Wieder einmal näherte sich der Winter, das spürte ich sofort als ich aus der Haustür in die Morgendämmerung trat. Nicht nur, dass der Wind sich nun kälter an meine Haut schmiegte, sondern auch die Bäume um ich herum hatten ihr buntes Blätterkleid abgelegt und zeichneten sich nur noch durch ihre knochige Gestalt von kahlen Ästen ab.
Automatisch zog ich meinen schwarzen Mantel enger um mich und schob meine ungeschützten Hände unter meine Arme, um sie vor den vereinzelten Luftzügen zu schützen. Ich blieb auf der Stufe stehen und sah mich weiter um. Es war noch so früh am Morgen, dass gerade einmal die hiesigen Bäcker und Fischer die Straße entlangkamen, um auf dem Marktplatz ihre Ware zu drapieren und für den Verkauf später vorzubereiten. Ich mochte die frühen Morgenstunden, in denen ich ungestört meinen Erledigungen nachkommen konnte, ohne mich durch Menschenmassen drängen und das lautstarke Gewirr durchdringender Stimmen ausblenden zu müssen. Aber heute war ich noch früher dran als üblich, was wahrscheinlich daran lag, dass ich in letzter Zeit nicht besonders gut schlief. Genauer gesagt schlief ich bescheiden. Nachts lag ich oft lange wach und grübelte um dann irgendwann voller Erschöpfung in einen ungnädigen, bei weitem nicht ausreichenden Schlaf zu fallen. All das war ihre Schuld. Die Schuld meiner älteren Schwester Milena, die mir vor einigen Tagen eröffnet hatte, dass ich Ende der Woche zu einer entfernten Cousine in die Hauptstadt ziehen würde, da sie selbst eine Stelle als Kammerzofe der am Hofe einer Herzogin angenommen hatte und es offensichtlich für mich keinen Platz dort gab. Ich war 17, also noch genau ein Jahr von der Volljährigkeit und meiner somit einhergehenden Freiheit entfernt. Dies veranlasste Milena nach einer Unterkunft für mich zu suchen, in der ich das verliebende Jahr unterkommen konnte. Sie hatte mich die letzten sieben Jahre nach dem Unfalltod unserer Mutter großgezogen, einen Vater gab es nicht. Beziehungsweise kannten wir ihn nicht, da Mutter uns erzählt hatte wie er die Flucht ergriffen hatte, nachdem sie mit mir schwanger wurde. Anscheinend war ihm ein glückliches Familienleben dann doch nicht genug. Mehr hatte sie uns nie über ihn erzählt und irgendwann hatten wir auch aufgehört zu fragen, da sie bei der bloßen Erwähnung des Wortes „Vater“ schon sehr ungnädig werden konnte. Milena war sieben Jahre älter als ich, also in meinem jetzigen Alter als sie die Verantwortung für mich übernehmen musste und uns durch Haushaltstätigkeiten bei wohlhabenden Familien über Wasser hielt. Oft spürte ich, dass sie mir diese Tatsache übelnahm, mir regelrecht die Schuld zu geben versuchte an all dem Unglück was uns wiederfahren war. Mit 15 war ich alt genug gewesen mir ebenfalls eine Arbeit zu suchen und so fing ich eine Lehre bei der örtlichen Schmiede an. Ein undankbarer und definitiv unbeliebter Beruf, weswegen die Stelle auch überhaupt frei war. Alle anderen Lehrstellen waren bereits vergriffen gewesen oder schon intern vergeben worden. Aber ich nahm was ich bekommen konnte, um etwas zu unserem Leben beizusteuern. Denn abgesehen von der kleinen Wohnung hatte unsere Mutter uns kaum etwas als Besitz hinterlassen. Schmuck und gutes Geschirr mussten wir verkaufen, um die Beerdigung zu zahlen. Unser Leben war also nie besonders luxuriös oder ausladend gewesen, dennoch hatte es gereicht die meiste Zeit war ich sogar recht zufrieden gewesen. Umso schwerer fiel es mir nun zu akzeptieren, dass mein Leben sich von Grund auf ändern würde. Aber wieso nur? Wieso ging Milena gerade jetzt von hier fort und ließ mich zurück? Auf meine Fragen hatte sie mir nur ihr übliches verächtliches Schnauben gegeben, was ich immer dann als Antwort bekam, wenn sie fand, dass mich etwas nichts anging oder sie sich einmal mehr nicht gegenüber ihrer kleinen Schwester erklären musste. Ihr Verhalten versuchte ich stets nicht allzu persönlich zu nehmen, da sie im Allgemeinen keine offene oder sehr warmherzige Person war. Weder gegenüber mir noch gegenüber anderen Personen. Ich schob es auf die große Verantwortung, die ihr viel zu früh und viel zu unfreiwillig zu Teil wurde. Verantwortung in Form eines kleinen 7-jährigen Mädchens, welches völlig am Boden war und mehr eine Belastung zu sein schien als der einzig verbliebende Teil Familie.
„Marissa?“, eine ungewöhnlich grelle Stimme riss ich aus meinen Gedanken und brachte mich zurück in die Gegenwart. Ich stand immer noch auf den Stufen vor unserer Wohnungstür und musste wohl ganz verträumt in den Sonnenaufgang über den Dächern der Stadt geblickt haben.
„Ah ja du bist es! Marissa Chevalier! Das ist ja eine Ewigkeit her!“ Die laute weibliche Stimme kam näher und als ich meinen Kopf drehte erblickte ich Fiona. Eine hochgewachsene, rothaarige Schönheit die ich noch aus meiner kurzen Schulzeit vor meiner Lehre kannte. Ich zwang mich zu einem Lächeln und ging ein paar Schritte auf sie zu. Umso näher sie kam desto mehr erkannte ich, dass sie sich kein bisschen verändert hatte. Ihre roten Locken fielen ihr noch immer ungebändigt ins Gesicht, welches so zart und hell war, dass ihre Sommersprossen nur noch mehr hervorstachen.
„Hallo Fiona, ja das stimmt. Ich hatte wohl eine Menge zu tun in letzter Zeit.“ Während ich ihr antwortete überlegte ich wann ich sie wohl zuletzt gesehen hatte. Verschwommene Bilder von einem Abend auf dem Jahrmarkt krochen mir ins Gedächtnis, an dem ich wohl etwas zu tief ins Glas geschaut hatte. Jedoch war ich mir absolut sicher, dass ihre unvergleichlich roten Haare, die über die Tanzfläche wirbelten, ebenfalls dort gewesen waren. Das Ganze war allerdings schon fast ein Jahr her. Kaum zu glauben, dass man sich in einem so kleinen Dorf unbeabsichtigt derart lange aus dem Weg gehen konnte.
„Ach Süße mach dir keine Vorwürfe, wir sind natürlich trotzdem noch Freunde! Man muss sich doch nicht jede Woche sehen. Ich war ebenfalls sehr beschäftigt, weißt du. Vielleicht hast du es ja schon gehört aber Matt Reynolds hat mir einen Antrag gemacht! Ich bin ja so aufgeregt. Im Frühjahr werden wir heiraten, bei seinen Eltern auf dem Landsitz versteht sich. Sein Vater ist ja ein so großzügiger und stattlicher Mann, stell dir vor er hat uns sogar ein Haus bauen lassen auf einem ihrer Anwesen am Rande der Hauptstadt. Ich kann es gar nicht erwartet dieses Fleckchen Ödland hinter mir zu lassen und endlich am Stadtleben teilnehmen zu können. Nichts für ungut, Süße.“ Sie plapperte einfach drauf los. In einem Tempo, dem ich nur schwer folgen konnte, erzählte sie mir alles, was ihr in den letzten Monaten passiert war. An Matt konnte ich mich noch vage erinnern. Er ging mit uns zur Schule und war damals mitten in der Pubertät gewesen, was ihn wenig ansehnlich machte. Fiona versicherte mir jedoch, dass er sich wohl zu einem attraktiven Junggesellen gewandelt hatte, ob sie dabei aber nicht eher von dem Reichtum seiner Familie beeinflusst wurde wusste ich nicht. Sein Vater war einer der wohlhabendsten Wollhändler des Königreiches und Matt würde einmal sein ganzes Imperium erben, da seine jüngere Schwester aus zweiter Ehe stammte, als diese noch keine Ehe, sondern ein Seitensprung seinerseits war. Damals ein Skandal für unser kleines Dorf.
Als Fiona gerade anfangen wollte von der aufwendigen Tischdekoration zu sprechen unterbrach ich sie höflich.
„Oh Fiona ich würde mich liebend gerne weiter mit dir unterhalten, aber ich muss zur Arbeit. Du kennst doch den alten Phineas, er hasst Unpünktlichkeit“, sagte ich und legte ihr entschuldigend meine Hand auf die Schulter. Phineas Holloway war ein kauziger, alter Mann, dem die Schmiede gehörte und der somit mein Lehrmeister war. Fiona verzog ihr Gesicht und ich meinte Mitleid in ihren Augen sehen zu können.
