Sämtliche Figuren und Ereignisse dieses Romans sind der Fantasie entsprungen. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder tot, ist zufällig und von den Autoren nicht beabsichtigt.
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Copyright Blue Velvet Management GmbH,
Linz November 2013.
ISBN: 978-3-9503399-6-3
Lektorat: Wolma Krefting, www.bueropia.de
Titelgestaltung: www.afp.at
Anmerkung
Wir haben uns erlaubt einige Namen und Örtlichkeiten aus Spannungsgründen neu zu erfinden, anders zu benennen und auch zu verlegen. Sie als Leser werden uns diese Freiheiten sicher nachsehen.
Über die Autoren B.C. Schiller
Barbara und Christian Schiller leben mit ihrem Rhodesian Ridgeback Jabali in Wien. Gemeinsam waren sie in der Marketing- und Werbebranche tätig und haben ein totales Faible für rasante Thriller. B.C. Schiller sind das erfolgreichste deutschsprachige Selfpublisher-Autorenpaar. Bisher haben sie mit ihren Thrillern über 600.000 Leser begeistert.
DIE FOTOGRAFIN war wochenlang Nummer 1 der Bestseller Charts. Ebenfalls in der Psychothriller-Reihe erschienen ist:
DIE SCHWESTER
Die TONY BRAUN THRILLER-SERIE:
TOTES SOMMERMÄDCHEN – wie alles begann
TÖTEN IST GANZ EINFACH – der erste Tony Braun Thriller
FREUNDE MÜSSEN TÖTEN – der zweite Tony Braun Thriller
ALLE MÜSSEN STERBEN – der dritte Tony Braun Thriller
DER STILLE DUFT DES TODES – der vierte Tony Braun Thriller
RATTENKINDER – der fünfte Tony Braun Thriller, ET: 08.10.2015
Die DAVID STEIN THRILLER-SERIE:
DER HUNDEFLÜSTERER – der erste Fall
SCHWARZER SKORPION – der zweite Fall
ROTE WÜSTENBLUME – der dritte Fall
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B.C. Schiller
Die Fotografin
Psychothriller
5. Auflage / September 2015
Ich darf mich nicht erinnern.
Ich will mich nicht erinnern.
Ich darf nicht mehr lieben.
(Schiller Version)
Prolog: Montag – morgens
Sie denkt an das Leben und nicht an den Tod, als sie erwacht. Mit den Fingerspitzen massiert sie ihre Schläfen, denn jetzt erst beginnen sich die Kopfschmerzen bis in ihr Bewusstsein vorzutasten. Langsam richtet sie sich auf, blickt verwirrt umher. Es ist ein Schlafzimmer, das sie kennt, in dem sie schon öfter gewesen ist. Das Bett ist breit, die Seidenkissen und weichen Decken duften wie immer verführerisch. Hinter ihr an der Wand lehnt das riesige Bild mit den zwei Frauen die sich küssen. Ein aufstrebender Künstler hat es gemalt, das hat man ihr erzählt. Oben an der Decke hängt ein Spiegel, das weiß sie von früher, aber jetzt vermeidet sie es, hinaufzusehen. Die Tür, die in das Ankleidezimmer führt, ist halb geöffnet. Durch den Spalt sieht sie die Spitze ihres Schuhs, den sie vor einer Ewigkeit achtlos weggekickt hat. Auf dem Boden verstreut liegen Kleider, die von ihr stammen könnten, aber jetzt kommen sie ihr wie fremde Designerstücke vor.
Das Pochen in ihrem Schädel steigert sich, als sie sich im Bett aufsetzt. Vorsichtig stellt sie die Beine auf den Boden und steht mit Schwung auf. „Na, geht doch!“ denkt sie, doch im selben Moment beginnt die Umgebung bedrohlich zu wanken und zu verschwimmen. Sie muss sich am Bettrand abstützen, um nicht umzukippen. Mit angehaltenem Atem wartet sie, bis alles vor ihren Augen wieder gerade steht und seine Ordnung hat. Dann tastet sie sich an der Wand entlang – aus dem Schlafzimmer hinaus direkt in das Wohnzimmer, das sich mit einer über die ganze Länge ziehenden Glasfront zu einer Terrasse hin öffnet. Die Helligkeit ist so intensiv, dass sie sich mit geschlossenen Augen an die Wand lehnen muss, um nicht von dem gleißenden Licht verbrannt zu werden.
Warum steht sie hier in diesem Wohnzimmer und verhält sich so, als würde sie es nicht mehr erkennen? Hat sie doch schon oft den herrlichen Blick über die Stadt genossen, danach, wenn alles wieder viel zu schnell vorbei war und sie den kühlen Wind auf ihrer heißen Haut spürte, der sie sanft in ihr anderes Leben zurückführte, das sie so gerne für immer verlassen hätte. Warum kann sie sich an nichts mehr erinnern? Was ist passiert? Ist überhaupt etwas passiert oder hat sie nur einen fürchterlichen Kater? Den Champagnerflaschen auf dem Tisch nach zu urteilen, muss sie enorm viel getrunken haben. Ja so ist das mit dem Abschiednehmen, man besäuft sich und landet dann unweigerlich doch wieder im Bett, denkt sie versonnen.
Merkwürdige Gedanken, die einfach in der Mitte stoppen und nicht mehr weiter wollen. Natürlich ist etwas passiert, das spürt sie ganz deutlich, doch noch will sie mit dieser Unbestimmtheit leben und auf keinen Fall die Gewissheit haben. Noch will sie glauben, dass es vielleicht doch ein Traum ist, der sich am Morgen verflüchtigt und sie mit einem Gefühl der Erleichterung erwachen lässt. Aber natürlich ist es kein Traum, das weiß sie, dafür ist sie klug genug, sondern es ist die Wirklichkeit und diese kümmert sich nicht um Träume und Erwachen, sondern ist klar und direkt – Realität eben.
Seufzend sieht sie sich dann doch im Wohnzimmer um, sucht etwas zu trinken, denn plötzlich ist auch ihre Kehle wie ausgedörrt. Wie alles in dieser Wohnung, so ist auch das Wohnzimmer riesig und einschüchternd. Es ist ein langgestreckter Raum ohne Schnörkel, der in eine moderne Küche übergeht. Mühsam schleppt sie sich zu dem Aluminiumtresen, der wie der Bug eines Schiffes mitten in den Raum ragt.
