeberfamilie auf dem Boden liegt, der Dorfpriester, der den Filmbeobachter ein wenig an den deutschen Pater Lepsius aus Franz Werfels 1933 erschienenem, ungemein stoffreichen, die Tragödie Armeniens nachzeichnendem Roman Die vierzig Tages des Musa Dagh denken läßt, der dieses Volk zu retten sich bemühte, überhaupt die außerordentliche Gastfreundschaft, die sich laut Regisseur und Hauptdarsteller bis heute gehalten hat.

Auch ein Verhör durch die Polizei übersteht er nicht nur, wobei auch dabei ein in die Rocktasche des Kommissars gleitender geldgefüllter Umschlag eine Rolle spielt, sondern er sieht sich mittlerweile in einer Wilkommenssituation. Mehr, er bringt der ältereren Tochter seiner Gastgeber die richtige Gesangshaltung, Lippenformung und Stimmführung bei, auf daß die an einem Gesangswettbewerb teilnehme; lernt mit der jüngeren Französisch; studiert selbst die armenische Sprache, für die er sich eigens ein Wörterbuch zugelegt hat, einen in der Hosentasche beförderten Wust an Zetteln; beabsichtigt, Les aventures de Tintin, in Deutschland bekannt als Tim und Struppi, ins Armenische zu übersetzen; packt überhaupt überall mit an, gibt gleich einem erfahrenen Handwerksmeister dirigierende Anweisungen zum Verputzen, zum Streichen der Wände, überhaupt zum Verschönern der Welt. Mittels Bolzecs überzeugender, bühnenerfahrener Stimme sowie dramatischer Gestik hatte man zuvor sich bereits des Dorfdespoten entledigt.

Das Dorf ist frei, und mittendrin befindet sich der nun befreite Messias. Ihn drängt es überhaupt nicht mehr heim ins Land der Franken, über das ebenfalls im vierten Jahrhundert das Christentum kam und das bis heute geblieben ist, umringt von Muslimen, hier hat er sein ruhendes Ich gefunden, weitab dieser ganzen Kämpfe mit Ehefrau und denen der Zivilisation.

Doch dann taucht die schöne, kluge und weise Professorin mit einem Mal wieder auf, um in abzuholen, um ihn zum Aeroporte – den Patrick Chesnais zu Beginn seiner filmischen Gefangenschaft immer wieder verzweifelt gestisch mit wackelnden Armen darzustellen sich bemüht – abzuholen. Bolzec bittet um zwei Wochen Gnadenfrist. Sie wird ihm lächelnd, eher schmunzelnd gewährt. Doch exact nach Ablauf der Frist rollt das Automobil der Behörde unbarmherzig wieder hinein ins Dorf. Frau Professor, erneut in behördlicher Hilfestellung unterwegs, läßt bitten. Mit eindeutig vom Blick des Trauer erfüllt setzt sich Bolzec im Fond nieder, die längst zur Gesprächspartnerin und Freundin gewandelte Polizeiberaterin Tzarkanoush begibt sich dazu, alle winken von außen ihrem scheidenden, zum Freund gewandelten Messias traurig zu, und ab geht der Abschied.

Der Filmbeobachter hat die dann folgende Schlußszene allzu oft im Kino oft gesehen, daß er versucht war, auf ihre Erwähnung zu verzichten. Doch es handelte sich letztlich um ein irgendwie völlig anderes Ende als ansonsten, ist hier doch ein schlüssiger Bogen beschrieben. Wie eingangs von Celui qu’on attendait, von Lost oder verloren in Armenia , da wegen des zerschossenenen Motors ein schreckenverheißender Lärm erklang, den Grund erfährt der Zuschauer nicht, aber er ahnt es. Und da geht Bolzec, der ehemalige Komiker aus Grenoble, tatsächlich die Straße hinan in Richtung Dorf, aber eben nicht mehr als Bolzekian. Oder vielleicht dann doch. Mit diesem Namen? Ist aus dem schlechten Traum schöne Wirklichkeit geworden? Welche auch immer. Denn ab sofort ist er Armenier. Er ist frei, er ist ich. Nein, er ist nicht, wie leider im Film mit Je suis un autre [2] fälschlich suggeriert wird, nach Arthur Rimbaud ein anderer. Er ist ab sofort er selbst.

Robert Guédiguian hatte der Filmbeobachter eingangs zu erwähnen vergessen, auch er ein in Frankreich recht bekannter armenischstämmiger, großer Regisseur kleiner Filme. Dessen Produktionen schildern in der Regel das Milieu der einfachen, am unteren Ende der sozialen Leiter hängengebliebenen Leute; sein in Deutschland vermutlich bekanntester Film dürfte sein Marius et Jeannette. Guédiguians Filme wären sozusagen als Innenpolitik zu bezeichnen, die kaum ins Ausland dringt, weil ohnehin niemand die Franzosen versteht. Halt, ein Deutscher hat sie verstanden. Kurt Tucholsky schrieb in den Zwanzigern des vergangenen Jahrhunderts in seinen Schnipseln: »Die Deutschen muß man verstehen, um sie zu lieben, die Franzosen muß man lieben, um sie zu verstehen.« Er verstand sie, da er sie liebte. Deshalb reiste er immer wieder dorthin.

Serge Avédikian hat nun quasi den diplomatischen Part, die Außenpolitik übernommen, indem er diese Thematik, für die es in Deutschland keine vergleichbare gibt, über die Grenzen hinausträgt. Auch er hat einen kleinen Film produziert, allerdings einen mit ungemeiner, stiller Komik, der vermutlich auch in Aserbeidschan oder in Mecklenburg-Vorpommern, vielleicht sogar in der Rhein-Neckar Region funktionieren dürfte, weil er von der Liebe erzählt. Hier ist es die zu einem Land oder besser zu dessen Menschen, aus dem der Regisseur kam und in das er jetzt wieder gereist ist und in das er uns mitgenommen hat. Eine solche Warmherzigkeit versteht man überall, dazu bedarf es keiner Politik. Aber es schadet auch nicht, wenn man’s weiß, um was es geht.