„Ach Süße, ja natürlich! Geh nur, geh nur. Wir sollten auf jeden Fall mal wieder einen Kaffee zusammen trinken und plaudern. Es war ja so schön dich wieder zu sehen! Ich hatte schon Angst gehabt, dass dich der alte Phineas weggesperrt hätte oder so. Ach, ich finde es ja so…besonders, dass du eine Lehre bei ihm machst. Für mich wäre das ja nichts. All diese harte Arbeit und das frühe Aufstehen sind so gar nicht förderlich für meine zarte Haut. Hätte ich heute morgen nicht die Anprobe für mein Kleid gehabt wäre ich wahrscheinlich immer noch in meinem Bett. Nun denn meine Liebe, wir sehen uns!“ Mit diesen Worten verschwand sie flötend und beinahe hüpfend Richtung Sonnenaufgang. Ich seufzte und setzte mich dann in Bewegung. Mein Weg führte mich in die entgegengesetzte Richtung während ich noch immer über ihre Worte nachdachte. Auch wenn sie sie zuckersüß ausgesprochen hatte konnte ich eindeutig das Mitleid, etwas Gehässigkeit und sogar Ablehnung in ihnen erkennen. Jemand wie Fiona konnte meine Situation natürlich nicht verstehen. Auch wenn ihre Eltern nicht so reich oder angesehen waren wie die von Matt, hatte sie trotzdem nie Sorge haben müssen über so banale Grundbedürfnisse wie Essen oder Wärme. Sie hatte liebende Elternteile, die sie so gut es ihnen möglich war mit Kleidern und Schmuck ausstaffierten, um sie eines Tages reich verheiraten zu können, was ja nun in greifbarer Nähe zu sein schien. Für manche schienen Träume also wirklich wahr zu werden. Allerdings nicht für mich, dachte ich unweigerlich. Wenn es nach mir ging wäre ich am liebsten ganz wo anders. Frei von Pflichten und Erwartungen anderer die ich krampfhaft zu erfüllen versuchte. Am liebsten würde ich einfach reisen soweit ich konnte, in alle Winkel und Ecken, die von der früheren Erde übriggeblieben waren und teilweise noch von einer längst vergangenen Zeit zeugten.
Doch vor Hunderten von Jahren brach der 3. Weltkrieg aus, welcher schlussendlich zu einer beinahe vollständigen Zerstörung und Verseuchung der Kontinente führte. Länder, Regierungen und Systeme wurden aufgelöst. Die wenigen Überlebenden flohen auf den einzigen Kontinent, der weitestgehend verschont geblieben war, das damalige Russland. Mauern wurden hochgezogen an den Grenzen zum damaligen China, Norwegen und Lettland sowie Estland. Zusammen mit Kasachstan und der Mongolei wurde es zu einem großen Königreich, dass sich ab diesem Zeitpunkt Ivendra nannte. Zunächst war das Königreich gespalten in mehrere Clans, die sich untereinander bekriegten und Anspruch auf den Thron und somit die Vorherrschaft erhoben. Diese sogenannten Clan-Kriege gingen über 200 Jahre und endeten damit, dass sich das Geschlecht der Thalos durchsetzen konnte und somit die Königsfamilie bildete, deren männliche Nachkommen bis heute den Thron erbten. Ihr Schloss stand in der Hauptstadt Iridia, welche bald wohl auch mein Zuhause werden würde – zumindest vorerst. Geschichte war für mich schon immer ein interessantes Fach gewesen und im Gegensatz zum Rest schien es mir nicht völlig überzogen und sinnlos zu sein. Ich war immer der Auffassung gewesen die Geschichte verstehen zu müssen, um die Zukunft verändern zu können. Und bei meiner eigenen Zukunft wollte ich anfangen. Meine Zukunft. Bei dem Gedanken verknotete sich mein Magen und mein Herz machte einen Satz. Ich hatte mir so fest vorgenommen nach meiner Lehre, die mit meinem 18. Lebensjahr endete, durch das Königreich zu reisen und so viel zu sehen wie ich konnte. All die Orte, die ich mir nur durch das Lesen unzähliger Bücher ausmalen konnte, endlich leibhaftig zu besuchen. Doch da ich in wenigen Tagen nach Iridia aufbrechen würde, um dort eine Stelle bei meiner Cousine anzufangen und mit ihr zu leben waren diese Pläne zunächst hinfällig, bis ich mir dort eine Existenz aufbauen konnte und meine Reise neu geplant hatte. Dies würde hoffentlich nicht allzu lange dauern. Schließlich würde sich ja nur mein Startort ändern, oder? Mit diesen Gedanken trat ich auf die Schwelle zur Schmiede, wo der Schornstein schon rauchte und ich den Geruch von Feuer und Kohle wahrnahm. Im Inneren des Häuschens polterte es und ich vernahm die fluchende Stimme von Phineas, der sich wohl mal wieder über etwas aufregte. Auch wenn er nicht immer so wirkte, war Phineas im Grunde ein warmherziger und intelligenter alter Mann, der seine Gutmütigkeit nur hinter einem grimmigen Gesicht und bissigen Kommentaren verbarg. Doch zu mir war er immer gut gewesen. Er hatte mich aufgenommen, als ich mit meinen 14 Jahren und viel zu dürren Körper vor ihm gestanden und zitternd um die Lehrstelle gebeten hatte. In den letzten 3 Jahren war er mir mit seiner sonderbaren Art ans Herz gewachsen und ich verdankte ihm eine Menge. Besonders die Tatsache, dass aus dem dürren, schüchternen und weinerlichen Mädchen eine etwas selbstbewusstere, starke junge Frau mit eigenem Willen geworden war. Dafür würde ich ihm ewig dankbar sein. Es war sein oftmals rauer Ton und seine starke Präsenz gewesen, die mich ähnlich wie eine Vaterfigur inspiriert und beeinflusst hatte. Mit einem Schmunzeln trat ich hinein und fand Phineas hockend vor dem Schmiedeofen vor, wie er fluchend die verschütteten Kohlen wieder in den Korb legte.
„Du bist zu spät“, fuhr er mich an und drehte sich nicht einmal zu mir um während er aufstand und auf den Besen deutete, der an der Tür neben mir lehnte. Seufzend nahm ich diesen und gesellte mich zu Phineas an den Ofen, wo ich sofort begann die Kohlereste aufzufegen, die sein kleiner Unfall dort hinterlassen hatte.
„Tut mir leid, ich wurde aufgehalten. Ich war heute früher wach und dachte ich hätte etwas mehr Zeit. Dabei muss ich mich wohl verquatscht haben“, gab ich entschuldigend zu und sah ihn dabei nicht an, wohl wissend, dass ihm meine Ausflüchte egal waren. Er grummelte nur missmutig vor sich hin und ging dann hinüber zu dem Kessel, in dem das flüssige Metall vor sich hin brodelte, bereit zu einem Werkzeug geformt zu werden. Mittlerweile hatte er mich so gut angelernt, dass man seine und meine Schmiedekunst kaum noch auseinanderhalten konnte. Obwohl seine Arbeit natürlich unverkennbar schön und makellos war. Auch wenn er es mir nie selbst erzählt hatte, wusste ich von der geschwätzigen Bäckerin im Dorf, dass Phineas früher einmal Waffenschmied im Palast gewesen war, bis er sich aufs Dorf zurückgezogen hatte. Man munkelte, dass seine Tochter sich einst in den jüngeren Bruder des Königs verliebt hatte und dann auf tragische Weise bei einem Reitunfall gestorben sei. Doch Phineas hatte ich nie danach gefragt, auch wenn es offensichtlich war wie sehr er seine Tochter geliebt hatte, da ihre Bilder die einzigen waren, die seine Hütte zierten.
„Was stehst du da so herum? Komm her und hilf mir mall“, grummelte er und winkte mich zu sich herüber. Sofort machte ich einen Satz auf ihn zu und nehme ihm den Hammer ab, mit dem er angefangen hatte, das Stück Metall zu bearbeiten, welches er verformen wollte.
Eine ganze Weile standen wir schweigend nebeneinander, nur einzelne Hammerschläge durchbrachen laut und klirrend die Stille. Gelegentlich schielte ich zu ihm herüber, er war etwa so groß wie ich, sein Gesicht hatte harte Züge und wurde von einigen Falten an Stirn und um den Mund herum umspielt. Seine Haut war gebräunt und lederig, was darauf hinwies, dass er in seinem Leben viel draußen in der Sonne gearbeitet und gelebt hatte. Mit den Augen fixierte er seine Arbeit, während er sich ab und zu mit dem Ärmel über die schweißgetränkte Stirn wischte. So nah an dem Schmiedeofen war es unsagbar warm und die Luft war so durchzogen mit Ruß und Rauch, dass wir gelegentlich stark husten mussten und deshalb mehrere Pausen machten, um unsere Lunge nicht allzu sehr zu belasten. In den ersten Wochen meiner Lehre war es teilweise so schlimm gewesen, dass jeder Atemzug in meiner Luftröhre brannte.
„Was siehst du mich denn so an?“, fragte Phineas der meine Blicke durchaus bemerkte. Ich räusperte mich und riss meinen Blick von ihm los, gerade als er sich eine lange weiße Haarsträhne hinters Ohr schob und mich mit seinen giftgrünen Augen anfunkelte.
„Nichts, ich frage mich nur…. Hast du schon einmal dran gedacht irgendwo neu anzufangen? Einfach ganz weit weg zu gehen?“ Meine Stimme war leise und brach gegen Ende hin ab. Doch er hatte sie verstanden und legte seine faltige Stirn in noch tiefere Falten während er mich durchdringlich musterte.
„Gibt es da etwas was du mir sagen möchtest, Kleines?“ Geschickt wie er meine Frage umging, zumal ich wusste, dass er seinen Neuanfang schon hinter sich hatte. Schnell schüttelte ich den Kopf und mied seinen Blick. Ich brachte es nicht übers Herz ihm zu beichten, dass ich in drei Tagen bereits abreisen würde. Er wusste noch nichts von meinem Umzug und ehrlich gesagt hatte ich auch keine Ahnung wie ich ihm davon erzählen sollte.
„Ich bin nur neugierig“, antwortete ich nach einer Weile und zwang mich ihn schüchtern anzulächeln.
„Ich glaube eher, dass du frische Luft und Mittagessen brauchst. Dein Gehirn scheint eine Pause zu brauchen.“ Er legte sein Werkzeug hin, streifte die Schürze ab und bedeutete mir mit ihm ins Haus zu kommen. Die Schmiede befand sich genau neben der Hütte, in der er lebte. Sie war klein und alt, gebaut nach dem Vorbild alter Bauernhäuser der früheren Welt. Aber Innen war es gemütlich und wesentlich größer als es von außen schien. Ich folgte ihm durch die Seitentür, die die Schmiede mit der Küche verband. Sofort als wir eintraten flog mir der Geruch von Suppe entgegen, die bereits auf dem Herd langsam vor sich hin köchelte. Die Luft hier war deutlich frischer und reicher an Sauerstoff als in der Schmiede selbst. Ich atmete tief ein und sog sie tief in meine Lungen.