Mit der Fußspitze stößt sie gegen ein Bein. Es ist ein Männerbein, das kann sie spüren, denn es ist nackt und erst jetzt fällt ihr auf, dass auch sie nackt ist. Langsam senkt sie den Kopf und blickt nach unten, sieht das Männerbein, ihr Blick gleitet höher, folgt der Körpersilhouette eines anmutig verdreht liegenden nackten Mannes und saugt sich an seinem Oberkörper fest, der voller Blut ist. In dem grellen Licht, das durch die Fensterfront in den Raum fällt, tritt das Blut noch heller und grausamer hervor und jetzt sieht sie, dass auch der helle Holzboden über und über mit geronnenem Blut bedeckt ist. Dann bemerkt sie das Messer auf dem Boden und sie erinnert sich wieder vage daran, es in der Hand gehalten zu haben. Die Klinge des Messers ist blutig und das verklumpte Blut stört die harmonisch geschwungene Designform der Klinge und reduziert das Messer auf ein banales Mordwerkzeug.
Jetzt liegt das Messer am Boden, beunruhigend nahe bei einem Toten und sie kann sich schon denken, was passiert ist. Wieder einmal ist sie ausgerastet. Das Messer liegt neben dem toten Mann, den sie nie mehr wieder sehen wollte, den sie nur noch zum Abschiednehmen besucht hat. Bei diesem Gedanken schießen ihr die Tränen in die Augen und als sie ihre Hände vors Gesicht schlägt, bemerkt sie, dass diese blutig sind, dass auch ihr Oberkörper über und über mit Blut beschmiert ist. Und es ist nicht ihr Blut, das begreift sie jetzt mit einer mitleidlosen Klarheit.
Entsetzt dreht sie sich um, hastet zurück in das Schlafzimmer und weiter in das angrenzende Bad, will sich das Blut von den Händen waschen, will alles ungeschehen machen und endlich wieder in ihr altes Leben zurückkehren. Doch in dem Spiegel über dem Waschbecken sieht sie jetzt eine große nackte Frau mit wirren blonden Haaren, mit einer bereits ein wenig erschlafften Figur und einem Busen, der nicht mehr ganz straff, aber immer noch ansehnlich ist. Sie sieht das interessante Gesicht einer attraktiven 39-jährigen Frau, die schon einiges erlebt hat, sieht die glatte Stirn, die noch keine Botoxbehandlung nötig hat, sieht einen schlanken, faltenfreien Hals, wenn sie das Kinn hebt.
Doch sie sieht auch eine Frau, die sich über Monate in dieser Wohnung mit ihrem Liebhaber getroffen hat und sich jetzt von ihm trennen wollte, um wieder in ihr altes Leben an der Seite ihres erfolgreichen Mannes zurückzukehren.
Plötzlich zuckt sie zusammen, denn die Erkenntnis, wer diese Frau im Spiegel ist, trifft sie wie ein gezielter Faustschlag:
Diese Frau im Spiegel bin ich und ich habe gerade meinen Liebhaber getötet!
1. WIEN Dienstag – morgens
„Ich habe ihn getötet!“, schreie ich, als ich aus einem tiefen fast schon komatösen Schlaf erwache. Erst als meine Worte ungehört in dem Zimmer verhallen, öffne ich die Augen und kann nicht fassen, was ich sehe. Ich liege zuhause in meinem eigenen Bett, ein Irrtum ist ausgeschlossen, denn neben mir auf dem Nachttisch steht das Bild von Gregor, Paul und mir. Doch Paul, der ganz rechts steht, sehe ich nur in meinen Gedanken, denn das Foto ist abgeknickt und sein Gesicht deshalb verborgen auf der Rückseite des Bildes. Mein Mann Gregor will es so. Also lächeln nur mein Mann und ich aus dem Bilderrahmen. Daneben liegt das silberne Etui mit meinen Visitenkarten. Ich klappe den Deckel auf, würde mich in diesem Augenblick nicht wundern, wenn ein anderer Name auf der Karte stünde. Doch da steht „Adriana See – Fotografin“ und die Nummer meines Businesshandys. Das bin also wirklich ich.
„Ich habe ihn getötet!“, rufe ich provokant gegen die geschlossene Tür, die ins angrenzende Badezimmer führt. Von dort höre ich aber nur die Dusche und die volle, einnehmende Stimme meines Mannes, der unter dem prasselnden Wasserstrahl wieder eine seiner mitreißenden Reden übt. Natürlich kann er mich nicht hören.
Nach und nach beginne ich meine Situation zu analysieren. Ich war in der Wohnung meines Liebhabers und habe auf dem Boden eine männliche Leiche gesehen, die natürlich er sein könnte. Aber bin ich mir da so sicher? Doch ich erinnere mich an das Messer in meiner Hand, ich war am ganzen Körper blutig und ich muss ständig daran denken, einen Mord begangen zu haben. Das spricht doch eindeutig gegen mich.
Aber wieso erwache ich in meinem eigenen Bett, trage meinen Seidenpyjama und wieso liegt meine große Fliegeruhr ordentlich auf dem Nachttisch, genauso, wie ich sie jeden Abend dort hinlege? Meine Haut duftet nach einer Badeessenz und fühlt sich sauber und eingecremt an.
Im Bad hat Gregor die Dusche abgedreht und summt einen Popsong, während er sich elektrisch rasiert. Gregor ist oft schon morgens so penetrant guter Laune, dass ich ihn manchmal verdächtige, Poppers einzuwerfen, denn sein Verhalten ist nicht normal.
Nachdenklich streiche ich mir die Haare zurück und zucke zusammen. Taste nochmals mit den Fingerspitzen über meinen Hinterkopf, spüre eine schmerzhafte Beule. Wieso habe ich eine Beule? Ich kann mich nicht erinnern, mir den Kopf gestoßen zu haben. Aber das ist im Augenblick mein geringstes Problem. Viel wichtiger ist es, die Frage zu beantworten, ob ich meinen Liebhaber getötet habe.