Der Filmbeobachter dankt, verbunden mit der Hoffnung, Verloren in Armenien möge auch in Deutschland in die Kinos kommen. Es dürfen ruhig die kleinen sein.

 

Celui qu’on attendait/Lost in Armenia
Darsteller/Cast:
Patrick Chesnais (Bolzec), Arsinée Khanjian (Tzarkanoush),
Robert Harutyunyan (Arsham), Nikolay Avétisyan (Shirak)
u.v.a.
Buch/Screenplay: Serge Avedikian, Jean-François Derec
Kamera/d.o.p: Boubkar Benzabat
Schnitt/Editing: Alexandra Strauss
Musik/Music: Gérard Torikian
Produzent/Producer: Frédéric Niedermayer
Farbe/Color
90 Minuten/Minutes
Weltvertrieb/World Sales
WTFilms
20 rue Bachaumont
75002 Paris
France
Tel: +33 6 626 83 099
sonia@wtfilms.fr
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Anmerkungen

1 Als Caucasians werden in englisch-, überwiegend US- oder südafrikananischsprachigen Veröffentlichungen in erster Linie Weiße benannt. Weshalb sich das so verhält, ist dem Autor nicht so recht deutlich geworden. Seine Vermutung liegt darin, daß die Identifikation mit dem alten Christentum zugrunde liegt, das sich eben dort von Anfang, vom 4. Jahrhundert an solange gehalten hat

2 Rimbaud hatte 1871 an Paul Demeny geschrieben Je est un autre, also Ich ist ein anderer

Souffler plus fort que la mer

 

Er habe, so Michael Kötz, künstlerischer Direktor des Fimfestivals Mannheim-Heidelberg, in seiner Begrüßung zur Aufführung von Souffler plus fort que la mer, nicht damit gerechnet, daß der kapitalismuskritischen Film überhaupt noch lebe. Doch hier sei der Beleg für dessen Existenz. Er habe sich zwar geändert, sei poetischer geworden. Aber er lebe.


Souffler plus fort que la mer/Breathing under the Sea

Ein Film von Marine Place.


Viel hat sich geändert. Die Situation in der Bretagne, auf den Inseln des Atlantiks ist dem Filmbeobachter zwar nicht geläufig, aber an die Auseinandersetzungen um die Jahrtausendwende, die seit Mitte der neunziger Jahre das drohende Ende der Fischerei am Mittelmeer ankündigten, daran erinnert er sich gut. Kampf war das, gegen die die Schiffe abwrackenden Behörden, nein, gegen die Politiker, ein gewaltiges Auflehnen, Protest, wie man ihn in Frankreich kennt. Der Fisch sollte nicht mehr aus dem Meer kommen, jedenfalls nicht aus diesem Meer, das den Menschen dort seit Jahrhunderten Existenz und auch Lebensfreude im behutsamen Umgang mit der Natur bedeutete, indem das Gleichgewicht hergestellt blieb. Der Fisch sollte fortan aus den Fabriken geliefert werden, von diesen monströsen Schiffen, mit denen alles leer- und grund- und plattgefischt wurde. Die Konzerne hatten auch dabei die Weltregierung übernommen. Die Europäische Union zahlte scheinbar hilflos die Abwrackprämien für die kleinen Boote, die in der Regel bereits von den Urgroßvätern befahren worden waren und mit denen nie mehr gefangen worden war, als man zu einem passablen Leben benötigte.

Noch 2006 hieß es in einem Bericht des Europäischen Parlaments über den Fischfang in Frankreich: »Die Bretagne ist die für die Seefischerei wichtigste Region. Sie ist zwar die Region mit den meisten Schiffen, ihre Fischereikapazität hat jedoch einen viel höheren Stellenwert, da auf sie 44 % der Gesamttonnage und 29 % der Maschinenleistung der französischen Flotte entfallen.«

Nun ist offensichtlich auch das letzte Fischereiboot der Bretagne aus dem Atlantik, zumindest der Île d’Hœdic, der kleinesten Insel des Canton Quiberon aus dem Meer gezogen worden. Nein, sie haben es dann doch nicht verschrottet, zum Ende des Films hin haben sie es aufgebockt, auf einen rond-point, einen Verteilerkreis, einem in Frankreich beliebten Ort für nicht mehr Benötigtes und sonstige Dorfverschönerungen. Die Touristen sähen so etwas gerne, war dem Abwrackbehördenmeister eingefallen, der die Summe aus dem französischen Budget ausgezahlt hatte. Frankreich ist schließlich Europa, und darüber bestimmt die Welt, nein, der Welthandel. Bisweilen wird er auch Globalisierung genannt. Vater und Tochter hatten es doch nicht übers Herz gebracht, das alte, über drei Generationen bewährte Boot von einem Bagger zertrümmern zu lassen. Fahren Sie noch einmal herum im Kreis, ums Schiff, bat der mittlerweile verwitwete Fischer Loïc. Dessen Frau war in den Atlantik gegangen. Nimm mich, rief sie dem tosenden Meer zu. Du willst meine Tochter, aber mich kriegst du. Bei der Umrundung der Vergangenheit kreiste die aus der Urne rieselnde Asche das Denkmal ein.