„Setzt dich und iss“, befahl mir Phineas während er zwei Teller Suppe und dann eine Karaffe Wasser auf den Tisch platzierte. Er ließ sich auf dem Stuhl gegenüber nieder und machte sich sofort daran sein Essen zu löffeln. Auch ich senkte meinen Kopf und nahm einen Löffel voll. Als ich schluckte merkte ich wie hungrig ich war. Morgens hatte ich nichts gefrühstückt und bis auf einen Kaffee auch nichts getrunken. Einige Löffel später schob Phineas mir einen Korb Brot hin und nahm sich ebenfalls eins, um es dann in seine Suppe zu tunken.
„Weißt du, Kleines. Deine Schwester war gestern hier.“ Ich schluckte schwer bei seinen Worten, die er in seine Suppe zu murmeln schien während er sich einen weiteren Löffel in den Mund schob.
„Sie hat mir erzählt, dass sie ein Jobangebot bekommen hat… in Melandris am Hof irgendeiner Herzogin. Und sie hat mir auch erzählt, dass eure Cousine das letzte Jahr auf dich aufpassen wird. Die jedoch in Iridia wohnt“, fuhr er fort und ließ seinen Blick zu mir wandern während ich plötzlich beschämt in meine Suppe starrte.
„I-Ich wusste nicht genau wie ich es dir erzählen sollte“, begann ich, während meine Stimme jedoch zitterte. Phineas schüttelte den Kopf und einen Moment lang glaubte ich Trauer in seinem Blick zu sehen.
„Es ist schon in Ordnung, mir fallen Abschiede auch schwer. Es ist trotzdem wirklich schade, dass sich unsere Wege schon so bald trennen werden. Ich hatte dich gerade auf so einen guten Weg gebracht.“ In seiner Stimme lag eine liebevolle Strenge und dennoch fühlte ich mich wohl bei seinen Worten. In diesem Moment verfluchte ich Milena erneut. Sie hatte mich sieben Jahre lang ertragen und aufgezogen, warum musste sie jetzt gehen? Mein Magen verknotete sich erneut und ich rang nach Luft während ich mein Zittern zu unterdrücken versuchte. Eine warme Hand legte sich auf die meine und holte mich in die Gegenwart zurück. Ich sah Phineas in seine Augen der versuchte verkrampft zu lächeln. Phineas lächelte. Ich unterdrückte ein Schmunzeln. Ich dachte daran, dass ich ihn noch nie hatte lächeln sehen und wie fremd sein Gesicht dadurch aussah. Und umso trauriger wurde ich tief in mir drin bei dem Gedanken, dass es wohl sein Abschiedsgeschenk an mich war.
„Ich würde so gerne bleiben“, flüsterte ich, „zumindest noch für das letzte Jahr.“
Sein Blick wurde fester und er presste die Lippen aufeinander.
„Deine Lehre wäre erst nächstes Jahr zu Ende… aber du machst deine Sache wirklich gut. Ich habe dir nichts mehr beizubringen, von daher dachte ich mir, dass ich dir ein kleines Abschiedsgeschenk machen könnte“, sagte er während er sich vom Stuhl erhob, auf einen alten Küchenschrank aus Eichenholz zuging, um ein kleines Paket aus der Schublade zu holen. Mit dem Paket in der Hand kam er wieder auf mich zu und reichte es mir. Es lag schwer in meiner Hand während ich das Band langsam löste und dann das Papier abwickelte. Ein Metallkästchen kam zum Vorschein, welches mit schönen Blumenranken verziert war und in dessen Mitte zwei Buchstaben thronten: MC, meine Initialen. Ein Lächeln huschte mir über die Lippen während ich über den Deckel strich und diesen dann anhob. Im Inneren lagen mehrere Dinge über einander und als erstes fiel mein Blick auf kleines gerahmtes Zertifikat. Bei einem genaueren Blick darauf fielen mir einige Worte sofort auf. Anerkannte Schmiedekunst und offizielle Berufserlaubnis standen in schönster Schnörkelschrift auf dem Zertifikat. Darunter prangte mein Name. Schnell zog ich die Luft ein und hielt den Atem an, während ich Phineas Blick auf mir spürte. Meine Augen weiteten sich und versuchten immer noch die Worte zu verarbeiten, die sie eben gelesen hatten.
„I-Ich weiß nicht was ich sagen soll… D-Das ist einfach unglaublich! Geht das denn so einfach?“, fragte ich fassungslos und zu Tränen gerührt. Er nickte kurz und bestimmt während er wieder eine Hand auf meine legte. Auch er zitterte nun.
„Du hast es dir verdient“, sagte er dann und drückte kurz meine Hand. Verzweifelt versuchte ich den Kloß in meinem Hals herunter zu schlucken, der sich nun gebildet hatte. Phineas hatte mir quasi meine Freiheit geschenkt. Das war mehr als ich je erwartet hatte, je erwarten konnte. Ich musste mir in der Hauptstadt keinen neuen Meister oder gar eine neue Lehre suchen, um in einem Jahr endlich frei zu sein. Er hatte mich befreit. Als ich meine Augen von dem gerahmten Zertifikat losreißen konnte sah ich darunter einen weiteren Umschlag, der noch verschlossen war und eine wunderschöne Kette aus Gold. An ihr hing ein Anhänger in Form einer Rosenblüte, die mir seltsam bekannt vorkam. Phineas bemerkte meinen verharrenden Blick und flüsterte leise.
„Sie hat meiner Tochter gehört, nun soll sie dich beschützen“, sagte er so leise und sanft als wäre es ein Gebet. Ich schluckte erneut und nahm sie zögern in die Hand. Sie war leicht und schwer zugleich. Schwer aufgrund der emotionalen Last, die sie getragen hatte, schwer aufgrund des Todes, den sie mit angesehen hatte. Nun erkannte ich den Anhänger. Er hatte sich auf jedem Bild hier in der Hütte um ihren Hals geschmiegt. Als meine Finger sanft über die liebevollen Details wanderten erkannte ich sofort, dass es Phineas eigene Arbeit gewesen war. Er hatte diese Kette einst für seine Tochter geschmiedet, die er so schmerzlich vermisste. Und nun gab er sie mir, die ihn ebenfalls verlassen würde.
„Den Brief liest du bitte dann alleine in der Kutsche, noch mehr Gefühle halte ich heute wirklich nicht mehr aus“, sagte er und ich konnte aus dem Augenwinkel sehen, wie er sich mit dem Ärmel über die Augen wischte.
Ich nickte kurz und verschloss das Kästchen wieder bevor ich es in meine Tasche schob. Phineas stand auf, kam zu meinem Stuhl und zog mich hoch.
„Nun geh nach Hause, Kleines. Heute soll dein letzter Arbeitstag bei mir gewesen sein. Du musst packen und all den anderen Mädchenkram machen bevor du abreist.“ Bei seinen Worten stockte ich kurz. Der Abschied war gekommen, viel zu schnell und viel zu plötzlich. Ich dachte ich hätte noch zwei Tage bevor ich mich verabschieden musste, doch er hatte mir diese Entscheidung abgenommen, wohl wissend, dass es so das beste war. Kurz und schmerzlos, wie ein Pflaster.
Ich schulterte meine Tasche und ließ mich von ihm zur Haustür geleiten, durch die ich zuvor noch nie gegangen war. Nun verließ ich die Hütte also wie ein Besucher und nicht länger wie seine Schülerin.
Als wir beide auf seiner Türschwelle standen drehte ich mich zu ihm um und sah ihm in seine Augen. Die sonst so funkelnden giftgrünen Schlitze waren nun geweitet und glänzten vor zurückgehaltenen Tränen. Ich wollte den Mund öffnen, um etwas zu sagen, doch da zog er mich schon an sich. Es war eine feste Umarmung und ich spürte trotz seines Alters seinen noch immer kräftigen Körper, der nun leicht zitterte. Seine Hand legte er auf meine Haare und stütze so meinen Kopf.
„Pass auf dich auf, Kleines. Vergiss nicht zu wem du geworden bist. Und denke dran, nicht alles was glänzt ist Gold“, flüsterte er an meinem Ohr und küsste dann meine Schläfe. Ich erschauerte unter seinen Worten so sehr berührten sie mich.
„Ich danke dir für alles. Ich wünschte ich könnte es irgendwie wieder gut machen“, antwortete ich und sog seinen Geruch nach Feuer und Kohle noch ein letztes Mal ein. Sanft schon Phineas mich eine Armlänge von sich und sah mir ins Gesicht. Darauf lagen ein trauriges Lächeln sowie tiefe Sorgenfalten.
„Das hast du doch schon längst, du Dummchen.“ Ich beließ es dabei, um diese Szene in Erinnerung zu behalten, drehte mich um und machte die ersten festen Schritte Richtung Hauptstraße bevor ich mich noch einmal nach hinten umsah. Phineas stand noch immer in der Tür und winkte mir ein letztes Mal zu bevor er sie endgültig schloss. Ein letztes Mal ließ ich meinen Blick über die Schmiede wandern. Wie sie ruhig und friedlich an dem kleinen Bach stand, abgeschnitten von dem bunten Treiben des kleinen Dorfes, welches sich hinter dem Hügel befand, der nun vor mir lag. Ich atmete die Luft und den Feuergeruch ein letztes Mal ein und schritt dann weiter geradeaus, den Kiesweg entlang, der mich innerhalb weniger Minuten wieder in mein Dorf bringen würde. Es war ein Abschied auf unbestimmte Zeit.