Minutenlang liege ich regungslos auf dem Rücken, starre gegen die Decke meines Schlafzimmers, als würde ich dort eine Antwort auf meine vielen Fragen finden. Wie immer fällt mir die einfachste Lösung erst zum Schluss ein. Ich brauche ja bloß meinen Liebhaber Talvin anzurufen, um festzustellen, ob er noch lebt. Gerade als ich nach meinem Privathandy greife, wird die Badezimmertür aufgerissen und Gregor steht in der Tür, hält sich oben am Türstock fest, damit seine breiten Schultern besser zur Geltung kommen. Trotz eines nicht zu übersehenden Bauchansatzes, der von den vielen abendlichen Essen mit den Parteifunktionären herrührt, sieht er noch immer sehr gut aus. Gregor ist fünfundvierzig Jahre alt und sein ursprünglich dunkles Haar wird an den Schläfen schon leicht grau, was ihm aber eine ungemein sexy Ausstrahlung verleiht. So jedenfalls war es in einer Homestory über ihn zu lesen, in der auch ich am Rande vorkam, mit meinem originellen Hobby, der Fotografie.
Über die Fotografie haben wir uns auch kennengelernt. Das war vor über zehn Jahren. Ich sollte ihn als jüngsten Vorsitzenden seines Wahlkreises „modern“ ablichten, wie er es unbeholfen ausdrückte, und beide mussten wir über diese Formulierung lachen. „Eigentlich sollten Sie ja vor der Kamera stehen!“, sagte er dann, ohne zu überlegen, spontan wie er eben ist. „Sie sehen aus wie meine Traumfrau.“ Tja, so war das damals und wir haben schnell geheiratet und bald darauf kam Paul. Doch über Paul darf ich nicht sprechen, das hat mir mein Mann verboten.
Außer Politik hat Gregor noch nie etwas anderes gemacht. Ich glaube, er weiß überhaupt nicht, wie normale Arbeit funktioniert. Für ihn gibt es immer nur konspirative Treffen, um zweckmäßige Seilschaften zu bilden und Verbindungen zu knüpfen. Er hat sich über die Jahre emsig ein Netzwerk aus Vertrauten aufgebaut, die er später einmal mit einflussreichen Posten belohnen wird, wenn er ganz oben ist, und wenn ihm seine exzentrische Frau Adriana keinen Strich durch die Rechnung macht.
Aber ich reiße mich zusammen, denn jetzt ist Gregor bald an seinem Zenit angelangt. Er ist der heiße Anwärter für ein Ministeramt und der Star im derzeitigen Wahlkampf. Keine Talkshow, die ihn nicht dabeihaben möchte, kein TV-Bericht, der nicht eine Wortspende von ihm will. Dieser Wahlkampf erfordert seine ganze Kraft und kostet ihn all seine Energie. Wenn er spät nachts von einer Tour durch seinen Wahlbezirk nach Hause kommt, höre ich, wie er in der Küche eine Flasche Wein entkorkt und gierig Glas für Glas trinkt. Nach Alkohol und Zigarettenrauch stinkend fällt er dann neben mir ins Bett und schnarcht sofort weg. Da ist nicht mehr viel übrig von den heißen Nächten wie zu Beginn unserer Ehe.
„Du bist ja schon wach, hast du gut geschlafen?“, brüllt er mit seiner Baritonstimme, die das ganze Haus erzittern lässt, genau in dem Augenblick, als ich mit Talvin telefonieren will. Doch er ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um das Telefon in meiner Hand zu bemerken. „Tut mir leid, Adriana, aber ich kann nicht mit dir frühstücken. Ich habe ein Meeting mit dem Parteivorsitzenden“, redet er einfach weiter, ohne meine Antwort abzuwarten. „Sei nicht traurig, aber wir sehen uns ja später abends, dann kannst du mir erzählen, wie dein Tag war!“
Schon ist er verschwunden und poltert die Treppe nach unten ins Erdgeschoß. Doch so einfach lasse ich mich diesmal nicht abspeisen.
„Ich muss mit Dir reden!“, schreie ich hinunter in die Küche, wo Gregor an unserem Frühstückstresen lehnt und im Stehen eine Tasse Kaffee schlürft. Noch hat er keine Krawatte umgebunden und das Hemd steht weit offen, was ihn ungemein attraktiv macht. Aber noch attraktiver ist der durchdringende Blick seiner dunklen Augen. Das haben auch schon die Redakteurinnen von einigen Zeitschriften bemerkt, die von diesem „schmelzenden Blick“ geschwärmt haben. Doch noch ehe ich den Gedanken weiter vorantreibe, schiebt sich das Bild der Leiche wieder in mein Denken und alles in mir wird kalt und leblos.
„Wir müssen reden! Es ist etwas passiert“, bleibe ich hartnäckig und Gregor blickt irritiert hoch. Für den Bruchteil einer Sekunde habe ich seine ungeteilte Aufmerksamkeit, denn etwas in meiner Stimme hat ihn nervös gemacht. Diesen Tonfall muss ich mir merken. Doch dann surrt sein Handy und der Augenblick verstreicht ungenutzt.
„Ja? Was meinst du mit kritischen Meinungen? Du musst sofort gegensteuern. Ich will positive PR!“, höre ich seine aggressiven Antworten auf die Fragen des Anrufers. Als Gregor merkt, dass ich zuhöre, dreht er sich zur Seite und nickt nur noch zustimmend mit dem Kopf. „Du meldest dich, wenn alles wieder okay ist!“
Ohne sich zu verabschieden, trennt er die Verbindung, wendet sich mit einem zerstreuten Gesichtsausdruck zu mir. Seine nachtschwarzen Augen fixieren mich und bei diesem Blick wird mir klar, dass ich ihn immer lieben und nie verlassen werde.
„Wer war das?“, frage ich vorsichtig.
„Niemand, den du kennst. Nur meine PR-Assistentin.“
„Ach so!“ Ich hole tief Luft. „Ich muss mit dir reden!“, wiederhole ich nun schon zum dritten Mal.
„Das ist jetzt gerade ziemlich ungünstig, Adriana!“, sagt Gregor und knipst sein Politikerlächeln an. „Wir reden abends darüber!“, vertröstet er mich und schlürft hastig seinen Kaffee. „Ich habe eine Beule am Hinterkopf und weiß nicht, wie das passiert ist. Das ist doch merkwürdig?“, rufe ich.
So, jetzt ist es draußen. Jetzt kann ich ihm endlich alles erzählen, kann ihm sagen, dass ich in der Wohnung meines Liebhabers mit einem blutigen Messer gestanden habe, nackt und über und über mit Blut beschmiert. Jetzt kann ich ihm beichten, dass ich eine Mörderin bin.
„Hier! Hier ist die Beule!“ Hektisch schiebe ich meine Haare zur Seite und deute ich auf meinen Hinterkopf. Gregors Reaktion ist ganz anders, als ich sie erwartet habe. Langsam dreht er sich um, streckt die Arme aus und geht mit einem breiten Lächeln auf mich zu.