Das Schiff mit dem Namen Die Unbeugsamen (Les irréductible) hatten Julie, Loïc, Louison und deren Mutter Roberta zuvor bereits symbolisch beerdigt, ein Seemannsgrab hat es bekommen, einen Trauerkranz haben sie ins Meer gelegt, er ist rasch untergegangen. Einen laut vernehmlichen Grabgesang gesungen haben die Freunde dazu, von denen die meisten auch mal Fischer waren, nun aber keine Sciffe mehr haben. Julie, vollwertige Fischerin an der Seite des Vaters, und Papa selbst haben das Netz mit den Fischen nicht mehr gemeinsam an Bord gebracht, die Winde funktionierte nicht mehr. Einen neuen Motor brauche Loïc, meinte der Inhaber der dörflichen Gaststätte, früher selber Fischer und Schiffseigner, und er meinte damit eine neue Maschine für den alten Kahn. Alle auf der Insel hatten einmal Schiffe. Die Unbeugsamen war das letzte. Die Schulden drückten sie alle unter Wasser, die Bank wollte kein Geld mehr geben, die Gerichtsvollzieherin kam rasch.

Eines Morgens hatte Loïc ohne Absprache mit Frau und Tochter den Vertrag zur Schiffsaufgabe schließlich unterzeichnet und das Geld entgegengenommen. Von der Abwrackprämie kaufte er für Louison eine neue Küche. Ermattet ob dieser sinnfreien Ersatzhandlung ließ die sich auf den Küchentisch sinken. Es gab noch manchen Grund zur Verzweiflung, zur endgültigen Aufgabe. Die zuvor von ihm in der Kneipe bejubelte Schuldenfreiheit bringt nicht zwingend Vernunft mit sich, vor allem, wenn noch ausreichend Geld für Eau de vie de cidre vorhanden ist, ein bretonischer Apfelbranntwein, Lebenswasser geheißen. Als Louison zum Wasser ging, um sich für die Tochter zu opfern, war Loïc, der völlig abgefüllt nachhause getorkelt war und auf dem Sessel in seine Rauschschlafohnmacht gefallen war, da konnte er gar nicht bemerken, daß sie das Haus in Richtung Meer verlassen hatte. Am Abend, die gesamte Nacht haben sie sie gesucht, nach ihr gerufen. Am nächsten Tag früh morgens überbrachte der Gendarm die Nachricht, man habe die Leiche etwas weiter entfernt am Strand gefunden.

Julie spielt Saxophon. Pépère, der Opa, Mutters Vater und auch ehemaliger Besitzer des Schiffes, hat es ihr vor seinem Tod übergeben; und sie hat ihr Erbe vor der Gerichtsvollzieherin gerettet. Sie spielt Kirchenlieder, etwa das Ave Maria von Bach-Gounod, am orgelähnlich klingenden elektrischen Klavier, der vielen gebrochenen Akkorde (Arpeggio) wegen unter großen Mühen begleitet von Théodore, dem schlichten Dorfpfarrer (Michel Masiero). Bereits in der Eingangsszene von Souffler plus fort que la mer wird deutlich, welche gefühlvolle Intensität in diesem Spiel enthalten ist. Nachdem ein junges Musikerduo auf die Insel gekommen war, Quartier genommen, bald darauf im Restaurant konzertiert, der Sänger und Poet sie auf die Bühne geholt und sie nach langem Zögern sich tatsächlich von dieser Kirchenmelodie befreit und zu improvisieren begonnen hatte, geht die Äußerung gegenüber der zu diesem Zeitpunkt noch lebenden Mutter auf: Sie fühle sich nur gut, wenn sie spiele. Nun, dann spiele doch, war die Entgegnung von Maman Louison.

Das tut sie dann auch, sie tut es unaufhörlich. Sie verläßt sogar das Haus, da die anderen von diesen ständigen Klagetönen – unter größter Zurückhaltung sei an das Saxophon des Norwegers Jan Garbarek erinnert, der als Jazz-Saxophonist sehr viel gemeinsam mit Musikern aus unterschiedlichen ländlichen Regionen der Welt gespielt hat und dessen Arbeit mit dem britischen Hilliard-Ensemble diese Assoziation zulassen mag – und enerviert zu sein scheinen, zieht in eine direkt am Wasser gelegene Cabane de pêcheur, eine aus grobem Stein gemauerte, recht kalte Schutzhütte der Fischer, lediglich eine Matratze hat sie mitgenommen. Nein, sie möchte nicht zurück, in die Gemeinschaft, die ihre Gefühle nicht erträgt. Sie möchte spielen, ihr Inneres hinausblasen ins Meer.

Sogar unter Wasser spielt Julie ihr die Welt klagendes Saxophon. (Die Musik wurde eigens für diesen Film komponiert, wobei, wie die Regisseurin Marine Place während des abschließenden Gesprächs erwähnte, Olivia Ross als Darstellerin der Julie das Instrument tatsächlich erst zu Beginn der Dreharbeiten zu erlernen begonnen hatte, die einzelnen Kompositionen für den Film dann zwar von einem Berufsmusiker im Studio eingespielt wurden, die Schauspielerin allerdings während der Aufnahmen auch die Musik gespielt, also sämtliche Atmungen am Saxophon selbst vorgenommen hat.)

Unter Wasser. Immer wieder hat Julie Trugwahrnehmung. Hallunizationen haben, spötteln Großmutter Roberta (Annie-France Poli) und deren Tochter Louison liebevoll, wenn sie aufhören mit dem (erzwungenen) Rausfahren, doch alle; die harten Jungs trauen sich nur nicht, darüber zu sprechen. Julie hat Vorstellungen vom Untergang. Sie sieht sich ständig submarin. Wenn sie aus dem Fenster schaut, steigt beispielsweise das Meer an und droht über sie zu kommen. Sie scheint allerdings ohnehin etwas von einem Fischwesen zu haben; die Metapher Wir alle kommen aus dem Meer mag hier umgesetzt sein. Sie ist dem Wasser extrem verbunden. Immerfort taucht sie, holt, bereits zu Zeiten, als das Schiff noch für den Fang unterwegs war, Meeresspinnen (araignée; ein recht umfangreiches Krustentier und, nicht nur in dieser Region, bevorzugtes Mahl) aus dem Wasser, die sie dem Restaurantbesitzer der Insel regelrecht aufdrängt, da mag er noch so einwenden, es kämen doch keine Touristen mehr, die Saison sei vorbei. Und immer wieder diese traumartigen Szenen, in denen sie unter Wasser, im Meer ihr Saxophon bläst. Einige Male läßt sie sich allerdings nur treiben, und es entsteht der Eindruck, sie würde gleich nach unten auf den Meeresgrund sinken.