Am nächsten Morgen erwachte ich zu dem Gesang der Spatzen, die an meinem Fenster saßen und fröhlich vor sich hin zwitscherten. Schön, dass es wenigstens einige gab, die unbeschwert ihr Leben lebten. Mein Blick fiel auf meinen Wecker, der auf meinem Nachttisch stand und ich seufzte laut. Es war gerade einmal 6 Uhr morgens. Es war ein kurzer und definitiv nicht erholsamer Schlaf gewesen, weswegen ich mich an jenem Morgen auch eher müde fühlte. Trotz der frühen Uhrzeit konnte ich in der Küche bereits Geräusche vernehmen. Also schlug ich meine Bettdecke beiseite und schlüpfte in meine warmen Hausschuhe, die bereits am Bett standen. An der Tür warf ich mir schnell meinen Morgenmantel über und ging dann schlurfend den Flur entlang bis zur Küche. Milena stand über der Spüle gebeugt und wusch das Geschirr vom Vorabend ab, während die Kaffeemaschine schon laut brodelte.
„Guten Morgen“, sagte sie und trocknete unbeirrt weiter die letzten Teller ab.
„Dir auch“, entgegnete ich, nahm mir eine Tasse aus dem oberen Küchenschrank und stellte mich neben die Kaffeemaschine. Milena schob mir die Flasche Milch herüber, die schon neben ihrer wartenden Tasse stand. Mit einem lauten Zischen wurde uns signalisiert, dass der Kaffee nun fertig war, woraufhin ich uns welchen eingoss. Der Duft umspielte meine Nase und ich sog ihn tief ein. Wahrscheinlich war Kaffee das Einzige worauf ich niemals verzichten konnte. Meinetwegen ein unzureichender Schlaf, aber Koffein musste einfach sein. Wir setzten uns beide schweigend an den kleinen Küchentisch und tranken die ersten Schlucke des heißen Getränks während wir auf die Tischplatte starrten, als wollten wir sie mit Blicken durchbohren.
„Ich habe heute frei. Phineas gibt mir die nächsten Tage Zeit, um meine Sachen zu packen und zu regeln. Daher dachte ich, dass ich heute zu Leyla fahren könnte, um mich zu verabschieden“, sagte ich, um unser Schweigen zu brechen. Im Grunde wusste ich, dass Milena schon wusste, dass ich wohl frei haben musste und dass es ihr auch mehr oder weniger egal sein würde womit ich meinen Tag verbrachte. Sie selbst würde gleich zur Arbeit müssen und erst gegen Abend wiederkommen. Zu meiner Verwunderung lächelte sie leicht und nickte.
„Das finde ich eine gute Idee. Ich habe noch einige Kleider von mir mit die mir nicht mehr passen, dann freut Leyla sich.“
Leyla Hastings war das Patenkind unserer Mutter gewesen und nur wenige Jahre jünger als ich. Früher waren wir beinahe zusammen aufgewachsen bevor ihre Eltern mit ihr ins Nachbardorf gezogen und unsere Mutter kurz darauf gestorben war. Seitdem hatten wir sie nicht mehr ganz so oft zu Gesicht bekommen, da auch sie letztes Jahr ihre Lehre zur Schneiderin begonnen hatte und es somit entweder ihr oder uns nicht passte einander zu treffen. Doch bei jeder Gelegenheit fuhren wir sie oder sie uns besuchen. Milena gab ihr dann stets Kleider, aus denen sie entweder rausgewachsen war oder die ihr nicht mehr gefielen. Leyla übte an diesen ihre Fertigkeiten als Schneiderin oder trug diese gelegentlich, wenn ihr eines besonders gut gefiel.
„Ich gebe dir etwas Geld für die Fahrt“, sagte Melina hastig und griff schon zu ihrem Mantel, welcher über ihrem Stuhl hing und holte ein paar Münzen heraus, die sie mir dann rüberschob. Danach erhob sie sich und warf sich besagten Mantel über bevor ich ihr danken konnte. Sie war gut drauf und wenn ich eines gelernt hatte, dann solche Gesten von ihr lieber unkommentiert zu lassen, da sie sich damit wohler zu fühlen schien. Zum Abschied warf sie an der Tür nochmal einen Blick auf mich und hob ihre Hand bevor sie dann in den Flur verschwand und ich einige Sekunden später die Tür ins Schloss fallen hörte.
Wenig später stand in meinem Zimmer vor dem alten Spiegel und betrachtete mich skeptisch. Die vorderen Partien meiner langen platinblonden Haare hatte ich mit einer Klammer nach hinten gesteckt wodurch mein Gesicht noch mehr betont wurde. An jedem anderen Tag wäre es kein Problem gewesen, aber durch die letzten schlaflosen Nächte sah ich müde und blass aus. Mein Spiegelbild starrte mir mit dunklen Augenringen und einem glasigen Blick entgegen. Auch die kalte Dusche vorhin hatte nichts genützt. Seufzend griff ich zu meinem Schminktisch und zog die kleine Puderdose und einen Pinsel hervor, welche ich selten nutzte. Zum einen war ich nicht der Typ, der gerne und viel Makeup trug und zum anderen waren solche Produkte teuer. Doch so wie ich nun aussah konnte ich auch für meine Verhältnisse nicht in die Öffentlichkeit treten. Nachdem ich mit mir dem Pinsel unter den Augen und im gleichen Zuge auch einmal durchs gesamte Gesicht gefahren war, warf ich einen erneuten Blick auf das Gesamtbild. Bevor ich noch mehr an mir auszusetzen fand drehte ich mich um und griff nach meinem Mantel, welchen ich nun überzog und damit mein Outfit aus enganliegenden Hosen und einem schlichten grauen Rollkragenpullover abrundete. Ähnlich wie bei meinem Gesicht erregte ich auch mit meinem Kleidungsstil wenig Aufsehen. Am liebsten hatte ich es bequem und praktisch. Meine Gedanken flogen zu Fiona, die ich am Vortag getroffen hatte und die, wie immer, ein aufwendiges und etwas übertriebenes Kleid getragen hatte. Ich musste schmunzeln bei dem Gedanken an Fiona in Hosen oder gar etwas anderem als einem dreilagigen Rüschenkleid. Ich griff meine Umhängetasche, welche auf meinem Bett lag und verließ dann eilig mein Zimmer. In wenigen Minuten würde einer der kleinen Busse abfahren, welche nur alle paar Stunden fuhren und auf ihrer Fahrt Richtung Hauptstadt alle Dörfer mitnahmen. Seit Ende des 3. Weltkrieges gab es im gesamten Königreich fast nur Kutschen mit Pferden. Gelegentlich kleine Busse oder für die Adelsfamilien einen privaten, gepanzerten Wagen, wie ihn die früheren Präsidenten der alten Welt oft fuhren. Aber für die Bevölkerung waren keine Autos vorgesehen. Dies wurde vor hunderten von Jahren aufgrund der Belastung von Umwelt und der eh schon nuklear verseuchten Luft beschlossen und auch wenn die Strahlung mittlerweile rückläufig war, würde sich diese Regelung wahrscheinlich nicht mehr ändern. Aufgrund dieser Umstände mussten die Menschen oft weite und lange Kutschfahrten auf sich nehmen, um das Königreich zu passieren, da es zwar im Vergleich zum ganzen Planeten nur ein kleiner verbliebender Fleck war, aber dennoch für uns hier lebende sehr weitläufig schien. Hoch oben im Norden befanden sich nur die ,nach der Erderwärmung verbliebenden, Reste der kargen und eisigen Tundra an deren Rande sich eher wenige Menschen angesiedelt hatten, dennoch erstreckte sich das Königreich in alle Himmelrichtungen und die Hauptstadt befand sich zentral in dessen Mitte. Irgendwann würde ich jeden Ort besuchen, der sich mir anbot, dachte ich verträumt und trat aus der Haustür.
Draußen schien die Sonne schon hoch am Himmel, mittlerweile war es beinahe vormittags. Der Wind pfiff mir kalt durch die Haare und durch meinen noch offenen Mantel, den ich nun fest an mich zog und zuknöpfte. Während ich die Sonne mein Gesicht kitzeln ließ, ging ich die gepflasterten Wege Richtung Markplatz hinunter, wo sich die kleine, überdachte Bushaltestelle befand. Mit mir warteten noch zwei weitere Personen auf den Bus. Eine ältere Dame erkannte ich sofort, es war unsere hiesige Bäckerin Ludmilla, vor der kein Geheimnis sicher war. Den Jungen neben ihr kannte ich nicht, aber aufgrund ihrer Vertrautheit miteinander hielt ich ihn für ihren Enkel, von dem sie ständig sprach. Er wohnte wohl weiter weg und kam eher selten zu besuch, hatte sie mir einmal erzählt als ich von ihr eigentlich nur zwei Brote kaufen wollte und stattdessen ein einstündiges Gespräch bekam.
„Oh Marissa! Sieh nur wer mich besuchen gekommen ist!“ rief sie da auch schon, als sie mich erkannte. Ich setzte ein freundliches Lächeln auf und trat auf sie zu, während sie den jungen Mann am Arm packte und zu mir herumwirbelte. Nun da ich ihnen etwas näher war konnte ich ihn besser erkennen. Er war ein großer schlanker Junge mit dunkelbraunem Haar und ebenso dunkeln Augen. Als sein Blick den meinen traf errötete er, was bei seinem blassen Gesicht natürlich sofort auffiel.
„Hallo“, sagte ich freundlich und nickte beiden zu. Der Junge nickte ebenfalls, sah aber zu Boden. Aufgrund seines jugendlichen Gesichts und das fehlen ausgeprägter männlicher Züge schätze ich ihn etwa auf 14 oder 15 Jahre.
„Das ist mein Enkel Lucas! Du weißt schon, dem Sohn meiner Tochter Hannah. Ich habe dir bestimmt schon von ihm erzählt. Er hat Schulferien und besucht mich für eine ganze Woche, ist das nicht wunderbar?“, flötete sie und zog Lucas enger an sich. Wieder nickte ich und zwang mir ein noch breiteres Lächeln auf die Lippen.