„Meine arme Adriana!“, schnurrt er und streichelt mir beruhigend über die Schultern wie den Seniorinnen im Altersheim bei einer Wahlveranstaltung. „Tut’s noch sehr weh?“, fragt er mitfühlend und sieht mir treuherzig in die Augen. Jetzt bin ich restlos verwirrt und kenne mich überhaupt nicht mehr aus.
„Ich habe richtig mit dir mitgelitten! Tut mir leid, dass ich heute Morgen nicht mehr daran gedacht habe! Willst du nicht doch lieber in die Klinik? Vielleicht hast du eine Gehirnerschütterung und deshalb auch diese Albträume.“
„Gehirnerschütterung? Albträume? Ich verstehe nicht!“ Noch verwirrter als zuvor schüttle ich den Kopf. „Ich will wissen, woher diese große Beule stammt!“, beharre ich auf einer Antwort.
„Ja, es war ein ziemlich heftiger Schlag. Und wie es gekracht hat, als du mit dem Hinterkopf gegen die geöffnete Heckklappe unseres Wagens geknallt bist!“
„Ich bin gegen die Heckklappe unseres Autos gestoßen? Wieso weiß ich nichts davon?“
„Du hast sofort das Bewusstsein verloren. Aber keine Sorge, es ist nichts Ernstes, das sagt auch Hans.“ Wieder tätschelt Gregor mit seinem gewinnenden Lächeln meine Schulter und ich will meinen Kopf an seine Brust legen, um mich sicher und geborgen zu fühlen, doch er schiebt mich bestimmt von sich weg, sodass ich wieder im luftleeren Raum hänge. „Alles was bleibt, ist die schmerzhafte Beule, aber auch die vergeht schnell wieder.“
„Wieso war Hans hier?“, frage ich und bin völlig durcheinander. Hans Mertens ist ein alter Parteifreund meines Mannes und von Beruf Psychiater. Ich bin seit fünf Jahren seine Patientin, weil es, nun ja, weil es damals gewisse Vorkommnisse in meinem Leben gegeben hat, die der Karriere meines Mannes abträglich gewesen wären.
„Adriana, du weißt doch, dass Hans der Vorsitzende der Interessengemeinschaft ist, die meine Wahl unterstützt. Zum Glück konnte er schnell kommen, als ich ihn angerufen habe und hat dich untersucht. Er hat dir auch eine Spritze verabreicht, damit du ruhig schlafen konntest.“
„Wieso weiß ich davon überhaupt nichts?“, frage ich verzweifelt. „Ich habe nicht die geringste Erinnerung daran!“ Geht das jetzt schon wieder los, denke ich panisch, erwähne aber Gregor gegenüber nichts.
„Adriana, tut mir leid, aber ich muss jetzt wirklich los! Wir reden am Abend darüber!“ Gregor sieht auf seine Uhr und jetzt fällt mir auf, dass er seine Taucheruhr wieder trägt. Mechanisch tätschelt er mit beiden Händen meine Schultern und sieht mich mit seinen schwarzen Augen prüfend an. „Alles in Ordnung mit Dir?“, fragt er leise. „Du hast doch keine Albträume mehr? Vergiss nicht, deine Tabletten zu nehmen.“
Wie ein kleines Schulmädchen, das vor dem strengen Lehrer steht, nicke ich betreten. „Ich bin o. k.! Bin nur völlig außer Atem!“
An seinem Blick merke ich, dass er nicht versteht, was ich meine, doch er ist viel zu clever, um darauf einzugehen. Zum Glück piepst jetzt sein Handy penetrant und mit einem Lächeln dreht er sich zur Tür. „Wahrscheinlich bekommst du bloß deine Tage!“, ruft er mir aufmunternd zu und trifft mich damit mitten ins Herz.
Schluchzend liege ich im Bett und weiß nicht, warum ich plötzlich ständig heule. Es stimmt schon, meine Periode ist ausgeblieben, aber das ist mir schon öfter passiert. Das ist alles kein Grund, gleich in Tränen auszubrechen. „Das hängt mit Ihrem stressigen Job zusammen, Frau See! Immer diese jungen dünnen Models, mit denen sie zu tun haben!“, hat mein Frauenarzt gesagt und ich konnte mir die Frage nicht verkneifen, ob er denke, dass ich in einem Konkurrenzverhältnis zu den Models stehe. „Alle Frauen stehen doch zueinander in einem Konkurrenzverhältnis, das ist wissenschaftlich belegt!“ Er muss es ja wissen. Als Doping hat er mir Hormonpillen verschrieben, die ich aber in den Müll gekippt habe, als ich auf dem Beipackzettel las, dass man davon Depressionen und Fressattacken bekommen könnte.
Um mich abzulenken, checke ich mein Smartphone, habe aber heute leider keinen Fototermin. Das ist andererseits gut so, denn es gibt Wichtigeres zu tun. Beispielsweise meinen Liebhaber anzurufen, um mich zu überzeugen, dass er noch am Leben ist. Mehrmals probiere ich, Talvin zu erreichen, doch anscheinend habe ich eine falsche Nummer eingespeichert, denn es existiert kein Anschluss unter dieser Nummer. Ich könnte natürlich auch versuchen, ihn an der Universität zu erreichen, aber das hat er mir ausdrücklich untersagt. Das würde doch bloß Gerede geben, war seine logische Argumentation.
‚Ich muss mich zusammenreißen!‘, ermahne ich mich und blicke aus dem Fenster unseres engen Reihenhauses hinaus in den Garten. Es ist ein trüber Morgen und der Himmel sieht nach Regen aus. Moment mal! Wieder fällt mir ein Bruchstück der Erinnerung ein, fügt sich zu den anderen Fragmenten, wie ein riesiges Puzzle, dessen endgültiges Motiv ich aber noch immer nicht überblicken kann. Es existieren zu viele Leerstellen.
Das Wohnzimmer meines Liebhabers mit der riesigen ostseitigen Glasfront, die hinaus auf die Terrasse führt, taucht vor meinem geistigen Auge auf. Das grelle Licht blendet mich, es muss also die Morgensonne geschienen haben! Wenn es aber auch jetzt Morgen ist und bewölkt, dann heißt das doch, dass ich mindestens vierundzwanzig Stunden lang ohnmächtig gewesen bin. Oder dass ich solange geschlafen habe. Das ist doch der totale Wahnsinn.