Sie gehört ans Meer, ins Meer. Immer wieder mal ergehen seitens Mutter, Vater, Großmutter sowie durch andere aus dem Dorf, das keine Fischer mehr hat, sanfte Aufforderungen, die Insel zu verlassen, schließlich gebe es dort nichts zu tun. Sie mag nicht gehen, aber sie mag auch nicht bei dem jungen Mann aus dem Dorf bleiben, der ihr mehrere Male anbietet, bei ihm zu wohnen. Sehe ich aus wie eine Hausfrau? entgegnet sie ihm bei einem seiner Bedrängungsversuche. Einen geradezu ungeheuerlichen Freiheitsdrang stellt Olivia Ross dar. Die Welt besteht nach dem Verlust der Existenz als Fischerin und eines Teils ihrer Familie allerdings ohnehin nur noch aus ihr, dem Atlantik und ihrem Saxophon.

Das hat sie auch dabei, als sie mit der Fähre hinüberfahren zum Festland, ins Städtchen, um Behördengänge zu erledigen. Als es wieder zurückgehen soll, sagt Julie, sie bleibe. Was sie denn tun wolle, fragt der Vater sie. Das wisse sie nicht, antwortet sie lächelnd. Sie trägt das Saxophon deutlich sichtbar auf dem Rücken.

Angesichts dieser außerordentlichen Bilder von einer faszinierenden Landschaft, der man die fortschreitende Zerstörung, durchaus auch durch den Fremdenverkehr, nicht ansieht , fiele es leicht, Marine Place habe einen Dokumentarfilm mit Nebenspielhandlung produziert. Zweifelsohne ist ihr (und dem Zuschauer) die Erfahrung in diesen Genre bei ihrem ersten Spielfilm zugute gekommen, die vonnöten ist, um diese geradezu erschütterende, gewaltige Kraft zu zeigen, über die dieser Atlantik verfügt. Aber eben auch die Ruhe, die Stille, die von dieser Meereslandschaft ausgeht. Doris von Drathen, eine seit Jahrzehnten in Paris lebende, dem Geistesleben zugewandte deutsche Publizistin, fällt dem Filmbeobachter dabei einmal mehr ein. Sie schrieb in ihrem Aufsatz mit dem Titel Stille:

 

Stillwasser bezeichnet nicht etwa eine glatte Wasseroberfläche, sondern jenen kurzen, kaum existierenden Moment zwischen Ebbe und Flut, wenn die Gezeiten wechseln. Wenn man lange genug an einem Nordseeufer sitzt, kann man ihn wahrnehmen, diesen eigentlich unmöglichen Augenblick: Für den Bruchteil einer Weile stehen die Bojen aufrecht, kerzengerade und ganz still, bevor sie dann in den Winkel der anderen Wasserrichtung gezogen werden und sich wieder senken. Genauso wie ein Ball, der, in die Luft geworfen, einen winzigen Augenblick stillsteht, bevor er, der Schwerkraft folgend, wieder fällt. Genauswo wie an der Grenze zwischen Wachen und Schlafen, das Bewußtsein für ein paar Sekunden in einem Zwischenbereich verharrt. Mit jedem Atemzug tragen wir diesen unmöglichen Augenblick mit uns – zwischen Ein- und Ausatmen entsteht er jedesmal neu, dieser kaum wahrnehmbare Hiatus, das Innehalten. Anders als eine Pause, die in einem Musikstück die Stille als Schweigen der Musik markiert, ist dieser Moment in der Musik etwa mit jenem angespannten, kurzen Innehalten vor dem Einsatz des Hauptinstruments in einem Solokonzert zu vergleichen oder mit dem emotionalen Zögern, dem kurz aufseufzenden Stocken im Tango, bevor die Musik wieder in ihren Rhythmus fällt. Es ist ein angespannter Moment, ein verheißungsvoller Augenblick, nicht irgendein Zwischenraum, sondern der Zwischenraum, der einen Auftakt markiert, wie jene Sekunde, wenn im Süden die Luft stillsteht, kurz bevor die Zikaden einsetzen.1

 

Es ist Marine Place nicht nur dokumentarisch gelungen, auf dringende Erfordernisse zur Erhaltung unser aller Welt hinzuweisen, Bilder zu zeigen, die eine unbedingt notwendige Rück-, besser: Abkehr von dieser üblen Zerstörung von Ressourcen anmahnen. Die Regisseurin hat keine Bilder von zerstörten Meeresböden gezeigt (daran haben wir uns gewöhnt), verursacht von den Schleppnetzen dieser schwimmenden, monatelang die Meere durchpflügenden Fischfabriken, auf daß die Kinder in Europas Städten Fischstäbchen vom Billigheimer bekommen; stinkenden Fisch mögen sie ohnehin nicht; sie wissen eben nicht, daß frischer Fisch nicht stinkt. Sie hat die Geschichte einer anderen Zerstörung erzählt, ein Drama, den Niedergang einer Familie, das Ende einer Insel, deren menschliche Existenz der Fischfang war. Man war hinausgefahren, hat in harter Arbeit aus dem Meer geholt, was noch am selben Tag verkauft werden konnte. Was übrig blieb, hat man den Nachbarn gegeben oder am Abend selbst gegessen, dann gab es eben soupe au poisson; die heutzutage als Delikatesse angepriesene Bouillabaisse war früher ein Resteessen. Hin und wieder hat man im Restaurant des Dorfes zusammen am Tisch gesessen, hat Meeresspinnen genossen, die nicht unbedingt von Julie ertaucht werden mußten, denn sie befanden sich so manches Mal im Netz. Lange saß man dann, hat erzählt und gesungen und getrunken, und manchmal, wenn der Fang ein besonders guter war, gab's um Mitternacht noch Champagner. Das ist vorbei. Die Fischerboote, die bescheidenen Existenzen sind verschrottet. Auf daß die Großkonzerne der Weltmeere, die sogenannten Discounter Billigfisch anbieten können, der ihnen unvorstellbaren Reichtum garantiert.