„Es ist schön dich kennen zu lernen. Deine Großmutter erzählt wirklich viel über dich“, bestätigte ich sie. Ludmilla strahlte, was ihr faltiges Gesicht zwar älter, aber auch freundlicher aussehen ließ.
„Und wo willst du drauf los, meine Liebe?“, fragte sie nun zuckersüß.
„Ich fahre ins Nachbardorf und besuche die Hastings.“ Ich verschwieg ihr den genauen Grund, da ich mir sicher war sonst nie wieder von Ludmilla los zu kommen.
„Ach ist das toll! Grüß die kleine Leyla von mir. Ich weiß noch wie ihr zwei so klein wart, dass ihr nicht einmal über meine Ladentheke schauen konntet. Aber was euch an Körpergröße fehlte habt ihr definitiv durch eure unermüdliche Energie wett gemacht. Die arme Milena musste ständig auf euch aufpassen und ihr habt nur Blödsinn im Kopf gehabt“, lachte sie und schüttelte dabei ihren Kopf. Aus irgendeinem Grund waren mir ihre Worte etwas peinlich. Die Röte stieg mir in die Wangen und ich sah in die Ferne. Das alles war wirklich schon ewig her gewesen. Beinahe schien es mir wie ein anderes Leben gewesen zu sein und an das meiste konnte ich mich nicht mal mehr erinnern.
„Und nun sieh dich an. So schön und erwachsen wie du bist. Das Ebenbild deiner Mutter, Gott sei ihrer Seele gnädig“, sagte sie nun sanft und griff nach meiner Hand. Bei der Erwähnung meiner Mutter versetzte es mir einen kurzen Stich, wie jedes Mal, wenn jemand sie erwähnte. Es war zwar mit den Jahren leichter geworden, aber an manchen Tagen fehlte sie mir schmerzlich, was wahrscheinlich auch niemals vergehen würde. Dennoch zwang ich mich zu einem leicht beschämten Lächeln.
„Ja, kaum zu glauben wie schnell sich Dinge ändern“, gab ich als Antwort.
„Und manches bleibt dennoch gleich. Sage mal, mein Kind, wie geht es deiner Schwester? Sie ist immer so beschäftigt, wenn ich sie mal zu Gesicht bekomme. Hat sie denn nun vor zu heiraten? War da nicht mal dieser stattliche Bursche gewesen, der ihr den Hof machte? Wie heiß der noch? Will?“, fragte sie plötzlich. Mein Lächeln gefror bei dem Gedanken an Milena und Will. Er hatte vor einer Weile tatsächlich mal versucht sie zu umwerben, was kein Wunder war. Milena war wunderschön. Groß, schlank und von einer Anmut wie sonst keine zweite. Sie war schon immer sehr erwachsen gewesen und nun mit ihren 27 Jahren zu einer richtigen Frau geworden. Will war ein Schmuckhändler, welcher ursprünglich aus der Hauptstadt stammte und mit seinen Waren quer durchs Königreich zog. Als er mit seinem Wagen in unser Dorf kam, war er aufregend und neu gewesen. Die Mädchen und Frauen aus dem Dorf standen Schlange bei ihm. Nur Milena nicht. Was ihn nur noch mehr anspornte. Nach etlichen Versuchen und Einladungen willigte sie ein mit ihm etwas essen zu gehen. Aus einer Verabredung wurden zwei und dann drei und so weiter, bis er schließlich fast den ganzen Sommer bei uns verweilte. Doch aus mir unbekannten Gründen verschwand er vor einigen Wochen einfach und Milena tat so als hätte es ihn nie gegeben. Auch während sie miteinander ausgingen sprach sie mit mir nicht viel über ihn, aber nun schien sie ihn gänzlich zu leugnen. Als sie mir dann vor ein paar Tagen eröffnete, ohne mich wegzuziehen, kam ich nicht drum herum mich zu fragen oder gar zu vermuten, dass es wegen diesem Will war beziehungsweise er etwas damit zu tun hatte.
„Milena geht es gut. Du kennst sie ja, sie ist immer kurz angebunden und nicht sehr gesprächig was ihr Privatleben angeht. Und dieser Will ist soweit ich weiß abgereist. Zwischen den beiden war aber auch nichts ernstes“, sagte ich und bemerkte, wie ich Milena anfing zu verteidigen. Ludmilla sah mich prüfend an und ich erkannte, dass sie mir nicht glaubte. Doch bevor sie weiter nachbohren konnte fuhr der Bus an die Haltestelle heran und kam mit einem lauten Zischen vor uns zum Stehen. Die Fahrertür öffnete sich und ich trat zu dem Busfahrer an die Kasse, um mein Ticket zu zahlen. Anschließend drängte ich mich den schmalen Gang entlang und glitt auf einem Platz ganz hinten am Fenster. Ludmilla und ihr Enkel setzten sich zu meiner Erleichterung nach vorne, da sie dort mehr Beinfreiheit genoss. Der Bus setzte sich in Bewegung und verließ den Marktplatz über denselben Weg, den er gekommen war.
Die Fahrt dauerte ungefähr eine Stunde. Wir fuhren an Feldern und einem Wald vorbei bevor ich die ersten Häuschen meines Ziels sehen konnte. An einem Marktplatz, der unserem recht ähnlich war, kam der Bus schließlich zum Stehen. Zum Abschied schenkte ich Ludmilla und Lucas ein kleines Lächeln und stieg dann aus. Die frische Luft tat gut. Busfahrten mochte ich nicht so gerne, da mir des Öfteren schlecht wurde von dem Ruckeln und den abgestandenen Gerüchen im Inneren. Als der Bus wieder abfuhr, sah mich nach rechts und links um während ich versuchte mich zu orientieren. Es war schon so lange her, dass ich hier gewesen war.
„Hey, Sie! Was fällt Ihnen eigentlich ein? Ich habe genau gesehen was sie gemacht haben“, rief plötzlich eine laute Stimme und eine Hand packte mich an der Schulter. Erschrocken wirbelte ich herum, bereit die Person von mir zu stoßen, als mein Blick plötzlich ein Paar strahlend grüner Augen traf, die mich funkelnd ansahen. Ich gluckste und warf mich Leyla an den Hals, die mich nun auch lachend an sich drückte.
„Oh was machst du denn hier? Wusstest du, dass ich komme?“, fragte ich überrascht und schob sie eine Armlänge von mich, um sie anzusehen. Sie war so erwachsen geworden. Ihre vorher langen, schwarzen Haare trug sie nun kürzer, was sie älter und ernster aussehen ließ und ihr zugleich umwerfend stand. Ein schönes gelbes Kleid schmiegte sich an ihren Körper und betonte ihren mittlerweile gut gefüllten Ausschnitt und die gebräunte Haut.
„Milena hat von der Arbeit aus angerufen und gesagt, dass du wohl heute kommen würdest. Ich hatte hier eh zu tun und dachte, dass ich ja auf dich warten könnte bevor du dich noch verläufst.“ Sie knuffte mir in die Seite und hackte sich dann bei mir unter während sie mich über den Marktplatz führte.
„Es ist so schön dich zu sehen! Viel zu lange ist es her. Du musst mir alles erzählen!“, plapperte sie weiter und hüpfte beinahe auf und ab. Auch ich teilte ihre Euphorie. Leyla war so etwas wie meine beste Freundin und kleine Schwester in einem. Der aufrichtigste und ehrlichste Mensch, den ich kannte, was sie aber auch gleichzeitig oft in Schwierigkeiten brachte. Oft wusste sie nicht, wann man lieber still blieb oder ausweichende Antworten geben musste. Aber für mich machte es sie noch sympathischer.
„Ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll… Wenn ich ehrlich bin weiß ich nicht einmal mehr was dein letzter Wissensstand ist“, antwortete ich. Leyla dachte kurz nach und wandte sich dann mir zu.
„Ich glaube als wir das letzte Mal sprachen warst du sauer auf Milena, weil du Angst hattest sie würde diesen Will oder so heiraten und mit in eure Wohnung bringen würde“, sagte sie dann. Ich nickte ernst und begann ihr dann zu erzählen, wie die Geschichte mit den beiden ausgegangen war. Meinen Umzug verschwieg ich vorerst, da ich dafür auch gerne Leylas Eltern dabeigehabt hätte. Stattdessen erzählte ich ihr, dass Phineas mir vorzeitig meine Berufserlaubnis erteilt hatte und ich nun die Kette seiner Tochter besaß, die ich an jenem Tag sogar um den Hals trug, so dass Leyla sie bewundern konnte. Als nächstes erzählte sie mir von ihrer Lehre und wie gut sie ihr gefiel. Außerdem schien sie ein Auge auf den Sohn der Schneiderin geworfen zu haben und schon ein paar wilde und verbotene Küsse mit ihm im Stofflager getauscht hatte. Sie erzählte die Geschichte mit so viel Drama in der Stimme, dass es sich anhörte wie eine Verschwörung. Wie sich rausstellte war es auch eine, da ihre Meisterin es wohl nicht gerne sah, wenn ihr geliebter Sohn Mädchen Beachtung schenkte. Leyla erzählte mir, dass sein Name Gergory war und er sehr gutaussehend und muskulös sei, da er frisch ausgelernter Maurer war. Ich lauschte noch eine Weile ihren Schwärmereien und kicherte gelegentlich als sie von ihren sinnlichen und geheimen Treffen berichtete. Plötzlich standen wir schon vor ihrer Haustür, die Leyla nun aufschloss und mich ins Innere des Hauses schob. Es roch nach Zimt und Vanille als wir näher an die Küche herantraten. Aufs Stichwort streckte Leylas Mutter ihren Kopf in den Flur und ihre Augen weiteten sich als sie mich erblickte. Leyla hatte ihr offensichtlich nicht erzählt, dass ich kommen wollte. Sie quiekte und kam mit einer Kochschürze bekleidet auf uns zu, um mich dann stürmisch an sich zu drücken. Sie sah noch genauso aus wie ich sie in Erinnerung hatte. Leyla hatte viel von ihrem Aussehen von ihrer Mutter vererbt bekommen. Nur das schwarze Haar war das ihres Vaters.