Denn die andere Möglichkeit ist auch nicht wesentlich beruhigender: Ich habe mir gestern am Morgen tatsächlich den Kopf an der Heckklappe gestoßen, wurde zunächst ohnmächtig, bekam dann die Spritze und habe daher alles nur geträumt.
Warum verschaffe ich mir nicht einfach Klarheit und fahre in die Wohnung meines Liebhabers? Warum liege ich völlig aufgelöst in meinem Bett, nur weil mein Mann etwas über meine Tage gesagt hat. Warum beschäftigt mich das so? Natürlich weiß ich, warum das so ist. Ich rolle mich zur Seite und nehme den Bilderrahmen vom Nachttisch. Das Foto ist fünf Jahre alt und Gregor sieht rassig wie ein Spanier aus und auch ich muss mich für mein Aussehen nicht genieren. Das Foto habe ich mit Selbstauslöser gemacht. Kurz bevor ich zum ersten Mal bei Hans – bei Dr. Mertens, wie ich ihn nennen muss – in psychiatrischer Behandlung gewesen bin. Es wurde am 15. August im Hotel Mykonos Blue auf Mykonos gemacht. In der Lobby mit den blau beleuchteten Flaschen im Hintergrund. Es war circa sechzehn Uhr. Eine Stunde später war alles anders. Wir waren übrigens nie wieder auf Mykonos.
Gregor wollte eigentlich wie jedes Jahr ins Weiße Rössl an den Wolfgangsee, obwohl er das Regenwetter im Salzkammergut hasste. Doch für einen österreichischen Politiker gehört es sich eben, Urlaub in der Heimat zu machen. Das honorieren die Wähler. Aber dieses eine Mal habe ich mich durchgesetzt und wir sind nach Griechenland geflogen. Gregor, ich und ja, natürlich auch Paul.
„Paul!“
Es ist unheimlich beklemmend, als ich den Namen meines Sohnes laut ausspreche und darauf warte, dass sich der Klang des Wortes auflöst. Er klingt fremd und ungewohnt nach so langer Zeit und dann doch wieder nicht. Fünf Jahre sind viel, doch nichts im Vergleich mit einem Menschenleben. Ich drücke die Rückseite des Bilderrahmens an meine Wange, dort hinten ist Paul verborgen und nur ich weiß davon. Gregor darf nie erfahren, dass ich noch ein Bild von ihm habe. Wenn er das wüsste, würde er mich umbringen, da bin ich mir sicher. Obwohl, das wäre mir an manchen Tagen auch egal. Diese Tage kündigen sich an und sind alarmierend. Ich sehe mich an einem Abgrund entlang balancieren und meine schwere Kamera schlägt so fest gegen meine Brust, dass ich nicht mehr atmen kann. Das riesige Teleobjektiv, das ich jetzt immer öfter verwende, schwingt wie der Klöppel einer alten Pendeluhr und zerrt mich unerbittlich in Richtung Abgrund. In diesen Augenblicken hilft es nur, so schnell wie möglich Dr. Mertens aufzusuchen.
Doch auch Dr. Mertens, der Psychiater hat mir verboten, den Namen Paul auszusprechen. Dr. Mertens ist eine Kapazität, was Verlusttraumata anbelangt und seine Argumente haben mich überzeugt und schweren Herzens habe ich es schließlich akzeptiert. Sein Gutachten hat auch bei dem Vorfall vor fünf Jahren die schwedische Polizei überzeugt und ich kam glimpflich davon. Dafür durfte ich den Namen meines Sohnes nie wieder erwähnen. Schon seit fünf Jahren halte ich mich daran und die Karriere meines Mannes war nur kurz gefährdet, als es damals in Schweden diesen Zwischenfall gab.
Aber jetzt spüre ich, dass es bald wieder soweit ist, dass ich im Begriff bin, etwas Unüberlegtes zu tun oder habe ich es vielleicht schon längst getan? Zärtlich streiche ich über die Rückseite des Bilderrahmens, widerstehe dem starken Drang, das Papier aufzureißen, um Paul noch ein letztes Mal zu sehen. Ganz vorsichtig stelle ich das Bild zurück, richte es ordentlich aus, damit nichts darauf hindeutet, dass es verschoben wurde. Als ich nach meiner schweren Fliegeruhr greife, die so gar nicht zu mir passt, wie Gregor schon öfter spitz angemerkt hat, fühle ich mich plötzlich wieder stark und unverwundbar.
Ich werde in die Wohnung meines Liebhabers fahren und mich selbst davon überzeugen, dass ich nur einen ziemlich realistischen Traum gehabt habe und nicht verrückt bin. Dass ich mich von meinem Liebhaber getrennt habe, um wieder neu anzufangen. Vielleicht auch, um meine Ehe zu retten, denn ich liebe meinen Mann noch immer. Ist das erledigt, kann ich wieder zur Tagesordnung zurückkehren und alles für das morgen auf dem Plan stehende Fotoshooting organisieren. Vielleicht treffe ich mich heute Abend noch mit Marion, meiner besten Freundin, die den neuesten Klatsch kennt. Oder ich rufe Raul an, meinen schwulen Visagisten, und plaudere mit ihm stundenlang am Telefon. Raul anzurufen ist eine gute Idee, denn sein Talent, die Stimmen von Prominenten zu imitieren, bringt mich immer wieder zum Lachen und auf andere Gedanken.
Doch jetzt mache ich mich auf den Weg in die Wohnung meines Liebhabers. Ich fahre in die Wohnung von Talvin Singh, um mich davon zu überzeugen, dass ich ihn nicht ermordet habe.
2. Dienstag - vormittags
Talvin Singh ist ein indischer Philosophiestudent mit den schwärzesten Haaren, die man sich nur vorstellen kann. Sie sind so schwarz, dass sie bereits einen Stich ins Bläuliche haben und im Sonnenlicht wie edles Metall leuchten. Die Wimpern von Talvin Singh sind lang und dicht und wenn er die Lider senkt, dann ist es, als würde sich ein seidiger, schwarzer Vorhang über seine Augen legen. Seine Haut ist hellbraun wie kostbare Schokolade und weckt dieselben Glücksgefühle, wenn ich mit meiner Zunge darüber lecke. Der Geschmack seiner Haut ist auch immer leicht salzig und erinnert an seine Heimatstadt Chennai, die früher Madras hieß und direkt am Golf von Bengalen in Südindien liegt. Talvin Singh spricht fließend Deutsch mit einem singenden, undefinierbaren Dialekt und ich könnte ihm stundenlang zuhören, wenn er meinen Solarplexus massiert, dabei von der Bibliothek der Theosophischen Gesellschaft und seinem Großvater, dem berühmten Bibliothekar aus Madras, erzählt.