Die europäische, die weltweite Fischereipolitik, beim hiesigen Beispiel die Europäische Union, strebt nichts an als eine sogenannte Liberalisierung, die nichts meint als eine Freiheit für ungezügelte Geldvermehrung, die gewachsenes Leben zerstört. Julie wird zwar weitermachen, möglicherweise wird sie in Paris landen, in der Metro auf dem Saxophon ihre klagenden Melodien den genervten Mitreisenden in die Ohren blasen, um sich über Wasser zu halten, um nicht unterzugehen im für sie nicht mehr vorhandenen Meer. Vielleicht wird sie gar entdeckt und aus ihr wird ein weiblicher Yann Thierssen.2 Aber eigentlich wäre sie doch gerne Fischerin geblieben und hätte in ihrer Freizeit nichts lieber getan, als ihrer Familie und den Freunden, meinetwegen auch für ein paar aus Quiberon anlandende Touristen, mit denen man nach dem Essen musizieren kann, ein paar Meeresspinnen heraufgeholt.

Der Filmbeobacher ist erfüllt von diesem zauberhaften, ja, ungemein poetischen Drama, das nicht minder harten Alltag zeigt, dankt herzlich dafür, muß dennoch, da er schließlich auch Weltbeoachter ist, mit der Frage schließen: Ob wir auf diese Weise den Kampf um unsere Erde gewinnen? Bedeutet die poetische Kapitalismuskritik nicht Aufgabe? Ist die gewaltige Flut dieser brachialen Geldwertzuordnung nicht längst über unseren Köpfen zusammengeschlagen? Gegen die Natur können wir uns nicht wehren. Aber gegen das Menschengemachte.

Oder gehen wir eben, Julies Mutter Louison hat gezeigt, wie's geht, dorthin zurück, wo wir hergekommen sind: ins Meer.


Souffler plus fort que la mer/Breathing under the Sea

Script/Buch: Marine Place

Kamera/d.o.p: Nicolas Duchêne

Schnitt/Editing: Dimitri Darul

Musik/Music: Emile Parisien

Darsteller/Cast: Olivia Ross (Julie, Tochter), Aurélien Recoing (Loïc, Vater, Fischer),

Corinne Massiero (Louison, Mutter), Annie-France Poli (Roberta, Großmutter)

Loïc Baylacq, Karim Gharbi, Michel Masiero, Clément Nourry, Yan Tassin u.v.a

Produzent/Producer: Stéphanie Douet

Production: Sensito Films

Weltvertrieb Premium Films

 

Anmerkungen

1 Stille Oder: Warum es beim Stillsein laut sein kann, aber beim Lautsein nicht still, Kurzschrift. Für die Freunde der Langschrift, 1.1999, S. 9-13

2 https://de.wikipedia.org/wiki/Yann_Tiersen

Reykjavík

 

 

Es wird sich schon alles fügen

 

Reykjavík

Ein Film von Ásgrímur Sverrisson

 

Immer wieder hat es Filmbe- oder verurteilende gegeben, die irgendwann meinten, sie könnten es auch, möglicherweise sogar besser als diejenigen, deren Arbeit sie analysierten, bewerteten. Häufig ist es schief gegangen, sind mäßig intelligente oder auch wenig unterhaltsame Streifen zusammengedreht und auch -geschnitten worden. Andererseits überwiegen die aus dem Aufbegehren der Theoretiker hervorgegangenen absoluten Größen, die gegen diejenigen anschrieben, die häufig literarische Stoffe blutleer und lustlos verfilmten.

 

Die französische Nouvelle Vague, die sich daraus ergebenden Kinohefte Cahier du Cinéma sind ein herausragendes Beispiel dafür, wie Theorie in Praxis umzusetzen ist: Claude Chabrol, Jean-Luc Godard, Jacques Rivette, Éric Rohmer oder François Truffault. Das sind auch die Namen der Regisseure, die in Reykjavik, dem Film des Isländers Ásgrímur Sverrisson, ehrfürchtig immer wieder zur Sprache kommen.

Island ist zwar eine wunderschöne große Insel, die jedoch näher an Grönland liegt als an Skandinavien, von wo aus es besiedelt wurde, hat allerdings mit insgesamt rund 330.000 Einwohnern gerade etwas mehr als Mannheim (306.000), die Filmfest-Partnerstadt Heidelberg hat mit 160.000 um einiges mehr an Menschen aufzuweisen als die isländische Hauptstadt (120.000). Doch was besagen schon solche Größenvergleiche? Der Regisseur Ásgrímur Sverrisson hat in der Stadt und somit auf der Insel eine Art isländisches Cahier du Cinéma aufgebaut, das Filmmagazin Land & synir, hat den isländischen Film- und Fernsehpreis Edda-Awards gegründet sowie das erste Kunst-Kino Reykjavíks eröffnet. Er unterrichtet an der dortigen Filmhochschule, moderiert im Fernsehen, schreibt Drehbücher und hat mehrfach Regie geführt bei Kurzfilmen.