„Marissa! Was machst du denn hier? Warum rufst du denn nicht vorher an? Ich hätte dann ein Festmahl gekocht“, sagte sie während sie mich weiterhin fest an sich drückte.
„Wahrscheinlich wollte ich genau deswegen nichts sagen. Bloß keine Umstände wegen mir“, erklärte ich und grinste.
„Ach was, das sind doch keine Umstände! Oh, es ist so schön dich zu sehen. Und sieh dich nur mal an wie erwachsen und wunderschön du bist! Hätte ich einen Sohn müsstest du ihn auf der Stelle heiraten.“ Sie strahlte über ihr ganzes Gesicht als sie mich von oben nach unten ansah. Ich grinste verlegen und geschmeichelt zugleich.
„Mama, jetzt überfall sie doch nicht so.“ Leyla versuchte ihre Mutter von mir loszubekommen, was diese dann wiederwillig geschehen ließ.
„Ja, ja. Ich habe schon verstanden. Deine Mutter ist dir mal wieder peinlich. Nun denn, setzt euch! Ich koche uns derweil einen Kaffee.“
Belustigt über ihren gespielten Disput setzte ich mich an den Küchentisch und fragte mich unweigerlich, ob mein Verhältnis zu meiner Mutter auch so wäre. Leyla riss ich aus meinen Gedanken.
„Papa ist momentan leider geschäftlich vereist. Aber ich habe vorhin mit ihm gesprochen und soll dich ganz lieb grüßen“, sagte sie während sie einen Keks vom Teller vor uns nahm, die dem Geruch nach gerade frisch gebacken waren. Ich nickte lächelnd, während mir Mrs. Hastings schon eine Tasse Kaffee und Milch reichte.
Während wir gemeinsam am Tisch saßen, Kaffee tranken und Kekse aßen unterhielten wir uns über alles mögliche. Es war wirklich schön so unbeschwert mit ihnen zu reden.
„Was hast du eigentlich nun vor, da du deine Lehre beendet hast?“, fragte Leyla und legte den Kopf schief. Meine Unbekümmertheit verschwand mit einem Mal und ich spürte einen Kloß im Hals. Nun musste ich es ihnen erzählen. Erzählen, dass ich wegziehen musste.
„Nun“, begann ich und räusperte mich bevor ich weitersprach.
„Es hat sich da etwas ergeben. Milena nimmt eine Stellung am Hofe der Herzogin von Melandris an. Leider ist es für mich unmöglich sie dorthin zu begleiten, weswegen ich zu unserer Cousine Charlotte in die Hauptstadt ziehen werde. Nur für ein Jahr, bis ich volljährig bin und dann umherreisen kann, wie ich es mir gefällt. Ich denke mal, dass ich mir für die Zeit eine Stelle in einer Schmiede suchen werde, um etwas Geld anzusparen. Dank Phineas sollte ich mehr bekommen als nur den kümmerlichen Lehrlingslohn.“ Ich sprach schnell und setzte dabei ein übertriebenes Lächeln auf, was nicht einmal mich selbst überzeugte. Ich sah in die skeptischen und verwirrten Gesichter von Leyla und ihrer Mutter, die einen Moment lang nicht zu wissen schienen, was sie antworten sollten. Mrs. Hastings räusperte sich und schenkte mir ein schmales Lächeln.
„Das ist überraschend. Ich wusste gar nicht, dass Milena vor hatte weg zu ziehen. Und dann auch noch ohne dich? Auf dieses eine Jahr käme es nun doch auch nicht an. Und vor allem, wieso hatte sie uns nicht gefragt ob du hierbleiben kannst? Charlotte kennt ihr beide doch kaum, abgesehen davon, dass sie die hochnäsigste Frau ist, die ich je getroffen habe.“
„Ihr kennt doch Milena. Sie lässt sich nicht in die Karten schauen. Ich denke mal, dass das Angebot befristet war und sich so eine Chance nicht wieder bieten würde. Außerdem bin ich langsam alt genug, um ihr nicht mehr zu Last zu fallen“, lächelte ich müde. All ihre Fragen waren auch die meinen. Milena hatte mir auf keine davon eine konkrete Antwort gegeben. Dennoch hatte Mrs. Hastings recht. Charlotte war wirklich hochnäsig. Sie musste mittlerweile 18 Jahre alt sein und war die Tochter der jüngeren Schwester unserer Mutter. Die beiden hatten sich in ihrer Kindheit zerstritten und sobald Tante Philline alt genug gewesen war, war sie in die Hauptstadt gezogen, um einen Juwelier namens Claude DuPont zu heiraten, der an die 20 Jahre älter war als sie, und seine Frau an eine, durch Strahlenvergiftung verursachte, Krankheit verloren hatte. Seine Ehe war kinderlos gewesen und als er Philline traf machte er ihr ein Angebot, welches sie nicht ablehnen konnte oder wollte. Eine Hochzeit und zehn Jahre später kam Charlotte Elise DuPont zur Welt. Sie wuchs behütet in einer der Stadtvillen auf, ging auf eine teure Privatschule und hatte Hobbies wie Fechten und Reiten und was Stadtmädchen noch so alles toll fanden. Da das Verhältnis zu unserer Mutter und ihrer Tante nicht das beste war, trafen wir sie nur zu besonderen Anlässen, wie etwa die Gründungsfeier des Reiches oder Geburtstage. Nach dem Tod unserer Mutter hatten wir sie nur noch einmal auf der Beerdigung gesehen und danach beschränkte sich der Kontakt auf Briefe oder Grußkarten. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Charlotte eine Lehre oder sonstiges absolviert hätte. Wahrscheinlich hatte sie einen akademischen Grad erworben und hatte nun irgendeine Beraterstelle oder hatte reich geheiratet.
„Du musst das nicht machen, Marissa“, sagte Leyla sanft und griff nach meiner Hand, als sie merkte wie gedankenverloren ich auf den Tisch starrte. Ich hob meinen Kopf und sah ihr in die Augen.
„Das weiß ich, aber es ist in Ordnung für mich. Marissa hat mich die letzten 10 Jahre großgezogen und es war bestimmt nicht leicht für sie ihren Stolz zu überwinden und mit Tante Philline über meine Unterkunft zu verhandeln.“ Das waren die Worte, die ich mir jeden Abend vor dem Einschlafen selbst vorhielt, um irgendwie mit der Situation zurechtzukommen. Manchmal versuchte ich mir sogar einzureden, dass es mir gefallen könnte und meinen Plänen eventuell sogar gelegen kam.
In Leylas Blick sah ich Mitleid und auch ein Stück weit Unverständnis. Für sie war es wahrscheinlich ein Rätsel, wie Milena so etwas tun konnte. Doch sie war nicht diejenige, die das einzig verbliebende Elternteil verloren hatte und plötzlich die kleine Schwester großziehen musste. Sie konnte es wahrscheinlich nie ganz verstehen. Nicht einmal ich konnte das.
Den restlichen Nachmittag verbrachten wir damit das Abendessen vorzubereiten, zu dem ich natürlich eingeladen war. Mrs. Hastings war schon immer eine grandiose Köchin gewesen und umso mehr freute ich mich darauf mal wieder eines ihrer Gerichte zu probieren. Während wir den Tisch mit den fertigen Speisen beluden, uns ein Glas Wein genehmigten und im Hintergrund Jazz Musik von dem alten Plattenspieler zu uns herüber drang, schwelgten wir wieder einmal in alten Erinnerungen aus einer Zeit, in der noch alles so normal gewesen war.
Während des Essens schwiegen wir jedoch, was mir ganz gelegen kam, da ich regelrecht über das Essen herfiel, als hätte ich tagelang nichts mehr bekommen.
Mein Blick wanderte zu der großen Standuhr und ich erschrak. Es war beinahe sieben Uhr und in einer halben Stunde würde der Bus am Marktplatz abfahren, der letzte für diesen Tag. Leyla bemerkte meinen Blick und schob den Teller beiseite.
„Ich bringe dich noch zum Bus“, sagte sie während sie sich vom Tisch erhob. Ihre Mutter tat es ihr gleich und kam lächelnd ein paar Schritte auf mich zu. Sie breitete ihre Arme aus und zog mich an sich.
„Es war so schön dich wieder zu sehen, meine Kleine. Bitte pass auf dich auf, wenn du in die große weite Welt hinausziehst. Und ich erwarte, dass du nach deinem Jahr Haftstrafe in der Welt der Schönen und Reichen noch einmal zu Besuch kommst und Bericht erstattest.“ Sie hatte einen Befehlston aufgelegt und sah mich ernst an, was mich nur noch mehr lächeln ließ. Dieser ernste Blick stand ihr nicht besonders und diese Masche nahm ich ihr nicht ab. Dennoch nickte ich fest und drückte ihre Hand zum Abschied, bevor Leyla und ich hinaus in die Dunkelheit traten.
Einige Straßenlaternen leuchteten uns den Weg Richtung Marktplatz und erhellten die dunklen Gassen, die um diese Zeit etwas bedrohlich wirkten. Plötzlich war ich dankbar, dass Leyla mich begleitete. Während wir schnellen Schrittes die Straßen entlangliefen schwiegen wir. Schwer lag die Last des Abschieds auf uns. Doch wir mussten nichts sagen, um zu verstehen was wir uns mitteilen wollten. Stattdessen hackte ich mich bei ihr unter und spürte ihre Wärme an meinem Arm.
Viel zu schnell kam der Marktplatz in Sichtweite und mit ihm auch der Bus, der schon an der Haltestelle wartete. An der Fahrertür angekommen drehte ich mich zu Leyla, deren Gesicht ich in dem schwachen Licht der Laternen und Busbeleuchtung nur halb erkannte. Plötzlich fielen mir die Kleider wieder ein, die Milena mir für sie mitgegeben hatte.