Wenn wir nebeneinander auf den duftenden Decken liegen und uns im Spiegel betrachten, der direkt über dem Bett an der Decke befestigt ist, dann wirkt sein Haar schwärzer als schwarz und meines blonder als blond. Oft verschränken wir unsere Körper ineinander – nur zu dem Zweck, um so ein Muster aus heller und dunkler Haut zu zaubern und es im Spiegel zu begutachten. Nur einmal habe ich mit meiner Kamera ein Foto unserer nackten Körper im Spiegel geschossen, es aber dann sofort wieder gelöscht. Talvin Singh will ich nur in meiner Vorstellung besitzen, denn nur dann kann er ganz mir gehören.
Ach ja, ich vergaß zu erwähnen, dass Talvin Singh 27 Jahre alt ist, ich also zwölf Jahre älter bin. Doch der Altersunterschied ist kein Problem für uns.
Ich habe das Verhältnis mit meinem Liebhaber beendet und denke noch immer genauso verliebt an ihn wie vor einigen Wochen. Ich benehme mich, als würde ich ihn gleich heimlich treffen und vor Erregung und Vorfreude schon ganz kribbelig werden. Doch jetzt bin ich beinahe geschäftlich auf dem Weg zu seiner Wohnung, weil ich Gewissheit brauche.
Immer wenn ich spüre, dass mir der Boden unter den Füßen weggezogen wird und ich am Rand des Abgrunds balanciere, dann hole ich meine Rüstung hervor, die mich schützt. Es ist die dicke schwarze Lederjacke mit den vielen Zipps, die mein Mann Gregor so hasst, denn sie ist einfach nicht damenhaft. Bei den derzeitigen sommerlichen Temperaturen wirkt sie ein wenig deplatziert, gibt mir aber die Sicherheit, dass alles wieder gut werden wird.
Schwitzend sitze ich in meinem Auto, das Gregor großzügigerweise bezahlt hat, als ich vor fünf Jahren eine Zeit lang in der Klinik war und nichts verdient habe. Im Gegenzug durfte es dann aber kein Mini Cooper sein, sondern wurde ein langweiliger Volkswagen. Nicht zu billig, aber auch nicht zu teuer! Das ist Gregors Maxime, der immer mit einem Auge auf potenzielle Wähler schielt.
Ich quäle mich also durch den Berufsverkehr, passiere im Schritttempo das Volkstheater, bin dann schon am Museumsquartier, dort wo ich Talvin das erste Mal im Sucher hatte. Sucher ist das richtige Wort, denn tatsächlich war ich für ein Fotoshooting direkt im Museumsquartier gebucht. Es war kein großartiger Job, sondern ein Shooting für ein junges österreichisches Designerduo namens Babe & Chris. Die Models waren auf originellen, bunten Liegen drapiert und streckten die gegrätschten Beine in die Höhe. Von Bein zu Bein ging eine Schnur und daran waren die Designerstücke aufgefädelt wie auf einer Wäscheleine. Um einen interessanten Blickwinkel zu erzielen, experimentierte ich mit einem extremen Teleobjektiv, mit dem ich den jeweiligen weit entfernten Hintergrund entweder scharf oder verschwommen einstellen konnte, ohne die Aufmerksamkeit des Betrachters von der Kollektion abzulenken.
Das Shooting verlief reibungslos und ohne größere Höhepunkte. Gegen Mittag versuchte ich, vom Museumsquartier aus direkt nach unten auf den Heldenplatz zu fotografieren, brauchte dafür aber einen Fixpunkt. Der Sucher zog über den kleinen Park, in dem Touristen und Studenten saßen und die Sonne genossen. Wie automatisch fiel der Sucher auf einen Mann, der mit geschlossenen Augen und hinter dem Nacken verschränkten Händen im Gras lag und schlief. In der Frühlingssonne wirkte sein Gesicht so entspannt und ebenmäßig schön, dass ich mit einem leisen Seufzer die Kamera sinken ließ. Sekunden später hatte ich sie aber schon wieder oben und in diesem Moment hatte sich der Mann mit einer eleganten Bewegung aufgerichtet. Obwohl es unmöglich war, blickte er mir direkt in die Augen und schenkte mir das spöttischste Lächeln, das ich jemals gesehen hatte und dieses Lächeln eröffnete das Spiel.
Während ich den Mann mit meiner Kamera immer näher zoomte, stand er plötzlich auf, so als wüsste er, dass ich ihn in mich aufsaugen wollte, um ihn nie wieder loszulassen, drehte sich um und ging. Doch diese Beute durfte ich mir nicht entgehen lassen und so zögerte ich keine Sekunde. Eine lahme Entschuldigung ausstoßend hastete ich aus dem Hof, die entgeisterte Fotocrew starrte mir hinterher, denn mit meiner Entscheidung hatte ich den ganzen Tagesablauf durcheinander gewirbelt.
„Oh, oh, unsere liebe Adriana muss vielleicht noch der Kaiserin Sissi ihre Aufwartung machen!“, hörte ich Raul, meinen Visagisten verärgert hinter mir herrufen. Doch das alles interessierte mich nicht mehr.
Elend lange musste ich warten, bis die Ampel auf Grün umschaltete und ich die Verfolgung aufnehmen konnte. Wie eine archaische Jägerin pirschte ich hinter dem Mann her, der sich mit geschmeidigen Bewegungen seinen Weg durch die Menge bahnte und der bald meine Trophäe sein würde.
Im Sucher studierte ich meine Beute genau: Er sah aus wie ein schönes exotisches Raubtier. Sein schlanker Körper und die gebräunte Haut ergänzten sich perfekt mit dem schwarzen Hemd, das lose im Wind flatterte. Um den Hals hatte er einen bunten Schal gewickelt, der seinem düsteren Äußeren einen fröhlichen Touch gab. Unter dem Arm trug er eine dunkle Aktentasche, die ein wenig deplatziert wirkte … aber egal. Natürlich fielen mir sofort seine kurzen schwarzen Haare auf, die wie der Helm eines Fürsten im Sonnenlicht strahlten. Überhaupt ging von ihm etwas Majestätisches aus, er war ein Herrscher aus einer anderen Zeit und ich war im Begriff, ihn zu erobern.