Es ist naheliegend, daß es sich bei Sverrisson um ein wandelndes Filmlexikon handeln muß. Daraus scheint letztlich der Film Reykjavík entstanden zu sein. Zehn Jahre lang hat er wohl Zitate aus den bekanntesten Filmen in seinem Kopf bewegt, um sie in einer Videothek zu lagern. Doch in dem sehr technikfreundlichen Island, in Reykjavík, das 2010, nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch, nach dem über Nacht niemand im Land kein Geld mehr hatte für die (ohnehin nicht benötigten) schönen Dinge des Lebens – die möglicherweise deshalb im Film immer wieder in den Vordergrund zu geraten scheinen– , den Anarcho-Surrealisten Jón Gnarr zum Bürgermeister wählte und der Stadtrat aus ehemaligen Punkrockern bestand, ist das Interesse an Filmgeschichte offenbar erlahmt. Nahezu alle diese gehobenen Mittelständler verfügen über einen dieser Klappcomputer, selbstverständlich von Apple, mit deren Hilfe sie sich die neuesten Filme aus dem Internet herunterladen. Kaum noch jemand besucht Hringur (Atli Rafn Sigurðsson) in dessen Videothek, um, wie einst bei den Buchhandlungen, mit äußerst vagen Angaben und wenigen Sätzen über Inhalte, hier zu einem Ergebnis via DVD zu gelangen. Nicht einmal der Begriff Cinéast taucht noch auf, Film-Nerds werden sie nun genannt. Von den wenigen kann Hringur nicht leben. Hringur ist schlicht pleite. Gerade wollte er sich gemeinsam mit seiner Gattin (Nanna Kristín Magnúsdóttir), einer Stewardess der Fluggesellschaft Icelandair, noch ein schönes großes Haus kaufen, eines dieser vielen stillosen, aus allen möglichen Materialien zusammengeflickten Häuser in dieser »Frontierstadt im Wilden Westen«, wie Constantin Seibt sie im Tages-Anzeiger bezeichnete, da soll ihnen auch schon die Wohnung weggepfändet werden.

Überhaupt ist Hringur kein übermäßig interessanter Mann, und er ist eben an nichts anderem als an alten Filmen interessiert. Seine Frau Elsa mochte an ihm seine Natürlichkeit, auch waren anfänglich Anflüge von Leidenschaft zu sehen. Tatsächlich entsteht der Eindruck, die Zärtlichkeit könnte sich auf das Töchterlein verlagert haben. Hringur reicht Elsa nicht mehr aus, er ist ihr nicht normal genug. nicht einmal schwimmen gehe er mit ihnen. Deshalb möge er aus der Wohnung ausziehen; sie für sich zu behalten, dabei helfe ihr ihr Vater. Das Sorgerecht für die Tochter soll aufgeteilt werden, halbiert soll sie werden, jeweils eine Woche bei Mama, eine bei Papa verbringen; über den Wochentag des Kindwechsels wird debattiert. Hringur zieht in seine Videothek aufs Sofa und vermüllt vor sich hin.

Doch er nimmt ohnehin alles recht gelassen, was sicherlich dem Isländer ohnehin eigen ist; hinzugekommen sein dürfte allerdings die Erfahrung: Nach der Finanzkrise 2008 mußte, wer Kredit für ein Auto aufgenommen hatte, diesen nun eigentlich in der Höhe eines Hauses abbezahlen. Doch die Isländer haben die Schulden der Banken schlicht ignoriert. Es wird sich schon alles irgendwie wieder einrenken, es gibt für alles eine Lösung. Herbeigeführt hatten die ausgerechnet die nach 2010 für vier Jahre regierenden Punks um Jó Gnarr, die nicht nur den Haushalt sanierten, sondern sogar noch den ebenso kaputten staatlichen Energiekonzern reparierten.

Doch von Punk und Anarcho-Komikern ist in Reykjavík nichts mehr zu sehen und zu hören. Die sind, wenn auch erfolgreich, abgetreten, die Politik wird wieder von richtigen Politikern betrieben. Alles geht wieder seinen gewohnten Gang. Mein Haus, mein Auto, et cetera. Mittelstandssorgen von Enddreißigern bis Mittvierzigern. Und dazu gehören, wie in irgendeiner anderen mitteleuropäischen Großstadt auch, Beziehungsprobleme. Die Filme von Woody Allen stehen beim Filmbeobachter in Verdacht, diese gesellschaftliche Nouvelle Vague ausgelöst zu haben, unter der sämtliche anderen Probleme aus dem Bewußtsein der Besserverdienenden geschwemmt worden sind. In diesem Sinn schwabbelt es auch kurz vor Grönland mitteleuropäisch zivilisiert in den Gehirnen. Kaum Isländer aber auch, die nicht an einer Hochschule in Barcelona, Bologna, München, Paris, Zürich, zumindest aber, der Nähe wegen, in Hamburg studiert haben, häufig etwas mit Kunst und/oder Medien. Manche sind zwar in den jeweiligen Ländern ihrer geistigen Aufrüstung geblieben, doch viele sind zurückgekehrt auf die Insel und haben neuerliche Eigenheiten eingeführt. So gärt es derartig denn auch in Reykjavík unter Freunden, ein ständiger Austausch aller erdenklichen Flüssigkeiten findet statt. So erscheint es nur logisch, daß Tolli (Gudmundur Thorvaldsson) dem von der Ehefrau verlassenen Hringur unterstellt, der habe sich an seine zwanzigjährige Tochter herangemacht, weshalb der sehr wikingerische Medienmarktmann den eher schlaffen, dem Schöngeistigen zugeneigten trolligen Videothekier, dem er unlängst noch eine Stelle als Leiter der Abteilung Spielfilm angedient hatte, im Boxring einer Fitneßbude noch fürchterlicher als sonst verprügelt. Dabei war es der Nachwuchs des bärenstarken Kämpfers, der sich das Weichei ins Haus holte, während die Altvögel ausgeflogen (und verfrüht zurückgekehrt) waren.