„Oh das hätte ich beinahe vergessen“, sagte ich schnell und drückte ihr die Tasche in die Hand, welche ich die ganze Zeit geschultert hatte. Leyla sah hinein und schmunzelte dann zufrieden.
„Dankeschön. Ihr beide kennt mich echt zu gut.“ Ich hörte ein Zittern in ihrer Stimme, welches entweder von der Kälte der Nacht oder von dem nahenden Abschied herrührte. Dann breitete ich meine Arme aus und sie ließ sich bereitwillig darin nieder. Ich roch ihr Parfüm, welches so lieblich nach Rosen duftete, als würde sie in ihnen baden.
„Du wirst mir fehlen“, flüsterte ich an ihrem Ohr und spürte wie sie mich noch fester drückte.
„Und du mir erst. Sei bloß vorsichtig. Die Hauptstadt kann verlockend sein, aber sie kann Menschen auch verändern.“ Ihr Blick wurde fester und mich beschlich das Gefühl, dass sie aus Erfahrung sprach.
„Natürlich. Mich verändert so schnell niemand. Vielleicht schaffst du es ja mich einmal zu besuchen und mich für eine Weile zu erlösen“, sagte ich nachdenklich und löste mich dann endlich von ihr. Sie strahlte und nickte dann. Zum Abschied grinste ich sie verschwörerisch an.
„Und viel Spaß mit deinem Maurer“, lachte ich während ich winkend in den Bus einstieg bevor sie mir eine schnippische Antwort entgegnen konnte.
Als ich mich wieder auf die hinterste Bank niederließ, setzte sich der Bus auch schon in Bewegung und Leyla verschwand in der Dunkelheit. Mein Herz machte einen Satz und krampfte sich dann leicht zusammen. Bereits jetzt merkte ich, wie sehr sie mir fehlen würde. Meine wahrscheinlich einzige, richtige Freundin.
In dieser Nacht schlief ich besser, beinahe wie ein Stein. Erst jetzt merkte ich, wie gut mir der Besuch gestern getan hatte und wie erschöpft ich gewesen war.
Als ich die Augen aufschlug war es bereits hell und die Sonne stand hoch am Himmel. Ein Blick auf den Wecker verriet mir, dass es schon nach zehn war. Während ich an die Decke meines Zimmers starrte fiel mir wieder ein, dass es mein letzter Tag hier sein würde. In 24 Stunden würde ich das letzte Mal in diesem Raum und in meinem Bett aufwachen. Unvorstellbar, da ich mein ganzes Leben nichts anderes kannte, als diese vier Wände und mein altes, durchgelegenes Bett.
In diesem Moment klopfte es an meiner Tür.
„Willst du nicht langsam aufstehen? Die Koffer packen sich nicht von selbst.“ Milenas gewohnt herrischer und kalter Tonfall ließ mich nun vollends wach werden und seufzend schlug ich die Decke beiseite. Bevor ich etwas erwidern konnte, hörte ich wie sich ihre Schritte von meiner Tür wieder entfernten.
Gähnend warf ich mir meinen Morgenmantel über, band meine Haare zu einem lockeren Knoten und ging ins Badezimmer, um mich etwas frisch zu machen. Das kühle Wasser in meinem Gesicht war angenehm und erfrischend. Während mir Wassertropfen mein Gesicht hinunterliefen betrachtete ich mich im Spiegel. Meine Augen waren weniger geschwollen und die blauen Schatten fast vollständig verblasst. Was so ein paar Stunden Schlaf ausmachten überraschte mich. Ich trocknete mein Gesicht, putze mir die Zähne und trat dann wieder in mein Zimmer, um meine Hausschuhe anzuziehen bevor ich dann den Flur entlang schlurfte und dem Geruch von frischem Kaffee in die Küche folgte. Auf meinem Platz stand bereits ein Teller mit dampfendem Rührei, Toast und Speck während Milena den Becher daneben stellte und mir dann einen prüfenden Blick zuwarf. Unter ihren durchdringenden Augen setzte ich mich auf den Stuhl und begann mein Frühstück zu verzehren. Es war köstlich, wie immer. Milena war ebenfalls eine gute Köchin, auch wenn nicht ganz so hervorragend wie Mrs. Hastings, aber dennoch schmeckte mir jede ihrer Mahlzeiten.
Sie setzte sich mit einem Becher Kaffee mir gegenüber und sah mir beim Essen zu. So vergingen einige Minuten, bis ich das unbehagliche Gefühl ihrer Blicke auf mir nicht länger ertrug und sie ebenfalls ansah.
„Warum siehst du mich denn so an?“, fragte ich und zog meine Stirn in Falten. Beinahe so als fühlte sie sich ertappt senkte sie den Blick auf die Tischplatte und zog ihre Lippen kraus.
„Du weißt, dass ich dich liebhabe, oder?“, fragte sie plötzlich so leise, als wolle sie gar nicht, dass ich es hörte. Überrascht von ihrer Frage rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her, zog meine Stirn in noch tiefere Falten und kniff die Augen prüfend zusammen. Solche Worte hatte ich noch nie aus ihrem Mund gehört und die Traurigkeit, die in ihnen lag, ließ mich beinahe erzittern.
„I-ich…. Natürlich“, antwortete ich hastig aus Angst sie würde ich sofort wieder vor mir verschließen. Doch zu meiner Überraschung fuhr sie fort.
„Und du weißt auch, dass ich dich nicht im Stich lasse, oder?“ Sie sah auf und blickte mir fest in die Augen. Ich bildete mir einen Moment ein Tränen in ihren strahlend eisblauen Augen zu sehen, hielt es dann aber nur für eine Spiegelung des Lichtes.
„Ich habe mich nie im Stich gelassen gefühlt“, entgegnete ich, um ihrer Frage auszuweichen. Denn seitdem sie mir eröffnet hatte, dass sie ohne mich fortging konnte ich nicht anders als mich im Stich gelassen zu fühlen. Auch wenn sie so viele Jahre für mich da gewesen war. Es war selbstsüchtig von mir, das wusste ich. Milena bemerkte meine Ausflüchte und verzog ihr Gesicht gequält.
„Wenn ich könnte, würde ich dich mitnehmen. Aber glaube mir bitte, wenn ich sage, dass es so am besten ist. Für uns beide.“ Ihr Ton wurde nun wie gewohnt scharf und herrisch. Der kurze Moment schwesterlicher Sorge war verfolgen und ich konnte regelrecht spüren wie sie sich von mir distanzierte.
„Das sagtest du bereits“, antwortete ich und nahm noch einen großen Schluck Kaffee. Als Milena nichts erwiderte, atmete ich tief ein und sah sie noch einmal durchdringlich an, in der Hoffnung ihre emotionale Mauer noch einmal überwinden zu können.
„Dennoch verstehe ich es nicht. Warum muss ich gerade zu Charlotte? Hätte ich nicht auch zu den Hastings gehen können? Oder noch besser alleine leben können?“, fragte ich sie. Milena schüttelte langsam den Kopf.
„Das Thema hatten wir schon, Marissa. Nein, das geht nicht. Charlotte und Tante Philline sind genau das, was du jetzt brauchst. Außerdem können sie dir eine Zukunft ermöglichen, die ich dir niemals bieten könnte. Eine gute Stellung und ein sorgloses Leben in der Hauptstadt“, erwiderte sie fest und schloss dabei die Augen, als könne sie meinen Blick nicht weiter ertragen. Damit stand sie auf, nahm meinen leeren Teller und die beiden Becher, um sie in die Spüle zu legen, Sie stand nun mit dem Rücken zu mir und konnte mein genervtes Augenrollen nicht sehen. Was für eine Zukunft? Dieses letzte Jahr machte nun wirklich keine Unterschiede mehr. Wenn sie so um meine Zukunft besorgt gewesen war, hätte sie mich doch direkt abgeben können und hätte sich die Last der kleinen Schwester ersparen können.
„Du weißt, dass ich so ein Leben nicht will!“, entfuhr es mir und ich merkte wie mir Tränen des Zorns in die Augen stiegen. Ich verstand nicht, wie sie mich so wenig verstehen konnte. Oder war es ihr schlichtweg egal?
„Deine Reisepläne sind schön und gut, aber irgendwann wirst auch du deine Träumereien sein lassen und erwachsen werden müssen.“
„So wie du, meinst du? Ohne Freude, ohne Liebe und ohne einen Sinn im Leben?“, fuhr ich sie an und mir war egal wie kalt und grausam meine Worte waren. Ich war einfach nur sauer und enttäuscht. Sie zuckte zusammen. Ob vor der Heftigkeit oder der Bedeutung meiner Worte wusste ich nicht. Nun schwiegen wir beide. Ich stand auf, schob den Stuhl an den Tisch und stapfte, ohne ein weiteres Wort an sie zu verlieren, in mein Zimmer. Nachdem ich die Tür zugeknallt hatte, ließ ich mich an ihr zu Boden gleiten und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Die Tränen rannen heiß und unbarmherzig über meine Wangen bevor sie zu Boden fielen und eine Pfütze bildeten. Ich ließ all meinen Kummer, Schmerz und mein Unverständnis heraus, denn wenn ich meine Gefühle noch länger hätte in mir behalten müssen wäre ich wahrscheinlich geplatzt. Ich wusste nicht, wie lange ich so da saß und weinte, bevor ich mich erschöpft zusammenkauerte wie ein Embryo im Mutterleib und meine Augen schloss.