Das ist jetzt schon einige Monate her und wenn ich jetzt wieder daran denke, dann nur aus dem einzigen Grund, herauszufinden, ob mir damals schon etwas Ungewöhnliches an Talvin aufgefallen ist. Als Fotografin habe ich mir ein visuelles Gedächtnis antrainiert, das ich beliebig nach Bildern ordnen kann. Also ließ ich die Schnappschüsse wie eine Fotogalerie durch mein Gedächtnis laufen. Doch bei Talvin war alles eine Einheit und so sehr ich mich auch bemühte, ich konnte keine Widersprüche in seinem ganzen Wesen entdecken.
Damals, als ich ihn im Sucher hatte, kam ich mir vor wie eine Jägerin, die ihre Beute bereits im Visier hat und nur darauf wartet, sie zu erlegen. Jetzt wäre der Zeitpunkt gewesen, einfach abzudrücken und eine Fotoserie von diesem interessanten Mann zu schießen, dann wieder auf das Fotoset zurückkehren und so zu tun, als sei nichts geschehen, als hätte diese Jagd nie stattgefunden. Doch irgendetwas hinderte mich daran. Ich wollte dieses schöne Tier ganz für mich und es mit niemandem teilen, deshalb durfte es auch keine Fotos geben.
Plötzlich hatte ich Talvin aus dem Sucher verloren und die Erkenntnis war so frustrierend, dass mir die Tränen in die Augen schossen. Ich zoomte auf, drehte mich im Kreis, zoomte in jede Gasse, fokussierte ungeniert wildfremde, schwarzhaarige Männer, doch Talvin blieb verschwunden. Ich lief durch enge Torbögen, das schwere Teleobjektiv vor mir wie eine Waffe, raste über Plätze, umrundete Brunnen, an denen fröhliche Menschen saßen, die sich die Sonne ins Gesicht scheinen ließen, doch mir war nicht zum Lachen zumute. Kraftlos ließ ich die schwere Kamera sinken, die schwer wie ein Mühlstein an meinen Hals hing und mich gleich in einen Abgrund reißen würde. Damals hatte ich das Gefühl, als würde mir jemand das Herz herausreißen und ich war nahe daran, vor Wut und Enttäuschung zu kotzen.
„Warum verfolgen Sie mich?“
Ich wirbelte herum und da stand er direkt vor mir. Er war ein wenig kleiner als ich, wirkte aber durch die aufrechte Haltung größer und der hochmütige Zug um seinen Mund verlieh ihm die Aura eines Prinzen. Sein schwarzes Haar glänzte metallen in der Sonne und als er seine Sonnenbrille nach oben schob, sah ich zum ersten Mal seine langen dichten Wimpern, die mich mehr beeindruckten als die haselnussbraunen Augen. Reflexartig wollte ich seine hellbraune Wange streicheln, riss mich aber dann doch zusammen.
„Ich verfolge sie nicht, ich jage sie!“, sagte ich und wunderte mich darüber, dass ich sofort so offenherzig meine Geheimnisse vor ihm ausbreitete. Doch in diesem Augenblick war mir nichts peinlich. „Mein Psychiater sagt, dass ich die Menschen mit meiner Kamera jagen soll und abdrücken muss, um mich zu überzeugen, dass sie existieren. Ich darf jedoch niemandem von dieser Therapiemethode erzählen. Aber Sie sind nun einmal ein Bestandteil dieser Therapie!“
„Das könnte aus einem Stück von Tagore sein!“ Er war kein bisschen erstaunt über meine peinliche Offenherzigkeit, sondern lächelte mich zum ersten Mal an und seine ebenmäßigen Zähne strahlten aus seinem glatten braunen Gesicht.
„Tagore?“, fragte ich verwundert und ärgerte mich sofort über diese dumme Frage und meine Ungebildetheit.
„Rabindranath Tagore, ein indischer Philosoph“, erwiderte er gleichgültig. „Mein Großvater hat ihn sehr geschätzt. Ist nicht so wichtig! Ich heiße Talvin.“ Als er mir die Hand hinstreckte, wusste ich schlagartig, dass ich sie nicht ergreifen durfte, denn dann wäre ich unweigerlich verloren, dann würde ich in eine Falle gehen.
„Ich bin Adriana“, sagte ich und griff nach seiner dunklen Hand, deren sehnige Finger sich blitzschnell über meine weiße Haut legten und sofort Besitz von mir ergriffen.
„Dein Handy!“ Talvin machte eine Kopfbewegung in Richtung meiner Tasche, in der mein Handy ununterbrochen klingelte.
„Ist nicht weiter wichtig“, flüsterte ich und wünschte mir in diesem Augenblick nur, er würde meine Hand nie wieder loslassen.
„Hübsche Kamera hast du da. Ist ja ein richtiges Profigerät!“ Talvin nickte anerkennend zu meiner Nikon, die noch immer schwer an meinem Hals hing. Ich hätte Talvin damals fotografieren müssen, so wie Dr. Mertens mir das aufgetragen hatte, aber ich war dazu nicht in der Lage. Ich dachte auch nicht an den fünf Jahre zurückliegenden Zwischenfall in Schweden. Ich dachte überhaupt nicht, sondern schwebte in einer merkwürdigen Realität, die ich so noch nie erlebt hatte. Und so nahm das Unheil wie in einer griechischen Tragödie seinen Lauf.
„Ich, ich arbeite als freiberufliche Fotografin“, stammelte ich. Mehr brachte ich nicht über die Lippen und ich kam mir albern und dumm wie ein kleines Mädchen vor, denn ich war doch die Jägerin und hatte meine Beute bereits erlegt. Das jedenfalls dachte ich damals, nur jetzt bin ich klüger.
„Ich bin die Jägerin und habe alles unter Kontrolle!“, rufe ich, um die Erinnerung abzuwürgen und wieder hier bei mir zu sein. Genervt drücke ich auf die Hupe, um den Fahrer vor mir aufzuwecken, aber es ist zwecklos, wir stecken alle in einem unentwirrbaren Stau. Ich spüre, wie mir unter der dicken Lederjacke der Schweiß die Achseln hinunterläuft und am Rücken die Wirbelsäule entlangrinnt. Das wird echt peinlich, wenn ich vor meinem Liebhaber stehe, die Lederjacke zu Boden fallen lasse und er mein verschwitztes T-Shirt sieht, durch das sich die Konturen meines Busens deutlich erahnen lassen; deshalb trage ich es ja heute auch.