Diese Maria (Grima Kristjánsdóttir) nämlich war bei Hringur in dessen Videothek wie aus dem Nichts aufgetaucht, hatte verschmitzt lächelnd nach einem Film gefragt, dessen Titel sie nicht nennen konnte oder vielleicht auch aus liebesspielerischen (Hinter-)Gründen nicht nennen wollte (zum Ende von Reykjavík stellt sich heraus, daß sie an der Filmhochschule studiert und sie eben diesen Film-Nerds zuzuordnen ist), lediglich eine vage Umschreibung davon abgab und die der Fachmann dann vollendete: Sie suche also einen Film, von dem man nicht will, daß er aufhört und in dem am Ende immer irgendjemand einen anderen kriegt als den, den er haben wollte, und damit schloß: Nein, den habe er nicht.

Allein, bei Hringur scheint es zunächst anders auszugehen als im Kino. Seine Elsa scheint sich mit den anderen Langweilern noch mehr gelangweilt zu haben als mit dem von ihr geheirateten und geschiedenen, der sich deshalb selbst nicht als traurig, sondern als kompliziert bezeichnet, der nicht das sein mag, was sie sich von ihm wünscht: normal sein. Nach einer Weile der Trennung bittet sie ihn zu sich und der Tochter in die alte Wohnung zurück. Sie besichtigen zum scheinbar guten Ende hin sogar ein Haus, das dem Zuschauer recht bekannt vorkommt. Normalität kann sehr komisch sein. Zum Ende kriegen die beiden sich dann allerdings doch wieder nicht. Aber Hringur kommt letzten Endes auch mit Maria nicht zusammen. Die hat sich nämlich inzwischen mit seinem ehemaligen Mitarbeiter der Videothek zusammengetan, der lange sehr unter der Trennung von einer anderen litt, die zwar zu ihm zurückwollte, doch da war es bereits zur Paarung der beiden Film-Nerds von der Filmhochschule gekommen. Und Hringur verdingt sich fortan in diesem Kaufhaus für Medien, in dem niemand aus alten Filmen zitieren kann. Es ist kompliziert. Am Ende kriegt immer irgendjemand etwas anderes als das, das er haben wollte.

Spielen könnte dieses Drama der schwierig zu bewältigenden Gefühle, wie erwähnt, zwar überall dort, wo zivilisatorischer Überdruß ausgeschwitzt wird, erzählt ist es allerdings in einer Weise, das ein Spezifikum hervorhebt: Isländer unterscheiden sich deutlich von den Europäern der Neumoderne, sie verfügen über eine Gelassenheit, über einen verschmitzten, hintergründigen, listigen (trolligen?) Humor, den zu genießen der Filmbeobachter mehrfach Gelegenheit hatte. Hinzu kommt noch diese unbändige Kraft, die jede deutsche, französische oder sonsteuropäische zur Lächerlichkeit reduziert. Als Beleg dafür sei angeführt die launige Notizensammlung mit dem Titel Hintergrundssons und -dóttirs von Constantin Seibt, der als Korrespondent des Zürcher Tages-Anzeiger offensichtlich jede Gelegenheit nutzt, auf die Insel kurz vor dem ewigen Eis zu reisen. Möglicherweise tut er es auch der Frauen wegen, von denen es bei ihm heißt, «in den isländischen Sagas sei immer wieder die Rede von irischen Prinzessinnen, die von den Wikingern auf ihren südlichen Raubzügen entführt wurden. Ein Sprichwort besagt, dass die schönen Mädchen so nach Island kamen, der Rest in Britannien blieb.» Und er stellt im Unterton offenbar mit einer gewissen Bewunderung fest, daß »das Bauamt bei grösseren Projekten regelmässig einen Elfenspezialisten« hinzuzieht. »Neben 330’000 Menschen leben in Island auch 13 Elfenarten und eine grosse Anzahl Gnome und Trolle.«

 

Die erwähnte politische Kampfkraft, die vermutlich durch elfischen, gnomischen und trolligen Geist zusätzliche Nahrung erhält (»laut Umfragen glauben 60 Prozent der Isländer an die Existenz des unsichtbaren Volks«), beschrieb Seibt am 30. Juni dieses Jahres:

«2007 begründete Islands Präsident Geir Haarde den Erfolg von Islands Banken mit dem Killerinstinkt der Isländer: ‹Wir sind Wikinger!› Am 24. September 2008 ging in New York die Lehman-Bank pleite, eine Woche später Island selbst. Die drei grössten Banken brachen zusammen und hinterliessen Schulden in der zehnfachen Höhe des Bruttosozialprodukts. Mit ihnen gingen unzählige Firmen und Privatpersonen bankrott, denen die Banken Riesenkredite gewährt hatten. ›Gott schütze Island!‹, sagte Präsident Haarde am Fernsehen.

Als einziges Land weigerte sich Island, die Schulden seiner Banken zu übernehmen. Und stellten die Topbanker vor Gericht. Die EU tobte, die Briten drohten mit Antiterrorgesetzen, die Presse schrieb, Island würde auf Jahrzehnte keinen Kredit mehr bekommen. Innert weniger Jahre erholte sich die Insel. Die Wirtschaft stellte um auf Fisch, Kunsthandwerk und Tourismus. Präsident Haarde begründete den Erfolg mit der ‹natürlichen Kreativität› der Isländer.»

Diese natürliche Kreativität schillert in Ásgrímur Sverrissons Reykjavík überall durch wie das Nordlicht Aurora borealis, hier vielleicht als Metapher gleichzusetzen dem eingefilterten Blau inTruffauts Amerikanischer Nacht. Alleine ihretwegen dürfte der Film in deutschen oder französischen oder sonsteuropäischen Kinos für Erheiterung sorgen. Vielleicht können wir zum guten Ende hin daraus sogar lernen. Man muß nicht unbedingt auf Isländisch filmzitieren können, um das zu verstehen. Es wird sich schon alles fügen. Að lokum gengur allt upp.