Die Abendsonne dämmerte durch meine Vorhänge, als ich mich endlich wieder beruhigt hatte und mich vom Boden aufrappelte. Meine Augen waren verquollen und ich hatte Kopfschmerzen vom ständigen schluchzen. Zielstrebig steuerte ich auf meinen Kleiderschrank zu, schmiss meinen Koffer aufs Bett und fing an alles was ich für meinen Umzug benötigte in diesen zu verstauen. Einiges ließ ich hier, um etwas zu hinterlassen. Etwas, was auch nach meiner Abreise noch von meiner Existenz zeugen würde. Milena hatte mir auf meine Nachfrage hin erzählt, dass sie unsere Nachbarin Rosie gebeten hatte die Wohnung in einem guten Zustand zu behalten, bis einer von uns beiden zurückkehren würde. Ich schätze, dass sie es einfach nicht übers Herz gebracht hatte diese zu verkaufen, wo sie doch das letzte gewesen war, was unsere Mutter uns hinterlassen hatte.
Ich nahm unser Familienfoto vom Nachtschrank und legte es ebenfalls in den Koffer. Bevor mich wieder tiefe Traurigkeit befallen konnte warf ich meinen Schal darauf, um nicht in die unbekümmerten Gesichter der Frau und ihrer zwei Töchter zu blicken, die mir entgegenstrahlten.
Als zweites Gepäckstück nahm ich mir einen Rucksack und legte dort alles hinein, was ich für die Kutschfahrt benötigte. Ein Buch, was ich gerade las und eine kleine Decke. Morgen früh würde ich mir noch etwas Proviant hineinlegen. Als ich endlich fertig mit packen war, war die Sonne schon untergegangen und ich knipste meine kleine Lampe an. Seufzend setze ich mich auf mein Bett und sah mich in meinem nun deutlich leereren Zimmer um. Viel Besitz hatte ich nie gehabt, aber nun wo ich beinahe alles eingepackt hatte, sah das Zimmer kahl und charakterlos aus. Ich schmunzelte verbittert bei dem Gedanken daran, dass es nun zu meiner inneren Gefühlswelt passte. Ich hörte ein zaghaftes Klopfen an meiner Tür und brummte ein unverständliches „Ja“, bevor sich diese öffnete und Milena mit einem Tablett hereinkam. Sie stellte die duftenden Speisen auf meinem Tisch ab und verharrte kurz mit dem Rücken zu mir gekehrt. Ich konnte spüren, dass sie etwas sagen wollte, doch ich kam ihr zuvor. Ich wollte nicht, dass wir so auseinander gingen.
„Ich habe es nicht so gemeint. Ich meine das was ich vorhin gesagt habe. Das war einfach die Wut, die aus mir gesprochen hat.“ Beschämt sah ich zu Boden während sich Milena nun zu mir drehte und mit einigen Schritten an mein Bett herantrat. Seufzend ließ sie sich ebenfalls neben mir nieder und starrte durch das Fenster uns gegenüber hinaus.
„Das weiß ich. Auch ich habe Dinge gesagt, die ich nicht meinte. Weißt du, ich habe bestimmt nicht immer alles richtig gemacht seitdem Mama nicht mehr da ist, aber ich hoffe du glaubst mir, wenn ich dir sage, dass ich immer froh war wenigstens dich noch zu haben.“ Ihre Stimmer versagte kurz als sie über unsere Mutter sprach und wurde dann leiser. Ich nickte und sah sie dann an. Das spärliche Licht meiner kleinen Lampe zeichnete ihr schönes Profil ab und verdunkelte ihre Miene noch zusätzlich.
„Ich war auch immer froh, dich zu haben“, begann ich und griff dann nach ihrer Hand, die auf ihrem Bein ruhte.
„Versprichst du mir etwas?“, fragte ich und wartete darauf, dass sie mich ansah. Als Milena ihren Blick erhob und mich fragend ansah fuhr ich fort.
„Versuche bitte glücklich zu werden. Nun, wo du nicht mehr auf mich aufpassen musst könntest du es doch noch einmal mit der Liebe versuchen, oder? Du hast es verdient geliebt zu werden, Milena“, sagte ich sanft und lächelte sie zögerlich an. Sie blinzelte verwirrt und legte den Kopf schief.
„Du hast ja komische Sorgen. Das klingt ja beinahe so als sei ich abstinent gewesen.“ Beinahe glaubte ich ein Lachen heraus zu hören. Ich sah sie kritisch an und hob dann bedeutungsvoll mein Kinn.
„Bist du ja auch! Ich habe dich nach Will mit keinem Mann mehr gesehen. Und auch davor schienst du an so etwas wie Dates kein Interesse zu haben. Dabei hat dir hier fast jeder Junggeselle schmachtende Blicke zugeworfen“, neckte ich. Nun lachte Milena tatsächlich. Ein kurzes und knappes Lachen aber immerhin.
„Nur weil du nicht alles weißt, heißt es nicht, dass es nicht stattgefunden hat“, sagte sie vielsagend und legte dann ihren Kopf in den Nacken als würde sie sich an etwas zurückerinnern. Beinahe wäre mir die Kinnlade heruntergefallen bei ihren Worten. Sollte das etwa heißen, dass sie sich hinter meinem Rücken des Öfteren verabredet hatte und nicht einmal ein Wort darüber verloren hatte? Sie schien mein Entsetzen zu bemerken und drückte meine Hand.
„Ich verspreche es dir“, sagte sie dann und lächelte zögerlich. In ihren Augen konnte ich sehen, dass sie es ernst meinte.
„Und nun iss etwas. Bevor das Essen kalt wird“, sagte sie dann wieder auffordernd während sie sich erhob und zur Tür ging.
„Milena?“, fragte ich noch einmal bevor diese aus meiner Tür verschwinden konnte. Sie sah mich an und legte fragend den Kopf schief.
„Danke“, sagte ich und wir beide wussten, dass ich nicht nur das Essen meinte. Sondern alles, was sie die letzten Jahre für mich getan hatte. Sie nickte und verschwand dann wieder in den dunklen Flur während ich mich an meinen Schreibtisch setze und schweigend mein Abendessen aß.
Der Nächste Morgen kam viel zu schnell. Nachdem ich abends noch eine Runde durch das Dorf geschlendert war um mich stillschweigend zu verabschieden, ohne auf andere Leute zu treffen, war ich schließlich müde in mein Bett gesunken und auch dementsprechend schnell eingeschlafen. Nun weckten mich die Sonnenstrahlen, da ich vergessen hatte meine Vorhänge zu zuziehen. Mürrisch blickte ich auf meinen Wecker. Es war acht Uhr morgens und in zwei Stunden würde meine Kutsche hier eintreffen. Zum letzten Mal stieg ich also aus meinem Bett und ging den gewohnten Weg in mein kleines Badezimmer. Eine Dusche war genau das, was ich nun gebrauchen konnte. Während ich das Wasser auf die gewünschte Temperatur einstellte und schon einmal warmlaufen ließ, entkleidete ich mich und bürstete mein platinblondes Haar gründlich durch, um mir einige Knoten zu ersparen.
Während ich unter dem wohltuenden Wasserstrahl stand und mir die Haare wusch schweiften meine Gedanken zu der nur wenige Stunden entfernten Ankunft in der Hauptstadt. Als ich darüber nachdachte, was mich wohl erwarten würde, merkte ich wie sich mein Magen unweigerlich zusammenzog. Ich war nervös, sehr sogar. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass alle Schaumreste aus meinen Haaren verschwunden waren, stieg ich aus der Dusche und hüllte mich in ein Handtuch bevor ich mich im Spiegel ansah. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte zu sehen, aber mein gewohntes Spiegelbild starrte mir wie immer entgegen und führte mir vor Augen, dass auch die Dusche meine Zweifel, Ängste und negativen Gedanken nicht hatte davonschwemmen können.
Zurück in meinem Zimmer zog ich mir die bereitgelegten Kleidungsstücke an, welche ich nicht im Koffer verstaut hatte und bürstete meine noch nassen Haare bevor ich sie mit einem Föhn trocknete. Es musste so eine halbe Stunde vergangen sein, als ich endlich fertig angezogen und frisiert in die Küche stapfte und mit Milena zu frühstücken. Doch sie war nicht da. Stattdessen lag auf meinem bereitgelegten Sandwich ein kleiner Zettel. Schon bevor ich ihn las, wusste ich was ich darinstand.
Marissa,
Abschiede liegen mir nicht, wie du weißt. Daher möchte ich, dass du uns so in Erinnerung behältst wie wir gestern Abend auseinander gegangen sind. Versuche bitte Charlotte und Tante Philline eine Chance zu geben.
Wir sehen uns, wenn sich alles wieder etwas beruhigt hat.
Bis dahin pass auf dich auf!
Milena
Das war ja wieder klar, nachdem wir uns gestern einmal etwas näher gekommen waren ruderte sie wieder drei Schritte zurück und schaffte es nicht einmal sich persönlich von ihrer kleinen Schwester zu verabschieden. Ich schnaufte enttäuscht und warf den Brief in den Müll, als ich in Gedanken über ihre Worte stolperte. Was sollte sich denn beruhigen? Diese Formulierung ließ mich meine Stirn runzeln und über ihre Worte nachdenken. Doch ich kam nicht drauf. Wahrscheinlich wusste sie einfach nicht, wie sie mich sonst hätte vertrösten können, dachte ich schnell und schob meine Verwunderung beiseite. Dennoch beschlich mich wieder dieses Gefühl, dass etwas an dieser ganzen Situation nicht stimmte. Oder wollte ich einfach nicht wahrhaben, dass meine eigene Schwester zu so etwas fähig war?
Ich griff mir das Sandwich, wickelte es in Brotpapier, nahm mir noch zwei Äpfel und eine Glasflasche, die ich mit Wasser füllte und steckte alles zusammen in meinen Rucksack für die Fahrt.
Als ich mein Gepäck an die Wohnungstür gebracht hatte beschloss ich bis zur Ankunft der Kutsche auf den kleinen Balkon zu warten und die frische Luft zu genießen solange ich konnte. Denn die Fahrt würde lange dauern und ich ging nicht davon aus, dass wir eine Pause machen würden.
Tag der Veröffentlichung: 29.03.2020
Alle Rechte vorbehalten