Doch schnell mahne ich mich wieder zur Ordnung. Die Erinnerung mag zwar süß sein, aber sie ist nun einmal Vergangenheit und jetzt gilt es, die Gegenwart zu meistern und an die Zukunft zu denken. Die Gegenwart habe ich jetzt in diesem Moment als schwitzende Frau im Stau, die von einer erotischen Begegnung fantasiert. Aber die Zukunft ist am interessantesten, denn diese wird mir zeigen, ob ich eine Mörderin bin oder nicht.
Nach einer viel zu langen Fahrt bin ich in der Operngasse und muss dreimal im Kreis fahren, bis ich endlich einen Parkplatz finde. Automatisch zücke ich mein Businesshandy, um einen SMS-Fahrschein zu lösen, erinnere mich aber im letzten Moment daran, dass mich diese SMS belasten könnte. Auch bisher habe ich die Parkscheine immer mit der Hand ausgefüllt, wenn ich Talvin in seiner Wohnung besucht habe. Als ich vor der großen finsteren Haustür stehe, muss ich so wie jedes Mal tief durchatmen. Ich verrenke den Kopf, um einen Blick hinauf auf die Terrasse in dem ausgebauten Dachgeschoß werfen zu können, wo sich in diesem Augenblick vielleicht mein Liebhaber gerade über das Geländer beugt und mir einen Kuss zuwirft. Aber im schnellen Wechsel von grellem Licht und Schatten kann ich natürlich nichts erkennen.
Gerade als ich auf die Klingel drücken will, bemerke ich, dass jemand das kleine Messingschild ausgewechselt haben muss. Dort, wo früher T. Singh gestanden hat, steht jetzt plötzlich nichts mehr. Nur ein leeres rechteckiges Messingschildchen, das frisch poliert ist und in dem sich verzerrt mein verblüfftes Gesicht mit der großen Sonnenbrille spiegelt, denn ich starre auf das Schild, als wäre es ein Kunstwerk.
Jemand hat also das Namensschild meines Liebhabers unten von der Klingeltafel entfernt, wahrscheinlich, weil alle Mieter des Hauses einheitliche Namensschilder erhalten sollen, denn das Haus wird im Augenblick saniert und außer Talvins Wohnung im fünften Stock stehen alle anderen Stockwerke zur Zeit noch leer. Die Wohnungen werden zu möblierten Apartments umgebaut, hat er mir einmal erklärt. Mit meinem Zeigefinger drücke ich auf die Klingel und lausche. Wie oft schon habe ich auf diese Klingel gedrückt, eigentlich dürfte dieser Knopf gar nicht mehr vorhanden sein, so viele Male wurde er von mir betätigt, von Mal zu Mal ungestümer, heftiger, ja auch wütender, das muss ich zugeben.
Nichts rührt sich, das ist also der neueste Trick meines Liebhabers. Er macht sich rar, wartet, bis ich beinahe die Klingel ruiniert habe, um sich dann verschlafen durch die Gegensprechanlage zu melden und völlig überrascht zu wirken, dass ich schon ewig unten warte. Denn er weiß: Ich warte nicht gerne, denn ich fühle mich dann zurückgesetzt, missachtet und er hat die Oberhand. Das ist irgendetwas Frühkindliches, hat mir Dr. Mertens freundlich erklärt, als ich ihm davon erzählt habe, natürlich ohne Talvin zu erwähnen: „Dem brauchen Sie keine Bedeutung beizumessen, Adriana!“
Das mag zwar für ihn keine Bedeutung haben, aber für mich ist der Stress riesengroß. Ich muss mich beherrschen, darf mich nicht in Fantasien verlieren, muss an viele Dinge gleichzeitig denken und bin dann ganz erschöpft, wenn endlich der Türöffner summt und ich aufatmend in die Arme von Talvin sinke.
So war das früher vielleicht, aber jetzt ist alles anders. Diese Veränderung zeigt sich schon darin, dass die Gegensprechanlage stumm bleibt, sosehr ich auch die Klingel malträtiere. Mit der flachen Hand schlage ich gleichzeitig auf alle Klingelknöpfe und endlich kommt einer der Handwerker, die überall hämmern und bohren, auf die Idee, den Türöffner zu betätigen und ich gelange in das Haus.
Das dunkle Treppenhaus ist beruhigend muffig wie immer. Erst wenn alle Wohnungen fertig sind, wird auch das Treppenhaus renoviert. Derzeit hängen überall Plastikbahnen an den Wänden und die Stufen sind mit Papier überklebt. Aus sportlichen Gründen gehe ich wie immer zu Fuß nach oben. Der Aufzug ist zwar in Betrieb, aber ich habe ein leichtes Problem damit, mich in engen Räumen aufzuhalten. „Das geht aber vorüber“, hat Dr. Mertens gesagt. „Machen Sie sich keine Sorgen, Adriana, gehen Sie einfach zu Fuß!“
Talvin wohnt im fünften Stock, vier Stockwerke würde es mit dem Aufzug nach oben gehen, dann noch einmal eine Treppe, die in die oberste Wohnung führt. Bisher hatte ich noch nie über den engen beklemmenden Aufzug nachgedacht, zu sehr war ich mit Vorfreude erfüllt, die mich wie ein Kokon beschützt hat. Aber diesmal ist nichts wie vorher und die Angst lauert im Hintergrund, alleine wenn ich mir schon vorstelle, in dem Aufzug zu stecken. Ich brauche sofort ein Glas Wasser, wenn ich in der Wohnung meines Liebhabers bin und dann einen Drink, um mich zu beruhigen.
Die Tür zu Talvins Wohnung liegt am hinteren Ende des Gangs. Links verhindert ein schmiedeeisernes, verschnörkeltes Geländer, dass man durch das Treppenhaus bis in den Keller hinunterstürzt, rechts befinden sich in regelmäßigen Abständen hohe Nischen, in denen früher griechische Statuen standen. Jetzt sind diese Nischen leer und scheinen nur darauf zu warten, dass mich Talvin auf die glatte Fläche schiebt und mich nimmt, noch ehe ich Hallo gesagt habe.
Doch das sind nur meine Fantasien, denn ich stehe bereits vor der grau gestrichenen modernen Stahltür. Wie immer lege ich das Ohr gegen das kühle
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 26.01.2016
ISBN: 978-3-7396-3385-5
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
„Mit Entsetzen wird mir klar: Diese Frau im Spiegel bin ich und ich habe gerade meinen Liebhaber getötet.“