 

Reykjavík

Buch/Screenplay et Regie/Director: Ásgrímur Sverrisson

Darsteller/Cast:

Hringur: Atli Rafn Sigurðsson

Elsa: Nanna Kristín Magnúsdóttir

Tolli: Gudmundur Thorvaldsson

Maria: Gríma Kristjánsdóttir

Margrét Friðriksdóttir, Björn Thors u.v.a.

Music/Musik:Sunna Gunnlaugs

Kamera/d.o.p.: Néstor Calvo

Schnitt/Editing: Ragnar Vald Ragnarsson

Produktion/Produced by

Daníel Gylfason, Júlíus Kemp, Nanna Kristín Magnúsdóttir

Dagur Benedikt Reynisson, Sölmundur Ísak, Ingvar Þórðarson

 

Die Metapher von Marienbad

Dieser Text hat keinen direkten Bezug zum Filmfestival, stellt allerdings eine Assoziation zur zuletzt eingesetzten Besprechung Reíkjavik her, da in diesem Film die Nouvelle Vague im Grunde die Hauptrolle spielt. Deshalb trage ich ihn, quasi als Randbemerkung – es existiert nichts ohne Zusammenhänge –, nach.

 

Als im März des vorvergangenen Jahres wahrlich nicht nur in Le Monde der Tod von Alain Resnais betrauert worden war, machte ich ein recht betrübtes Gesicht und dachte heftig darüber nach, ihm auch deutschsprachig  ausführlich nachzurufen, auf daß man es auch dort erfahre. Meine zweifelsohne nicht nur kluge, sondern auch weltallwissende Gattin, die wohl deshalb sogenannte soziale Netzwerke meidet und ihre Kenntnisse über diese Branche überwiegend durch Zweitverwerter wie mich bezieht, meinte: Was willst du denn mit diesem Methusalem des Kinos, diesem am Strand des Vergessens anrollenden Nouvelle Vagueiste, einer dieser Franzosen, in deren Filmen keinerlei action stattfinde, in denen nahezu ausnahmslos endzeitphilosophierend dampfgeplaudert werde, den kenne doch so gut wie niemand in diesem Forum des Pop'n'Roll beziehungsweise des vermodischten Punk des US-amerikanischen Kinos. Ich solle denen wenigstens vorab ein paar Hinweise für die Wiedererkennung anbieten, auf daß sie ihn nicht für einen dieser authentischen Fabrikkäsesorten des Films halten, die sie bevorzugt bei ihren hochgeschätzten Billigstdiscountern erstehen und glauben, damit das Wahrste, Beste und Schönste aus Gallien konsumieren zu dürfen. Nun denn, sei's drum: Providence, Das Leben ist ein Chanson, Hiroshima, mon amour, Der Krieg ist vorbei und und und; sein letzter Film Aimer, boire et chanter wurde im Februar 2014, kurz vor seinem Dahinscheiden, auf der Berlinale gezeigt.

Doch auch ich liege nunmal lieber in meiner Hängematte des Ruhestands, und weshalb sollte ich mühsam zusammensuchen, was andere längst gefunden habe? Deshalb weise ich auf die Perlen hin, die diese Netztaucher aus dem enormen Korallenriff an Nachrufen auf diesen herausragenden Autorenfilmer heraufgefischt haben; man nehme sich einige Zeit, jeder der verlinkten Nachrufe aus den unterschiedlichsten deutschsprachigen Zeitungen enthält eine Fülle an Hinweisen auf das grandiose filmische Werk von Alain Resnais.

Eine die kulturelle Disziplinen überschreitende Randbemerkung möchte ich dennoch hinzufügen. Die brasilianische Photographin Ana Pinta hat vor einigen Jahren eine außergewöhnliche poetische Serie unter dem Titel L'année dernière à Marienbad erstellt. Der Titel dieses Albums spielt an auf den 1961 in die Kinos gekommenen Film Letztes Jahr in Marienbad von Resnais. Der funktioniert in seinem, wie alle seine anderen filmischen Philosophastereien auch, grandiosen Film, zu dem Alain Robbe-Grillet, dem Autor von Pour un Nouveau Roman und damit Mitbegründer des neuen Romans, der von der sogenannten Wirklichkeit wegführte und die Leser mit rein Formalem irritierte, das Szenarium verfaßte, in eine reine Metapher um. Aber nun: »Das Bild in Resnais' Meisterwerk«, schrieb Björn Last, »bildet nie zwingend die natürliche Realität ab, sondern deutet ständig darauf hin, daß es vielmehr die filmische, surreale Abbildung eines Traums oder einer anderweitig verfremdeten, subjektiven Wahrnehmung beinhaltet.«

Die Photographie von Ana Pinta zeigt den Pyjama des Präsidenten und Diktators Getulio Vargas nach dem Schuß in die eigene Brust; es geschah 1954. Die Aufnahmen dieser Serie wurden im Palacio do Catete erstellt, dem Wohnsitz der brasilianischen Präsidenten zu dieser Zeit. Seit einigen Jahren ist der Palast in ein Museum umgewandelt. Wie im Film von Resnais spielte seinerzeit eine Gruppe von Schauspielern einmal wöchentlich in den Räumen des Palastes die Ereignisse der letzten Tage von Getulio Vargas nach.

 

Impressum

Texte: Alle Rechte vorbehalten. Didier Calme Verlag: BookRix GmbH & Co. KG Sonnenstraße 23 80331 München Deutschland
Bildmaterialien: Die jeweiligen Rechteeinhaber der Filme.
Lektorat: Jeera Rabulski
Tag der Veröffentlichung: 04.11.2016

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Jeera Rabulski.

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